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Seit 1997 widmet sich der Grundrechte-Report der Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Als »alternativer Verfassungsschutzbericht« dokumentiert er die vielfachen Bedrohungen, die von staatlichen Institutionen für diese Rechte ausgehen. Der aktuelle Report behandelt die Gefährdung von Grund- und Menschenrechten im Jahr 2023. In Deutschland und Europa sind rechte Bewegungen auf dem Vormarsch. Ihr Aufstieg verschiebt die Grenzen des unter der Geltung des Grundgesetzes Sagbaren. Darunter leiden zuallererst schutzbedürftige Personen, insbesondere Geflüchtete, deren Rechte massiv beschnitten werden. Daneben behandelt der Report unter anderem die Ausweitung des politischen Strafrechts, den steigenden Druck auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, den Abbau sozialer Grundrechte sowie die Zunahme staatlicher Gewalt und Repression. »Der Report geht nicht nur vom Grundrechtstext aus, sondern vom Leben, von Problemen in der Gesellschaft, von Ungerechtigkeit, die Leute in Konfrontation mit dem Staat und anderen Akteuren erleben.« Susanne Baer bei der Präsentation des Grundrechte-Reports 2023
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Herausgegeben von Peter von Auer, Benjamin Derin, Andreas Engelmann, Rolf Gössner, Sarah Lincoln, Max Putzer, Rainer Rehak, Milad Schubart, Rosemarie Will und Michèle Winkler
Der Grundrechte-Report dokumentiert seit 1997 als Teil einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit den Umgang mit Bürger- und Menschenrechten in Deutschland. Das Hauptaugenmerk liegt dabei jedes Jahr auf den staatlichen Institutionen, von denen die größten Gefährdungen der Grundrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit ausgehen.
Die 28. Ausgabe des Reports widmet sich insbesondere den Bereichen Migration und Asyl sowie den staatlichen Beschränkungen der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Auch Fälle von Diskriminierung und Überwachung sowie Themen rund um die Klimakrise werden beleuchtet. Mit Blick auf anstehende bedeutsame Landtagswahlen wird natürlich auch der Rechtsextremismus der AfD aufgegriffen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Herausgegeben wird der Grundrechte-Report von zehn Bürgerrechtsorganisationen. Informationen über die Herausgeber*innen, die Autor*innen und die Redaktion finden sich im Anhang des Buches.
Vorwort der Herausgeber*innen
Artikel 1 (1) – Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Kirstin Drenkhahn – Welches Ziel hat Gefangenenarbeit?
Wie ist die Gefangenenentlohnung bisher geregelt?
Warum ist das nicht mit dem Grundgesetz vereinbar?
Welche Folgen hat das Urteil?
Rosemarie Will – Selbstbestimmtes Sterben und assistierter Suizid
Wenig Neues in den interfraktionellen Gesetzentwürfen
Scheitern mit Hilfe der AfD als List der Vernunft?
Legaler Zugang zum tödlichen Medikament
Kalle Hümpfner/Tuuli Reiss – Das Selbstbestimmungsgesetz und die Änderung des Geschlechtseintrages als Grundrecht
Die bisherige Rechtslage
Das Grundrecht auf Änderung des Geschlechtseintrages
Die Defizite des aktuellen Gesetzentwurfes
Artikel 2 (1) – Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit
Lars Mehler – Kein Freifahrtschein zum polizeilichen Data-Mining
Die Palantir-Software »Gotham« und die Zweckbindung von Daten
Verfassungswidrig niedrige Eingriffsschwelle
Kein Ende in Sicht
Andreas Engelmann – Dauerüberwachung im Unternehmensinteresse
Schutz vor Dauerkontrolle
Die unsichtbare Hand der effizienten Steuerung
Denken wie Amazon
Kein Verständnis für die Ursachen des Leistungsdrucks
Hartmut Aden – Künstliche Intelligenz menschenrechtlich einhegen
Umstrittene Zuordnung zu Risikostufen
Defizite der Verordnung
(Nur) der Anfang eines europäischen KI-Rechts
Artikel 2 (2) – Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
Hannah Espín Grau/Tobias Singelnstein – Schmerzgriffe als Form polizeilicher Gewaltausübung
Wirkungen und Folgen für Betroffene
Rechtliche Bewertung
Ausweitung von Gewalt
Dyana Rezene/Neda Djamshidian/Nicole Bögelein/Levin Reichmann – Armut wegsperren
Was ist das beschleunigte Verfahren?
Anwendung des beschleunigten Verfahrens und der Hauptverhandlungshaft
Kritik aus rechtsstaatlicher Perspektive
Benjamin Derin – Präventiver Paradigmenwechsel
Präventivgewahrsam: vorbeugend eingesperrt
Paradigmenwechsel im Sicherheitsrecht
Die Entscheidung des BayVerfGH
Das alte Spiel
Artikel 3 (1) – Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Charlotte Ellinghaus – Gleiche Arbeit, ungleicher Lohn
Gesetzlicher Equal-Pay-Grundsatz – oder doch nicht?
Überraschende Wende zum Schlechten – Gesetzlicher Schutz genügt
Warten auf Godot
Kirsten Bock – Offlinezugangsgesetze
Digital schlägt analog
Die Entscheidung fürs »Off«
Die Welt ist, was digitalisierbar ist
Das Recht auf Teilhabe
Schutz der Demokratie
Kirsten Bock – Offlinezugangsgesetze
Die Tagessätze werden häufig geschätzt
Das Ziel bleibt: Weniger Ersatzfreiheitsstrafen
Artikel 3 (2) – Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Ulrike Lembke/Marie Volkmann –
Umsetzung: Ein Schritt nach vorne, zwei Schritte zurück
Der Rechtschreibrat und das Verfassungsrecht
Was es Wichtigeres gibt
Friederike Boll/Lea Welsch – Über Geld spricht man nicht?
Angeblich besser verhandelt? Keine Ausrede!
Entgeltgleichheit oder: Über Geld spricht man nicht?
Vertragsfreiheit im Kräfteungleichgewicht
Dem »Prinzip ohne Praxis« zur Wirksamkeit verhelfen
Artikel 3 (3) – Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Tarik Tabbara – Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts
Verschärfungen bei der Lebensunterhaltssicherung
Konflikte mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz
Diskriminierung von Personen mit Behinderung
Förderung des patriarchalen Ernährermodells
Antimuslimischer Bias
Claus Förster – Vereinte Nationen zutiefst besorgt über die Situation von Behinderten in Deutschland
Segregation in Bildungs- und Arbeitswelt muss beendet werden!
Verbot der Zwangsbehandlung
Völkerrechtsfreundliche Grundgesetzauslegung
Artikel 5 (1, 1) – Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.
Vivian Kube/Hannah Vos – Gelöscht, nicht »aktenrelevant« oder nie gespeichert
Regieren per SMS und Messenger – und niemand kontrolliert
Informationsrechtliche Grauzone
Das Gericht vertraut den Behörden blind
Gesetzliche Pflicht zur Speicherung notwendig
John Philipp Thurn – Immer neue Lücken im Äußerungsstrafrecht?
Zwischen Fluss und Meer
Geschichte schreiben
Ein anderer Weg
Timo Laven/Lorenz Wielenga – Rassismuskritik oder Beleidigung?
Gerichte geben Aslan recht, bezweifeln aber ihre Eignung
Sieg für den Rechtsstaat, Niederlage für die Meinungsfreiheit?
Kritikfähigkeit der Polizei statt »Härte des Rechtsstaats«
Artikel 5 (1, 2 und 3) – Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Jan Rahner – Razzia bei Radio Dreyeckland
Artikel mit Vorgeschichte
Hohe Strafbarkeitshürden
Kritische Berichterstattung statt Unterstützung
Ausleuchtung als eigentliches Ziel?
Benjamin Lück – Whistleblower*innen – Wer schützt die Quelle vor der Presse?
Grundrechtlich geschützte Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte
Das Landgericht verkennt die Interessenlage von Whistleblower*innen
Whistleblowing Vertraulichkeitsvereinbarung?
Artikel 5 (3) – Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Nina Keller-Kemmerer – Israelbezogener Antisemitismus und Kunstfreiheit
(K)eine öffentliche Bühne für Antisemiten?
Kampf gegen Antisemitismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Zugang zu öffentlichen Einrichtungen: Das Recht auf Gleichbehandlung
An den Grenzen der Kunstfreiheit
»Geschmacklose« Bühnenshow oder Antisemitismus?
Artikel 8 (1) – Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
Clemens Arzt – Sind Versammlungsverbote bald der Normalfall?
Zulässigkeit von Versammlungsverboten seit »Brokdorf«
Anforderungen an Versammlungsverbote
»Vorrats-Verbote« durch Allgemeinverfügung
In der Pandemie wurde die Spur gelegt
Tina Keller – Sind Versammlungsverbote bald der Normalfall?
Allgemeinverfügung und einschränkende Auflagen
Lebensgefährdende Räumung von Lützerath
Polizeigewalt
Pressefreiheit
Peer Stolle – Antifaschistischer Protest und die Verselbständigung polizeilicher Repression
Versammlungsfreiheit – auch in Leipzig?
Ein Kessel für alle
Legitimation polizeilicher Verselbständigung
Artikel 9 (1) – Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.
Paul Madro/Philipp Schönberger – Wenn aus zivilem Ungehorsam organisierte Klimakriminalität wird
Demokratie tut weh
Von zivilem Ungehorsam zu organisierter Klimakriminalität
»Chilling effects« von Strafverfolgung
Artikel 9 (3) – Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.
Klaus Lörcher – Gräfenhausen ein Symbol?
Grundrechte müssen entsprechenden Schutz gewähren
Arbeitsstrafrecht gegenüber Arbeitgebern effektiver machen
Artikel 12 (1) – Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
Norbert Pütter – Zeugnisverweigerungsrecht und Soziale Arbeit
Entwertetes Vertrauen
Zweierlei Maß
Artikel 13 (1) – Die Wohnung ist unverletzlich.(2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden.
Karl Mauer – Die Räume der Anderen
Das »letzte Refugium« Geflüchteter
Das bedingte Wohnungsgrundrecht Geflüchteter
Die Ampel legt nach
Artikel 14 (1) – Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Noma Hajar/Benjamin Raabe – Die Eigenbedarfskündigung als effektives Mittel zur Verdrängung
Die Interessen von Eigentümer*innen gehen vor
Die Rechtsprechung erleichtert Eigenbedarfskündigungen
Der Gesetzgeber muss den Mieter*innenschutz endlich stärken
Artikel 16a (1) – Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
Wiebke Judith – Finstere Aussichten für den Flüchtlingsschutz in Europa
Brutales Grenzsystem wird verstetigt und gestärkt
Angeblich sichere Drittstaaten bieten Flüchtlingen keinen Schutz
Flüchtlingsschutz könnte ausgehebelt werden
Irrweg der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes
Die Zeichen stehen schlecht für den Flüchtlingsschutz
Max Putzer – Kein Schutz bei »nicht öffentlich bemerkbar gelebter homosexueller Veranlagung«?
Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität schwer zu beweisen
BAMF und Gerichte machen es Schutzsuchenden nicht leicht
Richter*innen müssen sich kritisch hinterfragen (lassen)
Anna Biselli/Chris Köver – Das Handy, bitte!
Ein Erfolg vor Gericht
Innenministerium will mehr durchsuchen
Durchsuchungen weitgehend nutzlos
Artikel 19 (4) – Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.
Anne Pertsch/Robert Nestler – Grenzenloses Europa?
Grenzkontrollen an der Binnengrenze
Zurückweisung von Asylsuchenden
Zurückweisungen von Personen ohne Asylantrag
Symbolpolitik ohne rechtliche Grenzen
Artikel 20 (1) – Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
Friedrich Zillessen – Was wäre, wenn?
Wahlbeamte und die freiheitlich demokratische Grundordnung
Wehrhafte Schwachstellensuche
Es gibt keine wasserdichte Verfassung
Rainer Land – Ökologischer Umbau und Schuldenbremse
Das Urteil des BVerfG vom 15. November 2023 zur Schuldenbremse
Wie kann man die Zukunft langfristig finanzieren?
Andreas Aust – Eine Kampfansage gegen Kinderarmut?
Kinderarmut als soziales Problem
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
Wenig Aussicht auf Reduktion der Kinderarmut
Artikel 20 (2) – Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Malte Engeler – Wie viel kostet eine Wahl?
Die neue Europäische Verordnung
Politische Interessen
Wie viel Markt verträgt eine Demokratie?
Artikel 20 (3) – Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Rolf Gössner – Verfassungsschutz: Stigmatisieren per Datenübermittlung?
Pflicht zu verfassungsgemäßer Neuregelung: Erster Versuch
Zweiter Anlauf nach heftiger Kritik: neuer Fall fürs Bundesverfassungsgericht?
Artikel 20a – Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
Jannis Krüßmann – Klimagesetzesbrecherin vor Gericht
Sofortprogramm bei Verfehlung der Sektorenziele
Sofortprogramm Verkehr schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch
In der Zange zwischen KSG und GG
Klimaziele einhalten, nicht abschaffen
Katrin Brockmann – Ruganer:innen gegen die AfD und für Heringslaichgebiete
In die Röhre geschaut
Überdimensionierte Pläne für deutsche Flüssiggasterminals
Wunder an der Küste?
Artikel 34 – Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht.
Jochen Goerdeler – Nach rechtswidriger Nacktdurchsuchung
Rechtswidrige Entkleidungsdurchsuchung im Justizvollzug
Entschädigung nach Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Neue Wege im Staatshaftungsrecht
Artikel 103 (2) – Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
Simon Pschorr – Alkohol legal, Cannabis illegal: eine Entscheidung allein des Gesetzgebers
Tradition vor Eignung
Praktische Umsetzung vor gesetzlicher Kontrolle
Richterliche Rechtschöpfung vor legislativer Entscheidung
Artikel 103 (3) – Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.
Marie Volkmann – Nicht zweimal in derselben Sache
Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener
Notwendigkeit staatlicher Selbstbeschränkung
Anhang
Kurzporträts der herausgebenden Organisationen
Autor*innen, Herausgeber*innen und Redaktionsmitglieder
Abkürzungen
Sachregister
Das Jahr 2023 war geprägt durch den anhaltenden Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien und Bewegungen in Europa. Sie gelangen an die Macht oder stützen rechtskonservative Regierungen: Schon lange regieren sie in Ungarn mit absoluter Mehrheit, seit kurzem sind sie auch in Finnland und Schweden Partner in der Regierung. In Italien stellt der Postfaschismus die Regierungschefin, in den Niederlanden ging eine islamfeindliche Partei als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen im Herbst hervor. Dass Polen wieder demokratisch regiert wird, ist zwar ein Lichtblick, muss aber keine allgemeine Trendumkehr bedeuten. Auch in Deutschland stellt die Alternative für Deutschland (AfD) erste Landräte und Bürgermeister. 2024 drohen Wahlerfolge der Partei in drei Bundesländern. Wir sind schlecht darauf vorbereitet, sollte sie in Zukunft etwa mehr als ein Drittel der Abgeordneten stellen oder das Amt des/der Landtagspräsident*in besetzen.
Auf derartige Gefahren rechtzeitig mit einer Änderung der Landesverfassungen oder einer zwischen den demokratischen Parteien geschlossenen Vereinbarung zu reagieren, ist auch ein Gebot der Verteidigung von Grundrechten bestimmter Bevölkerungsgruppen, die systematisch eingeschränkt oder komplett ausgehebelt würden, dürfte die AfD Regierungspolitik mitbestimmen. Ebenso erscheinen die nach und nach eingeführten staatlichen digitalen Kontroll- und Überwachungssysteme wie Biometriedatenbanken oder Identifikationsnummern nun in neuem Lichte: Genau vor der Gefahr, dass rechtsautoritäre Regierungen sie für ihre Zwecke verwenden könnten, hatte die netzpolitische Zivilgesellschaft immer gewarnt.
Dass die demokratischen Parteien bislang zumindest verbal auf Bundes- und Landesebene die Zusammenarbeit mit einer in weiten Teilen völkisch-autoritären Partei ablehnten, ist dabei kein Grund zur Beruhigung. Denn die politische Landschaft rückt insgesamt immer weiter nach rechts. Bislang unsagbare Forderungen nach Abschaffung oder erheblicher Einschränkung grundrechtlicher Garantien finden Eingang in den öffentlichen Diskurs. Zentrale Aspekte einer rechten Programmatik werden zunehmend von anderen politischen Kräften aufgegriffen und teilweise übernommen. Und das hat konkrete Auswirkungen auf die von diesen Debatten Betroffenen.
Im Besonderen gilt dies für Geflüchtete, die in Europa Schutz vor Verfolgung, Krieg, Klimawandel oder Armut suchen. Im letzten Jahr sind sie zum Objekt einer Diskussion geworden, deren Teilnehmende sich mit negativen Zuschreibungen und Vorschlägen, diese Menschen möglichst schnell wieder loszuwerden, gegenseitig überboten haben. Das individuelle Grundrecht auf Asyl, 1949 auch unter dem Eindruck von Krieg und zwölfjähriger Schreckensherrschaft der Nazis in das Grundgesetz aufgenommen, ist ebenso wie der europa- und völkerrechtliche Anspruch auf Schutzgewährung, nicht mehr unantastbar. Neben rechtsextremen und rechtspopulistischen Kräften streben auch konservative Politiker*innen die völlige Abschaffung dieser Rechte an. Ersatz soll es in Form einer europäischen Kontingentlösung mit einer Prüfung der Schutzberechtigung im Ausland geben. Besonders perfide ist dabei, dass die Aushebelung der Rechte Schutzsuchender als Gebot der Gerechtigkeit dargestellt wird, da nur so verhindert werden könne, dass sich Menschen auf eine nicht selten tödlich endende Reise nach Europa begeben und sich so das Recht des Stärkeren durchsetzt –, schließlich kämen doch überwiegend junge (muslimische) Männer.
Auch gegenüber Geflüchteten, die bereits in Deutschland leben, wird der Ton deutlich rauer. Ihnen sollen Mittel und Leistungen als angebliche Fluchtanreize gestrichen werden. Das Narrativ einer »Einwanderung in unsere Sozialsysteme« bedient, wer wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hetzt, Asylberechtigte schnappten Deutschen die Termine beim Zahnarzt weg. Und selbst der sich als wahrer Sozialdemokrat bezeichnende Bundeskanzler Olaf Scholz stimmt in den Chor derer ein, die »irreguläre Migration« dadurch begrenzen wollen, »endlich in großem Stil« abzuschieben. Bei bloßen Debatten bleibt es aber nicht; vielmehr finden diese ihren Niederschlag in zahlreichen konkreten Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts. Die Liste der sicheren Herkunftsstaaten wurde erweitert. Bundesweit einheitliche Bezahlkarten sollen eingeführt, Verwaltungs- und Gerichtsverfahren auf Kosten eines effektiven Rechtsschutzes stark beschleunigt werden. Und die Bundesregierung will sogar prüfen, ob Asylanträge außerhalb Deutschlands bearbeitet werden können. Eine Kriminalisierung der Seenotrettung wird ernsthaft erwogen.
Derweil zieht auch die EU die Mauern hoch: Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ermöglicht eine monatelange Masseninternierung bestimmter Gruppen von Schutzsuchenden, selbst Familien und Kinder sollen hiervon nicht ausgenommen werden. Ihre Abschiebung in als sicher eingestufte Drittstaaten wird erleichtert, ohne dass ihre Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes auf europäischem Boden inhaltlich geprüft würden. Doch all diese Einschränkungen der Rechte Geflüchteter scheinen immer noch nicht auszureichen. Aufrufe dazu, Migrant*innen notfalls »mit physischer Gewalt« aufzuhalten, stammen nicht etwa von der AfD, sondern vom ehemaligen Bundesminister für Gesundheit, Jens Spahn (CDU).
Das Jahr 2023 hat darüber hinaus gezeigt, dass es nicht erst der Machtübernahme durch eine völkisch-nationalistische Partei bedarf, um die Grundrechte anderer Bevölkerungsgruppen unter Druck zu setzen. So wird über die Rechte – etwa auf Änderung des Geschlechtseintrags im Personenregister – von trans* Personen und ihren Kampf für geschlechtliche Selbstbestimmung zugespitzt und polarisierend debattiert. Ähnlich emotional wird die Diskussion über die Verwendung geschlechtergerechter und diskriminierungsfreier Sprache geführt. Mehrere Bundesländer haben eine entsprechende Verwendung von Sonderzeichen in Verwaltung und sonstigen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen wie Universitäten, Schulen und öffentlichem Rundfunk bereits verboten oder ein solches Verbot angekündigt, und dies sehenden Auges in Widerspruch zu grundrechtlichen Gleichbehandlungsgeboten und Diskriminierungsverboten.
Auch Klimaschutz und Energiewende, die von Personen mit demokratiegefährdenden Einstellungen überdurchschnittlich oft abgelehnt werden, wurden von rechten Populist*innen als Themen entdeckt. Sie versuchen, insbesondere die politische Mitte für ihre Ideologien zu gewinnen. Polizei und Strafverfolgungsbehörden gehen derweil mit unverminderter Härte gegen gewaltlosen zivilen Ungehorsam vor. Einzelne Staatsanwaltschaften ermitteln, teils gerichtlich bestätigt, mit weitreichenden Maßnahmen gegen die Klimaaktivist*innen der Letzten Generation, indem sie diese als kriminelle Vereinigung einstufen. Die Polizei wendet Schmerzgriffe an, um Straßenblockaden aufzulösen. Dass es letztlich Gerichte sind, die die Bundesregierung an ihre verfassungsrechtliche und gesetzliche Pflicht zu effektiven Maßnahmen gegen die Klimakrise erinnern müssen, zeigt zugleich: Proteste sind weiterhin nötig.
Der Krieg in der Ukraine wurde auch im Jahr 2023 fortgesetzt und ein weiterer kam hinzu, ausgelöst durch ein Massaker der Hamas an der Zivilbevölkerung in Israel nahe Gaza am 7. Oktober. Seine Auswirkungen blieben nicht auf den Nahen Osten beschränkt. Auf Berliner Straßen feierten Menschen den Terrorangriff mit Baklava. Jüdinnen und Juden in Deutschland haben wieder zunehmend Angst vor körperlichen Übergriffen und Anfeindungen – auch das ist kaum auszuhalten.
Zugleich stiegen Vorfälle von antimuslimischem Rassismus an. Versammlungsbehörden reagierten zunächst nicht selten mit Totalverboten sogenannter propalästinensischer Demonstrationen. Derartige Einschränkungen der Versammlungs-, auch der Meinungsfreiheit – etwa durch die Kriminalisierung von Parolen –, dürfen aber in einer pluralistischen Demokratie allenfalls das letzte Mittel sein. Auch die Reichweite von Kunst- und Wissenschaftsfreiheit wird anlässlich einer Debatte über eine umfängliche Definition von Antisemitismus und ihre verbindliche Anwendung durch staatliche Behörden auf teils besorgniserregende Weise neu verhandelt.
Wenig Beachtung fanden 2023 erneut soziale Grundrechte. Der Verfassungssatz »Eigentum verpflichtet« ist selten Richtschnur der Gesetzgebung und fristet auch in der Rechtsprechung ein Nischendasein. Dies geht insbesondere zu Lasten von Mieter*innen, die von Eigenbedarfskündigungen betroffen sind und angesichts einer immer drängenderen Wohnungsnot teils buchstäblich auf der Straße stehen. Die Debatte über die Einführung einer Kindergrundsicherung hat darüber hinaus gezeigt, dass steigende Armut vor allem von Alleinerziehenden und Mehrkinderfamilien weder in ihrer grundrechtlichen Dimension noch in ihren Auswirkungen auf die soziale Demokratie ernst genommen wird. Der alte Reflex, Haushaltsprobleme des Staates nicht über die Einnahmenseite, sondern mittels Kürzungen auf der Ausgabenseite, vor allem im Sozialbereich, zu lösen, scheint auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse zu wirken. Dieses lässt dem demokratisch legitimierten Haushaltsgesetzgeber kaum Spielräume bei der Kreditaufnahme zur Finanzierung von Energie- und Mobilitätswende sowie der Erneuerung einer durch Jahre der Austeritätspolitik vernachlässigten öffentlichen Infrastruktur. Gesellschaftliche Konflikte um die Verteilung von Wohlstand und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen werden uns deshalb auch im kommenden Jahr weiter beschäftigen.
Kirstin Drenkhahn
Gefangenenentlohnung und Resozialisierungsgebot
Strafgefangene sind schon seit fast 500 Jahren, seit der Einführung der ersten Vorläufer der modernen Gefängnisse, mit dem Ziel der Integrierung in die Gesellschaft zur Arbeit verpflichtet. Die Entlohnung der Gefangenen war schon immer sehr gering, sollte aber den Wert von Arbeit verdeutlichen. Ob das funktioniert, weiß man bis heute nicht. Am 20. Juni 2023 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden (Az. 2 BvR 166/16, 2 BvR 1683/17), dass nicht nur die aktuelle Gefangenenentlohnung in Deutschland zu niedrig ist, sondern auch, dass die Arbeit von Strafgefangenen nicht nachvollziehbar in ein gesetzliches Resozialisierungskonzept eingebunden ist. Das wäre aber erforderlich, um den mit der Arbeitspflicht verbundenen Eingriff in die Grundrechte von Gefangenen zu rechtfertigen. Ausgangspunkt waren die Verfassungsbeschwerden zweier Strafgefangener aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Das Gericht erklärte die Regelungen zur Gefangenenentlohnung in beiden Landesstrafvollzugsgesetzen für mit dem Resozialisierungsgebot aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG nicht vereinbar. Die Entscheidung hat aber für alle Bundesländer Folgen. Sie haben nun bis zum 30. Juni 2025 Zeit, ihre Strafvollzugsgesetze zu überarbeiten.
Seit rund 20 Jahren ist die Arbeitsentlohnung für Strafgefangene folgendermaßen ausgestaltet: Die Gefangenen haben keinen Arbeitsvertrag oder ähnliches und werden deshalb nicht nach Tarif bezahlt. Stattdessen erhalten sie eine sehr geringe finanzielle Entlohnung und in den meisten Bundesländern Tage, an denen sie nicht arbeiten müssen und die auf den Entlassungstermin angerechnet werden können. In den meisten Bundesländern besteht eine Arbeitspflicht (Ausnahmen: Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen). Arbeitsverweigerung kann mit einer Disziplinarmaßnahme bestraft werden. Diese mit Zwang durchsetzbare Pflicht ist in Artikel 12 Absatz 3 GG ausdrücklich als Ausnahme vom Verbot der Zwangsarbeit vorgesehen, weil Strafgefangene eben schon immer (siehe oben) arbeiten mussten und man sich Gefängnisse ohne Arbeitspflicht nicht vorstellen kann.
Die Berechnung der finanziellen Entlohnung ist kompliziert: Sie beträgt 9 Prozent des Durchschnittsentgelts der gesetzlichen Rentenversicherung. Das bezeichnet man als Eckvergütung. Für 2023 kommt man so für Strafgefangene auf einen Tagessatz von 14,67 Euro im Westen und 14,21 Euro im Osten. Die Vergütung wird nach der Schwierigkeit der Tätigkeit und der Leistung gestaffelt und kann deshalb weniger oder mehr als die Eckvergütung betragen. Der tatsächliche Durchschnittslohn für Gefangene ist nicht bekannt.
Das BVerfG hat bereits in den 1970er Jahren entschieden, dass Strafgefangene einen Anspruch auf Resozialisierung haben, abgeleitet aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 1 GG). Die Arbeit wird zwar als wichtige Resozialisierungsmaßnahme angesehen. Es gibt aber weder ein bestimmtes verfassungsrechtlich vorgegebenes Resozialisierungsprogramm, noch ist bekannt, wie Arbeit und Arbeitsentlohnung dazu beitragen.
In Deutschland gibt es bisher dazu keine Forschung. Zurzeit untersucht zwar in Nordrhein-Westfalen ein sehr großes Projekt die Wirksamkeit von Resozialisierungsmaßnahmen, allerdings nur von schulischen und beruflichen Bildungsmaßnahmen und nicht von Arbeit als solcher. Forschung zu Resozialisierungskonzepten kommt vor allem aus dem englischsprachigen Ausland, was bedeutet, dass die Rezeption durch die Praxis in Deutschland davon abhängt, ob diese Erkenntnisse bei uns überhaupt bekannt sind und gegebenenfalls übersetzt wurden.
Dem BVerfG ist anlässlich der beiden Beschwerden, über die nun entschieden wurde, gewissermaßen der Kragen geplatzt. Das Urteil ist zwar ausgewogen und trägt allen möglichen Bedenken Rechnung, bietet aber keine Bedienungsanleitung oder Vorlage für ein Gesetz an. Es wird nur immer wieder hervorgehoben, dass im Gesetz ein wirksames und in sich stimmiges Resozialisierungskonzept erkennbar sein muss, in das die Regeln zur Arbeitsentlohnung schlüssig eingebettet sein müssen. Das BVerfG hatte schon in der ersten Entscheidung zur Gefangenenvergütung (Urteil vom 1.7.1998, Az. 2 BvR 441/90 u.a., BVerfGE 98, 169) und im Urteil zur gesetzlichen Grundlage des Jugendstrafvollzugs (vom 31.5.2006, Az. 2 BvR 1673/04, BVerfGE 116, 69) festgehalten, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, »ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen«, dann aber vor allem den weiten Gestaltungsspielraum hervorgehoben, der dem Gesetzgeber bei der Umsetzung viel Freiheit lässt.
Diesen Gestaltungsspielraum gibt es auch nach der aktuellen Entscheidung, wie bereits an der Aufzählung der vielen zum Teil gegenläufigen Aspekte erkennbar wird, die nach Ansicht des BVerfG bei der Bestimmung der Höhe der Arbeitsentlohnung eine Rolle spielen können. Zu diesen Aspekten gehört z.B. die Verdeutlichung des Werts der Arbeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts, zur Erfüllung von Unterhaltspflichten, zum Ausgleich von Tatfolgen, zum Schuldenabbau, zum Geldverdienen für den Einkauf, zum Erlernen des eigenverantwortlichen Umgangs mit Geld, zur (teilweisen) Begleichung der Kosten des Vollzugs oder der Verfahrenskosten. Aber anscheinend sah das BVerfG sich jetzt veranlasst, sehr viel deutlicher zu werden. Nun wird die Umsetzung des Resozialisierungskonzepts umfangreich hergeleitet. Außerdem werden Anforderungen auch auf diejenigen Bundesländer ausgeweitet, in denen es bisher keine Arbeitspflicht im Vollzug gibt.
Das BVerfG hat die Regeln zur Arbeitsentlohnung nicht für verfassungswidrig, sondern für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Dadurch wird vermieden, dass diese Regeln sofort nichtig werden und nicht mehr gelten, was zu einer Reihe von Folgeproblemen führen würde (z.B. wie mit den bisher bezahlten, zu geringen Vergütungen umgegangen werden soll). Mit einer solchen Entscheidung ist immer eine Fristsetzung zur Behebung des nicht verfassungsgemäßen Zustandes verbunden, hier bis zum 30. Juni 2025. Bis dahin gelten die alten Regeln weiter. Außerdem müssen die Bundesländer bis dahin ihre Strafvollzugsgesetze so geändert haben, dass ein wirksames, in sich schlüssiges und am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept erkennbar ist, in das Arbeit und Arbeitsentlohnung so eingebettet sind, dass die damit verfolgten Zwecke widerspruchsfrei und im Gesetz erkennbar sind. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, weil es keine Vorbilder gibt. Gerüchten zufolge sehen einige Bundesländer nicht ein, warum sie etwas ändern sollen. Auch müssten der politischen Ebene wissenschaftliche Erkenntnisse zum Strafvollzug eher untergejubelt werden, als dass sie sie ausdrücklich einfordert.
Hinzu kommt, dass es in den bisherigen Strafvollzugsgesetzen mit dem Vollzugsziel und den Gestaltungsgrundsätzen zwar Programmsätze gibt. Aber aus diesen Normen ist eben gerade kein konkretes Resozialisierungskonzept erkennbar, auch wenn aus den Justizministerien zu hören ist, dass hier ein bestimmtes Konzept verfolgt wird, das auf die Verringerung von Rückfallrisiken abzielt. In den überarbeiteten Gesetzen wird es jedoch im Gesetzestext selbst eine konkrete Ausformulierung des Konzepts geben müssen. Man darf gespannt sein.
Drenkhahn, Kirstin: Gefangenenarbeit und Resozialisierung, in: Forum Strafvollzug 2022, Heft 3 und 4, S. 176ff. (Teil 1) und 276ff. (Teil 2).
Kriminologischer Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen: Projekte des Kriminologischen Dienstes NRW, http://www.justiz.nrw/Gerichte_Behoerden/landesjustizvollzugsdirektion/statistik_und_forschung/projekte_des_krimd_/index.php
Rosemarie Will
Seit das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Februar 2020 das 2015 eingeführte Verbot der »geschäftsmäßigen« Suizidassistenz nach § 217 STGB aufgehoben hat, ist verfassungsrechtlich anerkannt: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 i.V.m. Artikel 1 Absatz 1 GG) als Ausdruck persönlicher Autonomie umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches die Freiheit zum Suizid mit passiver Hilfe Dritter einschließt. Seither ist der assistierte Suizid in Deutschland wie seit der Einführung des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 wieder straffrei (siehe Will, Grundrechte-Report 2021).
Am 6. Juli 2023 sind im Bundestag zwei Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidhilfe gescheitert. Zudem hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Urteil vom 7. November 2023 (Az. 3 C 8.22 u.a.) einen Anspruch auf Zugang zum tödlichen Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital (Na-P) für Suizidwillige abgelehnt. Damit bleibt die Selbstbestimmung Sterbender beim assistierten Suizid defizitär.
Der interfraktionelle Entwurf der Abgeordneten Lars Castellucci, Ansgar Heveling u.a. (BT-Drs. 20/904), der mehrheitlich von Abgeordneten der CDU und CSU unterstützt wurde, war ein Wiedergänger des verfassungswidrigen § 217 STGB. Er wollte erneut die »geschäftsmäßige Suizidassistenz« unter Strafe stellen. Verboten werden sollte nicht etwa die bezahlte Suizidassistenz, sondern die wiederholte Hilfe zur Selbsttötung von Organisationen, Vereinen und Einzelpersonen. Nur ausnahmsweise, wenn in zwei Untersuchungen und einem sich anschließenden Beratungsgespräch festgestellt worden war, dass »keine die autonome Entscheidungsfindung beeinträchtigende psychische Erkrankung vorliegt und nach fachlicher Überzeugung das Sterbeverlangen freiwilliger, ernsthafter und dauerhafter Natur ist«, sollte die Suizidassistenz erlaubt sein.
Das folgte der Regelung zum Schwangerschaftsabbruch in § 218 STGB, obwohl es beim Suizid nicht um den Schutz fremden Lebens geht. Das Leben der Person sollte paternalistisch gegen ihre eigenen Entscheidungen geschützt werden. Bei der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages im November 2022 hielten vier von fünf juristischen Sachverständigen diesen Entwurf für verfassungsrechtlich bedenklich: Er kriminalisiere die Suizidhilfe weiterhin grundsätzlich und lasse die Grundrechtsausübung beim assistierten Suizid nur ausnahmsweise zu. Zudem werde ein nicht leistbares Untersuchungs- und Beratungsprogramm vorgeschrieben, welches die Suizidentscheidung pathologisiere.
Der damit konkurrierende interfraktionelle Antrag der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr und Renate Künast für ein »Gesetz zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben und zur Regelung der Hilfe zur Selbsttötung« (BT-Drs. 20/7624) außerhalb des Strafrechts wurde mehrheitlich unterstützt von Abgeordneten der FDP, der Grünen, der SPD und der Linken. »Jeder, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben eigenhändig beenden möchte«, sollte danach das Recht haben, »Hilfe in Anspruch zu nehmen«. Der Entwurf sah die Verschreibung eines tödlichen Mittels von einem Arzt oder einer Ärztin des Vertrauens für Erwachsene vor, regelte aber als Voraussetzung eine vorherige verpflichtende Beratung. Damit sollten Rechtssicherheit hergestellt und durch das unentgeltliche Beratungsangebot und die ärztliche Verschreibung des tödlichen Mittels zwar den Sterbehelfenden und Sterbehilfevereinen das Wasser abgraben werden, aber ihre Tätigkeit sollte nicht strafbar sein. Suizidhilfe sollte als »Gewinnveranstaltung« von Sterbehilfevereinen weitgehend überflüssig und streng geregelt werden. Dazu ermächtigte der Gesetzentwurf die Bundesregierung, mittels Verordnungen Melde- und Dokumentationspflichten, eine sichere Aufbewahrung der Arznei- und/oder Betäubungsmittel, die Einführung von Zuverlässigkeitsprüfungen sowie Vergütungssätze und Evaluationsvorschriften zu regeln.
Beide Entwürfe erhielten keine Mehrheit, weil die AfD-Abgeordneten geschlossen gegen beide Entwürfe stimmten; sie waren in die interfraktionelle Arbeit nicht einbezogen worden. Die Abstimmungsergebnisse für Castellucci/Heveling (von 690 abgegebenen Stimmen nur 304 Ja- und 363 Nein-Stimmen bei 23 Enthaltungen) und für Helling-Plahr/Künast (von 682 abgegebenen Stimmen nur 287 Ja- und 375 Nein-Stimmen bei 20 Enthaltungen) zeigen, dass die Unterstützenden jedes Entwurfs geschlossen gegen den Konkurrenzentwurf stimmten, plus alle Abgeordneten der AfD. Damit war die AfD nicht nur wie vielfach befürchtet Mehrheitsbeschafferin, sondern verhinderte alles.
Angesichts dieses Scherbenhaufens fragt es sich nun, wozu es eigentlich einer gesetzlichen Regelung der Suizidhilfe bedarf, wenn ein freiverantwortlicher Suizid und die Inanspruchnahme der Hilfe Dritter durch das grundrechtliche Selbstbestimmungsrecht geschützt sind? Sicher bedarf es dazu keines strafrechtlichen Verbotes. Jede Beeinträchtigung der Freiverantwortlichkeit beim Suizid kann mit dem geltenden Strafrecht als Tötungsdelikt geahndet werden. Wird also gesetzlich nur klargestellt, was ohnehin gilt? Das Parlament kann auch hier spezielle Sicherheits- und Ordnungsvorschriften schaffen und Beeinträchtigungen des grundrechtlich geschützten Handelns beseitigen, ähnlich wie es im Versammlungsrecht für die Demonstrationsfreiheit geschieht. Wie dort besteht aber dabei die Gefahr, die grundrechtliche Freiheit unverhältnismäßig einzuschränken, weshalb Konfliktfälle regelmäßig erst durch das BVerfG entschieden werden. Dies würde für alle verpflichtenden Regelungen über den freiverantwortlichen Suizid gelten, also auch für die zwingende Beratung, wie sie im Entwurf von Helling-Plahr/Künast vorgesehen war.
Mit dem Scheitern der Entwürfe unterblieb die Legalisierung des Zugangs zum Medikament Na-P. Auch der Entwurf Castellucci/Heveling sah vor, die entgegenstehende Regelung des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) aufzuheben. Derzeit benötigt man nach § 3 BtMG für den Erwerb von Na-P eine Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Diese darf aber nach § 5 Absatz 1 Nr. 6 BtMG nur erteilt werden, wenn »die Art und der Zweck« der Arzneimittelanwendung mit dem Zweck des BtMG vereinbar sind. Dieser besteht u.a. darin, »die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, daneben aber den Missbrauch von Betäubungsmitteln soweit wie möglich auszuschließen«.
Eine solche therapeutische Zielrichtung habe die Beendigung des eigenen Lebens nicht, urteilte das BVerwG im November 2023. Das BVerwG erkennt zwar an, dass § 3 Absatz 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Absatz 1 Nr. 6 BtMG die Freiheit, selbstbestimmt zu sterben, einschränkt, weil die Betroffenen jedenfalls nicht mit Hilfe von Na-P, dem derzeit sichersten Mittel für die Selbsttötung, sterben können. Es hält diese Einschränkung aber für gerechtfertigt, d.h. Ärztinnen und Ärzte dürfen es nicht verschreiben und Apotheken nicht verkaufen. Den Betroffenen stünden legale Alternativen zur Verfügung, argumentiert das BVerwG. Damit gemeint ist, dass man sich andere Medikamente ärztlich verschreiben lassen kann, deren Kombination suizidal wirkt, oder dass man die Hilfe von Sterbehilfeorganisationen in Anspruch nehmen kann, die das tödliche Mittel mit ärztlicher Hilfe »beschaffen«.
Das BVerwG hat eine extreme Notlage nicht anerkannt, in der Sterbewillige einen Anspruch auf Na-P haben, wie es das BVerfG 2017 als verfassungskonforme Auslegung des BtMG entwickelte hatte (siehe Will, Grundrechte-Report 2018). Stattdessen hat es auf die beschriebenen Alternativen und den Gesetzgeber verwiesen, der einen solchen Zugang regeln könne. Da der aber gerade gescheitert ist, wird die Auseinandersetzung nun vor dem BVerfG weitergehen: Die unterlegenen Sterbewilligen haben Verfassungsbeschwerde erhoben.
Lüders, Sven: Die Praxis der Sterbehilfeorganisationen nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: vorgänge Nr. 229 (Heft 1/2020), S. 107–111.
Hilgendorf, Eric: Die Stellungnahme der deutschen Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer zur Neuregelung der Sterbehilfe, in: vorgänge Nr. 210/211 (Heft 2–3/2015), S. 99–104.
Kalle Hümpfner/Tuuli Reiss
Seit Jahren wird die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes diskutiert. Die Ampelregierung griff das Vorhaben im Koalitionsvertrag 2021 auf und vereinbarte: »Wir werden das Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen.« Seither wurden Eckpunkte für ein Selbstbestimmungsgesetz präsentiert (Juni 2022), ein Referent*innen-Entwurf vorgelegt (Mai 2023), ein Beschluss im Kabinett gefasst (August 2023) und die erste Lesung sowie eine Ausschussanhörung im Bundestag durchgeführt (November 2023). Doch trotz dieser Fortschritte im Gesetzgebungsverfahren herrscht in trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Communities keine Feierstimmung.
Aktuell kann die Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen entweder über das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG