Großwildjagd - Katharina Sulzbach - E-Book

Großwildjagd E-Book

Katharina Sulzbach

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Beschreibung

Heike, Claudia und Susanne genießen ihren Skiurlaub in St. Moritz, als Claudia einen Anruf bekommt: Ihre kinderlose Tante liegt im Koma – Claudia muss sofort nach Chemnitz. Dort begegnet sie nicht nur der dunklen Vergangenheit ihrer Familie, sondern macht Bekanntschaft mit einer Stadt ohne Luxuslabels, mit Fleischerfachgeschäften in Wohnwagen, Plattenbauten und Datschen. Unterdessen begegnen die Freundinnen in St. Moritz dem exzentrischen russischen Geschwisterpaar Tatjana und Grigorij. Sie: erfolgreiche Galeristin. Er: dubioser Vorstand eines Energiekonzerns. Claudias Freund Nicolas sollte eigentlich auf ihre Kinder aufpassen. Doch er stürzt sich lieber in eine Affäre mit Tatjana. Da lässt sich Claudias Tochter auf eine Skitour mit Grigorijs Sohn ein, und sie werden von einer Lawine verschüttet. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, eine Liebesbeziehung zwischen den beiden Teenagern und Claudia entdeckt eine ziemlich unwillkommene Verbindung zwischen ihrer und der russischen Familie.

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Seitenzahl: 569

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Katharina Sulzbach

Großwildjagd

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungEdithHeike, Claudia und SusanneHeike und SusanneClaudiaHeikeClaudiaJulia und JohannaHeike und NicolasBenni und MaximNicolasHeike und TomClaudiaJuliaClaudiaSusanneJulia, Johanna, Marcel, MaximClaudiaNicolasJuliaMarcel und JohannaNicolasClaudiaNicolasJuliaClaudiaNicolasElsaMarcel, Johanna, Fabian und VickyClaudiaJuliaHeikeGregorijNicolasClaudiaMarcelJuliaBenniNicolas, Heike und SusanneJuliaHeikeToniClaudiaMarcelClaudiaBenni und MarcelJuliaNicolasJulia und MaximClaudia und NicolasGregorij und MaximHeikeSybilleEdithClaudiaSusanneJuliaBenni und MaximJulia und NicolasClaudia und HeikeMarcelBenniHeikeClaudiaJuliaClaudiaZwei SchülerClaudiaBenniJuliaClaudia und WilhelmMarcelJuliaHeikeElsaHeikeFälscherClaudiaJuliaToniJohannaHeikeJuliaMarcelClaudiaMarcelHeikeJuliaMarcelJuliaClaudiaJuliaWilhelmClaudiaWilhelmJuliaHeike und ClaudiaJuliaHeike und ClaudiaJuliaEpilogEin lieber Junge
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Für meine Eltern

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Edith

Ungeduldig riss sie den Umschlag auf. Der Absender war ein Rechtsanwaltsbüro. Sie kannte den Namen: Dr. Bosko, Redding & Kollegen.

 

»Ihre Kaufvertragssache mit Winfried Gerber«

 

stand im Betreff.

 

Edith ließ sich auf den Stuhl vor ihrem Sekretär sinken und griff nach der Lesebrille. Sie wusste nichts von einem Kaufvertrag.

 

Sehr geehrte Frau Neumann,

als Anlage überreiche ich Ihnen die beglaubigte Abschrift des Kaufvertrages vom 21.12.2013 – Nr. 436/11 meiner Urkundenrolle.

Die Urkunde wird rechtswirksam, wenn Sie die Erklärungen, die meine Mitarbeiterin Frau Krause für Sie vollmachtlos abgegeben hat, nachträglich genehmigen. Eine entsprechende Genehmigungserklärung habe ich für Sie vorbereitet. Ich bitte Sie, die anliegende Erklärung vor einem dortigen Notar zu unterzeichnen und sie, mit dem Beglaubigungsvermerk versehen, wieder an mich zurückzusenden.

Mit freundlichem Gruß

Dr. Bosko

Notar

Anlage

 

Mit zitternden Fingern blätterte Edith die zusammengehefteten Seiten durch und las die Namen ihres Bruders und ihrer Schwester. Weiter hieß es:

 

Der Verkäufer ist Eigentümer in ungeteilter Erbengemeinschaft des folgenden Grundbesitzes:

Grundstück Gemarkung Chemnitz, Flurstück 1489/7 Augustusburger Straße, (…) sowie Flurstück 1599/3 Mühlenweg.

Eingetragen im Grundbuch von Chemnitz, Blatt 22456 des Amtsgerichts Chemnitz.

Diesen Grundbesitz verkauft der Verkäufer an den Käufer für den vereinbarten Kaufpreis von

€ 3789000,00

(in Worten: Euro drei Millionen siebenhundertneunundachtzigtausend)

Der Käufer kauft zu Alleineigentum.

 

Jetzt begann Ediths Puls zu rasen, und das Blut rauschte ihr in den Kopf: Ihr Bruder hatte das Mühlengut verkauft. Ihr Zuhause, ihre Heimat sollte in fremde Hände gegeben werden!

Sie zog die Schublade ihres Sekretärs auf und blätterte die Briefumschläge durch. Manche waren bereits fleckig. So oft hatte sie sie zur Hand genommen, das Papier darin auseinandergefaltet und nach dem Lesen umständlich wieder hineingeschoben: die Briefe ihres Bruders. Warum, fragte sich Edith, erkannte er nicht, dass er im Unrecht war. Wie niederträchtig und gemein es war, den Grund und Boden zu verscherbeln, den sie nach der Wende unter Mühen, und nur mit Hilfe ihrer Nichte, seiner Tochter, zurückbekommen hatten.

»Es kommt doch auch dir zugute!«, hatte er ihr immer wieder versichert und nachgesetzt: »Wenn ich mich nicht um den Verkauf der Grundstücke kümmern würde, hättest du Hunderttausende weniger auf dem Konto.«

Was für ein Hohn!

Und nun verlangte er von ihr die Genehmigung für den Verkauf des Gutsgeländes mit allen Gebäuden – zu einem, für hiesige Verhältnisse, beachtlichen Kaufpreis. Zwar hatten sie und ihre Schwester von dem Verkaufserlös für ein paar Grundstücke alles aufwendig sanieren lassen. Aber sie kannte die Immobilienpreise in Chemnitz. Die Summe von über 3,7 Millionen war in der Tat bemerkenswert.

Ausgeschlossen! Sie würde niemals wieder von hier fortgehen. Ihren Hof in Adelsberg und all die Erinnerungsstücke verließ sie nicht mehr freiwillig. Großvater erlaubte das nicht.

Edith legte den Brief obenauf und verstaute das Bündel und ihre Brille wieder in der Schublade. Ihr Blick fiel auf die Weihnachtskarte ihrer Nichte. Die Einzige aus der Familie, mit der sie noch sprach, außer natürlich ihrer Schwester Elsa. Claudia hatte ein Foto ihrer drei Kinder, Ediths Großneffen und Großnichten, beigelegt. Das Mädchen war sechzehn geworden, wie Claudia schrieb. Julia hatte die gleiche lange schildpattblonde Löwenmähne wie Elsa früher. Auch die Gesichtszüge waren ähnlich, mit Schmollmund und hohen Wangenknochen.

Dann tastete Edith unter der aufgeklappten Schreibplatte des Sekretärs entlang und zog an einem kleinen Hebel. Die Verblendung unter der Schublade sprang auf. Sie nahm das Buch aus dem Geheimfach und strich über das abgegriffene, blanke Krokoleder:

 

»Wirtschaftsbuch Mühlengut 1943–1945«

 

stand in Goldprägung darauf. Den Schlüssel, der unter dem Einband lag, steckte sie in ihre Hosentasche. Das Buch legte sie zurück, ließ die Verblendung aus Kirschholzfurnier wieder zuschnappen.

 

In der Garderobe warf sie sich eine braune Wollstola um die Schultern und trat vor die Tür des alten Gutshauses. Sie blieb kurz auf dem Treppenabsatz stehen und atmete tief die kalte Luft ein, dann machte sie sich auf den Weg über das neue Kopfsteinpflaster zur Scheune. Sie musste noch einmal nach dem Rechten sehen und die Hühner füttern. Morgen würde sie Elsa aus dem Heim holen und für sie eine kleine Geburtstagsfeier veranstalten. Nichts Aufwendiges. Es waren nicht mehr viele Bekannte übrig. Nur Wilhelms altes Kindermädchen mit Familie, zwei Jugendfreundinnen, ein Nachbar und der Pfarrer mit seiner Frau. Erst würden sie einen Spaziergang hinauf in Richtung Adelsbergturm machen, anschließend ein heißer Punsch und ein Schnaps im Hof, ganz so wie früher nach den Treibjagden, die ihr Großvater abgehalten hatte. Kaffee, Tee und Kuchen würden sie im Salon des Herrenhauses einnehmen. Und später, wenn sie unter sich waren, ein ganz privates Zusammensein mit Elsa und den Erinnerungsstücken in ihrem gemeinsamen Lieblingsraum …

Edith stand vor der Scheunentür. Durch die Ritzen des Holztors fiel Licht. Hatte sie heute Morgen vergessen, es auszuschalten? Sie schob den Eisenriegel zurück, öffnete die Tür und erstarrte: Es war kein elektrisches Licht. Sondern an dem Geländer des offenen Heubodens hingen vier Laternen mit flackernden Flammen. Sie zögerte: Dort oben war sie lange nicht mehr gewesen. Doch sie konnte die Laternen unmöglich über Nacht brennen lassen. Ihr Blick fiel auf die Heizpilze und die Stehtische mit weißen Hussen, die der Nachbarssohn auf ihre Bitte hin bereitgestellt hatte. Morgen sollte er dann alles für den Empfang in den Hof räumen. Ob er die Laternen dort aufgehängt, angezündet und dann vergessen hatte?

»Kevin?«, rief sie, und ihre Stimme hallte in dem hohen Raum nach.

Skeptisch betrachtete sie die steil aufragende Leiter. Dann umfasste sie die Seitenholme, stellte den Fuß auf die erste Sprosse … das Holz schien zu halten. Langsam erklomm Edith Sprosse für Sprosse. Als sie fast oben war, tauchte vor ihren Augen eine fünfte Laterne auf. Daneben stand ein kleines Foto in einem Silberrahmen, das von dem bläulichen Licht der Petroleumflamme beleuchtet wurde. Es war ein altes Schwarz-Weiß-Bild und zeigte einen russischen Soldaten in Offiziersuniform. Ediths Herz begann wie wild zu klopfen, sie streckte die Hand nach dem Bild aus. Es fehlten nur noch wenige Zentimeter. Sie musste ein Stück höher steigen … Da schlug die Tür mit einem lauten Knall zu. Durch den Schreck verfehlte sie die nächste Sprosse und trat ins Leere. Sie klammerte sich mit den Händen an den Holmen fest, doch die lediglich angelehnte Leiter geriet durch den Ruck ins Schwanken, löste sich von dem oberen Holzboden und kippte langsam nach hinten. Mit einem gellenden Schrei stürzte Edith drei Meter in die Tiefe.

[home]

Heike, Claudia und Susanne

Susanne schloss die Augen und genoss die Strahlen der Januarsonne auf ihrer Haut. Sie drehte sich zu Woletzki um, der neben ihr in einem Liegestuhl der Trutz-Hütte saß, und strich ihm mit dem Handrücken über seinen Dreitagebart. »Was für ein Tag! Ich liebe das Seen-Panorama, ich liebe das Corviglia-Gebiet, ich liebe meine neuen Salomon-Carver … und natürlich dich!«

Er brummte zufrieden. Einträchtig richteten sie ihre Blicke über das altehrwürdige Suvretta House in das Tal von St. Moritz und nahmen einen Schluck von ihrer Rivella Grün. Die Silhouette eines Helikopters stieg vor ihnen in den unberührten stahlblauen Himmel auf. Für einige Minuten übertönte das Brummen der Rotorblätter die gedämpften Unterhaltungen in den Liegestühlen und an den Tischen in ihrer Umgebung. Heike und Tom balancierten ihre vollen Tabletts hindurch und setzten sich ihnen gegenüber auf die frei gehaltenen Plätze.

Tom deutete auf den Himmel: »Habt ihr schon gehört? Michael und Iris Sommer haben sich einen Heli gechartert, um auf die Lagalb zu fliegen.«

»Keine schlechte Idee«, meinte Nicolas de Haan, der ihnen gefolgt war. »Dort ist die Gondel abgestellt. Eine unberührte Traumabfahrt – nach dem Neuschnee!« Er stellte sein Tablett ab und zündete sich im Stehen ein Zigarillo an.

»Und du musst uns hier die saubere Luft verpesten? Kannst du nicht wenigstens warten, bis wir gegessen haben?«, rief Heike und wedelte mit ihrer Serviette.

Genussvoll nahm er einen tiefen Zug, stieß den Rauch aus und drehte den Freunden sein ebenmäßiges Profil mit der griechischen Nase zu. Sein Teint war bereits gebräunt, obwohl dies der erste Sonnentag ihres Urlaubs war. Dann schüttelte Nicolas sein dichtes blondes Haar aus der Stirn und schnippte das glühende Zigarillo in den Schnee. Heike warf ihm einen Luftkuss zu.

»Jedenfalls scheint Sommers Bonus für das abgelaufene Jahr nicht so schlecht ausgefallen zu sein, wenn er sich Helitouren leisten kann …«, bemerkte Tom. Er öffnete den Kragen seiner roten Skijacke und lockerte den camelfarbenen Burberry-Schal. Dann drückte er mit der Gabel das Brot auf die Engadiner Wurst und schnitt ein Stück ab. »Ich hoffe, du kennst diesen Trick«, sagte er zu Nicolas, der das gleiche Gericht vor sich stehen hatte. »Ohne das Brot spritzt es. Das letzte Mal habe ich mir meine Bogner-Jacke völlig versaut.«

»Was, du trägst noch Bogner, ich dachte, das sei inzwischen zu russenbesetzt«, rief Claudia eine Spur zu laut.

Tom sah sie an: »Ganz St. Moritz ist russenbesetzt, und trotzdem fahren wir alle hin … nicht wahr, liebe Claudi.«

»Warum seid ihr eigentlich alle so gereizt?«, fragte Susanne, ohne die Augen zu öffnen. »Ihr solltet lieber diesen Traumtag, die Sonne und die Aussicht genießen.«

Heike holte aus ihrer Jackentasche eine Tube Lancaster Sunblocker heraus. Mit nervösen Bewegungen begann sie, eine viel zu große Menge in ihrem Gesicht zu verteilen. Sie hielt die Hand hoch, an der noch jede Menge Sonnencreme klebte, und rief: »Möchte jemand? Kann ich nur jedem empfehlen, diese Alpensonne ist eigentlich das Schlimmste, was man seiner Haut antun kann …«

Susanne drehte sich zu ihr um. Ihre Wangen hatten bereits einen zarten Roséton angenommen.

»Oh Gott, Susanne! Du bist ja schon knallrot im Gesicht. Geh sofort aus der Sonne raus.«

Diese zückte einen Taschenspiegel, um die Bemerkung ihrer Freundin zu überprüfen. Dann zog sie die Lippen nach, strich sich die kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht und band sich einen Pferdeschwanz. »Heike, du übertreibst mal wieder. Ich bin keine Blondine wie du, leide nicht an Neurodermitis, sondern kann mir ein wenig Sonne leisten, ohne hinterher gleich Aloe-vera-Packungen auflegen zu müssen.«

Heike verzog leicht beleidigt das Gesicht und sah auf ihre goldene Cartier Tank: »Meine Güte, Tom, es ist ja schon halb zwei. Du musst die Kinder von der Skischule abholen.«

»Darf ich wenigstens noch aufessen?«

»Bist du verrückt? Die stehen da völlig verloren herum.«

Missmutig steckte Tom sich ein großes Stück Wurst in den Mund, griff sich eine Handvoll Pommes frites und warf seine Serviette auf den Teller.

»Warum sich ein erwachsener, aufgeklärter Mann Pommes frites und fettige Wurst bestellt, ist mir sowieso ein Rätsel. Macht sich nicht inzwischen jeder halbwegs gebildete Mensch über Inhaltsstoffe Gedanken?«, setzte Heike nach, während Tom mit den Augen rollte und die Terrasse verließ.

»Bring doch am besten unsere ganze Bande gleich mit!«, rief ihm Claudia hinterher und murmelte: »Aber eigentlich finden die den Weg auch alleine.«

Dann holte sie ihr iPhone aus der Jackentasche und checkte ihre E-Mails.

Nicolas sah ihr interessiert zu und fragte: »Du weißt ja, wie das Roaming ins Geld gehen kann … also ich stelle den mobilen Datentransfer nur in den WLAN-Netzen der Hotels an.«

Claudia antwortete nicht, sondern hörte ihre Mobilbox ab. Aus ihrem Gesicht wich Sekunden später die Farbe: »Das war’s mit dem Urlaub: Sieht ganz so aus, als müsste ich kurzfristig nach Chemnitz.«

Nicolas hörte auf zu kauen und zog die Augenbrauen hoch: »Schlechte Nachrichten?«

Claudia nickte: »Meine Tante hatte einen Unfall … liegt im Koma … und ich bin die einzige Verwandte, mit der sie noch Kontakt hatte.«

»Nun, du wirst Zug fahren müssen, der Julierpass ist gesperrt – Lawinengefahr.«

[home]

Heike und Susanne

Wahnsinn, warum haben wir das Jet-Set-Outlet eigentlich nicht schon früher entdeckt?«, seufzte Susanne und drehte sich in einer weißen Skihose mit kakifarbenen Ledersternen vor dem Spiegel.

»Also ich weiß nicht recht …«, murrte Heike, die gerade mit spitzen Fingern eine Fellweste mit Farbverlauf von Gelb bis Lila vom Tisch hob, »… meines Erachtens sind die meisten Sachen nicht nur aus der letzten, sondern sogar aus der vorletzten Saison …« Sie hielt die Weste hoch und legte den Kopf schief. »Obwohl, dieses Teil hier … ist gar nicht mal so übel …«, sie drehte das Preisschild um, »… für achtzig Franken! Die hat vorher mal neunhundert gekostet.«

»Na, dann los«, lachte Susanne, »lass uns die Fummel einpacken!«

 

Sie verließen das Outlet und kämpften sich durch das immer stärker werdende Schneetreiben auf dem schmalen Gehsteig der Via Maistra voran, in den Ortskern von St. Moritz. Heike trug Fellmütze und Sonnenbrille, schon bald bildeten die dicken Flocken eine weiße Haube auf den Kaninchenhaaren. »Wenn das so weitergeht, war gestern unser einziger richtiger Skitag. Langsam weiß ich nicht mehr, wohin mit den ganzen Einkäufen. Ich habe schon vorsorglich überall die Etiketten abgeschnitten und die Tüten gar nicht erst mit ins Hotelzimmer genommen, damit Tom nichts merkt …«

»Das alte Spiel?«, grinste Susanne, bevor sie vor dem Prada-Store stehen blieb und in das Innere des Ladens sah. »Guck mal da: Kennen wir die nicht?« Sie deutete auf eine kleine, untersetzte Frau mit Kurzhaarschnitt, die sich in einem hautengen rotbraunen Lederkleid in Pose stellte. Mit dem Rücken zum Fenster, auf einer Couch, saß ein Mann mit gelglänzenden schwarzen Haaren, neben prasselndem Kaminfeuer. Er sah nur kurz von seinem Smartphone auf, reckte den Daumen in die Luft und drehte ihn abwägend hin und her.

»Sollen wir reingehen und sie begrüßen?«, fragte Heike.

Susanne sah sie durch ihre grünen Brillengläser an: »Warum nicht? Ich kenne inzwischen sowohl das komplette Sortiment auf der Via Maistra als auch auf der Via Serlas, und langsam werden sogar Gucci und Roberto Cavalli langweilig.«

Sie gingen in Richtung Ladentür, die ihnen sogleich von einem in Schwarz gekleideten Türsteher geöffnet wurde. Iris Sommer bemühte sich gerade, das Kleid über ihren Hüften weiter nach unten zu ziehen, als sie aufblickte und die beiden erkannte. »Nein, das gibt’s ja nicht! Anscheinend sammelt sich diesen Winter der halbe Vordertaunus im Engadin. Letztes Jahr war es doch noch Lech …«

»… was angesichts des Wechselkurses auch weitaus vernünftiger gewesen wäre …«, ergänzte Michael Sommer und erhob sich, um Susanne und Heike mit Wangenküssen zu begrüßen.

»Aber dafür kostet der Skipass diese Saison nur fünfundzwanzig Franken pro Tag!«, antwortete Heike.

»Und, was meint ihr?«, fragte Iris Sommer und strich über das Lederkleid.

»Eine Nummer zu klein«, kam es prompt von Heike. Iris’ Gesicht wurde wächsern. Es entstand eine Pause. Dann schnalzte sie mit der Zunge und gab der Verkäuferin Anweisung, das Kleid in Größe 42 zu holen.

»Wie war denn Ihr Heli-Trip auf die Lagalb?«, wechselte Susanne rasch das Thema.

»Phantastisch!«, antwortete Iris. »Traumhafter Tiefschnee! Wenn wir gewusst hätten, dass Sie beide auch in St. Moritz sind, hätten wir Sie mitnehmen können. Wir hatten noch Plätze frei, die Kinder waren ja in der Skischule.« Sie wandte sich an ihren Mann, der sich inzwischen wieder gesetzt hatte. »Nicht wahr, Michael, wäre das nicht nett gewesen?«

Michael Sommer nickte, ohne den Blick von seinem Smartphone abzuwenden: »Ja, sicher, sicher …«

»Na«, meinte Heike cool, »kann man ja immer noch irgendwann mal machen. Wir sind schließlich jedes Jahr hier, und die Lagalb ist eigentlich ein wenig flach … Ihr habt kurzfristig gebucht? Und da gab es noch Zimmer?«

»Zwei Junior-Suiten im Kempinski konnten wir noch ergattern. Es ist ein wenig beengt, aber für eine Woche kommen wir damit klar«, setzte ihr Iris Sommer auseinander.

»Teuer geht immer!«, kommentierte ihr Mann und hielt auf einmal sein Smartphone in die Höhe: »Sieh mal einer an. Jetzt wird die Eichberg-Villa schon vom vierten Makler angeboten.« Er hob den Kopf und suchte Heikes Blick. »Langsam bewegt sich der Preis für das Grundstück eurer Nachbarn auf ein attraktives Niveau zu. Soweit ich weiß, hat dein Mann auch schon ein Gebot abgegeben.«

Heike lief rot an. Tom hatte ihr nichts davon erzählt. »Ja … natürlich …«, stammelte sie, »so eine Gelegenheit kann man sich doch nicht entgehen lassen … und wie steht es mit euch?«

Michael Sommer schüttelte energisch den Kopf: »Mit diesen minimalen Baufenstern und dem Denkmalschutz an der Backe ist es immer noch ein reines Liebhaberobjekt. Für euch wäre es natürlich die Gelegenheit, den Garten ein wenig zu vergrößern. Aber die Gebäude entsprechen einfach nicht unseren Ansprüchen.«

»Das ist der Nachteil, wenn man auch noch im Urlaub Königsteiner trifft. Schon geht es wieder um die ewig gleichen Themen. Aber habt ihr das von dem vermissten Schüler im Alpeninternat gehört?«, schaltete sich seine Frau ein. Sie hatte inzwischen das Lederkleid in Größe 42 an und baute sich erneut vor dem Spiegel auf. »Ist nicht der Sohn von Ihrem …«, sie schien nach dem richtigen Ausdruck zu suchen und sah dabei Susanne an, »… Lebensgefährten auf dieser Schule?«

Susanne nickte und fragte: »Ja, stimmt. Und wer wird da vermisst?«

»Es stand gestern in der Schweizer Illustrierten, ich habe sie beim Hotelfriseur gelesen, bin übrigens froh, wenn ich endlich wieder zu Matthias in Kronberg gehen kann!« Sie zupfte unzufrieden an ihrer brünetten Kurzhaarfrisur herum.

»Ist mir eindeutig zu moskauerisch geraten, ich konnte den Coiffeur gerade noch davon abhalten, mir rote Strähnen reinzufärben … aber wie dem auch sei … der Sohn eines Hoteliers, hier aus der Region, Carsten Bucher heißt er, glaube ich. Ist schon seit Mitte Dezember aus dem Internat verschwunden. Kam einfach nach dem Wochenende nicht ins Internat zurück, war aber auch nicht zu Hause. Es fehlt jede Spur von ihm.«

»Das habe ich gar nicht gelesen, und Marcel hat auch nichts davon erzählt …«, sagte Susanne, und Iris sah sie einen Augenblick lang verwundert an: »Das muss doch schon früher durch die Presse gegangen sein …« Dann stampfte sie zurück in die Umkleidekabine: »Na, von mir aus nehme ich es. Aber lange lasse ich mir das nicht mehr bieten. Früher war eine italienische 46 noch eine deutsche 40, und da habe ich auch immer reingepasst. Doch Miuccia Prada glaubt offenbar, uns für dumm verkaufen zu können!«

Heike fragte die Verkäuferin: »Haben Sie eigentlich noch diese Kristallohrringe mit den Kunstharzrosen?«

Die Verkäuferin schüttelte mit unbewegtem Gesicht den Kopf: »Leider alle ausverkauft.«

Susanne zeigte auf eine hübsche dunkelhaarige Frau, die gerade den zweiten Clip an ihrem Ohr befestigte. Sie drehte den Kopf hin und her, und die hellblauen Swarovski-Kristalle blitzten unter den Halogenspots. Ihr gutaussehender Begleiter in schwarzer Daunenjacke und weißem T-Shirt gab Kommentare in russischer Sprache dazu ab. Nur der halbwüchsige Junge, der offenbar auch dazugehörte, sah weiter gebannt auf den Bildschirm seines Smartphones.

»Sieh mal da, meintest du vielleicht diese?«, fragte Susanne.

Heike verzog den Mund zu einem künstlichen Lächeln und wandte sich erneut an die Verkäuferin, die gerade mit Iris’ Lederkleid zur Kasse ging: »Gibt es bei Ihnen womöglich Kunden erster und zweiter Klasse?«

Sie blieb stehen, und ihre Augen verengten sich: »Wie meinen Sie das?«

Heike deutete auf die Frau mit den Ohrringen: »Ausverkauft, ja?«

Die Verkäuferin zuckte mit den Schultern: »Das war dann wohl das letzte Paar – vielleicht eine Retoure«, und wendete sich ab.

Die russische Schönheit bemerkte, wie Heike und Susanne sie anstarrten, und schenkte ihnen ein entwaffnendes Lächeln, das strahlend weiße, ebenmäßige Zähne freilegte. Sie war kaum geschminkt und hatte schulterlange, ebenholzfarbene Haare, die unfrisiert wirkten, ihrem breiten Gesicht mit dem hellen Teint jedoch einen perfekt natürlichen Rahmen gaben.

Heike erwiderte das Lächeln zögernd.

»Do you like these earrings? Do they really fit me?«, fragte die Frau an Heike und Susanne gewandt. Ihre englische Aussprache klang hart.

Heike trat näher und wog ihre Antwort genauestens ab. Nach einer Weile sagte sie: »Probably white or coral would go better with your beautiful dark eyes.«

Die Frau sah ihr sekundenlang in die blauen Augen und schien zu spüren, dass sie es ehrlich meinte. »Probably you are right. They would fit you much better than me.«

Sie zog die Clips von ihren Ohrläppchen ab, legte sie auf die Glastheke und sagte etwas in ihrer Muttersprache zu dem Mann.

Der ließ einige kurze abgehackte Sätze hören, aus denen zu schließen war, dass er ihre Meinung nicht teilte. Dann wies er die wartende Verkäuferin an, ihm die Ohrringe einzupacken. Die hübsche Frau schüttelte den Kopf und machte eine bedauernde Geste in Heikes Richtung.

Heike starrte die beiden an, bis Susanne sie am Oberarm packte und flüsterte: »Komm jetzt endlich, sonst wird es peinlich. Du siehst doch, dass sie die Ohrringe kaufen.«

Heike warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf den funkelnden Modeschmuck, der gerade in einem Kästchen auf Samtkissen gebettet wurde und zusammen mit unzähligen Kleidungsstücken und Taschen für die russische Familie eingepackt wurde.

»Mach dir nichts draus«, hörte sie die durchdringende Stimme von Iris Sommer neben sich sagen. »Gegen diese Oligarchen kommen wir einfach nicht an, Heike. Aber ich bin auch mit dem wenigen zufrieden, das wir haben.«

Und alle drei sahen zu, wie Michael Sommer die Rechnung für seine Frau beglich.

[home]

Claudia

Sie stand vor der Scheibe des Krankenzimmers und betrachtete die weißhaarige Frau mit dem bleichen, schiefen Gesicht, die einmal ihre Tante gewesen war. Der linke Mundwinkel schien noch weiter herunterzuhängen, als sie es in Erinnerung hatte. In gleichmäßigen Abständen hob und senkte sich der Brustkorb, jedes Mal, wenn die Lungenmaschine Sauerstoff durch den mit weißen Heftpflastern befestigten Schlauch in ihren Hals pumpte. Eine Kanüle leitete langsam klare Flüssigkeit in Ediths Armvene.

Claudia drehte sich um: »Kann ich jetzt bitte den behandelnden Arzt sprechen?«, fragte sie eine vorbeieilende Krankenschwester.

»Er ist noch im OP. Ein Notfall. Das kann dauern. Möchten Sie warten, oder kommen Sie lieber morgen wieder?«, rief ihr die hagere, kleine Frau zu, ohne stehen zu bleiben.

Claudia folgte ihr: »Morgen? Wissen Sie eigentlich, was Sie da sagen? Ich unterbreche meinen Urlaub, komme extra aus der Schweiz angereist … außerdem bin ich alleinerziehende Mutter von drei Kindern!« Sie holte Luft. »Und Rechtsanwältin. Es muss doch wohl möglich sein, eine Person zu sprechen, die für die Behandlung meiner Tante verantwortlich ist. Sonst gehe ich gleich zur Krankenhausleitung.«

Die Krankenschwester blieb am Ende des Gangs stehen und musterte Claudia missvergnügt. Dieser wurde bewusst, dass sie mit ihrem pinkfarbenen Missoni-Mantel, den sie sich, dank Heikes Überredungskünsten, in St. Moritz geleistet hatte, und den spitz zulaufenden lila Gucci-Cowboystiefeln womöglich etwas deplaziert wirkte. Und sie wurde in diesem unpassenden Moment daran erinnert, dass sie durch die überflüssigen Ausgaben ihr Konto viel zu weit überzogen hatte.

»Da werden Sie um diese Zeit auch niemanden mehr antreffen. Das Büro der Verwaltung ist seit 15 Uhr 30 geschlossen. Aber morgen ab 7 Uhr können Sie sich dort beschweren.«

Damit verschwand sie hinter einer Tür.

Claudia hob die Schultern und ging langsam wieder zu dem Fenster zurück. Resigniert sah sie ihrer Tante beim Atmen zu. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Sollte sie in ein Hotel gehen? Im Chemnitzer Hof, dem einzigen Hotel der Stadt, das ihren Ansprüchen genügte, gab es kein Zimmer unter dreihundert Euro, und ihr Budget für den Monat war schon längst aufgebraucht. Sie hatte sich den Skiurlaub schon nicht leisten können, aber Nicolas hatte sie eingeladen.

Ihr fiel das alte Kindermädchen ihrer Tante ein. Vielleicht hatte Christel Höppner einen Schlüssel zum Gutshaus.

 

Eine Stunde später parkte sie ihren Mietwagen, einen mausgrauen Fiat 500, im Hof des Mühlenguts und sah sich um. Das Licht im Gutshof hatte sich automatisch eingeschaltet – ein Bewegungsmelder. Die Fassaden wurden angestrahlt. Hier hatte sich seit ihrem letzten Besuch einiges verändert. Das Gutshaus, die Scheune, die Stallungen, alles war frisch verputzt und gestrichen, die Dächer gedeckt, im Gutshaus waren neue Fenster und eine originalgetreue, doppelflügelige Eingangstür aus schwerer Eiche mit den alten Glasfenstern eingesetzt worden. Ihre Tanten hatten bei ihrer Rückkehr nach Adelsberg offenbar reichlich investiert. Claudia stieg die fünf breiten Sandsteinstufen der Freitreppe zum Herrenhaus hinauf und schloss die Tür auf. Eine angenehme Wärme schlug ihr entgegen. Sie machte Licht, betrat die Eingangshalle, zog ihren Wollmantel aus und hängte ihn an einen der Garderobenhaken aus weißem Porzellan. Darunter stand ein Paar schwarzer, spiegelblank geputzter Reitstiefel. Die Holzknäufe der Schaftspanner ragten über den braunen Oberrand. Es waren die alten Stiefel von Claudias Urgroßvater.

Claudia ging langsam durch die hohe Eingangshalle, von der aus die mit einem roten Läufer belegte, ausladende Eichenholztreppe in das obere Stockwerk führte. Auf der Schwelle zu einem der angrenzenden Wohnräume blieb sie stehen und hatte ein Déjà-vu: Die Jugendstiltapete, der Blüthner-Flügel, die alten Kirschholzmöbel … damit sah der riesige rechteckige Raum fast exakt so aus wie das Wohnzimmer ihrer Großmutter in Berlin, nur viel größer. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotos, Ölbilder, Szenen aus der Landwirtschaft. Auch auf dem zugeklappten Flügel standen alte Aufnahmen in silbernen Rahmen.

Obwohl Claudia die Möbel in dem Zimmer so vertraut waren, hatte sie ein seltsam beklemmendes Gefühl, als sie im Türrahmen stand. Etwas hielt sie davon ab, den Raum zu betreten. An der einen schmalen Wand, ganz am Ende des Saals, hing sein Porträt, überlebensgroß. Er war ein gutaussehender Mann gewesen. Ein schmales Falkengesicht, hellblondes Haar, gestutzter Oberlippenbart. Seine Augen blickten kalt, herrisch und schienen genau auf sie gerichtet zu sein. Die Farbe der Iris war ihr wohlbekannt: eine Mischung aus Grün und Kupfergelb, die wie ein Bernstein schimmerte – denn die Augen ihres Urgroßvaters glichen exakt ihren eigenen.

Claudia wurde bewusst, dass der Raum völlig unbewohnt aussah. Nichts lag herum, keine Zeitung, kein Buch, keine Brille. Zudem gab es keinen Fernseher. Das kam Claudia höchst verdächtig vor. Ihre Tante war siebenundachtzig Jahre alt. Sie hatte sie nicht besonders gut gekannt. So viel musste sie sich wohl eingestehen. Aber Frauen in diesem Alter gingen doch kaum je zu Bett, ohne einen oder mehrere Blicke mit Günther Jauch ausgetauscht oder eine Folge des »Landarztes« gesehen zu haben, oder? Claudia musterte die symmetrische Reihe der Kissen auf den zu zwei Sitzgruppen arrangierten Sesseln und Sofas – als hätte dort noch nie jemand gesessen. Sie wischte mit dem Zeigefinger über das auf Hochglanz polierte Beistelltischchen und betrachtete ihn: kein Fussel, kein Staubkorn.

Auch das übrige Mobiliar besah sie sich jetzt genauer. Aus den Erzählungen ihres Vaters und ihrer Tanten wusste sie, dass es von den Deutschen Werkstätten Hellerau im Jahr 1924 für ihre Urgroßeltern angefertigt worden war. Sie wusste auch, dass ihr Großvater, Offizier der Wehrmacht, gefallen war und ihre Oma das Gut während des Kriegs alleine mit ihrem alten, gebrechlich gewordenen Vater führen musste. Einige Jahre vor dem Mauerbau war sie mit ihm und den jüngsten Kindern nach Westberlin in eine Mietwohnung übergesiedelt. Die DDR-Regierung ließ die Felder von der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft bewirtschaften, die Gebäude verfielen. Claudia hatte bald nach der Wende für ihren Vater und dessen Geschwister den Rechtsstreit mit dem Amt für Offene Vermögensfragen geführt, um den Grundbesitz zurückzubekommen. Die unverheirateten Töchter Edith und Elsa hatten dank eines Vermächtnisses ihrer Mutter deren Möbel erhalten und waren damit in den neunziger Jahren wieder zurück auf den Hof gezogen.

 

Sie ging weiter durch das Haus, öffnete Türen, stieg die restaurierte Holztreppe hoch und sah in die Schlafzimmer. Das ganze Herrenhaus wirkte perfekt. Penibel aufgeräumt. Alles schien vollkommen originalgetreu renoviert und eingerichtet zu sein. Allerdings ohne jeden Hinweis darauf, dass hier tatsächlich jemand wohnte. Sie betrat eines der früheren Kinderzimmer, mit zwei Betten an den gegenüberliegenden Wänden. Auf dem einen saß ein antiker Steiff-Schimpanse und auf dem anderen ein Teddybär. An der Wand hingen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos von Claudias Vater und seinem Bruder Max. Sie zeigten die beiden mit Holzrechen in der Hand, bei der Erntearbeit, auf Reitpferden in einem Springparcours, in der Uniform der Hitlerjugend und mit ihren Schulklassen. Ausnahmslos Bilder aus der Kindheit auf dem Gut. Und plötzlich wusste Claudia, was hier nicht stimmte: Ihre Tante hatte sich kein Wohnhaus eingerichtet … sondern ein Museum.

[home]

Heike

Wie viele Funktionen nutzen Sie bei Ihrem iPhone regelmäßig?‹«

»Die Anruffunktion, die SMS-Funktion, E-Mails, Kalender, Facebook, Safari, Fotos … ach, und die Mailboxabfrage, aber nur im Inland.«

»Hm, okay, das sind ziemlich viele … ›Und warum haben Sie sich für ein iPhone entschieden … a, weil es funktional ist, b, keine Bedienungsanleitung hat, c, wegen des Designs, d, weil es im Angebot war, e, ihr Vertrag verlängert wurde oder f, weil es trendig ist?‹«

»Nun, b, c, e und f.«

»Guut. ›Sie überhören in der Regel … das Klingeln Ihres iPhones … Erst nach Tagen ohne Anrufe bemerken Sie … dass der Akku leer ist‹ …« Sie sah auf: »Das trifft, glaube ich, beides auf dich zu. ›Besaßen Sie bereits das Vorgängermodell?‹«

»Aber das weißt du doch!«

Chloé sah ihre Mutter streng an: »Also … nein …«, und tippte die Antwort auf ihrer Touchscreen-Tastatur ein.

»›Werden Sie sich auch das Nachfolgemodell anschaffen?‹«

Heike neigte abwägend den Kopf zur Seite: »Hm, vermutlich. Aber vielleicht wird es auch das limitierte Constellation Blue von Lapo Elkann.«

Jetzt rümpfte Chloé empört die Nase: »Ihh, bist du verrückt! Vertu ist so was von out!«

Heike zuckte die Achseln und lehnte sich auf dem grünen Polstersessel in der Lobby des Suvretta House zurück: »Ich muss ja nicht denselben Geschmack wie meine vierzehnjährige Tochter haben. Manchmal vermisse ich übrigens auch mein altes Motorola Razr.«

Chloé runzelte die Stirn und las weiter: »›Brauchen Sie zum Bedienen des iPhones eine Lesebrille?‹« Dann griff sie in die Silberschale mit den Chips, die der Kellner gerade zusammen mit ihrer Rivella Blau auf den Coffeetable stellte.

Ihre Mutter schüttelte missbilligend den Kopf: »Nein, zum Glück noch nicht.«

»Oo-kay, einen Moment … also: Es gibt sieben verschiedene Arten von iPhone-Nutzern. Und du bist haarscharf an Nr. 6 – dem Rentner – vorbeigeschlittert.«

»Puh«, Heike grinste, »da habe ich ja noch mal Glück gehabt.«

»Aber nur, weil du noch keine Lesebrille brauchst und mehr als drei Funktionen nutzt«, stellte Chloé klar.

»Und was bin ich dann?«

»Das würde mich auch interessieren«, schaltete sich Tom ein, der zusammen mit Carlo auf ihre Sitzgruppe zugeschlendert kam und sich neben Chloé auf das Sofa sinken ließ. Er trug bereits seinen Smoking, Carlo steckte in einem dunkelblauen Blazer mit dezent gepunkteter Krawatte.

»Du bist Nr. 2: die Undankbare!«, posaunte Chloé heraus.

»Woher wissen die das?«, fragte Tom.

Heike: »Es geht nur ums iPhone … ein Test von Win Bild …«

»Also … ›diese spezielle iPhone-Nutzerin besitzt das iPhone, weil es trendig ist …«, las Chloé von ihrem Bildschirm ab, »… im Angebot war oder ihr Vertrag verlängert wurde. Was es wirklich kann, ist ihr im Prinzip egal, solange sie damit Facebook nutzen, SMS schreiben und telefonieren kann. Sie beschwert sich, wie sperrig das iPhone ist und‹ … aufgepasst … jetzt kommt es: ›… vermisst ihr altes Motorola Razr.‹«

»Sag ich doch!«, kommentierte Heike. »Demnach bin ich nicht die Einzige, der es so geht.«

»Zumindest von der Akkulaufzeit gleichen sich die beiden.«

Chloé sah sich beifallheischend um.

»Fazit?«, erkundigte sich Tom.

»›Besuchen Sie unseren Workshop zum Thema: Auf Augenhöhe mit meinem iPhone‹«, las Chloé vor.

»Was denn, das ist alles?«, fragte Heike.

»Na dann!« Tom schlug sich auf die Schenkel. »Wollen wir?«

»Kommen Susanne, Woletzki und die Jungs nicht zum Abendessen?«, fragte Heike, stand auf, zupfte Chloés schwarzen Tüllrock in Form und rückte Carlos Krawattenknoten gerade.

»Ich glaube, sie sitzen schon.« Tom bot Heike den Arm, und sie hakte sich ein.

»Versprich mir, dass wir nächstes Jahr wieder in ein Sporthotel oder eine Wohnung gehen. Jeden Abend Black Tie und sogar Krawatten-Zwang für kleine Jungs ist schon an der Grenze des Erträglichen«, raunte er ihr zu, während sie zu viert in den Speisesaal einliefen. Heike achtete nicht auf ihn, sondern sog in tiefen Zügen die Atmosphäre des Grand Restaurant ein: Das gedämpfte Licht, die dunkle Täfelung, hoch aufragende Säulen aus schwerer Eiche, darüber eine aufwendig verzierte Kassettendecke.

»Also ich finde, dieser Saal atmet Geschichte«, sagte sie, während sie sich von Tom den Stuhl unter den Po schieben ließ.

 

»Ich glaube, er möchte zu dir.«

Woletzki tippte Heikes Oberarm an und zeigte auf den Mann mit der weinroten Uniform. Der Portier kam ihnen mit einem kleinen Päckchen entgegen, als sie einige Zeit später gerade vom Speisesaal zur Bar gingen.

»Madame, es ist etwas für Sie abgegeben worden.«

Heike sah die anderen fragend an.

»Na los, mach es schon auf!«, forderte Susanne sie ungeduldig auf. Heike wickelte das dunkelviolette Papier ab und hielt eine Schatulle gleicher Farbe mit dem goldenen Schriftzug PRADA in der Hand. Sie klappte sie auf.

»Sag mal, träum ich?«, fragte sie.

Vor ihr lagen die blauen Kristallohrringe mit den Röschen.

»Wow, darf ich die auch mal anziehen?«, fragte Chloé sofort.

Heike suchte nach einer Karte, aber vergeblich. Sie ging zum Desk und fragte, ob ein Brief dabei gewesen sei, was der Portier verneinte.

»Und wissen Sie zufällig, wer das Päckchen abgegeben hat?«

Er zog bedauernd die Schultern hoch: »Tut mir leid, Madame, hier ist ein Kommen und Gehen.«

Heike sah Susanne an: »Eine ziemlich großzügige Geste, oder?«

»Kann man wohl sagen.«

»Wollt ihr uns vielleicht mal aufklären?«, fragte Tom leicht gereizt.

Sie schlenderten weiter in die vollbesetzte Club Bar.

»Haben Sie reserviert?«, fragte die Kellnerin.

Tom schüttelte den Kopf. »Nein, an den letzten Abenden gab es immer genügend freie Plätze.«

»Aber heute ist der 6. Januar: Russische Weihnachten.« Sie blickte ihm mit echtem Bedauern in die Augen. »Sie sehen ja selbst …« Dabei deutete sie auf die roten Samtsessel, die sämtlich von Frauen mit blassen Armen in grellen ärmellosen Abendkleidern und Männern in engen Smokings mit aufgeknöpften Hemden und lose umgehängten Fliegen belegt waren. Man hatte sogar noch Stühle aus der Suvretta-Stube herangeschafft, um sämtlichen Mitgliedern der russischen Großfamilien Sitzplätze zu verschaffen. Auf jedem der kleinen Marmortische standen Eiskübel mit Champagner und Wodkaflaschen. In einer Ecke wurde ein russisches Lied angestimmt. An den anderen Tischen begann man, einzustimmen und im Takt zu klatschen.

»Komm, lass uns woandershin gehen«, meinte Woletzki beschwichtigend zu Tom, »ich war lange nicht mehr in der Dracula Bar … muss Jahre her sein.«

»Meinst du vielleicht, da ist es besser? Da sitzen ebenfalls die ganzen Sergeijs und Anatolijs mit ihren zehn Jahre jüngeren, blondgefärbten Nataljas, deren Müttern und Tanten, und nach dem fünften Wodka singen sie alle schluchzend Lieder über die Heimat!«

Missmutig drehte er sich um. Die anderen folgten ihm. Heike wippte im Takt des immer noch vernehmbaren Gesangs. Sie befestigte die Clips an ihren Ohrläppchen, während Susanne Woletzki von ihrer Begegnung mit der russischen Familie im Prada-Laden erzählte.

»Merkwürdige Geschichte«, meinte Tom, und an Heike gewandt: »Hast du dir mal überlegt, was die eigentlich damit bezwecken, dir so ein Geschenk zu machen … und wenn du mich fragst, sind die Dinger einigermaßen kitschig.«

»Dich fragt aber keiner!«, fauchte Heike beleidigt. »Du hast doch überhaupt keinen Sinn für Mode und Styling.«

»Eine ganz andere Frage wäre, woher sie eigentlich wissen, in welchem Hotel du wohnst«, bemerkte Woletzki.

[home]

Claudia

Da war Ihre Tante sehr vorausschauend.«

Der Oberarzt mit dem dunkelblonden Stoppelhaarschnitt, der sich als Dr. Illner vorgestellt hatte, sah Claudia forschend an, als sie ihm die Papiere aushändigte, die ihr Christel Höppner kommentarlos mitgegeben hatte.

Claudia war froh, bei ihrer Kleidungswahl diesmal überlegter vorgegangen zu sein. Sie trug Jeans und eine schwarze Allwetterjacke. Nach ihrem kurzen Ausflug in die Fußgängerzone, wo sie sich zwei paar Strümpfe gekauft hatte, die sie vergessen hatte einzupacken, war sie überzeugt, dass kaum ein Chemnitzer in der Lage sein würde, das weiße »Moncler«-Emblem auf ihrem Ärmel einzuordnen. Sie hatte allerdings bei ihrer übereilten Abreise nur ein einziges Paar Schuhe mitgenommen, und genau an diesen blieb Dr. Illners Blick hängen – lila Cowboystiefel.

»Wussten Sie davon?«, sagte er und starrte immer noch auf ihre Füße. Der sächsische Einschlag wirkte auf Claudia anheimelnd. Ihre Großmutter, ihr Vater, ihre Tanten und Onkel hatten mehr oder weniger stark gesächselt.

Sie schüttelte den Kopf: »Nein. Aber es sieht ihr ähnlich. Sie war Finanzbeamtin und ist alle juristischen Angelegenheiten ziemlich akribisch, um nicht zu sagen … verbissen angegangen.«

Dr. Illner überflog die erste Seite, und Claudia nutzte die Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig, trotz der scharfen Falten, die sich von seinen Nasenflügeln zu den Mundwinkeln zogen. Aus seinem weißen Kittel schaute ein braun-grau-geblümter Hemdkragen hervor. Ein scheußliches Stoffmuster. In einem Ohrläppchen trug er eine silberne Creole.

Dann hob er den Kopf: »In der Vorsorgevollmacht ist Ihr Name genannt.«

»Ich habe sie gelesen … ebenso wie die Patientenverfügung.«

Er blätterte die Seite um und schluckte vernehmlich.

»Ja, so ging es mir auch«, sagte Claudia.

»Dann wissen Sie, was das für Ihre Tante bedeutet?«

Claudia nickte langsam: »Sie wünscht, im Falle, dass sie einwilligungsunfähig ist, in den unter A genannten Situationen, zum Beispiel bei Schädel-Hirn-Trauma, keine lebenserhaltenden Maßnahmen …« Claudia ließ sich die Papiere wieder von ihm aushändigen und las ab: »… ›keine künstliche Beatmung mehr bzw. eine schon eingeleitete einzustellen. Ich setze voraus …«, zitierte sie, »… dass ich Medikamente zur Linderung der Atemnot bekomme. Dann keine künstliche Ernährung mehr, unabhängig von der Form der Zuführung …« Sie sah kurz auf und hatte Mühe, die Fassung zu bewahren, als sie weiterlas: »… zum Beispiel Magensonde durch Nase oder Bauchdecke, venöse Zugänge‹ …«

»Eine ziemlich weitreichende Entscheidung … War Ihre Tante … gläubig?«, fragte er.

Claudia zögerte. »Offen gesagt, weiß ich es nicht. In letzter Zeit habe ich sie nicht mehr oft gesehen, sie war mit der Familie zerstritten. Und früher ist mir nicht aufgefallen, ob sie häufig in die Kirche ging oder dergleichen. Wir sind Hugenotten … französische Protestanten. Meine Vorfahren väterlicherseits sind damals aus Lyon eingewandert, aber das ist natürlich schon Jahrhunderte her …«

»Nun, man muss nicht unbedingt ein fleißiger Kirchgänger sein und kann trotzdem dem christlichen Glauben anhängen. Ich meine nur, diese radikale Verfügung würde damit womöglich in Widerspruch stehen. Aber Sie, als Bevollmächtigte, sind auch dazu da, dem wirklichen Willen der Patientin Gehör zu verschaffen.«

»Tja, deshalb bin ich hier. Ich habe die Papiere von unserem alten Kindermädchen bekommen. Wir sagen immer noch Kindermädchen, obwohl sie schon über neunzig ist.«

Dr. Illner lächelte, und Claudia hatte zum ersten Mal das Gefühl, eine Art Warmherzigkeit bei ihm zu spüren. »Haben Sie sich mit ihr darüber unterhalten? Vielleicht weiß sie ja Näheres über die Beweggründe Ihrer Tante.«

»Nein, sie hatte gerade keine Zeit. Die Papiere gab sie mir in einem verschlossenen Umschlag mit und wies nur darauf hin, dass die Originale bei einem Notar hinterlegt seien. Meine Tante ist also auf Nummer sicher gegangen.«

Der Arzt griff wieder nach den Dokumenten und besah sie sich genauer. »Ach so, das sind nur Kopien. Wir müssten natürlich die Originalpapiere vorliegen haben. Können Sie sie besorgen?«

Claudia nickte: »Wie steht es wirklich um sie?«

Er zögerte. Nach einer Weile antwortete er: »Sie hatte schwere Blutungen im Kopf. Wir mussten den Schädel öffnen, damit das Blut abfließen konnte. Wir beatmen sie künstlich, geben Infusionen, fahren die Körpertemperatur herunter, um ihr Gehirn zu schützen. Damit sie nicht zu zittern beginnt, bekommt sie leichte Muskelentspannungsmittel. Und starke Schmerzmittel, für den Fall, dass sie leidet. Und …« Er stockte.

»Ja?«, fragte Claudia.

»Ich glaube, dass sie präfinal ist.«

»Und das heißt?«

»Dass ich vermehrt Anzeichen für einen bevorstehenden Hirntod sehe. Ich weiß, dass es für die Angehörigen immer schwierig ist, darüber zu sprechen. Aber das Thema Organspende sollte man nicht außer Acht lassen … Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen …« Er sah Claudia nicht an und fuhr dann fort: »Aber keine Sorge: im Moment behandeln wir sie natürlich patientenzentriert … also in der Hoffnung, dass sie überlebt.«

Claudia kniff die Lippen zusammen und nickte, dann streckte sie die Hand aus, um sich zu verabschieden. »Was mir noch einfällt: Wissen Sie eigentlich, wer meine Tante gefunden hat?«

Dr. Illner zuckte mit den Achseln: »Ich hatte keinen Dienst, als sie eingeliefert wurde. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Aber sie war unterkühlt, so viel stand in der Krankenakte. Demnach muss sie länger im Freien oder an einem ungeheizten Ort gelegen haben. Eigentlich ein Wunder, dass sie das überhaupt überlebt hat.«

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er immer noch Claudias Hand festhielt, und er lockerte den Griff. Sie dankte ihm, drehte sich um und ging langsam zur Tür. Ihr wurde klar, dass sie nicht, wie geplant, einfach am nächsten Tag wieder fahren konnte.

 

Als sie mit ihrem mausgrauen Fiat durch die Stadt kurvte, spielte ihr Handy »Sunglasses At Night«, und sie wühlte in ihrer Tasche.

»Nicolas, hi! Wie geht’s den Kindern?«

»Bes-tens. Alles perfekt!«

»Sicher?«

»Ja, klar, warum fragst du?«

»Die Antwort kam eine Spur zu zackig.«

»Na ja … Das einzige Problem besteht darin, deine und meine Tochter morgens zum Skifahren zu animieren … Sie testen das St. Moritzer Nachtleben ziemlich ausgiebig, zusammen mit Woletzkis Söhnen und deren Internatsfreunden aus Zuoz …«

»Bist du wahnsinnig? Sie sind erst sechzehn!«

»Komm schon, du kennst sie doch, und es sind schließlich Ferien!«

»Eben gerade weil ich Julia kenne – hoffentlich keine Alkoholexzesse!«

»Keine Sorge, Marcel passt schon auf sie auf.«

»Ausgerechnet dieser Marcel … von dem habe ich nicht viel Gutes gehört … aber immerhin ist es erfreulich, dass sich Johanna und Julia so gut verstehen.«

Sie fuhr an der gewaltigen Bronzestatue vorbei und sagte laut: »Alter Nischel.«

»Wie bitte?«, fragte Nicolas.

»Der Kopf von Karl Marx, da bin ich gerade vorbeigekommen. Die Chemnitzer nennen ihn Nischel, wusstest du das nicht? Chemnitz hieß doch zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt.«

»Ich war noch nie in Sachsen …«

»Das kann ich sogar verstehen … heute früh musste ich kurz in die Fußgängerzone, und du wirst es mir nicht glauben, aber der Gipfel des Luxus ist hier ein Modeladen von Esprit. Nicht zu fassen, oder? Ich glaube, von jemandem wie Karl Lagerfeld haben die hier noch nie gehört – und das dreiundzwanzig Jahre nach der Wende!«

»Das wiederum hört sich überheblich und abgehoben an!«

Claudia hielt vor einer roten Ampel und betrachtete die wartenden Menschen an einer Bushaltestelle. Der Unterstand war mit Graffiti vollgesprüht.

»Ja, du hast ja recht. Eigentlich mag ich die Chemnitzer. Irgendwie ist es ein Stück Heimat für mich, obwohl ich nie hier gewohnt habe.«

Als Claudia weiter stadtauswärts fuhr, flankierten graue Plattenbauten die breite, ehemals für Militäraufmärsche konzipierte Straße.

»Und wie geht es deiner Tante?«

»Das ist leider hoffnungslos. Sie hat ein Schädel-Hirn-Trauma. Wird künstlich beatmet, künstlich ernährt. Kaum vorstellbar, dass noch Leben in ihr ist. Einfach ein mir fremder Körper, dessen Brust sich regelmäßig hebt und senkt.«

Claudia bog in eine Straße mit Häuschen aus den sechziger Jahren ein. Es war eine ehemalige Laubenkolonie. Durch bizarre Anbauten waren die Datschen nach und nach in Wohnhäuser umgewandelt worden. Ihr wurde auf einmal bewusst, dass der Grund und Boden, auf dem sie standen, ihrer Familie gehörte. Sie parkte vor einem Jägerzaun.

»Und Christel, das ist das alte Kindermädchen meines Vaters, hat mir Unterlagen gegeben, die besagen, dass … oh, da ist sie ja gerade …«

Im selben Moment trat Christel Höppner in einer dunkelbraunen Jacke vor die Tür. Über ihrem Arm hingen zwei Einkaufsnetze.

Claudia öffnete die Autotür. »Tut mir leid, aber ich muss jetzt Schluss machen. Wir können ja später noch mal telefonieren. Ciao, Darling, und achte auf die Kinder!« Sie drückte auf die Beenden-Taste und rief viel zu laut: »Guten Morgen, Christel, hast du jetzt einen Moment Zeit? Ich müsste dir noch ein paar Fragen stellen.«

Christel Höppners von hellroten Äderchen überzogene Wangen verfärbten sich augenblicklich purpurn. Ohne Claudia auch nur anzusehen, huschte sie zu ihrem Fahrrad, das an der Hauswand lehnte, und schob es durch das Gartentor. »Das ist gerade ganz schlecht, Claudia … dringende Besorgungen … beim Lidl sind die Supersonderangebote immer gleich weg …«

Damit stieg sie aufs Rad und trat kräftig in die Pedale.

»Wie heißt der Notar?«, rief Claudia ihr nach.

Doch die zweiundneunzigjährige Christel war schon um die nächste Straßenecke gebogen.

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Julia und Johanna

Mann, mach die Vorhänge zu!«, stöhnte Julia und wälzte sich auf die andere Seite.

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Schon ein Uhr mittags. Wir sind um zwei mit Marcel und den anderen Typen in der Paradiso-Hütte verabredet. Hast du das vergessen?«

»Ist mir egal. Ich will nur schlafen!«

Johanna zog ihr die Decke weg und warf sie auf den schmalen Teppichbodenstreifen zwischen Bett und Wand. Dann stieg sie über leere Wasserflaschen, Papiermüll, Taschentücher, saubere und gebrauchte Stringtangas, Paillettentops und umgekrempelte Jeans weiter in das winzige Badezimmer.

»Jetzt weiß ich endlich, warum ich die ganze Nacht geträumt habe, ich sei auf einer River-Rafting-Tour«, bemerkte sie und drehte den Wasserhahn zu, bevor sie begann, sich mit ihrer elektrischen Zahnbürste ausgiebig die Zähne zu putzen.

 

Eine Dreiviertelstunde später stiegen sie in die Gondel ein, und Julia steckte sich einen Kaugummi in den Mund.

»Statt Zähneputzen?«, fragte Johanna.

»Du bist schlimmer als dein Vater und meine Mutter zusammen«, knurrte Julia und drehte sich zum Fenster.

In der spiegelnden Scheibe betrachtete sie das Gesicht ihrer neuen Stiefschwester, der Tochter von Nicolas de Haan, mit der sie sich seit zwei Monaten auch zu Hause in Frankfurt ein Zimmer teilen musste.

Johanna hatte nicht die Lancaster-Haut und die blonden, glatten Haare ihres Vaters geerbt, sondern den olivfarbenen Teint und das moccabraune, wellige Haar ihrer Mutter. Sie war genauso schlank, muskulös und ebenso groß wie Julia. Genau einen Meter siebzig. Außerdem hatte ihre Oberlippe die gleiche Herzform. Johannas Nase war eine Spur schmaler als ihre eigene, und Julia musste sich eingestehen, dass Johanna ihr mit ihrem Aussehen durchaus Konkurrenz machen konnte. Darüber hinaus war diese ebenfalls die beste Stürmerin ihrer Hockeymannschaft und konnte ebenso gut Ski fahren wie sie. Damit erschöpften sich die Gemeinsamkeiten. Denn sehr zu Julias Missfallen war Johanna extrem ordentlich, pünktlich, jederzeit top gepflegt, hatte keinen einzigen Pickel, war perfekt organisiert und eine Musterschülerin, die fast in jedem Fach auf vierzehn Punkten stand.

Als sie an der Signalstation ankamen, verließ Julia, ohne sich nach Johanna umzudrehen, die Kabine. Vor dem Lift ließ sie ihre Skier in den Schnee fallen und stieg in die Bindung. Schweigend schwebten sie nebeneinander im Sessellift den Berg hoch. Oben angekommen, schlossen beide ihre Skischuhschnallen und setzten die Helme auf.

»Fertig?«

Johanna nickte.

»Wer zuletzt an der Hütte ist, zahlt die Currywurst«, rief Julia, stieß sich mit den Stöcken ab und holte im Schlittschuhschritt Schwung. Johanna war überrumpelt und konnte nur erstaunt feststellen, dass Julia schon zehn Meter Vorsprung hatte, als sie sich in Bewegung setzte. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich zusehends. Eigentlich hatte sie schon keine Chance mehr, Julia noch einzuholen. Doch sie war viel zu ehrgeizig, um jetzt schon aufzugeben. Außerdem kostete die Currywurst in der Luxushütte zweiunddreißig Franken … Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste das Steilstück der Paradiso-Abfahrt im Schuss nehmen.

Johanna sah noch, wie Julia nach rechts in den Hang einbog, dann war sie hinter der Kuppe verschwunden. Sie ging tief in die Hocke und merkte, dass sie viel zu schnell war, als sie in die Kurve vor dem Steilhang einbog. Sie wusste nicht, was sie dahinter erwartete, und konnte nur hoffen, dass dort niemand stand. In dem Moment wurden ihr die Beine weggerissen, und sie hatte das Gefühl, wie von einer Rampe geschossen durch die Luft zu fliegen. Ihr gellender Schrei hallte durch die eisige Luft, als sie beinahe einen Skilehrer gerammt hätte, der in letzter Sekunde zur Seite sprang. Sekundenbruchteile später landete sie auf beiden talwärts gerichteten Skiern. Irgendwie gelang es ihr, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen und sich zurück in die Abfahrtshocke zu ducken. Ihre Geschwindigkeit war irrwitzig. Gar nicht weit entfernt sah sie eine Skifahrerin mit grellgrüner Hose und einem langen blonden Zopf, der aus dem schwarzen Helm herauswehte – Julia. Fast hatte sie sie eingeholt. Auch Julia machte keine Schwünge mehr, sondern raste die Piste in der Falllinie herunter. Johanna kam kein Stück näher an sie heran und merkte jetzt deutlich das Brennen in ihren Oberschenkeln. Ihre Kräfte ließen nach. Dann waren sie kurz vor der Einfahrt in den Ziehweg, der direkt zur Hütte führte. Julia setzte zum Schwung nach rechts an, da schoss Johanna direkt vor ihren Skispitzen vorbei und brachte sie zum Straucheln.

»Bist du bescheuert?«, schrie Julia mit sich überschlagender Stimme. Sie balancierte sich wieder aus, hatte aber durch das Abbremsen so sehr an Schwung verloren, dass sie nur noch zusehen konnte, wie Johanna vor ihr den Weg hinunterraste und durch einen Bremsschwung, der alle Umstehenden mit Schnee bestäubte, an der Hütte zum Stehen kam.

Sie stützte sich auf die Skistöcke und keuchte, als Julia vor ihr anhielt und sie mit Schnee einnebelte.

»Das war total unfair! Du hast mich geschnitten«, stieß diese völlig außer Atem hervor.

»Es war auch unfair, dass du einfach selbst das Startzeichen gegeben hast und losgefahren bist. Da hatte ich gar keine Chance mehr, dich einzuholen.«

»Blödsinn, ich hab dich doch gefragt, ob du fertig bist!«

Ihnen wurde bewusst, dass die Leute sie anstarrten.

Sie stiegen aus den Bindungen und stellten ihre Skier in die Holzständer. Dann zogen sie die Helme aus, lösten beide ihre Zöpfe, schüttelten die langen Mähnen und stolzierten nebeneinander an der Schlange vorbei auf die Sonnenterrasse der Paradiso-Hütte. An einer Theke, die mit einem überdimensionierten, aber schlichten Holzstern dekoriert war, wurden sie von dem Rezeptionisten in Lederhose gefragt, ob sie reserviert hätten.

»Ja, wir gehören zu Marcel Freiherr von Woletzki. Dahinten sitzt er schon«, antwortete Julia und genoss es, den Namen auszusprechen.

 

Mit freudigen Pfiffen und Kommentaren wurden sie von Marcel und seinen Freunden begrüßt, die einen der begehrten Tische vor der windgeschützten, hölzernen Hüttenwand belegten.

»Da sind sie ja endlich: Kate Moss und Charlotte Casiraghi. Na, Mädels, ausgeschlafen? Ihr seht abgekämpft aus. War die kurze Abfahrt zur Hütte so anstrengend, oder seid ihr schon seit acht auf den Brettern?«, fragte Marcel und faltete sich zu seiner ganzen schlaksigen Größe von fast zwei Metern auseinander, um sie nacheinander zu umarmen. Wie sein Vater hatte er sich während der Ferien nicht rasiert. Bei Woletzki war es eine Urlaubslaune, Marcel hingegen versuchte, mit dem Fünftagebart sein fliehendes Kinn zu kaschieren. Die dunklen Stoppeln sollten ihm außerdem, im Verbund mit dem rot gemusterten Stirnband und der Gletscherbrille, das Aussehen eines Abenteurers geben.

Seine jüngeren Brüder blieben sitzen und nickten Julia und Johanna lässig zu.

»Nur ein kleines Wettrennen …«, meinte Julia.

»Und? Wer hat gewonnen?«, erkundigte sich ein junger Mann mit rotblonder Mähne, Boxernase und gelblichem Teint. Er lehnte an der Holzwand und blinzelte in die Sonne.

Julia mochte Benni. Er war Marcels Zimmergenosse im Alpeninternat, und sie fühlte sich ihm wie eine Leidensgenossin verbunden. Er hatte eine Art, als wäre das Leben viel zu anstrengend für ihn. Sie zeigte betont gleichgültig mit dem Daumen auf Johanna: »Aber nur durch unfaire Mittel …«

»Ansichtssache!«, ließ Johanna hören und machte Anstalten, sich neben Maxim auf die Bank zu quetschen. »Du schuldest mir eine Currywurst!«

Julia presste die Lippen aufeinander.

»Sag nicht, dass du schon wieder pleite bist … ziemlich dreist, dann trotzdem zu wetten!«

»Ich dachte ja, dass ich gewinne!«

»Hört schon auf zu streiten, ihr seid beide eingeladen.«

Julia versuchte, nicht zu erfreut auszusehen. Die mutmaßliche Anwesenheit des Schulfreunds von Marcel und Benni war der wahre Anlass zu dem, für Julias Verhältnisse, äußerst hastigen Aufbruch und der rasenden Abfahrt gewesen. Um keinen Preis hatte sie ihn auf der Hütte verpassen wollen. Auch Johanna hatte ein Auge auf Maxim geworfen und hoffte, durch ihren mutigen Vorstoß einen Punktsieg für sich zu verbuchen.

Er stand wohlerzogen auf und bot ihr seinen Platz an. Dann zog er seine rote Daunenjacke aus. Meine Güte, ist der gut gebaut!, dachte Julia. Oft hatten Männer mit langen Beinen zu kurze Oberkörper, aber bei Maxim stimmte alles vollkommen, von den breiten Schultern über die schmalen Hüften bis zu den kraftvollen Schenkeln.

Er breitete seine Jacke auf einem der Holzschemel aus und lud Julia ein, sich daraufzusetzen. »Ich lasse dir gleich ein Kissen bringen. So lange musst du mit meiner Jacke vorliebnehmen, okay?«

»Perfekt, danke!«, murmelte Julia verlegen und fand seine raubtierartigen Augen unter den dichten schwarzen Brauen, sein schönes Gesicht und die ritterliche Geste zum Dahinschmelzen. Marcel und Benni wechselten einen Blick. Ein etwa achtzehnjähriges Mädchen, Vicky, mit kurzem braunen Bob und ernstem, schmalem Vogelgesicht, das ebenfalls mit am Tisch saß, verzog verächtlich die Mundwinkel.

»Wir haben gerade darüber gesprochen, dass es auf Dauer ziemlich abtörnt, immer wieder dieselben Pisten zu fahren«, meinte Marcel. Er trank einen Schluck von seinem Bier, zündete sich eine Gauloises an und hielt die Packung den anderen hin. Alle außer Johanna und Robert, Marcels vierzehnjährigem Bruder, griffen zu. Als er den Mädchen die Zigaretten mit einem silberfarbenen Feuerzeug anzündete, griff Vicky plötzlich nach seiner Hand und hielt sie fest: »Ist das nicht das Feuerzeug von Carsten?«, fragte sie. »Zeig mal!«

Marcel wurde von einem Moment auf den anderen kreidebleich. »Wie kommst du darauf?«, rief er eine Spur zu laut, überließ ihr aber das Stück.

Vicky wog den eleganten Zigarettenanzünder in ihrer Hand und besah sich die Rückseite. »Weißgold von Cartier. Klar doch: Hier ist doch sogar eine Gravur, mit drei Buchstaben: C.H.B.« Sie sah die anderen erwartungsvoll an.

»Carsten Hans Bucher«, sagte Benni langsam und zog an seiner Zigarette. Alle Augen richteten sich auf Marcel, doch der antwortete nicht, sondern fixierte Maxim.

»Könnt ihr uns vielleicht mal aufklären?«, fragte Julia unsicher.

Vicky sah sie kühl an: »Carsten Bucher ist einer von uns … ich meine, von uns Schülern aus dem Alpeninternat.« Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche und streckte es Julia entgegen. »Hier, siehst du?«

Das Hintergrundbild zeigte sie Kopf an Kopf mit einem etwa siebzehnjährigen Jungen. Er hatte ein langes, schmales Gesicht und einen Stoppelhaarschnitt. Auffällig waren die vollen, fast weiblich geschwungenen Lippen.

»Und weiter?«, fragte Julia jetzt etwas forscher.

»Er ist seit dem 16. Dezember verschwunden. Ist einfach nach dem Wochenende nicht mehr zurückgekommen … Bei seinen Eltern ist er auch nicht aufgetaucht. Einfach weg … verschollen … vom Erdboden verschluckt!« Vicky starrte auf die Tischplatte aus derbem, auf alt getrimmtem Weichholz, dann fragte sie Marcel geradeheraus: »Woher hast du es?«

Marcel ließ seine Augen unsicher von einem zum anderen wandern. »Keine Ahnung, hat er mir irgendwann geliehen, und ich habe wohl vergessen, es ihm zurückzugeben.«

»Und wann war das genau?«, bohrte Vicky weiter.

»Woher soll ich das wissen? Du weißt doch, wie das ist, wenn man sich was leiht.« Er schnickte wütend die Zigarette über die Brüstung in den Schnee und trank sein Bier in einem Zug aus.

»Also ich wüsste nur gerne, ob das noch vor dem 16. Dezember war«, sagte Vicky langsam.

»Jetzt reicht es aber!«, fuhr Maxim sie an. »Denk mal nach, bevor du redest. Du hast wohl zu viel Höhensonne abbekommen, oder hast du was eingeworfen?«

Johanna und Julia sahen sich an und fühlten sich auf einmal unbehaglich.

Maxim nahm Vicky das Feuerzeug aus der Hand und gab es Marcel zurück.

»Also, ich kann Vicky schon verstehen«, schaltete sich Benni ein, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. »Schließlich war sie mal mit Carsten zusammen.«

»Der wird schon wieder auftauchen, und dann kriegt er auch sein Scheißfeuerzeug zurück«, sagte Maxim und ließ keinen Zweifel daran, dass das Thema jetzt beendet war. Julia sah ihn bewundernd von der Seite an. Er hatte eine natürliche Autorität, die offenbar alle anerkannten.

»Also? Was ist jetzt mit der Tour?«, fragte er.

Marcel nickte ihm dankbar zu: »Also wie gesagt … immer nur Piste ist öde … Deshalb planen wir morgen eine kleine Tour vom Corvatsch ins Val Roseg … abseits. Wie sieht’s aus, seid ihr dabei?«

»Darf man das denn? Ich meine, es herrscht doch Lawinengefahr, oder?«, gab Johanna zu bedenken.

»Wer soll uns denn davon abhalten? Wir können schließlich fahren, wo wir wollen … Wir sind alle sehr gute Skiläufer …«, tat Marcel ihre Zweifel ab. Er wurde jetzt wieder sicherer. »Aber du musst ja nicht mitkommen.«

Johanna zuckte mit den Schultern: »Wir können uns die Route ja mal ansehen. Hat jemand einen Plan dabei?«

Marcel holte ein verknittertes Pistenverzeichnis heraus und legte es aufgefaltet auf den Tisch. Mit dem Finger fuhr er eine imaginäre, gewundene Linie von der Bergstation der Corvatsch-Gondel entlang.

»Die Route ist nicht abgebildet. Aber dort ist der Einstieg.«

Er tippte auf einen blau dargestellten Schatten im Plan. »Von der Bergstation des Piz Corvatsch fährt man ein Stück auf der Piste Richtung Südflanke des Piz Roseg. Etwa hundertfünfzig Meter über der Fuorcla Surlej verlässt man die Piste, traversiert in das andere Tal. Man muss über zwei kurze Felsrinnen steigen, dann kommt man auf einen großzügigen weiten Skihang runter ins Val Roseg, weiter bis Pontresina. Nur der Einstieg ist steil, aber dann wird es flach, ein Sturz hätte also keine Konsequenzen. Bei dem Wetter wird das grandios. Also … was sagt ihr?«

»Wir sind die Tour schon mal gefahren, am Ende muss man sogar schieben. Hängt vom Schnee ab. Johanna hat recht, es ist nicht nur der Neuschnee, der die Sache brenzlig macht, sondern die Schneeverwehungen«, meinte Benni.

»Ach, komm schon. Wir langweilen uns hier noch zu Tode. Ich meine, die schwarzen Pisten hier, sind doch Idiotenhügel, wir fahren sie jedes Wochenende … was sagst du, Maxim?«

Alle sahen ihn gespannt an und warteten auf sein Urteil. Mit ziemlicher Ehrfurcht in der Stimme hatte Benni Julia am letzten Abend erzählt, dass Maxim bei Freeride-Wettkämpfen auf der World Tour startete, was ihre Schwärmerei für ihn zusätzlich anfeuerte. Bei den letzten Weltcup-Rennen am Mont Blanc sei er zwei Mal als Dritter ins letzte Rennen gegangen, habe dann aber leider gepatzt. Durch die Schule könne er nicht an allen Wettkämpfen teilnehmen und nicht genug trainieren.

Plötzlich spürte Julia, wie sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte. Sie fuhr erschrocken herum, sah dann aber, dass es sich um einen St. Moritzer Skilehrer handelte. Der braungebrannte Mann mit verspiegelter Sonnenbrille deutete auf sie und Johanna. »Ihr zwei habt mich und meine Schüler eben fast umgefahren. Eigentlich sollte man euch die Skipässe abnehmen«, fuhr er sie an.

Die anderen am Tisch starrten ihn sprachlos an.

»Das ist kein Grund, eine Lady so grob anzupacken«, kam Maxim Julia und Johanna zu Hilfe.

»Lass mal, Maxim. Er hat leider recht.«

Julia stand auf und entschuldigte sich kleinlaut. »Ich habe die Kontrolle verloren und konnte nicht mehr bremsen. Tut mir echt leid. Ich hoffe, Ihnen und Ihren Schülern ist nichts passiert.«

Der Skilehrer ließ sich beschwichtigen, und Johanna nutzte die Gelegenheit, um ihn nach der Tourenabfahrt zu befragen.

»Bei den Schneeverhältnissen?«, rief er. »Außerdem ist das Gletschergebiet. Die Strecke ist hundertprozentig nichts für euch. Ihr müsst lebensmüde sein, wenn ihr die dieser Tage fahrt.«

»Ihr habt es gehört. Also ohne mich!«, stellte Johanna klar, als der Skilehrer wieder zu seinem Tisch zurückgekehrt war, und an Julia gewandt bemerkte sie: »Ich wusste gar nicht, dass du den auch schon umgenietet hast. Kein Wunder, dass der sauer war, wenn ihm das gleich zwei Mal hintereinander passiert.«

Sie grinste Julia verschwörerisch an, doch diese antwortete nicht.

Sie hatte schon wieder nur Augen für Maxim, und auch die anderen blickten ihn gespannt an und warteten immer noch alle auf sein Urteil.