Militärische Missionen - Hubert Zimmermann - E-Book

Militärische Missionen E-Book

Hubert Zimmermann

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Beschreibung

Militärische Eingriffe in fremden Territorien gehören zu den großen Triebkräften der Weltgeschichte. Gewöhnlich lagen ihre Ursachen in der Gier nach Macht, Land oder Reichtümern begründet. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein neuer Typus etabliert: militärische Interventionen, die nicht mehr vornehmlich auf Vergeltung, Eroberung oder Machtgewinn abzielen, sondern auf die Herstellung kollektiver und individueller Sicherheit durch die Stabilisierung fremder Territorien. Hubert Zimmermann zeichnet, basierend auf umfangreichen Fallstudien zu den USA, Deutschland und Frankreich, die spannende Geschichte militärischer Interventionen und ihrer Rechtfertigungen im internationalen Vergleich bis in die Gegenwart nach. Wie wandelten sich im Laufe der Geschichte die Motive und Begründungen? Welche Konflikte und Widersprüche tauchten immer wieder auf? Ganz wesentlich geht es bei der Rechtfertigung von Auslandseinsätzen um die eigene Identität im Verhältnis zu anderen Gesellschaften. In diesem Sinne ist dieses Buch auch eine Reflexion über die seit jeher umstrittenen Vorstellungen von Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Umgang der Staaten untereinander.

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Seitenzahl: 786

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Hubert Zimmermann

Militärische Missionen

Rechtfertigungen bewaffneter Auslandseinsätze in Geschichte und Gegenwart

Hamburger Edition

Für Jessica, Xaver und Quirin

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2023 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-449-7

© 2023 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-381-0

Umschlaggestaltung: Lisa Neuhalfen, Berlin

Umschlagabbildungen: © Guy Bell / Alamy Live News;

© U.S. Air Force photoby Senior Airman Taylor Crul via

American Photo Archive / Alamy

Inhalt

Einleitung.Deutungskämpfe um militärische Auslandsinterventionen

I Von den Kreuzzügen bis zum Dreißigjährigen Krieg:Die religiösen Wurzeln militärischer Auslandsinterventionen

II Die »Erfindung« staatlicher Souveränität und militärische Auslandsinterventionen

III Mächtegleichgewicht, europäisches Konzert und kollektive Sicherheit: Militärische Auslandsinterventionen im frühen 19. Jahrhundert

IV Die Erfindung der humanitären Intervention

V Intervention und Nichtintervention im Zeitalter der Weltkriege

VI Militärische Auslandsinterventionen im Zeitalter des Kalten Kriegs

VII Globale Schutzverantwortung 1989 bis 2009:Von der Friedenssicherung zur Interventionsverpflichtung?

VIII Die Rechtfertigung militärischer Auslandseinsätze in Afrika und Asien

IX Der neue Anti-Interventionismus

X Macht und Mission:Die militärischen Auslandsinterventionen der USA

XI Die Verantwortungsrepublik:Die Deutschen und militärische Auslandsinterventionen

XII »La Vocation«:Frankreich und militärische Auslandsinterventionen

XIII Fazit

Literaturverzeichnis

Zum Autor

Einleitung.Deutungskämpfe um militärische Auslandsinterventionen1

Der Streit um die amerikanische (Nicht)Intervention in Syrien

Barack Obama hatte genug: »Samantha, es reicht jetzt! Ich habe dein Buch schon gelesen!« Diese scharfe Zurechtweisung aus dem Munde eines so gut wie nie unbeherrschten Präsidenten ereignete sich während einer spannungsgeladenen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats der USA im Sommer 2013.2 Sie galt Samantha Power, der Frau, die er kurz zuvor als amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen nominiert hatte. In der Sitzung ging es um die Frage, ob die USA im Syrienkonflikt militärisch intervenieren sollten. Mitte August dieses Jahres war bekannt geworden, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad skrupellos Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hatte. In der regierungsinternen Kontroverse war Samantha Power die leidenschaftlichste Befürworterin eines Einsatzes des amerikanischen Militärs. Die ursprünglich aus Irland stammende Diplomatin hatte in den 1990er Jahren als Reporterin für verschiedene Medien aus den humanitären Krisengebieten der Welt berichtet. Von dort schrieb sie aufsehenerregende und schockierende Augenzeugenberichte von Kriegsverbrechen, insbesondere aus dem bosnischen Bürgerkrieg. Sie verarbeitete diese Erfahrungen in ihrem 2003 erschienenen Buch mit dem Titel A Problem from Hell: America in the Age of Genocide, in dem sie die amerikanische Zurückhaltung bei zahlreichen Völkermorden des 20. Jahrhunderts scharf kritisierte. Das desinteressierte Wegsehen der US-Politik sowie ihre Ignoranz bei offensichtlichen Massenverbrechen, trotz der verfügbaren überwältigenden Machtressourcen, widersprächen den Grundwerten und der Identität der Vereinigten Staaten. Gerade die USA, so Power, hätten die Pflicht, bei fundamentalen Menschenrechtsverstößen ihre militärische Macht einzusetzen.

A Problem from Hell stürmte die Bestsellerlisten für Sachbücher und brachte Samantha Power den Pulitzer-Preis ein. Das Buch erregte auch die Aufmerksamkeit des damaligen US-Senators Barack Obama, der die Autorin erst zur außenpolitischen Beraterin in seinem Wahlkampfteam machte, um sie dann, nach seiner Wahl zum Präsidenten, in den Nationalen Sicherheitsrat zu berufen.3 Dort war sie verantwortlich für Menschenrechtsfragen und sprach sich, entsprechend der Botschaft ihres Buches, immer wieder für einen entschiedenen Einsatz des amerikanischen Militärs bei humanitären Krisen aus. Wie viele andere in der Regierung drängte sie den Präsidenten zu energischem Handeln, als sich die 2011 beginnenden Unruhen in Syrien, deren Ursprung in Protesten der Bevölkerung gegen die Diktatur Bashar al-Assads lag, zu einem immer brutaler werdenden Bürgerkrieg wandelten und schließlich zur bisher größten humanitären Katastrophe des 21. Jahrhunderts wurden.

Zur zunehmenden Frustration der Interventionsbefürworter in seiner Regierung, erwies sich der Präsident jedoch als sehr zögerlich und blockierte jedes größere Engagement des US-Militärs im Krisenherd. Dabei hatte sich Obama in seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises im August 2011 noch klar für die Notwendigkeit eines robusten Eingreifens ausgesprochen, wenn es durch Diplomatie und wirtschaftlichen Druck nicht gelänge, massive Menschenrechtsverletzungen zu stoppen. Als aber in Syrien der Moment der Entscheidung kam, überwog die Vorsicht. Vordergründig waren die katastrophalen Erfahrungen, die die Vorgängerregierung im Irak gesammelt hatte, der Grund. »Don’t do stupid shit!« wurde zum viel zitierten Mantra Obamas, und dazu gehörte eine Intervention in Konflikte, deren unübersichtliche Gemengelage in den USA von nur wenigen Expertinnen verstanden wurde und die keine essenziellen nationalen Interessen betrafen. Auch als der Präsident öffentlich eine »rote Linie« zog, nämlich den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, und das Assad-Regime diese Linie mit seinem Chemiewaffeneinsatz überschritt, entschied er sich für eine zurückhaltende Strategie, die seine Außenministerin Hillary Clinton, den Nahost-Sondergesandten John Kerry, Samantha Power und viele andere in der Regierung vor den Kopf stieß. Jedoch: Für eine unilaterale Intervention mit ungewissen Erfolgsaussichten und auf einer nicht gesicherten Faktenbasis reichten Obama die Argumente, die seine Beraterinnen und Berater präsentierten, nicht aus. Es sei gerade nicht die Verantwortung der Amerikaner, so insistierte er, immer wieder bei humanitären oder sonstigen Konflikten das Leben der eigenen Soldaten sowie die eigenen nationalen Interessen aufs Spiel zu setzen.

Die abrupte Kehrtwende des Präsidenten wurde in den Medien und im Kongress heftig kritisiert. Ausgerechnet der russische Präsident Wladimir Putin half ihm letztlich aus der Zwickmühle, indem er zustimmte, gemeinsam mit den USA Druck auf Assad auszuüben, damit dieser seine Chemiewaffen vernichtete. Angesichts dieser vereinten Front knickte der syrische Diktator ein, wenn auch, wie sich bald zeigen sollte, nur scheinbar. Schließlich war es auch Putin, der wenig Skrupel hatte, mit der direkten und rücksichtslosen Intervention russischer Luftstreitkräfte im Syrienkonflikt eine entscheidende Wende zu erzwingen. Die Vermutung dürfte nicht gewagt sein, dass humanitäre Aspekte bei der russischen Militäraktion eine ziemlich geringe Rolle spielten.

Die Syriendebatte sowie die Besetzung der Krim und schließlich der Angriffskrieg gegen die Ukraine markierten einen Wendepunkt in der internationalen Politik. Eine Periode umfangreicher globaler und multinationaler Interventionen ging zu Ende und wurde durch einen neuen Anti-Interventionismus abgelöst. Dabei sind sowohl innenpolitisch bei den wichtigsten Interventionsmächten als auch international aufgrund der aktuellen geopolitischen Konstellation nach den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts die Bedingungen für neue größere Auslandsinterventionen kaum noch gegeben.4

Diese Geschichte der Auslandsinterventionen macht deutlich, dass derartige Perioden der Zurückhaltung nicht ungewöhnlich sind, aber auch nach einiger Zeit wieder enden. Der bewaffnete Auslandseinsatz als Instrument der internationalen Politik wird bleiben und irgendwann wieder häufiger angewandt werden, jedenfalls solange das internationale System grundsätzlich in Form einer Welt von Staaten organisiert ist. Die Kontroverse in der Obama-Regierung zeigt jedoch beispielhaft, wie umstritten die Problematik von Interventionen zu jeder Zeit ist und wie schwierig es ist, diese zu rechtfertigen, selbst im Angesicht massenhaften Sterbens, der Vertreibung von Millionen von Menschen und des Einsatzes international geächteter Massenvernichtungswaffen. Humanitäre Argumente, Sicherheitsinteressen, rechtliche Aspekte, wirtschaftliche und technologische Faktoren führen zu komplexen normativ-philosophischen und realpolitischen Kontroversen im Spannungsfeld von verletzter Souveränität der betroffenen Staaten und globalen Werten. Mit den resultierenden Fragen plagten sich politisch Handelnde und politische Denker und Denkerinnen seit Jahrhunderten. Trotz vieler schlechter Erfahrungen kam es immer wieder zu Interventionen, die häufig katastrophal endeten und von vornherein zum Scheitern verurteilt schienen. Wie wurden sie gerechtfertigt, auch wenn in der Regel viele offensichtlich rationale Beweggründe dagegensprachen?

Im ersten Teil dieses Buches wird gezeigt, wie sich die wichtigsten Argumente für und gegen militärische Interventionen bis ins 20. Jahrhundert entwickelten. Wir werden sehen, wie unterschiedliche Großmächte und Kulturen um Rechtfertigungsfragen rangen und was ihre jeweilige Haltung zu militärischen Auslandsinterventionen über das Selbstbild dieser Gesellschaften aussagt. So werden auch die Debatten in Afrika und Asien, jene Regionen, die meist zum Opfer westlicher Interventionen wurden, komprimiert dargestellt und verglichen. Hier geht es nicht um eine erschöpfende Darstellung der Interventionsproblematik auf diesen Kontinenten, denn auch dort gibt es, wie auch in westlichen Staaten, viele unterschiedliche Sichtweisen auf Auslandseinsätze. Vielmehr sollen nichtwestliche Perspektiven aufgezeigt werden und die Tatsache, dass hier ähnliche Motive wie in westlichen Debatten auftauchten. Interventionen sind kein rein westliches Konzept, aber es sind westliche Staaten gewesen, die in den letzten zwei Jahrhunderten die Mehrzahl dieser Einsätze zu verantworten hatten. Im zweiten Teil wird der Fokus auf spezifische Länder gelegt. Insbesondere die USA und Frankreich waren weltweit aktiv, aber auch Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten, immer begleitet von erregten Kontroversen, vielfach militärisch im Ausland engagiert. Die detaillierte Darstellung der Auseinandersetzungen um Interventionen in diesen Ländern bildet den Kern der Untersuchung. Es geht ausdrücklich nicht darum, den Verlauf von militärischen Interventionen im Detail nachzuzeichnen, ihren Erfolg und Misserfolg anhand bestimmter Kriterien zu bewerten oder den »Wahrheitsgehalt« der durch die handelnden Akteure vorgebrachten Interventionsbegründungen nachzuprüfen und zu bewerten. Dies haben andere zu Genüge getan, und die entsprechende, ausgesprochen umfangreiche Literatur findet sich im Literaturverzeichnis. Hier geht es vielmehr um die Interventionsdebatten und darum, was diese über die jeweiligen Gesellschaften aussagen.

Dieses Buch ist aufgrund der umfassenden Thematik notwendigerweise ein Überblickswerk. Deshalb wird vor allem auf die kaum mehr überschaubare und enorm ausdifferenzierte historische, politik- und rechtswissenschaftliche Literatur zur Rechtfertigung von Interventionen zurückgegriffen. Wo immer es möglich ist, werden jedoch auch Originalquellen und archivarische Dokumente herangezogen, insbesondere in den Kapiteln zu den USA, Deutschland und Frankreich. Memoiren und Selbstzeugnisse der handelnden Personen, Reden und Meinungsbeiträge, aber auch literarische und visuelle Quellen sollen die gesellschaftlichen Debatten um Interventionen in allen Facetten nachzeichnen.

Bevor wir jedoch in Ursprünge dieser Kontroversen eintauchen, muss geklärt werden, was eine militärische Auslandsintervention im Sinne dieses Buches eigentlich ist und was sie von einem konventionellen Krieg unterscheidet.

Was sind militärische Auslandsinterventionen?

Militärische Eingriffe in fremden Territorien gehören zu den wichtigsten Triebkräften der Weltgeschichte. Die Ursachen kriegerischer Feldzüge lagen gewöhnlich begründet in der Gier nach Macht, Territorium und Reichtümern. Gerechtfertigt wurden diese Kriege aber nicht durch so profane Motive, sondern meist durch messianisches Sendungsbewusstsein, historisch konstruierte Ansprüche oder ethnisch motivierten Paternalismus und Herrenmenschentum. Die Eroberungszüge Alexanders des Großen, die jahrhundertlange, blutige Entstehung des Römischen Reichs, die Ausbreitung des Osmanischen Reichs, die Raubzüge eines Dschingis Khan, Napoleons Eroberungen, Hitlers Vernichtungskriege und nicht zuletzt Russlands Angriff auf die Ukraine beruhten auf einer Gemengelage derartiger Motive. Die Präsenz der Eroberer brachte für die betroffenen Gebiete meist den Verlust politischer Autonomie, die Verdrängung der bisherigen Herrscher und oft genug Ausbeutung, Vertreibung und Versklavung mit sich. Nicht erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, aber seitdem vermehrt, hat sich jedoch ein neuer Typus von militärischen Eingriffen jenseits des eigenen Territoriums etabliert, der zu einem bestimmenden Merkmal der globalen Politik des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts geworden ist: Es sind dies kurz- und längerfristige militärische Interventionen im Ausland, die (jedenfalls vordergründig) nicht mehr vornehmlich auf Vergeltung, Eroberung oder Machtgewinn abzielen, sondern auf den Export von Sicherheit durch die Stabilisierung und Befriedung fremder Territorien. Nicht mehr Verteidigung gegen Aggressionen, schlichte Ausbeutung oder territorialer Zugewinn, sondern Unterstützung und positiver Wandel durch bewaffnete Gewalt ist das vorgebliche Ziel dieser militärischen Auslandsinterventionen.

Auch Deutschland hat nach langem Zögern dieses Instrument inzwischen vielfach eingesetzt, trotz der damit verbundenen scharfen gesellschaftlichen Kontroversen. Die mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Intervention in Afghanistan war fundamental für diese Debatten. Je länger sich der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan hinzog und je höher die Zahl der getöteten Soldaten wurde, desto intensiver wurde in Deutschland die Auseinandersetzung über die Bezeichnung für das, was da am Hindukusch geschah. War es nicht an der Zeit, die verharmlosende Rede vom Stabilisierungseinsatz oder bewaffneten inneren Konflikt beiseitezuschieben und die Intervention als das zu bezeichnen, was die Zahl der Toten und Verwundeten schon lange suggerierte: einen Krieg? Im März 2010 war es dann so weit. Der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg spricht von »kriegsähnlichen Zuständen« und davon, dass man den Konflikt »umgangssprachlich« durchaus als Krieg bezeichnen könne.5 Aber auch wenn es für die Toten und Verwundeten keinen Unterschied macht: Der Afghanistaneinsatz war kein klassischer Krieg, sondern eine militärische Auslandsintervention.

Wo genau aber liegt der Unterschied? Die Grenzen sind zwar in der Tat fließend, aber es gibt einige Merkmale, die militärische Auslandsinterventionen, von denen dieses Buch handeln soll, deutlich von klassischen Kriegen unterscheiden. Eine militärische Auslandsintervention wird in der wissenschaftlichen Literatur definiert als grenzüberschreitender Einsatz von militärischen Mitteln mit dem Ziel, die innere Politik des betroffenen Landes radikal zu beeinflussen und zu ändern.6 Es geht dabei, wie gesagt, nicht um Eroberung, Aggressionsabwehr oder reine Durchsetzung von Machtansprüchen gegen einen gegnerischen Staat, wie beim klassischen Krieg. Während Kriege die Souveränität des angegriffenen Landes eindeutig missachten, wird diese bei der Intervention lediglich zeitweise eingeschränkt, verändert oder suspendiert.7 Die verkündete Intention militärischer Auslandsinterventionen ist die Änderung des Status quo im Zielland im Hinblick auf (»altruistische« oder »idealistische«) Ziele wie humanitäre Hilfe, innergesellschaftliche und regionale Stabilität oder Friedensschaffung. Die Übergänge zu Kriegen sind allerdings unscharf: Interventionen können auch auf ganz und gar nichtaltruistischen Motiven beruhen und dennoch schlimmes Morden beenden (wie die vietnamesische Intervention in Kambodscha 1978).8 In seltenen Fällen stimmen die lokalen Autoritäten im betreffenden Land der Intervention zu; meist geht es aber um Einhegung ihres Machtanspruchs und ihrer Machtausübung. Auf jeden Fall trifft die Auslandsintervention, im Gegensatz zu einer von den Konfliktparteien akzeptierten Friedenssicherungsmission, wie sie etwa die Vereinten Nationen durchführen, auf den Widerstand eines signifikanten Teils der Zielgesellschaft und ist damit ausgesprochen risikobehaftet. Kennzeichnend war bis vor Kurzem noch der Einsatz von Bodentruppen in dem Land, dessen interne Situation verändert werden soll. Neue Technologien, wie militärische Drohnen, erlauben neue Formen der Auslandseinsätze, die weniger riskant für die Interventionsmächte sind. Sie können aber (zumindest bis jetzt) die bisherigen wesentlichen Zielsetzungen von Interventionen nicht umsetzen.

Ein weiterer zentraler Unterschied zum klassischen Krieg ist, dass bei Interventionen eine formelle Kriegserklärung oder äquivalente offen erklärte Intention fehlt: Es handelt sich nicht um einen »regulären« bewaffneten Konflikt zwischen Staaten um Territorium, Ressourcen oder andere Machtansprüche. Interventionen können aber sehr wohl in klassische Kriege münden, wie der Vietnamkrieg, der als Intervention zur Unterstützung des französischen Anspruchs auf Indochina und zur Abwehr kommunistischer Rebellen begann und schließlich in einem brutalen Bombenkrieg mit Nordvietnam und den im Süden operierenden Vietcong endete. Klassische Kriege können aber auch zu einer Auslandsintervention mutieren, wie der erste Irakkrieg, der mit der Kampagne zur Rückeroberung Kuwaits gegen die Truppen des irakischen Diktators Saddam Hussein begann. Er mündete schließlich in eine Intervention zum Schutz bedrohter Minderheiten im Irak, deren brutale Unterdrückung das irakische Regime zur Stabilisierung seiner Herrschaft nach der militärischen Niederlage in die Wege leitete. Auch daran zeigen sich die verschwommenen Grenzen zwischen Krieg und Intervention: Was für die angreifende Macht eine begrenzte Intervention ist, repräsentiert für die Angegriffenen häufig nichts anderes als eine Kriegserklärung. Gerade nichtwestliche Gesellschaften sehen in militärischen Interventionen häufig nur das Eingreifen »eines imperialen Zentrums gegenüber einer machtpolitischen Peripherie, die zumeist auch wirtschaftlich dem Zentrum untergeordnet ist«.9

Militärische Interventionen werden in der Tat, und dies ist aufgrund der notwendigen Machtressourcen nicht anders denkbar, fast immer von Großmächten oder Koalitionen von Groß- und Mittelmächten durchgeführt (und diese sind selbst nie das Ziel von Interventionen). Das Zielland hat nur geringe Mittel, dem intervenierenden Land Schaden zuzufügen. Trotz dieser Machtasymmetrie handelt es sich aber in den allermeisten Fällen um eine multilaterale oder multilateral sanktionierte Aktion, da nur so der unvermeidbare Verdacht einzudämmen ist, es ginge in Wirklichkeit ausschließlich um egoistische Ziele. Multilateralismus oder eine multilaterale Autorisierung ist also ein weiteres typisches Kennzeichen einer Auslandsintervention.10

Ausländische Interventionen in Konflikten müssen nicht militärisch sein, und sie sind es auch in der Tat nur in den wenigsten Fällen. Sanktionen, diplomatischer Druck oder Propaganda sind Mittel, die in der Regel vor und oft in Kombination mit militärischen Auslandsinterventionen durchgeführt werden. Begrenzte militärische Kommandoaktionen, wie die zahlreichen bewaffneten Missionen von Staaten, um bedrohte Landsleute zu retten, um spezifische Ziele zu eliminieren, zum Beispiel Terroristen wie Osama bin Laden und den Anführer von ISIS, Abu Bakr al-Baghdadi, oder um schlicht politischen Druck auszuüben, sind häufige Vorkommnisse. Aber es handelt sich dabei ebenfalls nicht um militärische Interventionen im hier verwendeten Sinn. Es geht auch nicht um die Absicherung eines durch Verhandlungen oder Erschöpfung erreichten Status quo, wie bei der traditionellen Friedenssicherungsmission der UNO (Peacekeeping).

Thema dieses Buches sind also militärische Interventionen, die unterhalb der Schwelle klassischer Kriege stattfinden und in denen es darum geht, in einer auf begrenzte Zeit angelegten, fast immer multilateralen Aktion die Herrschaftsstrukturen in einem anderen Staat11 mit militärischen Mitteln zu verändern oder zu konservieren, und zwar gegen den Willen der betreffenden Regierung oder eines signifikanten Teils der Zielgesellschaft. Dies geschieht aus Gründen, die nicht nur der Stabilisierung und Erweiterung des Machtbereichs der intervenierenden Mächte oder der direkten Abwehr von echten und vermeintlichen Aggressionen dienen, sondern vielmehr im (erweiterten) Sicherheitsinteresse einer größeren internationalen Koalition liegen und den Kampf gegen gravierende Verletzungen ihres Wertesystems aufnehmen.12 Diese Definition ist, der Natur des Phänomens entsprechend, unscharf, und einige der in diesem Buch behandelten Episoden entsprechen ihr nur teilweise. Die dabei verwendeten Rechtfertigungsdiskurse sind jedoch von Bedeutung für die Legitimation von Interventionen und werden deshalb mitbehandelt.

Die Rechtfertigung militärischer Auslandsinterventionen: Konturen einer nicht lösbaren Kontroverse

Trotz ihrer behaupteten altruistischen Zielsetzung, ihres zeitlich begrenzten Charakters und der üblicherweise multilateralen Absicherung sind militärische Auslandsinterventionen immer äußerst umstritten. Kein Phänomen der internationalen Politik der Jahrtausendwende wirft so viele komplexe und moralisch widersprüchliche Fragen auf. Sie befindet sich in dem schmerzhaften Spannungsfeld, das der erste grüne Außenminister Joschka Fischer mit den Polen »Nie wieder Krieg« und »Nie wieder Auschwitz« markiert hat. Kann ein politisches Instrument, das oft kaum vom traditionell größten Grundübel internationaler Beziehungen, dem Krieg, zu unterscheiden ist, im Sinne moralischer Imperative eingesetzt werden? Wann ist grenzüberschreitender Waffeneinsatz gerechtfertigt, um hehre Ziele wie Sicherheit, Freiheit, Schutz der Menschenrechte und Gerechtigkeit zu erzwingen? Und praktisch gewendet: Wo liegt die Grenze, an der der Nutzen der Intervention sowohl für das betroffene Land als auch das eigene Land den angerichteten Schaden überwiegt? Können militärische Interventionen als präventive Maßnahmen gerechtfertigt werden, wenn von einem Staat gravierende Bedrohungen für die eigene Sicherheit und für die Menschenrechte in diesem Staat zu befürchten sind? Und wer soll über die Rechtmäßigkeit einer Intervention entscheiden? Die in der Regel blockierten Vereinten Nationen? Oder ein Konzert mächtiger Staaten? Wie sieht es mit der Mitsprache der Betroffenen aus? Es sind diese schwierigen Fragen, die generell bei den meisten Beobachtern zu einer sehr skeptischen Sicht auf Auslandseinsätze führen.

Die Kritik an Interventionen kommt aus zwei grundsätzlichen Richtungen. Befürworter:innen nationaler Souveränität und Selbstbestimmung wehren sich vehement gegen die Idee, dass innerstaatliche Konflikte durch Einmischung von außen gelöst werden können und sollten. Russland und China sind in der aktuellen Politik die lautesten und mächtigsten Vertreter dieser Position in der internationalen Politik; allerdings wird diese Haltung auch von vielen anderen Staaten geteilt, wie insbesondere im Kapitel über Asien gezeigt wird. Prinzipiell geht es bei dieser Art Kritik um das Recht der Selbstbestimmung für Kollektive. Diesen Punkt hat schon Immanuel Kant betont. Menschliche Gesellschaften, so schrieb er, aber auch John Stuart Mill und viele andere, sollten die Zeit und die Freiheit haben, ihre eigenen Herrschaftsstrukturen zu entwickeln, selbst um den Preis von langanhaltenden Konflikten bis hin zu Bürgerkriegen. Es gibt eine unübersehbare Vielzahl an Variationen davon, was unterschiedliche Gruppen unter einer ihnen angemessenen Herrschaftsstruktur verstehen. Dies müsse respektiert werden. Stellvertretend für dieses Argument steht Michael Walzer, der Autor des meist zitierten Werks zu gerechten und ungerechten Kriegen.13 Die Rechte der Individuen, ihre Überzeugungen und Loyalitäten speisen sich seiner Meinung nach wesentlich aus ihrer Zugehörigkeit zu Gruppen. Deren Autonomie und Souveränität zu wahren und nicht zu verletzen, sei deshalb ein fundamentales Gebot, und dies gelte gerade auch für eine staatliche Gemeinschaft, solange dort nicht kapitale Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen würden. Menschliche Gesellschaften, seien es Staaten, religiöse Gruppen oder andere Kollektive, weisen laut Walzer eine sehr tief verwurzelte Basis kollektiv geteilter Werte auf, wohingegen die internationale Gemeinschaft allenfalls eine recht dünne Schicht allgemeiner Wertgrundsätze miteinander teile.14 Jenseits dieser nicht verhandelbaren fundamentalen Grundregeln hätten Gesellschaften einen breiten Raum, wie sie ihre eigenen Angelegenheiten gestalteten. Dies müsse ohne Einmischung von außen möglich sein. Laut einer solchen meist als »kommunitaristisch« bezeichneten Sicht könne es eine globale ausgleichende Gerechtigkeit und global geteilte Normvorstellungen nur in einem sehr begrenzten Ausmaß geben.

Die zweite prinzipielle Kritik an Interventionen wird von denjenigen formuliert, die argumentieren, dass aus dem Einsatz militärischer Mittel nie Gutes erwachsen kann. Auf lange Sicht sei der Schaden immer höher als kurzfristiger Nutzen. Außerdem handele es sich bei Interventionen zudem um eine Art »säkulare Kreuzzüge« oder eine Art »kosmopolitische Verpolizeilichung« der internationalen Politik.15 Mächtige Staaten sehen sich danach auf einer bewaffneten Mission, um ihre Werte, aber natürlich vor allem Interessen, durchzusetzen. Hinter humanitären Argumenten verstecke sich in Wahrheit der Machtanspruch imperialer Zentren.16 Paternalistische, rassistische und scheinheilige Vorstellungen motivieren anhaltende Einmischung, Ausbeutung und Unterdrückung. In beiden Argumentationslinien, der kommunitaristischen und der herrschaftskritischen Interventionsverurteilung, sind sich deren Vertreter:innen einig, dass hinter selbstlosen Argumenten für eine Intervention praktisch immer handfeste Interessen stehen, die nur durch hochtrabende Rhetorik verschleiert werden sollen. Diese Argumente beruhten deshalb auf moralisierenden Doktrinen, deren imperialistischer Kern nur mühsam durch die »altruistische« Fassade verschleiert werde.17 Ein ähnliches Argument wird auch von ganz rechts gegen militärische Interventionen aus humanitären Gründen vorgebracht. Beispielsweise argumentierte der oft als »Kronjurist des Dritten Reichs« bezeichnete, gleichwohl bis heute einflussreiche Verfassungsrechtler Carl Schmitt, dass ein Krieg im Namen der Menschlichkeit kein Krieg für die Menschheit sei, sondern »ein Krieg, in dem ein bestimmter Staat ein universelles Konzept gegen seinen Gegner instrumentalisiert« und sich dabei selbst zum Vertreter der Menschheit erklärt. Intervention wäre somit ein »besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansion und in ihrer ethisch-humanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus. Hierfür gilt […] ein von Proudhon geprägtes Wort: Wer Menschheit sagt, will betrügen.«18 Sowohl die Motive, als auch die zu erreichenden Vorteile für die betroffenen Zielgebiete und deren Bevölkerung, insbesondere aber auch für die eigene Gesellschaft, werden so aus ganz unterschiedlichen politischen und normativen Standpunkten radikal infrage gestellt.

Befürworterinnen und Befürworter von Interventionen hingegen berufen sich oft stillschweigend auf das Diktum des athenischen Historikers Thukydides, dass »das Machbare jedoch die Überlegenen durchsetzen und die Schwachen hinnehmen«.19 Sie sehen Interventionen achselzuckend als ein unvermeidbares Element der Interessenverfolgung durch mächtige und souveräne Staaten. Viele Beobachter der Globalisierung halten aber eben diese staatliche Souveränität im 21. Jahrhundert für einen Mythos, der zunehmend durch eine globalisierte Weltgesellschaft ersetzt wird. In einer derartigen postnationalen Konstellation könnte, so die Hoffnung, ein globaler Korpus an Regeln und Normen entstehen, welcher ein konstruktives Zusammenleben auf internationaler Ebene ermöglicht. Eines der zentralen Elemente wäre die Idee einer gegenseitigen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect; R2P) werden, die vor staatlichen Grenzen nicht haltmachen dürfe – eine Position, die auch Samantha Power in ihrem Buch vertrat. Mit der von der UNO im Jahr 2005 verabschiedeten R2P war zumindest theoretisch der weite Weg vollzogen vom Interventionsverbot eines auf staatlicher Souveränität basierenden globalen Systems zum Interventionsgebot innerhalb einer Weltgesellschaft, in denen Grenzen nicht mehr gleichzeitig Grenzen zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen mit jeweils eigener Legitimität markieren (vgl. Kap. VII). Diese kosmopolitische Interventionsbefürwortung, der wir in den folgenden Kapiteln in recht unterschiedlichen Formen immer wieder begegnen werden, wird beispielsweise durch die amerikanische Philosophin und Politikwissenschaftlerin Judith N. Shklar in prägnanter Weise vertreten.

In ihren berühmten Essays Der Liberalismus der Furcht und Putting Cruelty First argumentierte Shklar, dass das politische Denken seinen Ausgangspunkt nicht in einer Idealvorstellung des guten Lebens, sondern in der Verhinderung des größten Übels, nämlich der menschlichen Grausamkeit, nehmen müsse. Diese furchterregende Grausamkeit erreiche ihren Zenit im verbrecherischen Potenzial totalitärer Staaten. Die immer vorhandene Gefahr staatlicher Unterdrückung müsse deshalb durch demokratische Strukturen, die liberale Freiheitsrechte für alle garantieren, eingedämmt werden. Der Kampf gegen die alles zersetzende Furcht, die durch staatliche Brutalität hervorgerufen werde, könne aber laut Shklar nicht an Staatsgrenzen haltmachen. Liberalismus, so schrieb sie, sei per definitionem kosmopolitisch und bedeute, »dass die Verletzung von Leben und Freiheit jedes Mitglieds einer Rasse oder Gruppe wo auch immer auf der Welt von essentieller Bedeutung sei«.20 Shklar selbst musste in ihrer Kindheit die Folgen staatlicher Unterdrückung erfahren. Geboren in eine jüdische Familie im lettischen Riga, floh sie vor dem deutschen Vormarsch über Japan und Kanada in die USA. Von dort beobachtete sie den stalinistischen Terror in ihrer Heimat und machte die Bedingungen der Freiheit vor staatlicher Unterdrückung zum Kern ihres politischen Denkens. Als erste Frau auf einer dauerhaften Professur im damals weltweit bedeutendsten politikwissenschaftlichen Institut, der School of Government an der Harvard Universität, war sie Mitglied eines Zirkels politischer Denkerinnen und Denker, die die politische Philosophie des 20. Jahrhunderts wesentlich prägten. Dazu gehörte auch ihr Freund Michael Walzer. Allerdings lehnte Shklar die Haltung von Walzer zur Geltung universeller Menschenrechte fundamental ab. Dessen Betonung von Gruppenrechten und Identität vernachlässige, dass gerade deren übersteigerte Ausprägung und Durchsetzung für die größten Schrecken des 20. Jahrhunderts verantwortlich sei.21

Die hier kurz umrissenen Positionen, für die Shklar und Walzer stehen und die mit den Begriffen »kosmopolitisch« und »kommunitaristisch« umschrieben werden22, markieren das rhetorische und legitimatorische Spannungsfeld, in dem militärische Auslandsinterventionen liegen. Der berühmte australische Politikwissenschaftler Hedley Norman Bull, Begründer der sogenannten Englischen Schule der Disziplin »Internationale Beziehungen«, hat eine ähnliche Unterscheidung in einem Essay mit dem Titel The Grotian Conception of International Society von 1966 im Hinblick auf die grundlegenden Visionen internationaler Ordnung getroffen: zwischen einer pluralistischen und einer solidaristischen Vision. Während für erstere in einer Welt unterschiedlicher Traditionen und Rechtsordnungen nur eine temporäre Übereinstimmung über grundsätzliche Zielvorstellungen möglich sei und Staaten letztlich über die Rechte von Individuen entscheiden, nehmen Solidaristen eine übergeordnete Werteordnung an und weisen individuellen Rechten eine höhere Wertigkeit als den Rechten von Staaten zu. Bull verband mit dieser Gegenüberstellung eine Warnung vor zu großen Hoffnungen auf eine solidaristische Welt. Gerade in ihr könnten hehre Ziele wie eben Menschenrechte oder kollektive Sicherheit zu einer Entgrenzung der Gewalt führen. Die Attraktivität der solidaristischen Option steigt jedoch deutlich an, wenn sie verknüpft wird mit den großen Menschheitsbedrohungen wie Klimakrise, Umweltzerstörung oder Pandemie. Diese den Staat transzendierenden Bedrohungen erfordern ebenso, wenn auch weniger extrem, die Einschränkung der Selbstbestimmung wie die Verhinderung von Genoziden. So schrieb Nicholas Wheeler, Autor eines grundlegenden Werks zu humanitären Interventionen: »Ein höchster humanitärer Notfall (supreme humanitarian emergency) rechtfertigt die Intervention, wenn es sich um eine gerechte Sache handelt, die Gewaltausübung das letzte Mittel ist, wenn diese proportional ist und reelle Chancen auf Erfolg hat.«23 Eine klare Definition für eine Schwelle, an der militärisches Eingreifen unabdingbar wird, ist aber auch dies nicht, denn leider sind alle diese Kriterien höchst subjektiv. Die Intentionen der Intervenierenden sind unklar; ob nicht andere Mittel doch wirkungsvoller wären, ist grundsätzlich umstritten; die Proportionalität ist Interpretationssache, und die Erfolgschancen sind von Zufällen abhängig. Rechtfertigungen von Interventionen bleiben somit unausweichlich kontrovers.

Menschenrechte und Staatenrechte als Legitimation für Interventionen

Das vorliegende Buch zeichnet diese Kontroversen im internationalen Vergleich nach. Wie wandelten sich im Laufe der Geschichte die Motive und Begründungen für Auslandsinterventionen? Welche Konflikte und Widersprüche tauchten immer wieder auf? Welche Faktoren waren verantwortlich für die »Erfolge« und »Misserfolge« von Interventionsbegründungen? Deutlich wird, dass immer eine Mischung unterschiedlicher Motive vorliegt. Ziel von Auslandsinterventionen ist es, Sicherheit durch ihren Export herzustellen. Diese Sicherheit kann der betroffenen Gesellschaft und den dort lebenden Individuen zugutekommen (Typus humanitäre Intervention). Sie kann aber auch der Stabilität einer Region dienen, und damit der kollektiven Sicherheit der Staaten. Dies sind die beiden grundsätzlichen »altruistischen« Zielrichtungen hinter Auslandsinterventionen. Die eine legt den Fokus auf die Sicherheit der Staatenwelt, auf die Stabilität der internationalen Ordnung, auf kollektive Sicherheit. Die andere betont die Wahrung massiv gefährdeter individueller und gruppenspezifischer Rechte, d.h. den Bereich der sogenannten humanitären Intervention. In der Literatur werden sie meist getrennt behandelt, aber wie dieses Buch zeigt, hängen beide Motive in der Regel eng zusammen. Es wird deutlich werden, dass es zeitliche Konjunkturen in diesen Interventionsbegründungen gibt, ebenso aber, dass beide eng verknüpft sind. Diese Verknüpfung macht die Debatte über militärische Interventionen so komplex.

Es entsteht ein grundsätzliches Dilemma, welches die Beurteilung von Interventionen noch weiter erschwert. Eine zentrale Problematik bei der Legitimation humanitärer Interventionen ist, wie erwähnt, das Problem, dass immer auch andere Motive damit verbunden sind. Dies ist schon aus Gründen der politischen Praxis unausweichlich, denn ein rein humanitär motiviertes Eintreten in einen bewaffneten Konflikt wirft für seine Rechtfertigung in Gesellschaften und bei den Entscheidungseliten enorm hohe Hürden auf. Deshalb sind immer unterschiedliche Eigeninteressen, wie Terrorismusbekämpfung, wirtschaftliche Motive, Einflusssicherung, mit im Spiel. Zudem können auch scheinbar ausschließlich humanitäre Interventionen als kollektive Sicherheitsoperationen verstanden werden: Denn die Ereignisse, auf die sie reagieren, stellen eine Bedrohung für ein kollektiv mehr oder weniger umfassend geteiltes Wertesystem dar. So sind in der Praxis immer beide Elemente – die kollektive Sicherheit der Staaten und die individuelle Sicherheit der Staatsangehörigen – miteinander verknüpft. Damit ergibt sich allerdings ein unausweichlicher Widerspruch und Konflikt. Denn der humanitären Intervention geht es zentral um Individuen und Gruppenrechte, und sie erfordert eine erhebliche Einschränkung staatlicher Autonomie; der kollektiven Sicherheit geht es um die Rechte von Staaten und die Stabilität des Staatensystems, die durch die staatliche Souveränität garantiert wird (vgl. Tabelle 1). Die Grundprinzipien »Menschenrechte« und »Souveränität« treten damit potenziell in einen schwer auflösbaren Konflikt. Bedrohte Menschen zu retten kann zur Konsequenz haben, dass Staaten nachhaltig destabilisiert werden. Staaten und das regionale und internationale System zu stabilisieren führt sehr häufig zu eklatanter Vernachlässigung der Menschenrechte. In diesem Dilemma liegt der Kern der Rechtfertigungsproblematik, die nur unzureichend verstanden werden kann, wenn, wie im Großteil der Forschung über die Legitimität von Auslandsinterventionen (und auch ganz allgemein in der Debatte über Interventionen), nur einer dieser beiden Komplexe betrachtet wird.

Tabelle 1

Humanitäre Interventionen und kollektive Sicherheit

Friede zwischen und Schutz von Staaten

Friede innerhalb von Staaten / Schutz von Individuen und Gruppen

Zweck

Kollektive Sicherheit

Menschenrechte

Mittel

Souveränität

Verbindliche grenzüberschreitende Normen

Interventionen und Identitätsstiftung

Wie gehen unterschiedliche Staaten mit diesen Widersprüchen um, gerade auch angesichts der Tatsache, dass die Interventionen selten Enthusiasmus in der eigenen Bevölkerung auslösen? Gibt es westliche und nichtwestliche Sichtweisen, und weshalb sind manche Staaten so viel »nterventionsfreudiger« als andere Staaten vergleichbarer Größe? Wie lässt sich das Auf und Ab von interventionistischen und antiinterventionistischen Phasen in unterschiedlichen Epochen erklären? Der erste Teil dieses Buchs widmet sich diesen Fragen anhand der Entwicklung des Instruments der Auslandsintervention und anhand der damit einhergehenden Debatten. Der zweite Teil konzentriert sich vergleichend auf innerstaatliche Interventionsdebatten. Er untersucht, welche Begründungen unterschiedliche staatliche Gesellschaften für oder gegen Interventionen entwickelten. Der Fokus auf Staaten ist dadurch gerechtfertigt, dass letztlich innerstaatliche Aushandlungsprozesse darüber entscheiden, ob Interventionen stattfinden oder nicht. Denn in ihnen wird über deren Rechtfertigung gerungen und damit der Spielraum für die erfolgreiche Durchsetzung und die Dauer einer Intervention wesentlich bestimmt. Wie die Darstellung der Entwicklung und des Schicksals der globalen Norm der Schutzverantwortung zeigt, ist es nicht gelungen, eine global akzeptierte Interventionsgemeinschaft zu gründen, mit festen Regeln und Bedingungen für und gegen eine Intervention. Und selbst wenn es in der Vergangenheit eine international abgestimmte Einigung gab, dann lag die Durchführung der Intervention sowie das Tragen der Kosten weiterhin in der Verantwortung von Staaten. Und dies führt letztlich zum zentralen Argument dieses Buchs: Die Rechtfertigung von Interventionen hängt von der kontinuierlich umstrittenen Selbstbeschreibung einer Gesellschaft ab. Sie hängt davon ab, wie diese Gesellschaft auf der Basis historischer Narrative ihr Verhältnis zu anderen Gruppen konstruiert. Die Zustimmung oder Ablehnung hat somit wenig mit den Zuständen in dem Gebiet zu tun, in dem interveniert wird, sie hängt vielmehr davon ab, wie ein (meist staatliches) Kollektiv seine Verantwortung, seine internationale Aufgabe, seine »Mission« definiert.

Der Historiker Jürgen Osterhammel wies darauf schon 2001 in einem Essay hin: »[…] wo spielen Perzeptionen und Repräsentationen, Feindbilder und ›kulturelle‹ Konstruktionen von Souveränität und Erlösungsbedürftigkeit eine größere Rolle als in der Sphäre des Internationalen und Interkulturellen, besonders in seiner Zuspitzung im Phänomen der Intervention?«24 Die Rolle von Identität und den entsprechenden Narrativen ist gerade in den letzten drei Jahrzehnten zentrales Thema der politikwissenschaftlichen Forschung zu internationalen Beziehungen geworden. Forscher und Forscherinnen wie David Campbell, Roxanne Doty oder Lene Hansen haben gezeigt, wie durch die Konstruktion von imaginierten Gemeinschaften des Selbst und des fremden ›Anderen‹ Identitäten mobilisiert werden und gleichzeitig ein diskursiver Möglichkeitsraum geschaffen wird, der bestimmte Handlungen legitimiert und andere de-legitimiert.25 Die Akzeptanz und Geltung eines so gravierenden sicherheitspolitischen Schritts wie einer Auslandsintervention hängt von ihrer kommunikativen Begründung ab, wie auch Jürgen Habermas, stellvertretend für viele andere, festgestellt hat.26 Dieses Buch hat nicht den Anspruch, zur Theoriebildung im ausgesprochen dynamischen Forschungsfeld der Rolle von Identitäten in der internationalen Politik beizutragen, es zeigt aber anhand zahlreicher Beispiele, wie über gesellschaftlich umstrittene Narrative außenpolitische Identitäten geformt werden und gegebenenfalls militärische Auslandseinsätze denkbar gemacht werden.

Wenn man sich mit militärischen Auslandsinterventionen beschäftigt, dann ist verwunderlich, wie wenig bei den meisten intervenierenden Staaten aus der Geschichte früherer Beispiele gelernt wurde. Unter dem Eindruck der jeweiligen Situation, die schnelles Handeln erfordere, da ansonsten unvorhersehbare Konsequenzen drohen, werden die langfristigen Folgen und auch die schon seit Langem bekannten Widersprüche des Instruments der militärischen Auslandsintervention oft nicht bedacht. Gerade weil es meist nicht um rationale, kühl kalkulierte Abschätzung von Optionen und Konsequenzen geht, scheitern Auslandseinsätze so häufig. Sicher: Jede Krise ist für sich genommen einzigartig, aber es gibt immer wiederkehrende Grundmuster. Deren Kenntnis kann helfen, pauschale Einstellungen zu hinterfragen. Gerade Deutschland kann aus einer Geschichte der militärischen Auslandsinterventionen wertvolle Lehren ziehen. Diese erlaubt auch einen neuen Blick auf die Entwicklung der internationalen Politik insgesamt. Kaum ein anderes Phänomen zeigt so eindringlich, wie sich Einschätzungen darüber ändern, was legitime und nichtlegitime Verhaltensweisen in den gegenseitigen Beziehungen der Nationen sind. Die Vorstellungen, ab wann ein militärischer Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines anderen Herrschaftsgebiets erlaubt sei, wandelten sich unablässig im Lauf der Jahrhunderte. Diese grundlegenden Ideen sind konstitutiv für die internationale Ordnung.27 In diesem Sinne ist das vorliegende Buch auch eine Reflektion über die seit jeher umstrittenen Vorstellungen von Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Umgang der Staaten untereinander und darüber, wie Gesellschaften sich selbst im Verhältnis zu anderen sehen.

1 Für Kommentare zu diesem Kapitel danke ich Armin Schäfer. Marianna Mavroidopoulou danke ich für tolle Recherchen und die Arbeit am Literaturverzeichnis.

2 Goldberg, »The Obama Doctrine«.

3 Samantha Power schildert ihren Weg und Aufstieg in ihren lesenswerten Memoiren: Power, Education of an Idealist.

4 Zimmermann, »The End of the Age of Military Intervention«.

5 »Guttenberg: ›Kriegsähnliche Zustände‹«, in: FAZ, 3.11.2009.

6 MacFarlane, Intervention, S. 7; Recchia/Welsh, Just and Unjust Military Intervention, S. 5; Rinke/Formella/Ludemann, »Interventionen«; Lang, Agency and Ethics, S. 3 (»Military intervention is the use of armed troops to effect a change in the political system of a sovereign state without prior permission and without declaring war«).

7 Lawson/Tardelli, »The Past, Present and Future of Intervention«.

8 Es gibt einige Versuche, Datensets für alle militärische Interventionen zu entwerfen, die allerdings sehr unterschiedliche Kriterien anwenden, beispielsweise: MILINDA, »Military and Non-Military Interventions Dataset; 1947–2016«; https://lehrstuhlib.uni-goettingen.de/sonstiges/milinda [26.02.2023]; PRIF, »Humanitarian Military Interventions Dataset«; https://reliefweb.int/report/world/humanitarian-military-interventions-dataset [26.02.2023]; Kisangani/Pickering, »International Military Intervention, 1989–2005«.

9 Osterhammel, »Krieg im Frieden«, S. 292.

10 G. Lyons und M. Mastanduno sehen dies sogar als zentrales Merkmal von Interventionen: »International Intervention may be understood as the crossing of borders and infringements of sovereignty carried out by, or in the name of, the international community«, Lyons/Mastanduno, »Introduction«, S. 12.

11 Christian Reus-Smit argumentiert, dass ein Fokus auf Interventionen in Staaten und die Verletzung ihrer Souveränität die Tatsache vernachlässigt, dass es Interventionen in territoriale und funktionale Machtstrukturen schon vor der Herausbildung des modernen Staatensystems gab. Er schlägt daher folgende Definition für Interventionen vor: »International intervention is the transgression of a unit’s realm of jurisdiction, conducted by other units in an order, acting singly or collectively«, Reus-Smit, »The Concept of Intervention«. Hiermit wären allerdings fast alle Eingriffe in fremde Territorien oder Gesellschaften miteingeschlossen. In diesem Buch geht es hingegen um Interventionen in Staaten. Deren friedliche Koexistenz beruht wesentlich auf dem Prinzip der Nichtintervention, dessen Verletzung eben deshalb in hohem Maße rechtfertigungsbedürftig ist.

12 Es geht also um übergeordnete Werte und Normen der internationalen Gemeinschaft, deren Gehalt sich im Laufe der Zeit wandelte, wie in diesem Buch gezeigt wird. Ein zentrales Problem ist hierbei, die tatsächlichen Motivationen der Akteure herauszuarbeiten. Dies ist aber nicht das Ziel dieses Buches. Gezeigt werden soll, wie sich im Laufe der Zeit die Begründungen für Auslandsinterventionen entwickelten.

13 Walzer, Gibt es einen gerechten Krieg?

14 Walzer, Thick and Thin: Moral Argument at Home and Abroad; siehe auch: Stullerova, »Cruelty and International Relations«, S. 78.

15 Rink, »Was ist ›Krieg‹? Was nennen wir ›Krieg‹?«, S. 55.

16 Chimni, »Justification and Critique«.

17 Beispielsweise: Mamdani, »Responsibility to Protect or Right to Punish?«; Mutua, »Savages, Victims and Saviors«.

18 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.55.

19 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, S. 927.

20 Shklar, Liberalismus der Furcht, S. 63.

21 Zur ihrer grundsätzlichen Kritik an Walzer vgl. »Das Werk Michael Walzers«, in: Shklar, Verpflichtung, Loyalität, Exil, S. 55–77.

22 Die aktuelle Debatte zwischen kosmopolitischem und kommunitaristischem Denken zu den Grenzen von Gemeinschaft in einer globalisierten Welt mit zunehmendem Populismus wird nachgezeichnet in: de Wilde u.a. (Hg.), The Struggle over Borders.

23 Wheeler, Saving Strangers, S. 33 (eigene Übersetzung; alle folgenden Zitate aus nichtdeutschen Quellen wurden, soweit nicht anders angegeben, vom Autor übersetzt).

24 Osterhammel, »Krieg im Frieden«, S. 289.

25 Für eine frühe, richtungsweisende Formulierung: Hopf, Social Construction of International Politics. Vgl. auch das Forschungsprogramm zu ontologischer Sicherheit in der Disziplin »Internationale Beziehungen«, z. B. Kinnvall/Mitzen, »Introduction: Ontological Securities in World Politics«.

26 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns.

27 Simon/Brock, The Justification of War and International Order, S.3.

I Von den Kreuzzügen bis zum Dreißigjährigen Krieg: Die religiösen Wurzeln militärischer Auslandsinterventionen

Am Anfang stand die Religion, und das Gemeinschaftsgefühl, welches ein gemeinsamer Glaube an ein höheres Wesen mit sich bringt. Religionen schaffen einen Rahmen für die Rechte und Pflichten der Mitglieder einer Gemeinschaft. Dieser Rahmen beruht auch auf geteilten Erfahrungen und Erzählungen, die in der Regel von der Gefährdung der Gemeinschaft durch diejenigen erzählen, die die gemeinsamen Wertvorstellungen nicht teilen. Die Religionsgemeinschaft definiert sich also wesentlich auch durch die Abgrenzung nach außen, gegenüber den Nichtgläubigen, und sie enthält die Verpflichtung, Mitglieder der eigenen Gemeinschaft gegen Angriffe von Fremden zu schützen. Der Schutz von Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern gehört mit zu den wirkungsmächtigsten Motiven, um eine geteilte Identität für eine Gemeinschaft zu stiften. Grenzüberschreitende militärische Aktionen aus nicht vornehmlich egoistischen Motiven speisten sich bis in das 19. Jahrhundert ganz wesentlich aus religiösen Wurzeln, und sie tun das in vielen Fällen, ob explizit oder stillschweigend, bis heute. Eine um eine mehr oder weniger real existierende gemeinsame Basis von Einstellungen und Gebräuchen konstruierte Gruppe sieht ihre Mitglieder bedroht und fühlt sich zum Eingreifen verpflichtet. So nachvollziehbar das Motiv der Solidarität gegenüber verfolgten religiösen Gruppen ist, so fatal können die Folgen sein. So entwickelte sich in der frühen Neuzeit eine religiös inspirierte Interpretation von Interventionsrechten, die in eine epochale Katastrophe mündete, den Dreißigjährigen Krieg. Aufgrund ihrer schrecklichen Konsequenzen wurde die religiös begründete Intervention aber auch zum Geburtshelfer des heutigen Staatensystems. Dessen Grundphilosophie beruhte in wesentlichen Teilen auf einer Abwehr derartiger Interventionsbegründungen.

Bis in die frühe Neuzeit (ca. 1500 – 1800) macht es wenig Sinn, die eingangs getroffene Unterscheidung zwischen Kriegen und Interventionen zu verwenden. Es gab nirgends souveräne Territorien, sondern je nach Lebensmittelpunkt eine mehr oder weniger bekannte Außenwelt mit vielen Provinzen, überlappenden Herrschaftsansprüchen und diffusen Grenzen, zwischen denen bewaffnete Auseinandersetzungen mit meist materiellem Hintergrund stattfanden.1 Die Ausdehnung des Römischen Reichs beispielsweise wurde zwar häufig von den Eroberern mit Hilfegesuchen aus der jeweiligen Region begründet, aber letztlich war die Kriegführung der zentrale Bestandteil einer normalen Interessenvertretung des Imperiums. Auch im Mittelalter waren militärische Interventionen im heutigen Sinn unüblich. Die Herrscher betrachteten ihr Territorium als Privatbesitz, und aus diesem Grunde waren auch Übergriffe auf fremde Gebiete gleichbedeutend mit Kriegen um materiellen Gewinn und um tatsächliche oder vorgeschobene Herrschaftsansprüche. Das Gebiet eines anderen Herrschers wurde erobert oder geplündert, aber die Idee, dort auf begrenzte Zeit zu intervenieren, um so politische Stabilität herzustellen oder humanitäre Ziele zu verfolgen, war völlig fremd. Es ging um die Durchsetzung eigener Machtinteressen und um Bereicherung. Die Kriegführung war Privatsache der göttlich oder dynastisch legitimierten Herrscher.

Mit der Durchsetzung des Christentums als dominante Religion im Mittelmeerraum setzte allerdings dort ein zunehmender Wandel ein.2 Konfrontiert mit dem Pazifismus der Bergpredigt wurden kriegerische Exkursionen auf andere Territorien in höherem Maße begründungspflichtig. So setzten sich schon Kirchenväter wie Augustinus oder Thomas von Aquin mit den Bedingungen für gerechte Kriegführung auseinander. In ihren Schriften war das zentrale Kriterium aber die gute oder schlechte Intention der Kriegführenden. Dies hieß, dass vor Beginn einer kriegerischen Aggression ein klares Unrecht vorliegen musste und das Ziel der militärischen Aktion nicht einfach nur Machterweiterung oder Ruhmsucht sein durfte. Das Urteil über die recta intentio stand letztlich Gott zu. In der Praxis bedeutete dies, dass das jeweilige Gewissen der Machthaber entschied, und zwar ungeachtet der Bemühungen des Papsttums, seine weltliche Autorität auch auf die Kriegführung auszuweiten. Mangels eines Staatensystems im heutigen Sinn bezogen sich die Schriften der Kirchenväter nur auf klassische Kriege, nicht auf militärische Interventionen. Sie sind aber doch nicht ganz unbedeutend für unsere Geschichte. Denn sie begründeten erste Argumente einer gegenseitigen Schutzverantwortung für Christen (ähnlich wie sie sich auch in anderen Religionen entwickelten). Diese Argumente wurden jedoch erst im Hochmittelalter weiterverbreitet und zur Kenntnis genommen. Wie sich herausstellen sollte, erfuhren gerade sie jedoch in den Kreuzzügen und später in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts eine verhängnisvolle Ausweitung. Die Initialzündung für diese Entwicklung war der Erfolg des ersten Kreuzzugaufrufs im ausgehenden 11. Jahrhundert.3

Für den 27. November 1095 kündigte der damalige Papst Urban II. im französischen Clermont-Ferrand eine aufsehenerregende Rede an, deren Nachwirkungen bis heute anhalten. Der Papst befand sich unter dem Eindruck des Besuchs einer Delegation aus Byzanz, dem heutigen Istanbul, damals die Hauptstadt des oströmischen Reiches. Die Gesandten schilderten dem Papst mit drastischen Worten die Bedrohung der Christenheit durch die muslimischen Seldschuken. Diese hatten über die Jahre hinweg ihr Herrschaftsgebiet auf Kosten des orthodoxen byzantinischen Reichs immer weiter ausgedehnt. Vor allem hielten sie auch die Heiligen Stätten im damaligen Palästina besetzt. Der Papst sah in dem Hilferuf eine Gelegenheit, sowohl seine (damals sehr umstrittene) Stellung als Führer der Christenheit zu festigen als auch die europäischen Adelsfamilien auf ein gemeinsames Ziel zu verpflichten und aus dem Zustand der fortdauernden Selbstzerfleischung herauszuführen. Insbesondere nachgeborene Söhne bildeten ein ständiges Unruhepotenzial in allen europäischen Fürstentümern. Nach der Überlieferung der Chronisten rief der Papst in Clermont-Ferrand den versammelten Gläubigen zu, alle innereuropäischen Zwistigkeiten zu beenden und die gemeinsamen Energien gegen den äußeren Feind zu richten, um so der unterdrückten Christenheit in muslimischen Gebieten zu helfen. Der führende britische Kreuzzugshistoriker Jonathan Riley-Smith beschreibt, wie der Papst und zahlreiche Anhänger, die seine Botschaft bald in ganz Europa verbreiteten, den Kreuzzug als Krieg zur Befreiung der Heiligen Stätten definierten, in dem die Anwendung von Gewalt direkt von Gott legitimiert und somit gerecht war.4 Wer sich an diesem Unternehmen beteilige, könne auf göttlichen Lohn hoffen.

Der Erfolg des Aufrufs übertraf alle Erwartungen. Überall fanden sich abenteuerlustige junge und ältere Männer, die durch einen gottgefälligen Feldzug ihrem Leben eine sinnvolle Richtung geben wollten (und vermutlich auch auf weltlichen Gewinn erpicht waren). Schon bald zeigten sich aber auch die negativen Folgen der so geschürten Kampfeslust, und diese warfen einen düsteren Schatten in die Zukunft. Im Frühjahr 1096 kam es zu blutigen Pogromen, deren Opfer die jüdischen Gemeinden im Rheinland waren. Ein ungeordneter Haufen von Freiwilligen zog im gleichen Jahr unter Führung des Predigers Peter von Amiens in Richtung Heiliges Land. Diese Schar wurde kurz nach Ankunft auf türkischem Gebiet von den Seldschuken vollständig aufgerieben. Einem europäischen Ritterheer unter der Leitung von Adeligen aus ganz Europa gelang jedoch nach vielen Wirren, Entbehrungen, Kämpfen und Metzeleien im Jahr 1099 die erstaunliche Leistung der Eroberung Jerusalems und der Errichtung kurzlebiger Kreuzfahrerstaaten. Die christlichen Ritter benahmen sich jedoch in vieler Hinsicht wie eine mittelalterliche Inkarnation terroristischer Gotteskrieger. Sie begingen bei der Erstürmung Jerusalems und auch während ihres langen Feldzugs eine ganze Reihe von Gräueltaten und Massakern, die sich tief in das kollektive Gedächtnis des Islam eingruben und bis heute als Rechtfertigung für islamistischen Dschihad dienen.

Bei den Kreuzzügen handelte es sich nicht um militärische Interventionen nach dem heutigen Verständnis. Letztlich ging es nur am Rande um den Schutz angeblich bedrohter christlicher Gemeinden. Die Züge wurden schnell zu religiös legitimierten Beutezügen mit anschließender Besetzung des eroberten Territoriums. Spätere Expeditionen in das Heilige Land wurden wesentlich mit der Absicherung der Kreuzfahrerstaaten begründet. Sie bilden so ein frühes Beispiel für den Missbrauch einer Befreiungsrhetorik, die die machtpolitischen und ausbeuterischen Motive der intervenierenden Kräfte übertünchen sollte. Dennoch finden sich in ihnen schon viele typische Elemente, die dazu führen, dass Gegner von militärischen Interventionen immer wieder auf die rhetorische Figur der Kreuzzüge zurückgreifen. Dazu gehört die normative Aufladung, die die Militäraktion nicht als Krieg versteht, sondern als Akt der Hilfeleistung, bei dem in den betroffenen Territorien als überlegen empfundene Strukturen eingeführt werden, um diese zu befrieden. Da ist zudem die Vermischung (in diesem Fall Dominanz) machtpolitischer Elemente mit idealistischen Motiven, deren jeweiliges Gewicht kaum zu bestimmen ist. Schließlich sind es die Anleihen an Vorstellungen des »gerechten Kriegs«, die der christlichen Tradition entstammen, sowie, wenn auch noch sehr begrenzt, das Motiv der religiös motivierten Schutzverantwortung. Diese religiöse Aufladung spielte auch in vielen späteren militärischen Auslandsinterventionen eine häufig offensichtliche, noch öfter aber unausgesprochene Rolle, wie wir noch sehen werden. Schließlich dienten Kreuzzüge aber auch als spektakulär erfolgreiches Instrument zur Gemeinschaftsbildung, in dem sich die katholische Kirche als aktive Verteidigerin einer die zersplitterten mittelalterlichen Herrschaftsverbünde überwölbenden Gemeinschaft darstellte – eine Konzeption, die sofort auch von weltlichen Herrschern aufgegriffen wurde, um so ihren Herrschaftsansprüchen eine zusätzliche Legitimationsbasis zu verschaffen.

Schon zur Zeit der Kreuzzüge beschäftigten sich einige Chronisten mit der Frage, wie denn eine militärische Intervention in fremden Territorien oder Jurisdiktionen zu rechtfertigen sei, insbesondere wenn von den dortigen Bewohnern keine Aggressionen ausgingen oder in Zukunft zu befürchten waren. Schließlich sah die christliche Ethik auch eine Verantwortung für fremdes Leid vor. Der Rückgriff auf die recta intentio, die gerechte Absicht der Kreuzritter, genügte zwar meist, um diese Skrupel beiseitezuschieben. Allerdings wurde die Problematik einige Jahrhunderte später wieder höchst aktuell im Zuge der spanischen Eroberungsfeldzüge, die, kurz nachdem Christoph Kolumbus im Jahre 1493 auf dem amerikanischen Kontinent gelandet war, einsetzten. Die brutale Vorgehensweise der Eroberer vom Schlage eines Hernan Cortez, die dazu führte, dass innerhalb kurzer Zeit die dortigen gesellschaftlichen Strukturen zusammenbrachen und ein Großteil der indigenen Bevölkerung umkam oder versklavt wurde, führte selbst im abgebrühten frühneuzeitlichen Spanien zu heftigen Diskussionen. Gerade gelehrte Mönche, wie die Scholastiker Francisco de Vitoria (um 1483 – 1546), Bartolomé de las Casas (1484/5 – 1566) oder Francisco Suárez (1548 – 1617), setzten sich intensiv mit der Frage auseinander, wie die spanische Eroberung zu rechtfertigen sei.5 Faszinierend an diesen Schriften ist, wie hier Elemente einer Schutzverantwortung gegenüber den Bewohnern fremder Territorien entwickelt wurden.6 De las Casas’ aus christlicher Humanität herrührende beißende Kritik an den Exzessen der spanischen Eroberer wird bis heute viel zitiert. Auch der in Salamanca lehrende Dominikanermönch de Vitoria, damals der weltweit führende Theologe und einer der einflussreichsten Denker der Frühmoderne, sprach sich in einer grundlegenden Erörterung der Gründe für und gegen die Rechtmäßigkeit der spanischen Eroberungen strikt gegen reine Eroberungskriege aus (De Indis, 1539). Er argumentierte jedoch, dass eine Intervention dann gerecht sei, wenn sie gegen Tyrannen gerichtet sei, die ihre Untertanen systematisch unterdrückten oder sie daran hinderten, den christlichen Glauben anzunehmen. Für die Zeitgenossen war es unstrittig, dass es sich bei den Bewohnern Lateinamerikas um unzivilisierte Völker unter despotischer Herrschaft handelte. Berichte über Kannibalismus und Menschenopfer wurden massenweise zum Ergötzen des schaudernden Publikums weiterverbreitet. Da es sich also angesichts solcher Exzesse unzweifelhaft um tyrannische Regime handeln musste, stand einer Rechtfertigung der Eroberungen nichts mehr im Weg. Weil die amerikanischen Ureinwohner nicht der zivilisierten, christlichen Gemeinschaft angehörten, galten für sie auch nicht die Regeln des »gerechten Kriegs«, wie sie Thomas von Aquin formuliert hatte. Neben diesen Schlussfolgerungen finden sich in den scholastischen Schriften auch jene paternalistischen Argumente, nach denen weniger entwickelten Gesellschaften geholfen werden müsse, dem Zustand ihrer Unterentwicklung zu entkommen. Schließlich habe, so die Scholastiker, schon Aristoteles festgestellt, dass barbarische Völker zivilisiert werden müssten. Tzvetan Todorov, der bulgarische Soziologe und Historiker, hat in seinem Werk über die Eroberung Amerikas durch die spanische Kolonialmacht gezeigt, wie die Konstruktion der indigenen Menschen als fremdartige Wesen, als fundamental »Andere«, die Kolonisierung legitimierte. Diese Konstruktion äußerte sich dann meist in der gerechtfertigten brutalen Unterwerfung von sogenannten »Wilden« (so beispielsweise bei Hernan Cortez) oder, weit weniger häufig, durch erlaubte Umerziehung, nämlich wenn diese »Anderen« als Mitmenschen definiert wurden (wie de las Casas argumentierte). Auch dieses Motiv spielt bei späteren Auslandsinterventionen eine gewichtige Rolle, wenn es etwa um den Export von Demokratie und von »modernen« politischen Strukturen ging. Die Skrupel der Scholastiker änderten somit letztlich nichts am Schicksal der indigenen Bevölkerungen Lateinamerikas, zumal es die Eroberer waren, die definierten, was als tyrannische Herrschaft, die eine Intervention legitimierte, zu gelten hatte.

Ein weiterer zentraler Gedanke der Scholastiker, der schon sehr bald enorme politische Auswirkungen haben sollte, aber in die entgegengesetzte Richtung, war die Vorstellung der Welt als umfassendes Reich Gottes, als eine globale Gemeinschaft, in der den von Gott ausgewählten Herrschern eine Verantwortung für ihre Subjekte zukam. In der Ausübung dieser Verantwortung waren sie gegenüber der gesamten Gemeinschaft rechenschaftspflichtig. Diese Vorstellung einer universellen Wertegemeinschaft findet sich nicht zuletzt in der Hochphase der militärischen Intervention nach dem Kalten Krieg wieder, mit dem Unterschied, dass nun nicht mehr Gott oder seine Stellvertreter auf Erden den Militäreinsatz autorisierten, sondern die UNO. Hier wie dort ging es aber um fundamentale Normen des menschlichen Zusammenlebens, die universale Gültigkeit beanspruchten und deren Verletzung somit auch von der internationalen Gemeinschaft geahndet werden konnte. Schon hier zeigt sich also im Kern die Widersprüchlichkeit der Interventionsdebatte.

Im 16. Jahrhundert wurde die scholastische Debatte über offensichtliches Unrecht in fremden Territorien und die Pflicht Außenstehender, dieses zu beenden, plötzlich zu einer Thematik, die auch das Kerngebiet Europas betraf. Die Religionskriege des 16. Jahrhunderts wurden zu einer der Geburtsstunden für die Idee der »Schutzverantwortung« (die wie erwähnt auch in anderen Erdteilen existiert; vgl. Kap. VIII). Die Ausbreitung der Gedanken der Reformation nicht nur bei den Untertanen, sondern auch bei den Herrschenden führte dazu, dass es nun in fast allen europäischen Ländern große religiöse Minderheiten gab, die von Unterdrückung durch Herrscher und Bevölkerungsmehrheiten anderer Konfessionen bedroht waren. Viele Fürsten verspürten zunehmenden moralischen Druck, sich um das Schicksal ihrer Glaubensbrüder in fremden Landen zu kümmern, obwohl das im Augsburger Religionsfrieden von 1555 verkörperte Prinzip cuius regio, eius religio (wessen Herrschaft, dessen Religion) dies eigentlich verhindern sollte. Das Gegenteil geschah: Während Verfolgungen und Ketzerverbrennungen früher in anderen Ländern, wenn nicht beifällig kommentiert, so doch achselzuckend hingenommen wurden, so entstand nun ein Gefühl der Verantwortung für die Nöte der Anhänger der eigenen Religion. Pogrome wie die Bartholomäusnacht in Frankreich (1572), der 3000 Hugenotten zum Opfer fielen, die Zerstörung Antwerpens durch spanische Truppen (1576), und viele andere Massaker machten die Zeit seit Mitte des 16. Jahrhunderts zu einer der blutigsten Epochen der europäischen Geschichte.7 Ihr grausamer Höhepunkt war der Dreißigjährige Krieg. Die Erfindung der Druckerpresse sorgte dafür, dass die Kunde von den vielen Gräueltaten sich schnell in Europa verbreitete und Empörung bei Anhängern der jeweiligen Glaubensgemeinschaft hervorrief. Im Unterschied zur Zeit der Kreuzzüge wurde nun nicht mehr die Institution »Kirche« der Adressat von Forderungen nach Sicherheit vor religiös motivierter Gewalt, sondern die sich herausbildenden staatlichen Organisationen und ihre Herrscher, die sich als Repräsentanten einer religiös fundierten Wertegemeinschaft sahen. Je eher und mehr sie diese Aufgabe erfüllen konnten, umso höher war die bisher recht fragile Legitimität dieser noch neuen Organisationsform politischen Lebens, des Staates.8 Zudem boten die Interventionen unter dem Zeichen der Schutzverantwortung auch ein Argument für die innenpolitische Machtausweitung des Staates, der deshalb entsprechende Ansprüche an die Ressourcen des Staatsgebiets formulieren konnte, in Form von Steuern oder Rekrutierungen für das Militär. Konfessionelle Solidarität verknüpft mit dem Konzept religiöser Freiheitsrechte bot so eine legitimatorische Grundlage für militärische Interventionen.9

Zu den frühesten Interventionen mit dem Ziel, Minderheiten der eigenen Religion vor grausamer Unterdrückung in fremden Territorien zu schützen, zählten einige englische Feldzüge in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Wie der britische Historiker David Trim schrieb, sandte die protestantische Herrscherin Elizabeth I. englische Truppen oder mit englischem Geld bezahlte Söldner tatsächlich mehrere Male in den 1560–1570er Jahren nach Frankreich mit dem begrenzten Ziel, den bedrängten Glaubensbrüdern und -schwestern dort zu Hilfe zu kommen.10 Es ging weder darum, die jeweilige Regierung zu stürzen, noch, mit Ausnahme eines misslungenen Abenteuers in Frankreich 1562, um die Eroberung von Territorium. Zentrales Ziel war es, die chaotischen Verhältnisse, die durch die gewaltsame Unterdrückung der Protestanten entstanden, zu beenden und die französischen Könige vom Wert religiöser Toleranz zu überzeugen. 1585 intervenierte eine englische Armee in den Niederlanden und blieb dort 18 Jahre, um die spanischen Truppen unter dem blutrünstigen Herzog von Alba in Schach zu halten. Die Spanier drohten ihrerseits damit, den Katholiken in England zu Hilfe zu kommen. Bei diesen Interventionen waren sicher auch und wahrscheinlich vornehmlich handfeste machtpolitische Interessen im Spiel; das Motiv der Schutzverantwortung nahm jedoch eine gewichtige Rolle ein.11 Dies gilt auch für fünf militärische Interventionen in Schottland, die England von 1560 bis 1573 durchführte. Ziel war nicht die Eroberung Schottlands, sondern die Einrichtung eines konfessionell gleichen und damit nicht mehr so bedrohlichen Herrscherhauses sowie der Schutz der protestantischen Minderheit. Noch deutlicher wurde die humanitäre Komponente bei einer angedrohten Militäraktion Englands unter Lord Protector Oliver Cromwell, der damit auf die Verfolgung der protestantischen Sekte der Waldenser im fern gelegenen katholischen Königreich Savoyen, im heutigen Piemont, reagierte. Berichte über deren Vertreibung aus ihren Rückzugsorten in den Alpentälern im französisch-italienischen Grenzgebiet und die Ermordung Tausender Menschen empörten Cromwell zutiefst. Sein Mitarbeiter John Milton, Verfasser des Nationalepos Paradise Lost, schrieb eine Anklage in Gedichtform, die mit den Worten begann: »Avenge, O Lord, thy slaughtered saints, whose bones lie scattered on the Alpine mountains cold …« (Räche, o Herr, Deine gemeuchelten Heiligen, deren Knochen verstreut liegen auf den kalten Hängen der Alpen …). Die von Frankreich unterstützte Androhung eines militärischen Eingreifens durch England genügte, um den piemontesischen Herrscher von weiteren derart mörderischen Repressalien abzuhalten.

Diese frühen »humanitären Interventionen« wurden von den politischen Denkern der Zeit aufmerksam beobachtet. Alberico Gentili, zum Beispiel, ein italienischer Jurist, der aufgrund seines protestantischen Glaubens nach England floh und Professor an der Universität Oxford wurde, greift in Drei Bücher zum Kriegsrecht von 1612 den christlichen Gedanken der Hilfe für die Schwachen auf und betonte die Verantwortung des Souveräns auch für die Unterdrückten in fremden Territorien. Möglicherweise hatte er dabei die englischen Interventionen in den Niederlanden gegen die Spanier im Sinn. Auch Hugo Grotius (1583–1645), der sogenannte Vater des Völkerrechts, betonte die Legalität der Schutzverantwortung, die ein souveräner Herrscher im Hinblick auf die unterdrückten Untertanenen in fremden Ländern ausüben könne.12 Die fundamentale Idee, die hinter diesen Gedanken aufleuchtete, war die Idee einer internationalen Gemeinschaft, deren Geltungsbereich über willkürliche politische Grenzen hinausreichte. Allerdings gab es für Grotius keine Pflicht zur Intervention bei fundamentalen Verstößen, wie in der aktuellen Doktrin der Responsibility to Protect: Die Verpflichtung zum Schutz der eigenen Untertanen vor gegebenenfalls untragbaren Kosten einer solchen Aktion war laut Grotius ein höherer Wert.

Interessanterweise lehnte er allerdings ein Recht der eigenen Untertanen auf Widerstand gegen ungerechte Regierungsgewalt ab.13 Damit entsprach er auch der Sichtweise des frühen Protestantismus, welcher dem Widerstandsrecht der Bevölkerung im Falle von Unterdrückung sehr skeptisch gegenüberstand, wie Luthers berühmte Verurteilung der Bauernaufstände zeigt. Gleichzeitig betonten protestantische Gelehrte aber eine Verantwortung der Fürsten im Falle tyrannischer Herrschaftsausübung in anderen Territorien. Dahinter stand das von den Herrschern der damaligen Zeit geteilte Verständnis einer übergeordneten Gemeinschaft christlicher Fürsten. Dieses modern anmutende Motiv der gemeinsamen Schutzverantwortung findet sich selbst bei Staatstheoretikern wie Thomas Hobbes wieder, die gemeinhin als Vertreter einer weitgehenden Autonomie der Staatsgewalt gelten. Hobbes und seine Nachfolger waren zwar überzeugt von der friedenstiftenden Wirkung einer möglichst weitgehenden Zentralisierung der politischen Macht und lehnten schon vor diesem Hintergrund die Vorstellung ab, dass ein Volk weitgehend selbst bestimmen sollte, welche Maßnahmen der Herrschenden ungerechtfertigt waren und somit Rebellion verdienten. Dies bedeutete allerdings nicht, dass Interventionen von außen verboten waren.

Die weitverbreitete positive Einstellung gegenüber Interventionen sollte allerdings sehr schnell fürchterliche Folgen haben. Der von 1618 bis 1648 tobende Dreißigjährige Krieg war die Kulmination religiös begründeter Einmischungen. Dänemark unter König Christian IV., Gustav II. Adolf von Schweden und das Frankreich des Kardinals Richelieu waren nur einige der europäischen Mächte, die mit ihren Heeren die Gebiete des deutschen Reichs aus überwiegend machtpolitischen, öffentlich aber meist religiös begründeten Motiven heimsuchten. So war die Hauptsorge Gustav Adolfs die Ausdehnung der Macht des katholischen Habsburgers Ferdinand II. und seines Generalissimus Wallenstein. Wie der schwedische Historiker Erik Ringmar darlegt, war ein kostspieliges und blutiges Eingreifen in das chaotische Kriegstheater auf dem Boden des Heiligen Römischen Reichs aber nicht die zweckmäßigste Antwort auf diese Bedrohung. Vor der eigenen Bevölkerung und insbesondere den herrschenden Ständen wurde der Feldzug mit der Solidarität gegenüber den bedrohten protestantischen Fürsten und mit dem Wahren der eigenen Reputation begründet. Nicht umsonst war Gustav Adolf ein eifriger Leser des Hauptwerks von Grotius. Es ging also, so Ringmar, bei der schwedischen Intervention ganz wesentlich auch um die Konstruktion und Festigung der Identität eines noch sehr fragilen protestantischen Staates.14 Auch der Kriegseintritt Frankreichs 1635 war vornehmlich machtpolitisch motiviert, nachdem spanische Truppen in die Kämpfe in Deutschland eingegriffen hatten. Er vollzog sich jedoch vor dem Hintergrund der langen blutigen Geschichte der innerfranzösischen Repression gegen die Hugenotten.15

Was auch immer die spezifischen religiös inspirierten Begründungen für die endlosen Feldzüge waren, die Folgen waren katastrophal: Am Ende hatte der Blutrausch halb Deutschland entvölkert und insgesamt schätzungsweise 7 Millionen Menschen das Leben gekostet. Die von de Vitoria und Grotius behauptete universelle Verantwortung christlicher Herrscher, die in den Kreuzzügen spektakulär praktizierte Version eines gottgemäßen, gerechten, ja sogar Heiligen Krieges sowie die Nutzung religiöser Motive für machtpolitische Ziele führten zur Selbstzerfleischung Europas.

1 Reus-Smit, »The Concept of Intervention«.

2 Der Fokus dieser historischen Kapitel ist eurozentrisch. Zu wenig ist bekannt über die Interventionsdiskurse in anderen Gesellschaften. Zudem hat gerade der Kolonialismus dazu geführt, dass europäisch-atlantische Ideen die Debatte bis heute bestimmen.

3 Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang, dass auch der Islam den Grundsatz der Hilfe für bedrohte Gläubige kennt. Die islamische Gemeinschaft, die umma, verweist auf die Pflicht zur Hilfeleistung über die souveränen Grenzen von Staaten hinweg, ein Element, welches übrigens die Schwäche vieler islamischer Staaten miterklärt. Denn angesichts interreligiöser Rivalitäten, vor allem zwischen Schiiten und Sunniten, ergibt sich so eine Rechtfertigung für die Einmischung in die Innenpolitik anderer Staaten, vgl. Hashmi, »Is there an Islamic Ethic?«.

4 Riley-Smith, Die Kreuzzüge.

5 Die Scholastik bezeichnet eine Denkschule, deren Vertreter Erkenntnisse aus allgemeinen Gesetzen ableiteten und damit auch die Konsequenzen der christlichen Glaubenssätze mit Vernunft zu durchdringen suchten.

6 Vgl. dazu ausführlich die Dissertation von Laukötter, Zwischen Einmischung und Nothilfe.

7 Schorn-Schütte, Konfessionskriege und europäische Expansion.

8 Burkhardt, »Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit«.

9 Reus-Smit, Individual Rights and the Making of the Modern International System.

10 Trim, »Intervention in European History«.

11 Dazu neuerdings ausführlich: Katz, Kriegslegitimation in der Frühen Neuzeit.

12 Grotius, Drei Bücher, Buch II, Kap. 25, Abs. 2–4 (S.174).

13 Ebd., Buch I, Kap. 3, Abs. VIII (S. 146–155).

14 Ringmar, Identity, Interest and Action, insbes. S. 176–186.

15 Zwierlein, »The Thirty Years’ War – A War of Religion?«.

II Die »Erfindung« staatlicher Souveränität und militärische Auslandsinterventionen

Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!

Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun

Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun,

Hat aller Schweiß, und Fleiß, und Vorrat aufgezehret.

Die Türme stehn in Glut, die Kirch’ ist umgekehret.

Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,

Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun

Ist Feuer, Pest, und Tod, der Herz und Geist durchfähret.

So beschrieb der Dichter Andreas Gryphius in seinem berühmten Sonett Tränen des Vaterlands von 1636 die katastrophalen Verwüstungen, die der Dreißigjährige Krieg in Europa verursacht hatte.

In der Mitte des 17. Jahrhunderts konnte niemand mehr an der Tatsache vorbeisehen, dass die religiös begründete Schutzverantwortung und die behauptete Legitimität des Schutzes von Untertanen gegen tyrannische Herrscher durch militärische Interventionen mitgeholfen hatte, ganz Europa in apokalyptische Zustände zu stürzen. Eine andere internationale Ordnung war notwendig, eine Ordnung, die auf dem Fundament einer neuen Idee beruhte. Diese neue Idee ist untrennbar mit dem Friedenskongress von 1648 in Münster, Westfalen, verknüpft, auch wenn die Forschung es inzwischen gemeinhin als grobe historische Vereinfachung sieht, dass sie dort sozusagen erfunden und gleich umgesetzt wurde. Es ist die Idee der weitgehend uneingeschränkten staatlichen Souveränität (jedenfalls für europäische Staaten). Ihre Durchsetzung ging einher mit der schrittweisen Herausbildung des heutigen internationalen Systems auf der Basis funktionsfähiger staatlicher Einheiten. Diese Einheiten wiesen eindeutige Kriterien für die Zugehörigkeit der Bevölkerung, die Vertretung nach außen und das Machtmonopol im Inneren auf. Maßgeblich geprägt von dem Franzosen Jean Bodin in Les six livres de la république