Grundlagen der Internationalen Beziehungen - Hubert Zimmermann - E-Book

Grundlagen der Internationalen Beziehungen E-Book

Hubert Zimmermann

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Beschreibung

This textbook provides a basic introduction to international relations. The most important approaches to analysing international politics are presented, and central topics ranging from international security to international political economics and global human rights policy are also dealt with. Enhanced with numerous applied examples, the contents are rapidly and easily understandable and provide a detailed understanding of the basic structures and fundamental dynamics of international relations. Example questions and essay topics make it possible to check learning progress, ensuring optimal preparation for seminars and examinations.

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Hubert Zimmermann/Milena Elsinger

Grundlagen der Internationalen Beziehungen

Eine Einführung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagbild: photothek.de/ Michael Gottschalk

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032397-1

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-032398-8

epub:  ISBN 978-3-17-032399-5

mobi:  ISBN 978-3-17-032400-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

Vorwort

1 Einleitung: Fragestellungen, Methoden und der Sinn von Theorien in den Internationalen Beziehungen

2 Meilensteine und Schlüsselbegriffe der internationalen Beziehungen

3 Theoretische Ansätze

3.1 Realismus und Neorealismus

3.2 Institutionalismus: Internationale Organisationen, Regime, nichtstaatliche Akteure

3.3 Liberalismus

3.4 Konstruktivismus

3.5 Kritische Ansätze in den Internationalen Beziehungen

4 Zentrale Themenfelder der internationalen Beziehungen

4.1 Internationale Politische Ökonomie

4.2 Internationale Sicherheit

4.3 Regionale Integration

4.4 Umweltschutz und Nachhaltigkeit im globalen Raum

4.5 Menschenrechte und Migration in den Internationalen Beziehungen

4.6 Entwicklung und internationale Beziehungen

Anhang

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Quellen online

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Ziel dieses Buches ist es, ein Grundlagenwerk für die universitäre Lehre im Bereich der Internationalen Beziehungen anzubieten, welches inhaltlich und didaktisch auf dem neuesten Stand ist und den Hintergrund und die Wissenshorizonte heutiger Studierender reflektiert. Das Teilgebiet der Internationalen Beziehungen hat üblicherweise die höchste Nachfrage in politikwissenschaftlichen Studiengängen. Die vorhandenen Lehrbücher weisen aber meist einen für heutige Studierende zu akademischen und abstrakten Zuschnitt auf. Zudem fehlt es vielfach an anschaulichen Anwendungsbeispielen. In diesem Lehrbuch sollen die grundlegenden Ansätze und Konzepte, die in der Disziplin benutzt werden und die hinter den gängigen Interpretationen der internationalen Geschehnisse stehen, anhand von zahlreichen Fallbeispielen und tagesaktuellen Problematiken der internationalen Beziehungen veranschaulicht werden. Im zweiten Teil des Buches werden die relevantesten Themenfelder und Problembereiche der internationalen Politik dargestellt.

Dabei soll insbesondere ein Verständnis für grundlegende Fragestellungen und Probleme im Politikfeld der Internationalen Beziehungen, sowie für eine über die reine Anhäufung von Fakten hinausreichende Methodik bei der Beschäftigung mit Phänomenen der internationalen Politik geweckt werden. Nutzerinnen des Buches sollen befähigt werden, wiederkehrende Fragestellungen, grundlegende Strukturen und fundamentale Dynamiken internationaler Beziehungen zu identifizieren. Sie werden so in die Lage versetzt, sich kritisch und reflektiert mit tagesaktuellen Geschehnissen auseinanderzusetzen und diese politikwissenschaftlich zu verorten.

Lehrenden dient das Buch als Basis, einen einsemestrigen universitären Kurs zu strukturieren. Zahlreiche Anwendungsbeispiele, Schaubilder und Links sollen eine vertiefte Behandlung der jeweiligen Themen im universitären Unterricht erleichtern. Durch Beispielfragen und Essaythemen soll eine Überprüfung der Lernfortschritte und die konkrete Anwendung der vorgestellten Konzepte erleichtert werden. Eine Webseite mit weiterführenden Informationen, aktualisierten Inhalten und Übungen begleitet das Buch. Als Lern- und Lehrhilfen konzipiert sind die Textfelder, die in den Kapiteln zu finden sind und unterschiedliche Funktionen erfüllen.

Infoboxen dienen zur knappen Information über ein spezifisches Ereignis mit exemplarischem Charakter für viele Grundfragen der Internationalen Beziehungen (IB) oder über zentrale Konzepte.

Schlüsselbegriffe erläutern zentrale Begriffe der internationalen Beziehungen, ordnen diese historisch sowie aktualitätsbezogen ein und zeigen ihre Bedeutung.

Diskussionsthemen bieten eine Basis, umstrittene Fragen der internationalen Politik in geeigneten Formaten (Seminare, Arbeitsgruppen, etc.) zu diskutieren.

Planspiele dienen als Inspiration für Simulationen und interaktive Debatten in den Kursen. Sie skizzieren eine reale Problemlage der internationalen Politik aus Vergangenheit oder Gegenwart und fordern die Studierenden auf, sich in die Lage der politisch handelnden Personen zu versetzen. Dies trainiert das Nachdenken über die Konsequenzen komplexer Entscheidungen in der internationalen Politik und fördert die Reflektion über die Grundannahmen, die sich hinter unterschiedlichen Theorien und Konzepten verbergen.

Theorien in der Anwendung verwenden zentrale Fragen aus der Praxis der internationalen Beziehungen und laden dazu ein, unterschiedliche Interpretationen und Erklärungen aus der Sicht alternativer Theorien der Internationalen Beziehungen (IB), wie sie in diesem Buch vorgesellt werden, zu formulieren.

Internationale Beziehungen im Film besprechen Filme, anhand derer wichtige Theorien und Konzepte der IB beispielhaft und kontrovers diskutiert werden können.

Begleitend zum Buch wird eine Webseite angeboten mit Zusatzinformationen, Präsentationen, weiteren Texten und Updates, auf die über https://www.uni-marburg.de/fb03/politikwissenschaft/institut/lehrende/zimmermann/index_html zugegriffen werden kann.

Grundlage dieses Buchs sind die Erfahrungen aus einem seit vielen Jahren an der Philipps-Universität Marburg angebotenem B.A.-Einführungskurs in Internationale Beziehungen. Einen wesentlichen Anteil an diesem Buch haben auch Mariel Reiss, die das Kapitel zum Regionalismus sowie die Absätze zu feministischen Theorien verfasste und alle Kapitel ausführlich kommentierte, sowie Lena Heuer, die die Absätze zum Postkolonialismus schrieb, inhaltliche Hinweise gab und das Manuskript in eine druckfähige Fassung verwandelte.

 

Marburg, den 30.11.2018

Hubert Zimmermann und Milena Elsinger

Hinweis: In diesem Buch werden im Interesse des Leseflusses weibliches und männliches Geschlecht abwechselnd verwendet.

Zur Zitierweise: Grundlagenliteratur zu jedem behandelten Thema findet sich am Ende der Kapitel und wird im Text im Harvard-Stil zitiert (Autor 2018: xy). Belege für spezifische Aussagen in den Kapiteln werden als Fußnoten eingefügt.

1          Einleitung: Fragestellungen, Methoden und der Sinn von Theorien in den Internationalen Beziehungen

 

Internationale Beziehungen studieren

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist eine unruhige Welt. Mit ungeheurer Symbolkraft haben die spektakulären Bilder der Anschläge des 11. Septembers 2001 die Illusion beseitigt, dass sich nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Ende der Teilung der Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Machtblöcke während des Kalten Krieges endlich Schritt für Schritt eine friedlichere Weltordnung herausbilden würde. Seitdem haben eine Serie katastrophaler Terroranschläge, endlose Kriege im Nahen und Mittleren Osten mit verheerenden Folgen, Spannungen zwischen atomaren Mächten in Asien, tiefgreifende Finanzkrisen, die sich abzeichnende Klimakatastrophe, enorme Migrationsbewegungen und der weltweite Aufstieg nationalistischer und populistischer Bewegungen die Hoffnungen auf einen grundlegenden Wandel der internationalen Beziehungen hin zum Positiven tief erschüttert.

Viele, nicht nur populistische, Bewegungen, suchen die verlorengegangene Sicherheit in einer Rückkehr zu sich abschottenden und unabhängigen Nationalstaaten. Allerdings werden die Notwendigkeit der Bekämpfung globaler Probleme, die vor Grenzen nicht Halt macht, und die Suche nach zwischenstaatlichen, einvernehmlichen Lösungen für globale Streitfragen nicht einfach verschwinden. Vielmehr bleiben die internationale Politik und ihre Konsequenzen weiter von zentraler Bedeutung für die großen Fragen der Zukunft. Umso wichtiger ist es, die zugrundeliegenden Strukturen und Mechanismen zu kennen und ein Verständnis für die Abläufe im internationalen Raum zu entwickeln, welches über die zufällige und selektive Ansammlung von Fakten, welche nur die eigene Meinung bestätigen, hinausgeht. Dieses Verständnis systematisch zu entwickeln, dem dient das Studium der Internationalen Beziehungen (IB)1. Gerade in einer Zeit, in der die Informationsflut des Internets eine unüberschaubare Menge an Meinungen, Vermutungen, vermeintlichen Wahrheiten und alternativen ›Fakten‹ produziert und verfügbar macht, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit internationalen Phänomenen umso wichtiger. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen gefühlten Wahrheiten, die im Netz mühelos erworben werden können (und die oft eine wohlige und denkfaule Selbstbestätigung der eigenen Ansichten und Vorurteile liefern), und einer auf wissenschaftlichen Standards beruhenden Betrachtung, Analyse und Erklärung globaler Politik. Dazu gehört, die eigenen Vorannahmen zu hinterfragen, Informationen kritisch zu prüfen und die häufig frustrierende, aber unausweichliche Begrenztheit der verfügbaren Informationen über die meisten internationalen Vorgänge zu akzeptieren und produktiv nutzbar zu machen.

Dieses Buch hat zwei Hauptfunktionen. Zunächst soll es Ihnen durch seine nachvollziehbare und verständliche Gestaltung helfen, das Studium des Fachs Internationale Beziehungen erfolgreich und mit bleibendem Erkenntnisgewinn zu bewältigen. Es soll außerdem Hilfestellung leisten bei der Einschätzung und Bewertung der vielen wichtigen und spannenden Fragen der internationalen Geschehnisse, die tagtäglich die Medien dominieren. Nicht umsonst sind die IB meist die populärste Teildisziplin im Bereich der Politikwissenschaften und auch ausgesprochen attraktiv für Studierende anderer Studiengänge, wie zum Beispiel die Geschichtswissenschaften, die Wirtschaftswissenschaften, Geographie oder zahlreiche Regionalwissenschaften.

Wenn Sie mit dem Studium der IB beginnen, ist es ganz wichtig, sich zwei fundamentale Unterschiede einer wissenschaftlichen oder akademischen Beschäftigung mit internationaler Politik im Gegensatz zur alltäglichen Beobachtung der Weltpolitik klar zu machen:

1) Häufiger als bei anderen Disziplinen herrscht gerade beim Studium der IB die Vorstellung, es genüge eine informierte, möglichst umfangreiche Ansammlung von (sogenannten) Fakten und Meinungen, um internationale Geschehnisse zu verstehen und zu bewerten. In Tageszeitungen, audiovisuellen Medien oder dem Internet finden sich schließlich unzählige Beiträge über beinahe jedes Thema der internationalen Politik. So erscheint es zunächst recht unkompliziert, gut informierte, überzeugende und ›richtig‹ erscheinende Quellen zu finden, um zu verstehen, weshalb Staaten Kriege gegeneinander führen, weshalb es andauernde Unterentwicklung gibt oder weshalb globale Umweltprobleme nicht effektiv bekämpft werden. Eine kurze Materialsammlung über Google reicht dazu aus. Diese Vorgehensweise ist bequem, denn zum einen ist sie weniger arbeitsintensiv als eine wissenschaftliche Analyse, wie sie in diesem Buch eingeübt werden soll. Zum anderen ist sie aber auch psychologisch angenehmer, denn oft werden bewusst oder unbewusst die Texte ausgesucht, die den eigenen vorgefassten Ideen, Thesen und Einstellungen entsprechen. Man erspart sich so die Mühe, sich mit den vielen Widersprüchen, Sachzwängen, Gegenmeinungen und Zweideutigkeiten der internationalen Politik auseinandersetzen; damit geht aber auch das verloren, was eigentlich das ausgesprochen Spannende an der internationalen Politik ist. Denn dies besteht weniger darin, dass in diesem Themenbereich ›scharf geschossen‹ wird, Menschen sterben oder ausgebeutet werden, und Staaten ›gewinnen‹ oder ›verlieren‹. Das eigentlich Faszinierende ist vielmehr, dass man das ›Warum?‹ zu verstehen beginnt. Warum gibt es Krieg, Ausbeutung, Krisen, Gipfeltreffen, Rivalitäten, Ungerechtigkeiten etc.?

Es geht im Studium der IB also nicht darum, mit einem Vollständigkeitsanspruch zu beschreiben, wie die USA in den Irak einmarschiert ist und was dann alles so passiert ist, oder zu erzählen, wie es dazu kam, dass die Bundeswehr in Afghanistan ist, oder worum es in der Kubakrise während des Kalten Kriegs ging, und wie dabei beinahe die Welt untergegangen wäre. Das reine Aufzählen von Tatsachenwissen, zumal von allgemein zugänglichen Basisinformationen, und die solide Recherche und Präsentation dieser Informationen sind wichtig und gut. Sie sind aber für ein universitäres Studium unzureichend. Der so häufig in Referaten, Thesenpapieren und Seminararbeiten dargebotene ›historische Überblick‹ und ähnliche Materialsammlungen sind meist überflüssig und vergebene Liebesmüh, wenn sie nicht durch eine klar definierte Fragestellung und eine nachvollziehbare Methodik (dazu mehr später) strukturiert werden. Die Zusammenhänge hinter diesen Informationen, und ihre Relevanz zu verstehen ist das Ziel. Dieses Ziel zu erreichen ist eine komplexe, aber lohnende Aufgabe.

2) Es geht bei den IB auch nicht primär darum festzustellen, wie schlimm es ist, dass weiterhin so viele Waffenexporte existieren, oder darüber zu lamentieren, wie inkompetent der Westen in Afghanistan war, oder festzustellen, wer schuld daran ist, dass nun schon seit vielen Jahren der Osten der Ukraine im Kriegszustand ist. Der politische Diskurs im Netz, häufig auch in den Medien, ist oft mehr oder weniger deutlich von der Annahme geprägt, dass die politisch Handelnden dumm, korrupt, kindisch, verbrecherisch usw. sind. Mit souveräner Geste wird dann gezeigt, wie man es besser oder politisch korrekter hätte machen können – fertig ist die Analyse. Tatsächlich ist es nicht schwer, den katastrophalen Einmarsch im Irak durch die US-Regierung von George W. Bush als gigantischen Fehler zu demaskieren, oder sich über Waffenexporte Deutschlands in Konfliktregionen zu empören. Völlig vergessen wird dabei die eigentliche Frage: Weshalb kommt es zu diesen moralisch verwerflichen Aktionen? Das Ziel ist es wieder, erst zu verstehen und dann zu urteilen, und nicht zu (ver-) urteilen, ohne zu verstehen. Das heißt nicht, dass moralische Werturteile völlig irrelevant sind, oder dass man völlig unvoreingenommen an die Thematik herangehen soll oder kann. Es bedeutet vielmehr, dass der eigene Standpunkt selbst reflektiert und Teil einer analytischen Herangehensweise wird. Der deutsche Soziologe Tilman Allert hat das in einem Interview sehr schön ausgedrückt:2

»Wenn ich aber verstehen will, dann muss ich meine Empörung über diese Welt kontrollieren, und zwar nicht moralisch kontrollieren, sondern methodologisch kontrollieren. Ich muss nicht ein anderer Mensch werden. Ich muss nicht meine Motive, diese Welt zu verändern, ändern … [Aber um einen Fall zu verstehen] muss ich ihn überhaupt erst zu einem Gegenstand machen, der es wert ist, verstanden und nicht bejammert zu werden …«

Ziel einer universitären Politikwissenschaft ist es also nicht in erster Linie, mehr oder weniger richtige oder korrekte Werte auszudrücken (das ist primär Aufgabe der Politik !), sondern zu verstehen, wie und weshalb diese Werte entstehen, verteilt werden und sich in politischen Prozessen durchsetzen. Dies soll nicht eine werturteilsfreie Wissenschaft propagieren, sondern eine selbstreflektierte und damit möglichst vorurteilsfreie Wissenschaft. Wer sich diese zwei Unterschiede einer Politikwissenschaft im Gegensatz zum fröhlichen Herumpolitisieren klarmacht, hat schon einen wichtigen Schritt hin zu einem produktiven Studium der IB getan und wird feststellen, dass diese wenig mit dem Image des ›Laberfaches‹ zu tun hat, das vielen Sozialwissenschaften anhängt. Die weiteren Schritte werden in den nächsten Abschnitten erläutert.

IB bedeutet nicht

Das Anhäufen einer möglichst umfassenden Sammlung an Informationen zu einem bestimmten Themengebiet der internationalen Politik.

Richtige (oder moralisch korrekte) Werturteile über Ereignisse oder Situationen im Bereich der internationalen Beziehungen auszusprechen.

IB bedeutet vielmehr

Systematisches, methodisch kontrolliertes Bearbeiten von offenen und kontroversen Fragen unter Bedingungen unvollständiger Information in einem sozialwissenschaftlichen Themengebiet von höchster Relevanz.

Schach und die Logik der Internationalen Beziehungen

Abb. 1: Schachspiel

Die internationale Politik wird oft mit einem Schachspiel verglichen. Die Akteure kämpfen erbittert um kleine und große Vorteile, offene und verborgene Tricks werden angewandt, langfristige Strategien und kurzfristige Taktiken umgesetzt, und am Schluss endet der Kampf mit Sieg, Niederlage oder einem Patt zwischen den Kontrahenten. Die Komplexität der Abläufe erfordert Kaltblütigkeit und große Erfahrung, und bis in das 20. Jahrhundert hinein, galten Staatsmänner wie Henry Kissinger als Meister des diplomatischen Spiels auf der Weltbühne. Die globale Politik (und damit auch ihre Analyse) funktioniert allerdings ohne die klaren Regeln, die bestechende Logik und die (je nach eigener Genialität) bis zu einem gewissen Grad vorhersehbaren Abläufe im Schach, so dass den Vergleichen Grenzen gesetzt sind. Zudem ist die Zahl der Spieler in der globalen Politik viel höher, und die Ergebnisse können alle möglichen Abstufungen zwischen Gewinn und Verlust sein. Dennoch ist der Vergleich mit Schach nützlich, und zwar im Hinblick auf das Studium der IB.

Was unterscheidet ein Schach-Genie mit seinen oft für einen Laien beinahe mystisch erscheinenden Leistungen von starken Spielern und Spielerinnen auf der Vereinsebene, geschweige denn Amateuren? Es ist nicht die pure Intelligenz, oder die Konzentrationsfähigkeit, oder die Fähigkeit, viele Varianten voraus zu berechnen. Forschungen haben gezeigt, dass Schachgenies im Gegensatz zu Normalsterblichen unheimlich schnell erkennen, wo das zentrale Problem einer Stellung liegt, dieses dann mit Hilfe einer Reihe von erprobten Strategien und Methoden bearbeiten, und ihre ganze Kreativität darauf verwenden, eine elegante und effektive Lösung dafür zu entwickeln. Schachgenies können eine Vielzahl von mental maps (geistigen Landkarten) abrufen, die ihnen helfen, sich im unendlichen Gestrüpp der Varianten nicht zu verlieren, um diese dann im entscheidenden Moment kreativ zu verfeinern (ähnlich wie Fußballprofis, die eine Vielzahl von Spielsituationen gespeichert haben, und diese blitzschnell umsetzen, und, wenn sie sehr gut sind, mit einem genialen Pass abwandeln). Durchschnittliche Spieler hingegen irren mental oder physisch auf dem Brett oder dem Spielfeld umher, und verlieren sich in sowieso nicht funktionierenden Varianten. Sie haben keine klare Vorstellung darüber, wie man von Punkt A nach B gelangt, geschweige denn wie Punkt B aussieht, und deshalb haben sie auch keine effektive Strategie.

Dieser hier skizzierte Unterschied gleicht dem zwischen Studierenden der IB im Anfangsstadium und ›Profis‹ auf diesem Gebiet. Ziel Ihres Studiums (und das gilt nicht nur für IB) muss es demnach sein, dass Sie, wenn Sie mit einem Thema der IB konfrontiert sind, schnell die zentrale Frage und Problematik dieses Themas erkennen können. Zudem sollten Sie die wichtigsten Methoden zur Bearbeitung des Problems kennen, sich an mögliche ähnliche Problematiken erinnern und damit in der Lage sein, gezielt und an der richtigen Stelle nach geeigneten Informationen suchen.

Das ist anspruchsvoll, und auch die talentierteste Studentin wird viel Zeit und Übung brauchen, um diese Fähigkeiten zu erwerben. Aber letztlich ist das Erlernen dieser Fähigkeit entscheidend für ein erfolgreiches und über die Studienzeit hinaus nützliches Studium, und nicht zuletzt für Ihren beruflichen Erfolg!

Theorien, Methoden und zentrale Begriffe: Weshalb muss ich mich damit abquälen?

In diesem Abschnitt soll die häufig zwischen Studierenden diskutierte und häufig während langer Seminarsitzungen still und leise in den Köpfen wabernde Frage geklärt werden, weshalb Politikwissenschaftlerinnen, auch in den IB, in der Regel so großen Wert auf Theorien und Methoden legen. Wer sich die eben getroffene Klärung zwischen dem, was die IB sind und was sie nicht sind, zu Herzen nimmt, ist schon auf dem besten Weg zur Beantwortung dieser Frage und zur Akzeptanz von Theorien und Methoden. Er oder sie wird dann aber schnell feststellen, dass es bis zum systematisch und methodisch kontrollierten Bearbeiten kontroverser Fragen der internationalen Politik ein weiter Weg ist, dessen Stufen und Abfolge vielen zu Beginn oft wie ein Buch mit sieben Siegeln erscheinen. Das souveräne Beherrschen dieser üblicherweise mit dem wenig prickelnden Wort ›Techniken‹ bezeichneten Kompetenzen und deren Anwendung auf Fragen der internationalen Politik ist aber letztlich die Essenz jedes sozialwissenschaftlichen Studiums und gleichzeitig auch das, was eine wissenschaftliche Beschäftigung mit politischen Fragen so anspruchsvoll macht. Nur so können wirklich interessante und spannende Erkenntnisse zu den vielen fundamentalen Problemen der internationalen Politik gewonnen werden. Deshalb werden wir hier ein idealtypisches Forschungsdesign vorstellen, dessen Grundstruktur zu beherrschen für jegliche Art der wissenschaftlichen Bearbeitung politikwissenschaftlicher Fragestellungen von Nutzen ist.3

Üblicherweise beginnt die Beschäftigung mit einer Frage der internationalen Beziehungen mit dem Interesse an einem bestimmten Themenbereich. Weshalb dauert der Krieg in Syrien mit seiner halben Million Toten und den vielen Millionen Flüchtlingen so lange? Wird der nukleare Showdown in Asien, in dessen Zentrum das nordkoreanische Atomwaffenprogramm steht, eskalieren? Weshalb interveniert die Europäische Union (EU) militärisch in afrikanischen Ländern, zum Beispiel durch eine bewaffnete Marineoperation in den Gewässern vor Somalia? Hat ein globales Klimaschutzabkommen überhaupt eine Chance? Welchen Einfluss haben Facebook, Twitter und andere soziale Medien auf die internationale Politik? Zu all diesen Themenbereichen bietet eine Internet-Recherche eine Fülle an mehr oder weniger plausiblen Antworten, und häufig bleibt es bei einer ziemlich zufälligen Auswahl und Auswertung einer solchen Recherche.

Der mangelnde Fokus verbirgt in der Regel ein fundamentales Problem: die Fragestellung ist nicht ausreichend definiert. In den IB (und der Politikwissenschaft allgemein) wird kein Thema bearbeitet, sondern eine Fragestellung! Das darf nie vergessen werden. Es geht somit nicht um eine thematische Materialsammlung, sondern um Erkenntnis. Einer der größten Wissenschaftstheoretiker aller Zeiten, der englische Philosoph Karl Popper, schrieb:4

»Die Erkenntnis beginnt nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungen …, sondern sie beginnt mit Problemen. Kein Wissen ohne Problem – aber auch kein Problem ohne Wissen … Denn jedes Problem entsteht durch die Entdeckung … eines anscheinenden Widerspruchs zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den vermeintlichen Tatsachen.«

Die sogenannte erkenntnisleitende Frage kann also nicht sein: Was ist seit den ersten Unruhen im Syrienkonflikt passiert, und wer hat sich im Laufe der Zeit wie eingemischt? Die Frage lautet vielmehr: Warum? Warum dauert der Konflikt solange? Weshalb haben auswärtige Mächte interveniert oder nicht interveniert?

In journalistischen Meinungsartikeln werden Sie auf diese Frage meist relativ eindeutige Antworten finden. Diese können dann zum Beispiel ungefähr so lauten: der Syrienkonflikt ist so unlösbar, weil es sich um einen Stellvertreterkrieg im Ringen um regionale Vorherrschaft handelt. Oder: die EU engagiert sich militärisch in Afrika, um ihre Wirtschaftsinteressen zu sichern. Das wären durchaus plausible Thesen. Aber woher weiß ich, dass sie richtig sind? An diesem Punkt werden manche sagen (und noch mehr denken): »Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand.« Gemeint ist damit allerdings immer der eigene Menschenverstand, dessen Intuition in Zeiten des Internets leicht durch Zitate aus Werken wirklicher oder vermeintlicher Autoritäten abgesichert werden kann. Ohne methodisch abgesicherte Forschung in die Ursachen des Konflikts bleibt die obige Feststellung allerdings eine These.

In der Tat: Viele würden der oben angeführten Interpretation zum Syrienkrieg vehement widersprechen. Ein Syrer, der dem Konflikt entronnen ist, wird möglicherweise den Krieg als Kampf unterschiedlicher Gruppen im Staat sehen, regierungsnahe Truppen und Rebellen, sunnitische und schiitische Gruppen, radikal islamische und gemäßigte Kräfte. Es kommt auf die Perspektive und die Vorannahmen an, mit denen komplexe und schwer verständliche Konflikte angegangen werden. Solche Vorannahmen sind letztlich Theorien über deren Ursachen. Sie bieten Erklärungen, die in den meisten Beiträgen zum Syrien-Konflikt nicht explizit gemacht werden. Bei einer wissenschaftlichen Beschäftigung müssen sie aber deutlich gemacht werden, damit die Leser wissen, aus welchem Blickwinkel die Problematik beurteilt wird. Die erste zentrale Funktion von Theorien ist also, dass sie Aussagen über Ursache und Wirkung in der internationalen Politik anbieten. Eine solche Aussage wäre zum Beispiel: Was verursacht die ungeheure Eskalation und Dauer des Syrienkriegs? Der Machtkampf internationaler und regionaler Großmächte um Einfluss in der Region. Wir werden später sehen, dass dies die Vorhersage von neorealistischen Theorien der IB wäre. Wichtig ist an dieser Stelle, sich zu vergegenwärtigen, dass das Argument nicht wahr ist, weil es auf einer bekannten Theorie basiert oder plausibel erscheint. Das Argument ist zunächst einmal eine Hypothese, eine plausible Vermutung, die sich aus den bisher verfügbaren Informationen, aus Thesen in der Literatur über den Konflikt, und/oder theoretischen Vorannahmen ergibt. Der nächste Schritt ist es nun, diese Hypothese zu belegen oder zu widerlegen.

Hier kommt die zweite zentrale Funktion von Theorien ins Spiel: Selektion. Was muss ich mir genauer ansehen, um die Hypothese zu bestätigen? Wenn der Fokus auf die Politik von Großmächten gerichtet ist, dann ist offensichtlich, dass die Handlungen und Äußerungen von Vertretern dieser Großmächte im Zentrum des Interesses stehen. Theorien helfen also, sich bei der Untersuchung der Frage auf die relevanten Akteure zu konzentrieren und so keine Zeit für unbedeutende Nebendarsteller oder -schauplätze zu verschwenden. Die Aufstände gegen den Diktator Assad, die am Anfang des Krieges standen, müssen also nicht beschrieben werden (es sei denn, es kann nachgewiesen werden, dass diese durch Großmächte gesteuert waren). Bei diesem Schritt ist entscheidend, dass die Selektion explizit geschieht. Keine Erklärung eines internationalen Phänomens (das immer komplex ist) kommt ohne Selektion aus. Bewusste Selektion ist entscheidend, und auch die Offenheit dafür, dass, falls die Hypothese nicht ausreicht, um das Problem zu erklären, eine alternative Hypothese (die dann andere Faktoren selektiert) gewählt werden muss.

Lässt sich die Hypothese allerdings mehr oder weniger bestätigen, dann wird die dritte Funktion von Theorien sichtbar. Wenn die Ursache des Krieges in Syrien der Konflikt der Großmächte ist, dann muss ich die Konfliktursachen zwischen diesen Mächten beseitigen, um weitere Kriege zu verhindern. Diese dritte Funktion ist die Prognose. Theorien versuchen, eine gültige Erklärung für möglichst viele ähnliche oder gleiche Problemlagen zu finden, um so Vorhersagen oder begründete Werturteile zu ermöglichen. Denn es geht in den IB nicht hauptsächlich darum, bestimmte Einzelphänomene zu erklären, sondern möglichst Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, die für viele Probleme zutreffen und deshalb auch eine gewisse allgemeine Gültigkeit beanspruchen können.

Theorien spielen also eine zentrale Rolle bei mehreren Stufen des Forschungsprozesses, und sie sind auch ganz pragmatisch als nützliche Hilfsmittel zu verstehen, insbesondere in den immer besonders anspruchsvollen Schritten der Erarbeitung der Fragestellung und der Hypothesenbildung. Die folgende Abbildung zeigt eine vereinfachte, typische Abfolge einer wissenschaftlichen Untersuchung eines Problems der internationalen Politik. Sie müssen diesem Schema nicht rigoros folgen, aber für jede Art mündlicher oder schriftlicher Ausarbeitung ist zentral, dass Sie sich über die Schritte 2–4 klar werden, bevor Sie relativ wahllos empirische Fakten ansammeln (Schritt 5), alle möglichen Begriffe definieren5 oder den (meist überflüssigen) historischen Überblick verfassen. Dies erspart letztlich viel Arbeit und ist ein großer Schritt hin zu einer guten Bewertung.

Abb. 2: Analyseschema eines Problems der internationalen Politik

Wie finde ich eine Fragestellung im Bereich internationale Politik?

Es ist nicht schwer, interessante Themen der internationalen Politik zu finden. Wenn Sie das Fach studieren, haben Sie meist schon bestimmte Ereignisse oder Phänomene im Kopf, die Sie besonders interessieren oder auf die Sie im Laufe des Studiums stoßen. Meist ist es aber gar nicht leicht, dieses Interesse in eine spannende und machbare Fragestellung zu übersetzen (denn darauf kommt es vor jeder mündlichen oder schriftlichen Präsentation des Themas an!).

Oft hilft es sich zu überlegen, was die Antwort auf die Frage sein könnte, die Ihnen vorschwebt. Wenn die Antwort relativ eindeutig ist und durch einfaches Nachschlagen gefunden werden kann, ist sie meist wenig fruchtbar. Wenn es allerdings mehrere mögliche Antworten gibt und es nicht aussichtslos erscheint, diese Antworten zu finden, dann sind Sie auf dem richtigen Weg.

Sobald Sie die Fragestellung festgelegt haben und sich einen ersten Überblick über den Forschungsstand zum Thema verschafft haben, können Sie damit beginnen, Hypothesen zu formulieren. Also im Fall des EU-Einsatzes zur Bekämpfung der Piraterie in Somalia als offensichtlichste Antwort auf das ›Warum‹ die offizielle Begründung: es geht um die Absicherung der Seewege! Aber, wie erwähnt, wäre das wirklich Interessante an der Arbeit, wenn Sie noch zusätzliche Motive herausfinden könnten. Eine alternative Hypothese wäre etwa: es geht der EU darum, ihren Einfluss in dieser geopolitisch wichtigen Gegend zu sichern! Derartige alternative Hypothesen müssen (und sollten) Sie sich nicht aus den Fingern saugen. Sie können darauf stoßen, zum Beispiel bei der Lektüre von Presseartikeln zur Thematik, bei der Auswertung der Fachliteratur, die das Argument vielleicht schon vorgebracht hat (vielleicht auch im Rahmen eines anderen ähnlichen Phänomens, wie anderer EU-Missionen in Afrika), oder aber – und das ist die wichtigste Variante – indem Sie sich den Blickwinkel einer Theorie zu eigen machen (in diesem Fall den Realismus), die andere Motive vermuten lässt.

Die so gefundenen Hypothesen müssen dann natürlich überprüft werden: stimmen die Annahmen? Damit sind Sie bei der Wahl der Methode angelangt. Diese ist in erster Linie abhängig von der Fragestellung. Es ist relativ offensichtlich, dass statistische Methoden bei der eben genannten Frage nicht viel weiterhelfen, sondern eher eine Analyse von Dokumenten. Auch dürften Experteninterviews nicht praktikabel sein angesichts des Zeitaufwands und anderer praktischer Schwierigkeiten. Es gibt also auch pragmatische Gründe für die Wahl der Methoden. Angewendet werden kann die ganze Breite politikwissenschaftlicher Methoden, sowohl quantitativer Art (Regressionsanalysen, Statistik, Netzwerkanalysen) als auch qualitativer Art (Quellenanalyse, Process-Tracing, qualitative Datenanalyse, Diskursanalyse, etc.). Üblicherweise werden Sie im politikwissenschaftlichen Studium auch Module zur Methodik und zu den Techniken wissenschaftlichen Arbeitens absolvieren. Nehmen Sie diese ernst, verlangen Sie von den Lehrenden eine anwendungsorientierte Einweisung mit Beispielen, und nützen Sie auch andere Seminare, um methodisches Arbeiten einzuüben. Eine präzise Methodik ist fundamental für gute Leistungen im Studium! Im folgenden Textfeld finden Sie Literatur zum Selbststudium.

Aktuelle Einführungen in wissenschaftliches Arbeiten und politikwissenschaftliche Methoden in den IB (und darüber hinaus):

Blatter, Joachim/Langer, Phil C./Wagemann, Claudius (2017): Qualitative Methoden in der Politikwissenschaft, Wiesbaden.

Janusch, Holger/Behrens, Maria/Henning, Eike (2015): Qualitative Methoden in den

Internationalen Beziehungen, in: Carlo Masala/Frank Sauer (Hrsg.), Handbuch Internationale Beziehungen, 2. Aufl., Wiesbaden, S. 665–686.

Ruhe Constantin/Schneider, Gerald/Spilker, Gabriele (2017): Quantitative Methoden in den Internationalen Beziehungen, in: Carlo Masala/Frank Sauer (Hrsg.), Handbuch Internationale Beziehungen, 2. Aufl., Wiesbaden, S. 641–664.

Schlichte, Klaus/Sievers, Julia (2015): Einführung in die Arbeitstechniken der Politikwissenschaft, Wiesbaden.

Stykow, Petra/Daase, Christopher/MacKenzie, Janet (2013): Politikwissenschaftliche Arbeitstechniken, Stuttgart.

›Hilfe! Zu meinem Thema gibt es keine Literatur!‹: eine kleine Anleitung zur Literaturrecherche in den IB

Jeder Dozent bekommt diese Behauptung in Sprechstunden immer wieder zu hören. In der Regel ist sie falsch. Tatsächlich verhält es sich meist so, dass es zu viel Literatur gibt, und dass es schwerfällt, zu entscheiden, was besonders relevant und zuverlässig ist. Grundsätzlich ist die Literatursuche Ihre Aufgabe, und auch die Einschätzung der Relevanz sollte von Ihnen erfolgen. Ein Gespür dafür werden Sie während des Studiums entwickeln. Erforderlich ist aber logischerweise auch, dass Sie sich in ein Thema einlesen – und zwar so umfassend wie möglich! Es gibt einige Basisregeln, die die eigenständige Literaturrecherche sehr erleichtern.

1) Umgang mit Primärquellen

Zunächst ist es wichtig, zwischen Quellen und Literatur zu unterscheiden. Quellen oder Primärdokumente sind Texte, die von den handelnden Akteuren oder Institutionen selbst erstellt wurden. Wenn Sie also Näheres wissen wollen zur EU-Mission zur Bekämpfung der Piraterie vor Somalia, so werden Sie auf den Webseiten der EU viele Informationen dazu finden sowie auch Aussagen über Ziele und gegebenenfalls Erfolge der Mission. Die Informationen sind meist sehr zuverlässig; die Bewertungen aber sollten Sie kritisch evaluieren. Wenn Ihre Frage ist, weshalb die EU dort so präsent ist, könnten Sie natürlich sagen: ›steht ja auf der Webseite der EU‘! Dann jedoch bräuchten Sie die Thematik gar nicht mehr bearbeiten. Interessant wird es, wenn Sie annehmen, dass es auch andere Motive geben könnte und untersuchen, ob dies so ist oder auch nicht. Statements von Akteuren oder offizielle Dokumente sind also Aussagen, die ernst genommen werden sollten. Ebenso gefährlich wie die kritiklose Übernahme von Standpunkten in Quellen und Literatur, wäre das Gegenteil, das sich in Sprüchen wie ›Politiker lügen immer!‹ ausdrückt. Quellen reflektieren zunächst einmal den Standpunkt der zu untersuchenden Einheit und müssen deshalb auf jeden Fall interpretiert werden. Und Sie müssen klar von der Sekundärliteratur unterschieden werden (auch im Literaturverzeichnis).

2) Qualitätsmedien und Think-Tanks

Aktuelle Informationen zur internationalen Politik sind nicht schwer zu finden. Jede qualitativ hochwertige Zeitung und Zeitschrift berichtet darüber, und Sie sollten sich zunächst dort über die Thematik informieren. Auch das Netz bietet viele Informationen, aber hier ist es viel schwieriger, zwischen ›Junk‹ und solider Information zu unterscheiden. Wer ernsthaft Politik studiert, wird ein Gespür dafür entwickeln, was vertrauenswürdige Informationen sind und sich nicht von dem beliebten Geschwätz im Hinblick auf ›Mainstream-Medien‹ oder ›Lügenpresse‹ verwirren lassen. Dahinter stehen meist Leute, die nicht akzeptieren können, dass ihre eigenen privaten Meinungen nicht von allen geteilt werden. Natürlich gilt dennoch – und das sollte selbstverständlich sein –, dass jede Information (auch in der Qualitätspresse) mit kritischem Auge betrachtet werden sollte.

Neben Qualitätsmedien finden sie auch hilfreiche Berichte zu aktuellen internationalen Problemen bei vielen Forschungsinstitutionen – den sogenannten Think-Tanks. Dazu gehören z. B. die Stiftung Wissenschaft und Politik, die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, diverse Stiftungen der Parteien, das Institute for International Studies in London, Brookings und RAND in den USA, das Institut Français des Relations Internationales in Paris, der European Council of Foreign Relations, Bruegel und das Centre for European Policy Studies in Brüssel und viele mehr. Deren Expertinnen und Experten veröffentlichen Studien zu allen Themen der internationalen Politik, wenn auch meist ohne (expliziten) theoretischen Anspruch. Die meisten sind online verfügbar, und leicht zu finden.

3) Wissenschaftliche Literatur

Die Berichte von Qualitätsmedien und Think Tanks zielen meist darauf ab, Handlungsoptionen zu entwickeln und eine bestimmte Problemlage aktuell zu analysieren. Sie beanspruchen nicht, Erklärungen über den Einzelfall hinaus zu finden. Dies versucht aber die wissenschaftliche IB-Literatur. Diese finden Sie am einfachsten über wissenschaftliche Fachzeitschriften, die meist mehr oder weniger theoretisch orientiert sind. Sie sollten sich unbedingt dort erschienene Artikel ansehen, denn ihr Aufbau und ihre Vorgehensweise zeigen beispielhaft, wie eine wissenschaftliche Arbeit aussehen soll. Sie erfahren zudem, was der Stand der wissenschaftlichen Debatte ist und welches die prinzipiellen Fragestellungen im gewählten Themenfeld sind.

Diese drei Literaturkategorien -Primärquellen, Sekundärquellen, theoretisch orientierte Literatur - sollten in jeder Arbeit je nach Funktion verwendet werden, um so eine umfassende und stimmige Analyse der zugrundeliegenden Fragestellung zu erreichen.

Führende Fachzeitschriften in den IB

Cooperation and Conflict

European Foreign Affairs Review

European Journal of International Relations

International Organization

International Relations

International Security

International Studies Quarterly

Journal of Intervention and Statebuilding

Review of International Political Economy

World Politics

Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik

Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung

Zeitschrift für Internationale Beziehungen

1     Immer wenn in diesem Buch vom Fach ›Internationale Beziehungen‹ als Teildisziplin der Politikwissenschaft die Rede ist, wird die Großschreibung verwendet, wohingegen der Gegenstand des Faches, die internationale Politik bzw. die internationalen Beziehungen, klein geschrieben werden.

2     Allert et al. 2014, 314.

3     Dies ist kein Ersatz für eine Einführung in die Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens. Zu Beginn des Studiums ist es absolut notwendig, sich auf diesem Gebiet intensiv einzuarbeiten. Empfehlenswerte und aktuelle Titel finden Sie in der Box »Aktuelle Einführungen in wissenschaftliches Arbeiten und politikwissenschaftliche Methoden in den IB«.

4     Popper 1978, 103.

5     Ohne klar definierte Fragestellung greifen viele Studierende zurück auf umständliche Definitionen von Konzepten, bei denen ein allgemeines Verständnis ausreicht: »Was ist Politik, Krieg, Terrorismus, der Staat etc.« Das ist in der Regel nicht notwendig. Denn das ›Publikum‹ des Referats oder der Hausarbeit ist nicht die sprichwörtliche ›eigene Oma‹ (die sich angeblich noch nie mit Politik beschäftigt hat), sondern Politikstudierende und Dozentinnen.

2          Meilensteine und Schlüsselbegriffe der internationalen Beziehungen

 

 

Lernziele

•  Kenntnis der Schlüsselereignisse in der Geschichte der internationalen Beziehungen.

•  Verständnis für Entwicklung und Bedeutung zentralre Konzepte der internationalen Politik.

•  Überblick darüber, welche Meilensteine der internationalen Beziehungen wichtige Interpretationen und Lehren bieten, und wie und wann sie bei der Erklärung und Begründung internationale Politik verwendet werden.

Der G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 wird eher für die Krawalle im Stadtzentrum der Hansestadt in Erinnerung bleiben, als für die friedlichen Proteste gegen das Treffen, oder für die Ergebnisse, welche die Staatenlenker und -lenkerinnen in ihren gut abgeschirmten Tagungsgebäuden erzielten. In diesen internen Gesprächen wurde insbesondere die Verweigerungshaltung der seit Januar im Amt befindlichen US-Regierung unter Präsident Donald Trump gegenüber globaler Kooperation wieder ganz deutlich. Nach dem Ende des Gipfels kommentierte dies James Stavridis, amerikanischer NATO-Oberbefehlshaber von 2009–2013, folgendermaßen:6

»Was wir heute sehen, gleicht mehr und mehr der Welt nach dem Ersten Weltkrieg vor ungefähr 100 Jahren, als keine der führenden Nationen zur Zusammenarbeit bereit war und die USA die Idee eines Völkerbunds zurückwiesen.«

Historische Analogien wie diese sind Mittel, um eine komplexe Realität verständlich zu machen und langfristige Trends zu identifizieren. Die zentrale Aussage des Ex-Generals ist offensichtlich: Ohne eine globale Führungsmacht, die für kooperative Lösungen kämpft, steuern wir auf eine Zeit kaum regulierter Konflikte und auf einen Wettlauf der Großmächte zu, wie er schon einmal katastrophal im Zweiten Weltkrieg endete. Die Weltpolitik täte gut daran, sich zu erinnern.

Lehren, die aus historischen Ereignissen gezogen werden, sind allgegenwärtig in der internationalen Politik. Sie bieten einen Interpretationsrahmen, um eine nur schwer fassbare, außerordentlich komplizierte Wirklichkeit zu verstehen. Im ersten Kapitel haben wir deutlich gemacht, dass es im Studium der IB (und der Politikwissenschaften im Ganzen) nicht darum geht, Daten, Fakten, Meinungen, etc. anzusammeln und wiederzugeben, sondern darum, Fragen und Problemstellungen der internationalen Politik zu verstehen und zu erklären. Wir haben deutlich gemacht, wie Fragestellungen entwickelt werden, welche Rolle Theorien dabei spielen, wie die angebotenen Erklärungen überprüft werden, welches die wichtigsten Methoden dazu sind, und wie Hypothesen bestätigt oder verworfen werden. Im kleinen Exkurs zu Schach und IB zu Ende des vorigen Kapitels wurde auch die Bedeutung von kognitiven Karten (mental maps) angesprochen, die helfen, Situationen und Problemstellungen zu bewerten, die schon bekannt sind. Historische Analogien sind solche mental maps.

Die Geschichte der internationalen Beziehungen bietet einen enormen Reichtum an Erfahrungen an, aus denen heraus aktuelle Krisen und Konflikte bewertet werden können. Vor ihrem Hintergrund sind die fundamentalen Erklärungsansätze der IB entstanden. Ziel dieses Kapitels ist es, die zentralen Problemfelder und Strukturen der internationalen Politik seit ihren Ursprüngen darzustellen. Viele Elemente dieser Problemfelder wirken bis heute fort. Sie beeinflussen das Handeln von Staaten und internationalen Akteuren, und die Versuche der Menschen, dieses Handeln zu verstehen, zu erklären und zu bewerten (»was passiert, warum passiert es, und ist es gut so?«). Deshalb ist es notwendig, diese Elemente zu kennen, um so die Geschehnisse und die Debatten darüber einordnen zu können und auch den oft vorhandenen Subtext zu entschlüsseln. Hier geht es nicht um eine Geschichte der internationalen Beziehungen, sondern um ein Bewusstsein für sich wandelnde Strukturen, Interpretationen und Ideen darüber, was internationale Politik ausmacht.

Auf dem Weg zum Westfälischen Staatensystem

Ab wann sinnvollerweise von internationalen Beziehungen gesprochen werden kann, ist umstritten, denn Nationalstaaten im heutigen Verständnis sind ein geschichtlich relativ junges Phänomen. Es gab bis ins späte Mittelalter nicht immer präzise territoriale Grenzen, und auch die Herrschaftsverhältnisse innerhalb bestimmter Territorien waren vielfach unklar. Die frühesten Aufzeichnungen berichten von Stammesverbünden, Zivilisationen und Stadtstaaten, zuerst in Ägypten und Mesopotamien. Das persische Großreich und das kurzlebige Reich Alexanders des Großen (im 4. Jh. v. Chr.) waren frühe Imperien, von denen vergleichsweise wenig übrigblieb. Die griechischen Stadtstaaten hingegen und das römische Reich, das seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. schrittweise den gesamten Mittelmeerraum unter seine Herrschaft brachte, waren prägend für das moderne politische Denken und auch für frühe Ideen zur Dynamik überterritorialer Beziehungen. Viele Werte und Normen wurden und werden auch heute noch auf der Basis klassisch humanistischen oder christlichen Denkens formuliert. Dies führt vielfach zu Konflikten, denn diese Werte treten in Konkurrenz zu Traditionen und Normen in anderen Teile der Welt. So bildeten sich im Mittelalter das chinesische Kaiserreich, die muslimischen Reiche in Vorderasien, die Zivilisationen der Azteken und Inka in Mittel- und Südamerika oder das riesige Herrschaftsgebiet der Mongolen unter Dschinghis Khan. Alle diese Reiche hatten jeweils unterschiedliche Regeln des Zusammenlebens. Sie prägten ihre jeweiligen Epochen, waren aber oft Gebilde, die nur einen losen Zusammenhalt aufwiesen. Ihre Herrschaftsbereiche waren alles andere als klar abgegrenzt. Ethnische und familiäre Verbünde bildeten konkurrierende Autoritäten, die oft genug auch ihre eigenen militärischen Kräfte hatten. Insbesondere religiös geprägte Gemeinschaften wirkten oft identitätsstiftend über viele der unklar definierten Grenzen hinweg, wie der Katholizismus oder der Islam. Letzterer war geprägt von der Idee einer allen anderen politischen Organisationsformen übergeordneten Einheit der Gläubigen, der Umma, eine Idee, die auch heute noch höchst wirkungsmächtig ist. Chaotische bewaffnete Konflikte waren ständig präsent. Zwar gab es Formen der Diplomatie und Überlegungen zu einer ethischen Kriegführung. Ideen vom ›Gerechten Krieg‹ entstanden beispielsweise sowohl im spätrömischen Reich als auch im alten Indien. Die Aufteilung der Herrschaftsstrukturen jedoch und die gegenseitigen Beziehungen von entfernt liegenden Gebieten waren nur wenig formalisiert. Diese unklaren und sich gegenseitig durchdringenden Herrschaftsstrukturen, in denen es keine deutliche Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik gab, führten zu anhaltenden Konflikten und Kompetenzstreitigkeiten zwischen unterschiedlichen Machtansprüchen. Dies war besonders deutlich in Europa, welches zum Ausgang des Mittelalters einem Flickenteppich von dynastischen regierten Gebieten, Fürstentümern, religiös dominierten Einheiten und Stadtstaaten glich. Aus diesem Chaos sollte aber schließlich das moderne Staatensystem entstehen, welches sich im 20. Jahrhundert auf die ganze Welt ausbreitete.

Infobox

Weltreich, Imperium, Empire

Diese oft austauschbar verwendeten Begriffe bezeichnen umfangreiche Herrschaftsgebiete, welche unterschiedliche Nationen oder Völker umschließen und von einem hegemonialen Zentrum mehr oder weniger direkt beherrscht, kulturell geprägt und (häufig) ausgebeutet werden. Weltreiche, mit dem römischen Imperium als bekanntestem Beispiel, bildeten die wichtigste Organisationsform im globalen Raum bis zum Aufstieg der Nationalstaaten. Vom Perserreich und Rom in der Antike, über das Frankreich Karls des Großen, das Mongolenreich von Dschinghis Khan, das osmanische Reich, das britische Empire und viele andere, prägten Imperien die Geschichte. Die Grenzen von Imperien sind offener und unbestimmter als diejenigen souveräner Staaten. Viele Autoren argumentieren, dass auch die USA aufgrund ihrer unvergleichlichen Machtfülle nach dem 2. Weltkrieg als Imperium bezeichnet werden kann, und dass die Epoche der Weltreiche noch nicht zu Ende ist, sondern nur andere Formen angenommen hat. Der Niedergang von Großreichen wird häufig auf ›imperiale Überdehnung‹ zurückgeführt, wenn das Reich sich weiter ausdehnt, als es die langfristigen Kapazitäten zulassen.

Die Problematik der überlappenden Kompetenzen wurde überdeutlich in den Epochen der Religionskriege. Der Dreißigjährige Krieg von 1618–1648 war einer der blutigsten Konflikte der Menschheitsgeschichte. Marodierende Armeen legitimierten ihre Interventionen in den Krieg mit dem Schutz ihrer Glaubensgenossen oder mit den dynastischen Interessen der vielfach miteinander verflochtenen, konkurrierenden Herrscherfamilien. Ganze Landstriche wurden entvölkert, nicht nur als Folge der Kampfhandlungen, sondern auch aufgrund grassierender Epidemien und Krankheiten. Erst die totale Erschöpfung auf allen Seiten führte dazu, dass nach jahrelangen Vorverhandlungen mit dem sogenannten Westfälischen Frieden (Friedensverträge von Münster und Osnabrück 1648) ein Ende der Kampfhandlungen erzielt werden konnte. Die zentralen Elemente der Westfälischen Verträge waren zum einen die Anerkennung des Prinzips » cuius regio, eius religio«, wonach die Herrscher für ihr Gebiet die Religionszugehörigkeit festsetzten (bei gleichzeitiger Toleranz gegenüber Andersgläubigen). Damit bestand im Grunde kein Recht mehr auf Einmischung von außen (Prinzip der Nicht-Intervention). Zum anderen wurde von den teilnehmenden Gebieten die gegenseitige Souveränität ( 2. Schlüsselbegriff: ›Souveränität‹) anerkannt und damit ein fundamentaler Schritt auf dem Weg in das moderne Staatensystem vollzogen. Seitdem wird vom Westfälischen Staatensystem gesprochen, um jenes internationale System ( 1. Schlüsselbegriff: ›Internationales System‹) zu kennzeichnen, welches durch souveräne Staaten mit völkerrechtlicher Gleichberechtigung innerhalb fester territorialer Grenzen charakterisiert wird. Dieses System wurde weder von den Verträgen ex nihilo geschaffen, noch wurde es in ihnen direkt festgelegt. Dennoch wird dieser Begriff verwendet, um das bis heute existierende System souveräner Staaten zu bezeichnen, welches sich aufgrund der europäischen Expansion weltweit verbreitete. Es gibt viele Diskussionen darüber, ob damit auch das internationale System der Gegenwart noch adäquat beschrieben ist, da Globalisierung und die Durchlässigkeit der Grenzen zu einer weitreichenden Transformation der Souveränität geführt haben. Für den Großteil der Forschung leben wir aber immer noch im Westfälischen System.

1. Schlüsselbegriff

Internationales System

Dieser Begriff wird Ihnen häufig begegnen. Was ist damit gemeint? Grundsätzlich bezeichnet ein System eine Einheit aus verschiedenen Elementen, die regelmäßig interagieren. Dies bedeutet, dass es Gesetzmäßigkeiten dieser Interaktion gibt, die analysiert und bewertet werden können. Wenn wir vom internationalen System sprechen, so impliziert das, dass dies auch für die globale Politik gilt. Es bedeutet auch, dass die Einheiten dieses Systems tatsächlich häufige Interaktionen haben: dies sind zum einen nennenswerte wirtschaftliche Austauschbeziehungen, aber auch die Möglichkeit von kriegerischen Auseinandersetzungen und diplomatischen Verwicklungen aufgrund der räumlichen Nähe. Damit wird klar, dass für einen Großteil der menschlichen Geschichte nicht von einem System gesprochen werden kann, welches nennenswerte und regelmäßige politische Interaktionen erzeugte. Politik war vornehmlich lokal oder regional, und allenfalls in regionalen Zusammenhängen, wie den griechischen Stadtstaaten, näherte sich die Beziehungsdichte dem heutigen Staatensystem an. Auch die in der Weltgeschichte dominierenden Imperien waren abgesehen von den Eroberungszügen vor allem nach innen ausgerichtet. Im Mittelalter gab es keine klar abgrenzbaren Einheiten wie Staaten, sondern überlappende Autoritäten. Erst mit der Herausbildung von Staaten und all den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, die ihr Verhältnis zueinander regeln, kann von einem tatsächlich internationalen System gesprochen werden.

Das westfälische Vertragssystem war nur ein Schritt, wenn auch ein fundamentaler, auf dem Weg der Staaten zu ihrer heutigen Gestalt. Zu den typischen Eigenschaften von Staaten, die sich langsam herausbildeten, gehören als wesentliche Elemente: eine Zentralregierung, ein Territorium mit mehr oder weniger eindeutigen Grenzen, interne und externe Souveränität, Kriterien für die Staatsbürgerschaft, staatliche Symbole und die Grundlagen des Völkerrechts. Internationale Abmachungen wurden nun zunehmend zwischen Staaten, nicht zwischen den jeweils Herrschenden geschlossen, und erreichten so eine neue Dauerhaftigkeit, durch die sie nicht mehr von den wechselnden Geschicken der Herrscherhäuser abhängig waren. Als grundsätzliches Ordnungsprinzip wurde mehr und mehr das Mächtegleichgewicht gesehen, gestützt durch eine zunehmend differenzierte völker- und staatsrechtliche Literatur. Im Frieden von Utrecht, der den Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) beendete, wurde das Konzept des Mächtegleichgewichts explizit als Friedensgarant festgelegt.

2. Schlüsselbegriff

Souveränität

Es gibt wenige Begriffe in der internationalen Politik, die so politisch brisant sind wie staatliche Souveränität. So wie bestimmte Staaten jede Einmischung in ihre Souveränität scharf ablehnen, geben andere, wie die Mitgliedstaaten der EU, wesentliche Teile davon freiwillig auf. Der moderne Staat ist charakterisiert durch den Anspruch auf innere Souveränität (Autonomie in der eigenen Gestaltung, insbesondere Gewaltmonopol) und äußere Souveränität (Unabhängigkeit von anderen Staaten sowie formale Anerkennung). Wo die Grenzen der Souveränität liegen und ab wann diese in unzulässiger Weise verletzt wird, gehört zu den dauerhaften Streitfragen der internationalen Politik seit ihren Ursprüngen. Was bedeutet Souveränität noch angesichts von gewaltigen internationalen Finanzströmen, vielfachem Staatszerfall, und unentwirrbaren Abhängigkeitsverhältnissen?

Testfrage: Lesen Sie den internationalen Teil einer seriösen Tageszeitung vom heutigen oder gestrigen Tag. In welchen der dort geschilderten Auseinandersetzungen geht es im Kern um Fragen der staatlichen Souveränität?

Konsolidierung des Staatensystems, Mächtegleichgewicht und Imperialismus

Staatliche Souveränität war kein Phänomen, das plötzlich in einer klar definierten Form erschien. Die Herrscher, die für sich beanspruchten, Träger der Souveränität zu sein, sahen sich bei der Durchsetzung ihres Gewaltmonopols vor eine gewaltige Aufgabe gestellt. Die Unterwerfung konkurrierender Autoritäten sowie der Aufbau eines modernen Staates mit klaren Grenzen, einem Steuersystem, einer effizienten Zentralverwaltung, einer staatlich kontrollierten und sanktionierten Gesetzgebung, einer stehenden Armee und nicht zuletzt einer den Zusammenhalt fördernden staatlichen Identität stellten sie vor komplexe Probleme. Wo dies aber gelang, entstand mit dem modernen Nationalstaat eine Organisation politischer Autorität, die außerordentlich effizient war und meist in relativ kurzer Zeit andere Organisationen territorialer Herrschaft, wie Imperien, Stammesgesellschaften oder lose Föderationen, verdrängte. Der Staat europäischer Prägung wurde zum Vorbild, nach dem sich fast alle Gesellschaften dieser Welt mit mehr oder weniger Erfolg organisierten.

Lange Zeit galt Frankreich als Prototyp dieser Organisationsform, insbesondere unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV., der von 1643–1715 regierte. Die straffe Organisation des Staatswesens diente dem König und seinem machtbewussten Hofstaat auch zur Unterstützung einer aggressiven Außenpolitik, die dem Aufbau und der Sicherung der französischen Vormachtstellung in Europa diente. Der (ihm fälschlich zugeschriebene) viel zitierte Spruch »L’État, c’est moi!« (Der Staat bin ich!) symbolisierte ein Herrschaftsverständnis, welches als absolutistisch bezeichnet wird. Er verdeutlichte aber auch die Probleme einer auf persönliche und familiäre Bindungen begründeten Herrschaft. Gegen diesen tendenziell totalitären Anspruch erhoben sich bald Widersprüche, die in Frankreich schließlich zum epochalen Ereignis der Französischen Revolution von 1789 führten. Der Aufstand richtete sich gegen die repressiven Lasten, welche die ständig in Kriegen verwickelte Monarchie der Bevölkerung auferlegte, und gegen die Freiheitseinschränkungen, die für ein zunehmend aufgeklärtes Bürgertum immer unerträglicher wurden. Die Revolutionäre kämpften für eine Herrschaft, die vom Volk und nicht von göttlicher Vorbestimmung ausging. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789 formulierte Prinzipien, die auch heute noch die Basis für die Werte bilden, die von den Vereinten Nationen (United Nations Organization – UNO) in ihren Grundsatzdokumenten niedergelegt wurden. Auch in anderen Teilen der Welt regte sich Widerspruch gegen die absolutistische Herrschaftsanmaßung der modernen Staaten. Am weltgeschichtlich bedeutendsten war die amerikanische Revolution gegen die britische Kolonialmacht, die 1776 zur Unabhängigkeit der Kolonien führte und mit den demokratisch verfassten Vereinigten Staaten die Macht schuf, die das 20. Jahrhundert dominierte. Die ursprünglich 13 amerikanischen Einzelstaaten dehnten ihr Gebiet durch Eroberungen und Kauf, vor allem auf Kosten der indianischen Bevölkerung und der spanischen Kolonialmacht, schnell aus und wurden spätestens mit Beginn der industriellen Revolution ein zentraler Akteur der globalen Politik.

Das plötzliche Erscheinen der Herrschaft des Volkes auf der welthistorischen Bühne führte aber keineswegs dazu, dass diese neuartigen Staaten eine weniger aggressive Außenpolitik betrieben. Das beste Beispiel ist Frankreich. Die Unterstützung der anderen europäischen Monarchen für den gestürzten französischen König Ludwig XVI, die freilich von einer militärischen Intervention absah, hatte zur Folge, dass die Revolutionäre versuchten, ihre Errungenschaften aktiv auch nach außen zu verteidigen. 1792 erklärten sie den konservativen Mächten Preußen und Österreich, die für die Beibehaltung des Gottesgnadentums der Herrscher kämpften, den Krieg. Nach massiven Niederlagen der französischen Volksarmee wurde der frühere König Ludwig XVI hingerichtet und ein Schreckensregime errichtet, welches die gesamte Bevölkerung mobilmachte und zum Kampf gegen die Eindringlinge aufforderte. In dieser Zeit entstand auch die französische Nationalhymne, die Marseillaise, mit ihrem ziemlich blutrünstigen Text. Zudem wurde die allgemeine Wehrpflicht (ein weiteres Merkmal der sich verfestigenden Staatsgewalt) eingeführt. Frankreich schaffte es, die Niederlage abzuwenden und gewann sogar an Territorium dazu. 1799 putschte sich ein populärer General an die Macht: Napoleon Bonaparte, der sich 1804 zum französischen Kaiser krönte. In der Folgezeit besiegte er die europäischen Mächte außer Russland und verhängte eine Kontinentalsperre gegen Großbritannien. Mit dem Versuch, durch einen Russlandfeldzug seine Macht endgültig zu festigen, überspannte Napoleon jedoch seine Kräfte und wurde schließlich in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 vernichtend geschlagen. Aus der Verbannung auf die Insel Elba kehrte er noch einmal zurück, bis die Niederlage von Waterloo die Napoleonischen Kriege endgültig beendete. Diese Epoche hatte enorme Folgen für die Geschichte der internationalen Beziehungen: in vielen noch zersplitterten Territorien, wie Deutschland und Italien, entstanden Nationalbewegungen, die zur Einheit dieser Staaten führten. Zur Verhinderung erneuter Zusammenbrüche des internationalen Systems unternahmen die großen Mächte den Versuch der Konstruktion einer Friedensordnung, welche schließlich das 19. Jahrhundert dominieren sollte.

Diese Friedensordnung wurde hauptsächlich auf dem Wiener Kongress von 1814–1815 verhandelt. Hier wurde von ca. 200 Staaten, Fürstentümern, Grafschaften, Städten, etc. nicht nur die territoriale Neugestaltung Europas beschlossen, sondern auch die grundlegenden Prinzipien und Normen festgelegt, welche die internationale Ordnung in den folgenden Jahrzehnten prägen sollten. Ein zentrales Element war die Eindämmung Frankreichs, um zu verhindern, dass das Land wieder als außenpolitischer Aggressor wirken konnte (Eindämmungspolitik  7. Schlüsselbegriff: ›Containment‹,  Kap. 2). Das sogenannte Kongresssystem, das Konzert der Mächte, etablierte ein System kollektiver Sicherheit ( 3. Schlüsselbegriff: ›Kollektive Sicherheit‹), in dem die fünf dominanten Mächte (England, Russland, Österreich, Preußen, und später Frankreich) eine Garantiefunktion übernahmen. Ziel war die Stabilität Europas, die durch die Blockade von plötzlichen Machtverschiebungen oder gefährlichen revolutionären Umtrieben zustande kommen sollte. Die Verständigung erfolgte über ein reges System diplomatischer Kontakte und multilateraler Konferenzen, die eingerichtet wurden, sobald es irgendwo auf dem Kontinent zu friedensgefährdenden Entwicklungen kam. So bildeten sich gemeinsame Normen und Regeln heraus, die dazu dienten, das Gleichgewicht der Mächte in Europa zu wahren und Konflikte kommunikativ zu lösen. Mit Ausnahme des Krimkriegs 1853–1856 gelang dies auch. Bis der Aufstieg Deutschlands als zentrale Macht in Europa das Gleichgewicht aus der Balance brachte, blieben bewaffnete Konflikte zwischen den Großmächten weitgehend aus.

Auch wenn das System kollektiver Sicherheit nach dem Wiener Kongress zerstörerische Kriege zwischen Großmächten lange eindämmten, so war seine Bindungswirkung in vieler Hinsicht auch begrenzt. So war zum Beispiel nicht festgelegt, wann Entwicklungen in europäischen Staaten als so sicherheitsgefährdend eingestuft werden mussten, dass die Großmächte militärisch intervenierten. Wie die Fälle Libyen oder Syrien zeigen, gibt es dafür bis heute keine weltweit anerkannten Kriterien. Eine Lehre aus dem Schock der Napoleonischen Krise war jedenfalls die Erkenntnis, dass revolutionäre Umwälzungen in europäischen Staaten zu außenpolitischer Aggressivität und zu möglichen Ansteckungseffekten in anderen Ländern führen konnten. Diese Sorge teilten insbesondere die relativ reaktionären Großmächte Österreich-Ungarn und Russland, die versuchten, ihre Vielvölkerstaaten mit eiserner Hand zusammenzuhalten und jede Kritik am monarchischen Prinzip als Gefahr ansahen. Zusammen mit Preußen schlossen diese Reiche eine lose sogenannte Heilige Allianz, die darüber wachen sollte, dass revolutionäre Umtriebe in den kleineren europäischen Staaten keinen Erfolg hatten. Dies schloss die Möglichkeit einer bewaffneten Intervention ein.

3. Schlüsselbegriff

Kollektive Sicherheit

Unter kollektiver Sicherheit versteht man ein System regionaler oder universaler Zusammenarbeit, welches die Friedenswahrung im Interesse aller Beteiligten zum Ziel hat. Die Teilnehmer akzeptieren eine geteilte Verantwortung für den Frieden und verpflichten sich, gemeinsam (kollektiv) für dieses Ziel einzutreten, zu dessen Erreichung zusammenzuarbeiten, und gegen einen Aggressor gemeinsam vorzugehen. Systeme kollektiver Sicherheit haben eine lange Geschichte. Das Konzert der Mächte ist sicher nicht das Erste, aber eines der bedeutendsten. Der Völkerbund, und natürlich die UNO, waren bzw. sind die wichtigsten universalen Systeme kollektiver Sicherheit.

Wissensfrage: Welche aktuellen, regionalen Systeme kollektiver Sicherheit sind Ihnen bekannt?

Diskussionsfrage: Wo liegen die grundsätzlichen Probleme bei Systemen kollektiver Sicherheit?

England und Frankreich standen dieser Kontrolle der Volkssouveränität von außen aber skeptisch gegenüber. Dagegen wurden sie zu Vorreitern eines neuen Typs zwischenstaatlicher Intervention, der nach dem Ende des Kalten Kriegs zu einem viel diskutierten Thema wurde: Der humanitären Intervention. Dies betraf insbesondere die Regionen am Rande Europas, die noch Teil des krisengeschüttelten Großtürkischen oder Osmanischen Reichs war. Seit dem Zenit seiner Ausdehnung im 17. Jahrhundert befand sich das den gesamten östlichen Mittelmeerraum bis an den Persischen Golf reichende osmanische Imperium in einem andauernden Krisenzustand. Dies äußerte sich in Unabhängigkeitsbestrebungen, zum Beispiel in Griechenland oder Bulgarien. Die Niederschlagung dieser Aufstände führte zu Interventionen der Großmächte, vornehmlich um weitere Massaker zu verhindern. Von den Osmanen wurden diese Interventionen aber schon als Teil des europäischen Imperialismus gesehen.

Auch in den aufstrebenden Vereinigten Staaten von Amerika kam die Behauptung eines europäischen Interventionsrechts nicht gut an. Sie reagierten mit der Verkündung der Monroe-Doktrin ( 4. Schlüsselbegriff: ›Monroe-Doktrin‹), eine Absage an jede Intervention von außen in der westlichen Hemisphäre (Nord-, Mittel-, und Südamerika). Dies hielt die USA nicht davon ab, ihr eigenes Territorium durch brutale Eroberungskriege auf Kosten der indianischen Bevölkerung auszudehnen. Ähnlich agierten Russland, welches sich im Laufe des 19. Jahrhunderts Zentralasien und Sibirien einverleibte, und China, das schon im 18. Jahrhundert den größten Teil Ostasiens beherrschte. So entstand schon die Struktur derjenigen Großmächte, die die Welt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominieren sollten.

4. Schlüsselbegriff

Monroe-Doktrin

Am 2. Dezember 1823 verkündete der amerikanische Präsident James Monroe, dass die Vereinigten Staaten, nach der Unabhängigkeit der meisten lateinamerikanischen Staaten von Spanien und Portugal, erwarteten, dass sich die europäischen Staaten jedweder Einmischung in Nord- und Südamerika enthielten. Auch die USA würden sich nicht in europäische Angelegenheiten einmischen. Diese Ankündigung hatte zunächst keine große praktische Relevanz, wurde aber im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einer zentralen Richtschnur des amerikanischen außenpolitischen Handelns. Im 20. Jahrhundert diente sie der Abwehr realer oder vermeintlicher nationalsozialistischer und kommunistischer Interventionen in der westlichen Hemisphäre.

Zunächst brach jedoch die Zeit der Kolonialmächte an, die sich einen Wettlauf um die Aufteilung der Welt lieferten. Die industrielle und technologische Revolution des 19. Jahrhunderts führte u. a. dazu, dass bisher kaum überwindbare Distanzen zwischen den Erdteilen schrumpften und eine direkte Konfrontation unterschiedlicher Herrschaftssysteme möglich wurde. Die Organisationsform des westfälischen Staats und der wissenschaftliche und industrielle Fortschritt in Europa und den USA brachten es mit sich, dass die europäischen Staaten wesentlich schlagkräftiger waren als die Formen der Herrschaftsorganisation in anderen Erdteilen. Innerhalb kurzer Zeit wurden große Teile der Erde kolonisiert. In Afrika und im Nahen Osten sicherten sich Großbritannien, Frankreich, Belgien, Portugal, und später auch Italien und Deutschland fast den gesamten Kontinent. Indien wurde zur wichtigsten Kolonie Englands und zu einem zentralen Baustein des britischen Empire – das territorial umfangreichste Imperium, das die Welt bis dahin gesehen hatte. Indochina wurde französisches Gebiet, und Indonesien wurde von den Niederländern beherrscht.

Die Kolonien wurden zu Prestigeobjekten, aber auch zu Lieferanten wichtiger Rohstoffe und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts auch zur Quelle für den Menschenhandel der transatlantischen Sklaverei. Legitimiert wurden die Eroberungen durch wirtschaftliche Motive, durch staatliche Konkurrenz und ein Sendungsbewusstsein, dass die Ausbreitung angeblich überlegener europäischer Werte propagierte. Dieser Wettlauf um die Kolonien begründete das Zeitalter des Imperialismus. Verstanden wird darunter die formale und informelle Kontrolle von Territorien durch die ökonomische und politische Einflussnahme und Dominanz auswärtiger Mächte, bei gleichzeitiger Kollaboration örtlicher Eliten.7 Die Formen der Herrschaft reichten dabei von direkter Verwaltung und Unterdrückung bis hin zu indirekter Kontrolle unter Wahrung des Anscheins der Souveränität (so wurde z. B. China in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine informelle Kolonie, die europäischen, amerikanischen und japanischen Handelsinteressen diente). Die Folgen des Imperialismus gelten in vieler Hinsicht als verhängnisvoll und sie prägen noch heute die politischen Beziehungen zwischen ehemaligen Kolonialmächten und den beherrschten Territorien.

Abb. 3: Kolonialreiche 1914

Infobox

Theorien des Imperialismus

Der Imperialismus gilt als eines der Phänomene der internationalen Politik mit den längsten, aber auch verhängnisvollsten Nachwirkungen. Deshalb war er seit seinen Ursprüngen ein umstrittenes Thema einer Forschung, die nicht nur den historischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts, sondern die Ausdehnung der Kontrolle von Staaten über untergeordnete Territorien zu erklären versuchte. Die erste wichtige Theorie des Imperialismus legte der britische Forscher John A. Hobson vor, der den Imperialismus als Konsequenz der Interessen von Unternehmern und Investoren sieht, denen es gelang die Steigerung von Waren- und Kapitalexporten als nationale Interessen zu definieren. Darauf aufbauend hat Wladimir I. Lenin, der Begründer der Sowjetunion, eine Theorie vorgelegt, wonach der Imperialismus eine Reaktion auf die Grenzen der kapitalistischen Expansion im nationalen Raum ist. Deshalb erfolgt eine Ausweitung der Großkonzerne und des Finanzkapitals, unterstützt durch die kapitalistischen Länder, auf die gesamte Welt.

Neuere Theorien, die nach der Auflösung der Kolonialreiche entstanden, operieren eher mit dem Gegensatz von Zentrum und Peripherie, wobei in den abhängigen Staaten der Peripherie die dortigen Eliten kooptiert werden, um die Abhängigkeitsverhältnisse auf Dauer zu stellen.