Grünes Gold - Luca Ventura - E-Book

Grünes Gold E-Book

Luca Ventura

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Beschreibung

Ein junger Mann kommt eines Morgens tot im Sessellift auf dem Monte Solaro an. Jemand muss von unten aus der sonnenverbrannten Macchia auf ihn gezielt haben. Die erste Spur führt in einen Olivenhain, der ein altes Geheimnis birgt. Während die Kriminalpolizei von Neapel einen spezialisierten Suchtrupp schickt, stoßen die Inselpolizisten Enrico Rizzi und Antonia Cirillo in ihrem neusten Fall auf extravagante Ideen rund um kostbares Olivenöl – und auf einen Baum mit einer Olivensorte, die es nur hier auf Capri gibt. Und für die manche Menschen töten würden.

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Luca Ventura

Grünes Gold

Der Capri-Krimi

roman

Diogenes

»Bin ich zu spät?«, fragte er und klammerte sich mit einer Hand am Türrahmen fest. Für einen irrsinnigen Moment hoffte er, sie würde sagen: Ja. Sie sind zu spät. Tut mir leid.

Stattdessen nahm die Dottoressa ein Klemmbrett vom Tisch und sagte, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen: »Kommen Sie.«

Er folgte ihr den Gang hinunter an Türen vorbei, hinter denen kranke, alte und sterbende Menschen lagen, und fragte sich, was er sich schon auf seiner Zugreise und auf der Taxifahrt quer durch die Stadt gefragt hatte: Was sollte er seiner Mutter sagen, falls sie noch einmal zu Bewusstsein kam? Dass er ihr verzieh? Dass er sie liebte? Sollte er ihr zuliebe lügen? Und würde sie ihn überhaupt erkennen?

Wahrscheinlich würde sie ihm Vorwürfe machen wie jedes Mal, wenn er sich aufraffte und sie doch mal aus der Kanzlei anrief oder aus dem Gericht, zwischen zwei Terminen mit entsprechender Geräuschkulisse, damit er sich jederzeit herausreden und sagen konnte: Mamma, ich muss Schluss machen. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst – wohl wissend, dass sie ihn niemals an- oder zurückrufen würde.

Die Dottoressa öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Das fiel ihm noch auf, genauso wie der seidige Schimmer ihrer Haare, ihr glitzernder Ohrstecker und dass der Lack rund um die Türklinke herum abgeplatzt war. Als würde er bis zur letzten Sekunde alles wahrnehmen, um den Moment des Wiedersehens hinauszuzögern und nicht den Blick heben zu müssen.

Was er dann sah, waren Apparate und Monitore, die wie eine kleine Familie um ihr Bett herum aufgestellt waren und in einem geschäftigen Rhythmus piepten und schnauf‌ten. Er kam sich in dieser Runde überflüssig und fehl am Platz vor, wie bei einer Unterhaltung, zu der er nichts beizutragen hatte. Erst unter dem fragenden Blick der Dottoressa sah er sich gezwungen näher zu treten.

Die weiße Bettdecke war so flach, als würde gar nichts darunterliegen. Aber aus dem Kopfkissen ragte etwas Spitzes heraus, die Nase. Sie war ihm fremd. Panik erfasste ihn. Er wollte sich umdrehen, zur Dottoressa sagen, dass es sich um einen Irrtum handelte, um eine Verwechslung, dass diese kleine, in sich zusammengefallene Person eine Unbekannte war, mit der er nichts zu tun hatte – als sich plötzlich in dem verrunzelten, von Altersflecken übersäten Gesicht ein Auge öffnete und ihn anschaute. Sie hatte das Sterben aufgeschoben und auf nichts anderes gewartet als auf diesen Moment, da er an ihr Bett treten würde.

»Zehn Minuten«, sagte die Dottoressa mit dem Klemmbrett an den Monitoren, den Blick auf Zahlen von Herz- und Pulsfrequenzen gerichtet, die sie in aller Ruhe in eine Tabelle eintrug. Das abschließende Klicken ihres Kugelschreibers schien die Bestätigung zu sein, dass in ihrer Welt, in der sie die Knöpfe drückte, alles in Ordnung war.

Bitte, wollte er rufen, Dottoressa, gehen Sie nicht weg. Aber über seine Lippen kam kein Laut. Die Tür klappte, und er war mit seiner Mutter allein.

Ihre Augen waren wieder geschlossen. Je länger er ihr Gesicht betrachtete, die Bitterkeit und das Unerbittliche darin sah, umso vertrauter wurde es ihm. Nur die Kraft, mit der sie ihn verprügelt hatte, und die ungeheure Energie, von der sie sich bei all den Fehlentscheidungen in ihrem Leben hatte leiten lassen, waren daraus verschwunden. Stattdessen kam ein ganz neuer Zug an seiner Mutter zum Vorschein: eine Schwäche und Verletzlichkeit, und ihn überkam ein unerhörter Gedanke.

Er würde nicht drücken oder pressen, sondern das Kissen sanft auf ihr Gesicht legen und schauen, was passiert. Zehn Minuten, hatte die Pflegerin gesagt. Wenn seine Mutter es schaffte, hätte sie gewonnen. Wenn nicht, wäre es vorbei. Ein für alle Mal.

Doch auf einmal bewegten sich ihre trockenen Lippen. »Komm näher, Alessandro«, flüsterte sie. »Näher.«

Er gehorchte. Ihr Atem rasselte wie bei einer Maschine, die verschlissen und nicht mehr zu reparieren war.

»Du musst etwas wissen.« Der Apparat neben ihr half ihr, die Worte herauszupressen. »Dir gehört – ein Grundstück.«

»Wovon sprichst du, Mamma?«, fragte er. »Mir gehört kein Grundstück.«

»Doch«, beharrte sie. »Ein Grundstück.« Ganz kurzatmig war sie und schien all ihre Kräfte zu mobilisieren. »Von deinem Vater.«

»Wovon redest du?«, fragte er heiser. Sie hatte noch nie von seinem Vater gesprochen. Er kannte diesen Mann nicht.

»Dein Vater«, wiederholte sie matt und pustete. »Er hatte ein Grundstück. Da steht ein Baum. Ein Olivenbaum. Ein besonderer.« Sie pustete wieder, bewegte weiter ihre Lippen, ohne dabei ein Wort hervorzubringen.

»Mamma?« Er kam ihr so nahe, dass er etwas Säuerliches roch und noch etwas, für das er kein Wort hatte. Vielleicht war es der Tod.

»Wo ist dieses Grundstück?«, fragte er und legte sein Ohr fast auf ihren Mund.

Er spürte ihren letzten Atemzug, mit dem sie hauchte: »Auf Capri.«

1

Der Morgen dämmerte. Auf den Blättern glitzerten Tautropfen, und die Erde war feucht, als Rizzi im Gemüsebeet bei den Auberginen anlangte und auf etwas stieß, das merkwürdig oder zumindest ungewöhnlich war.

Der Granatapfel leuchtete rot zwischen den dunklen Auberginen und sah aus, als wäre er vom Himmel gefallen. Die Frucht war mehrere Meter gekullert und die dicke Schale aufgeplatzt. Aus dem Spalt quollen die roten Kerne hervor und blinkten im ersten Tageslicht wie kostbare Rubine.

Der erste Granatapfel Anfang Oktober? Rizzi konnte sich nicht erinnern, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Seinem Vater ging es genauso.

»Gleich haben wir es geschafft«, ächzte Vito und wuchtete den Fenchel auf die Ladefläche.

Die Ausbeute an diesem Morgen war absolut zufriedenstellend: Fünfzehn Kisten mit Auberginen, Zucchini, Fenchel und Kartoffeln waren es insgesamt. Nur bei den Tomaten sah es traurig aus: Gerade mal siebzig Fläschchen waren beim Einkochen am Wochenende zusammengekommen. Im vergangenen Jahr waren es noch hundertzwanzig gewesen, davor hundertachtzig, und wenn man Vito glaubte, waren es früher immer über zweihundert gewesen. Die Sommermonate waren einfach heißer und trockener geworden, die Pflanzen verbrannten teilweise regelrecht. Manche trugen gar keine Früchte und viele nur ganz kleine.

Rizzi pfiff nach dem Hund, der zwischen den Weinreben und Orangenbäumen durch den Garten stromerte, und verriegelte die Klappe, nachdem Romeo auf die Ladefläche gesprungen war.

Dann stieg Rizzi vorne auf der Beifahrerseite ein und rutschte in der engen Fahrerkabine der dreirädrigen Ape auf das Sitzbänkchen neben Vito, der den Motor startete. Es war der Beginn eines ganz normalen Tages.

 

Zweieinhalb Stunden später waren sie am Ende ihrer Tour angekommen und hielten in der Via Pino bei ihrem letzten Kunden, der Trattoria Uliveto, außerhalb von Anacapri.

Bepackt mit zwei Kisten Gemüse und begleitet vom Hund, stieß Rizzi mit der Hüfte die Gartentür auf und stieg die Treppe zur Restaurantterrasse hinauf. Oben angekommen, stellte er kurz die schweren Kisten auf der Balustrade ab und verschnauf‌te. In der Ferne, zwischen den silbrig grünen Blättern der Olivenbäume, schimmerte das Meer und bildete am Horizont einen Streifen, der nur in der Morgensonne von einem so durchscheinenden edlen Blau war. Am Himmel zeigte eine lockere Kette aus Schäfchenwolken an, dass es auch an diesem Tag wieder nur Sonnenschein und keinen einzigen Regentropfen geben würde.

Romeo hatte seine Vorderpfoten über die Mauer gelegt, schaute in den Olivenhain hinunter und stellte die Ohren auf.

»Lass die Vögel in Ruhe.« Rizzi hob die Kisten wieder an. »Sie sind sowieso schneller als du.«

Er trug die Ware hinunter in den Hof, ein Freundschaftsdienst, um Claudia das Schleppen zu ersparen, schnappte sich die leeren Gemüsekisten, die von der letzten Lieferung zum Abholen bereitstanden, und stieg die Treppe wieder hinauf, Stufe für Stufe, während er hörte, wie irgendwo eine Tür oder ein Fenster zuknallte. Als er oben auf der Terrasse ankam, war der Hund verschwunden.

»Romeo!« Rizzi fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und murmelte: »Was ist denn heute mit dir los?«

Der Hund tauchte hinter den Brombeerbüschen auf und jagte zwischen den Olivenbäumen kläffend hinter einer schmalen Gestalt her, die wie in Panik davonrannte. Rizzi fluchte. Wer sich hier nicht auskannte und den falschen Abzweig nahm, stieß schnell an die Klippen und lief Gefahr, in die Tiefe zu stürzen.

»Vorsicht!« Rizzi legte seine Hände wie eine Flüstertüte an den Mund. »Da ist ein Abhang!«

Statt stehen zu bleiben oder sich wenigstens umzudrehen, rannte die Person weiter.

»Romeo! Komm sofort her!« Rizzi sprang über die Mauer, landete tiefer als gedacht und rappelte sich auf.

»Bleiben Sie doch stehen!«, rief er und rannte, bis er an den Klippen angekommen war. Schwer atmend blieb er stehen. Unter ihm donnerte das Meer, schlug in hohen Wellen an die Felsen, schäumte und spritzte, aber von dem Menschen war nichts zu sehen. Nur Romeo kam hechelnd angelaufen. Der Typ konnte eigentlich nur durch den Olivenhain zurückgelaufen sein.

»Was ist los mit dir?«, fragte Rizzi und gab dem Hund einen Klaps auf die nasse Schnauze.

Als Rizzi auf dem Rückweg zwischen den Bäumen hindurchging, schaute er nach oben, wo die Zweige voller Oliven hingen, die langsam ihre schwarze Färbung bekamen und dringend geerntet werden mussten.

»Was ist passiert?« Vito lehnte mit einem Zigarillo im Mundwinkel an der Ape.

»Romeo hat jemanden gejagt.« Rizzi schob die leeren Kisten auf der Ladefläche zurecht. »Der hatte ganz schön Angst vor unserem Wilden hier.«

Der Hund sprang hinten auf, und Rizzi verriegelte die Klappe.

»Vielleicht war der Typ auf der Suche nach einer einsamen Badebucht, oder er hat sich verlaufen«, meinte Vito abschätzig und startete den Motor. »Was streifen die Leute auch ständig durch die Landschaft, ohne sich auszukennen?«

 

Gegen 9.30 Uhr stoppte Vito vor der Rampe zum Polizeiposten, und Rizzi stieg aus. Er angelte die Tüte mit seiner Uniform von der Ladefläche, klopf‌te zum Abschied aufs Blechdach und mahnte, als er sich zu seinem Vater in der Fahrerkabine hinunterbeugte: »Denk an dein Kreuz, Papà. Ruh dich ein bisschen aus.«

Er war eine halbe Stunde zu spät, als er die Rampe hinunterging und noch sah, wie sein Vater bei Alberto an der Roxy Bar hielt.

Im Polizeigebäude war der Empfang im Vorraum nicht besetzt und der Durchgang zum großen Dienstzimmer verschlossen. Rizzi tippte mit einem unguten Gefühl den Code ein und aktivierte den Öffner. Als er die Tür aufzog, blieb er überrascht stehen.

Auf Teresas Schreibtisch, der den Durchgang zu den hinteren Arbeitsplätzen blockierte, stand kein Obstteller. Die Wasserkaraffe war leer, und über der Tastatur von Teresas Computer lag noch das Geschirrtuch, das sie darüberbreitete, bevor sie abends in den Feierabend ging. Auch Rizzis Kollegin Antonia Cirillo war nicht an ihrem Platz. Beides war ungewöhnlich und seltsam.

Rizzi tauschte im Abstellraum seine verdreckte Gartenhose gegen die Uniformhose, zog sein T-Shirt aus und das Polizeihemd an und versuchte sich zu erinnern, ob und wann es schon einmal vorgekommen war, dass er als Erster und Einziger zum Dienst erschien. Irgendwann einmal, vielleicht vor zehn Jahren, hatten alle gleichzeitig mit Grippe flachgelegen, einschließlich des Ispettore. Aber jetzt, Anfang Oktober, bei angenehmen Temperaturen, war doch niemand krank.

Als Rizzi in seine Schuhe stieg und die Schnürsenkel zuband, begann auf Teresas Schreibtisch der Festnetzapparat zu klingeln, und Kollege Matteo Savio kam aus dem Waschraum.

Rizzi war in wenigen Schritten am Telefon, nahm den Hörer ab und rief, während er sich das Polizeihemd in die Hose stopf‌te: »Pronto!«

Am anderen Ende war Stimmengewirr zu hören und weiter entfernt ein Kreischen, wahrscheinlich Kinder.

»Bin ich am Polizeiposten Capri?«, fragte eine männliche Stimme, während der Lärm im Hintergrund leiser wurde. »Spreche ich mit dem Agente?«

»Am Apparat«, bestätigte Rizzi. »Ich bin Agente Rizzi. Und wer sind Sie?«

»Mario.«

»Mario«, wiederholte Rizzi. »Worum geht’s?«

»Mario Valente. Ich habe eine Meldung zu machen. Ich habe so etwas noch nicht erlebt.«

»Ich höre.« Rizzi setzte sich, nahm einen Stift zur Hand und stellte den Apparat auf Lautsprecher.

Am anderen Ende war nur ein leises Schnaufen zu hören. Savio kam näher und senkte aufmerksam den Kopf.

»Ich bin an meinem Arbeitsplatz am Sessellift«, erklärte Mario Valente. »An der Talstation der seggiovia. Ich habe den Betrieb eingestellt. Ich sehe keine andere Möglichkeit.«

»Signor Valente«, sagte Rizzi. »Was ist passiert?«

»Im Sessellift ist jemand gestorben.«

»Im Sessellift?«, wiederholte Rizzi überrascht. »Hatte der Mann einen Herzinfarkt?«

»Ich weiß es nicht. Der Mann ist eben noch an mir vorbei durch die Sperre gegangen und war quicklebendig. Sie müssen sofort kommen.«

2

Das Gebäude der seggiovia an der Piazza Vittoria war ein weiß gestrichener Kuppelbau mit einem Bild an der Fassade, das aus bunten Kacheln bestand und eine Frau mit Sonnenhut zeigte, die im Sessellift, beinahe lebensgroß, über eine grüne Landschaft schwebte.

Rizzi setzte seine Sonnenbrille auf, und Savio tat es ihm nach. Seit der Kollege einen Dreitagebart trug, sah sein rundes Gesicht etwas kantiger aus. Die Leute, die im Schatten unter der Pergola auf den Bus warteten, starrten respektvoll herüber, als Rizzis Telefon in der Brusttasche zu klingeln begann.

»Wo seid ihr?«, fragte Teresa Villa am anderen Ende und klang beinahe so, als wäre Rizzi ihr eine Erklärung schuldig.

»In Anacapri«, antwortete Rizzi. »Und wo warst du heute Morgen? Hast du gehört, was passiert ist? An der seggiovia wurde ein Toter gemeldet. Keiner weiß, was los ist, und außer Savio und mir war niemand verfügbar.«

»Und wo ist Cirillo?«, fragte Teresa.

»Keine Ahnung. Sag du es mir.«

Teresa am anderen Ende schwieg, und Rizzi erklärte in wenigen Worten, er habe bereits den Dottore verständigt, dem Ispettore eine Nachricht geschickt und Cirillo aufs Band gesprochen. Was er nicht aussprach: Er hatte Teresas verdammten Job erledigt.

»Ich entschuldige mich, dass ich zu spät gekommen bin, und verspreche, dass es nicht wieder vorkommt«, erklärte Teresa geduldig. »Jetzt sag: Was kann ich tun? Soll ich Gatti Bescheid geben?«

»Ich denke, das ist nicht nötig«, antwortete Rizzi versöhnlich. »Lass ihm seinen freien Tag. Savio und ich haben alles im Griff. Ansonsten melde ich mich wieder.«

Rizzi stieg mit Savio die Stufen hinauf zum Eingang vom Sessellift. Ein Kleinkind weinte, Pärchen machten Self‌ies, und Frauen, die in einer Gruppe beisammenstanden, winkten, kicherten und riefen vorwitzig: »Agenti, bitte verhaften Sie uns!«

Der Vorraum war voller Menschen, die Luft stickig, die Kasse nicht besetzt. Ein Mann im Poloshirt mit der Aufschrift Seggiovia Monte Solaro stand am Drehkreuz und machte einen überforderten Eindruck, während ein Typ mit Strohhut ihm zwei Tickets unter die Nase hielt und sich mit hochrotem Kopf und deutschem Akzent erkundigte, wann er nun endlich mit seiner Frau auf den Monte Solaro hinauf‌fahren könne.

»Bitte verlassen Sie die Station!«, rief Rizzi mit lauter Stimme. »Der Betrieb ist bis auf Weiteres eingestellt.«

»Ein Notfall.« Savio bewegte die Arme, als würde er auch hier den Verkehr regeln. »Haben Sie gehört? Gehen Sie bitte raus!« Er holte aus seiner Umhängetasche die Rolle mit dem Absperrband hervor.

Der Mitarbeiter am Drehkreuz hatte sein Basecap verkehrt herum aufgesetzt, gerötete Augen und kleine Schweißperlen auf der Stirn. »Gut, dass Sie da sind«, sagte er, als er für Rizzi den Durchgang öffnete, und stellte sich als Mario Valente vor.

»Wo ist der Tote?«, fragte Rizzi.

»Oben«, antwortete Mario Valente und klang eher empört als fassungslos.

»Oben?«, wiederholte Rizzi überrascht. »Sie meinen, an der Bergstation?«

»Hatte ich das nicht am Telefon gesagt?«

»Nein, aber das ist jetzt egal«, sagte Rizzi, als er Mario Valente über breite Stufen eine Treppe hinauf‌folgte. »Wissen Sie inzwischen, was passiert ist?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, Agente. Alles war wie immer.« Er machte eine Handbewegung, die alles einbegriff. »Alessandro kam wie jeden Morgen mit seiner Thermoskanne hier an. Er war immer der Erste, der auf den Monte Solaro fuhr, grundsätzlich. Und hat einen völlig normalen Eindruck gemacht. Auf mich wirkte er kerngesund.«

»Alessandro heißt der Tote also«, sagte Rizzi. »Und wie ist sein Nachname?«

Mario Valente zuckte die Schultern. »So gut kenne ich ihn nicht. Wir haben nie viel geredet und sind über ein ›Hallo, wie geht’s‹ nie hinausgekommen.«

Sie schauten zu den Sesseln hinauf, die wie Strandstühle aussahen, nur dass sie keinen Bodenkontakt hatten, sondern in gleichmäßigem Abstand hintereinander in der Luft hingen. Die Aufhängung war unter der Sitzfläche befestigt und führte als geschwungenes Rohr seitlich am Sitz vorbei zum Drahtseil hinauf.

»Er wollte also wie jeden Morgen auf den Monte Solaro«, stellte Rizzi fest. »Und was ist dann passiert?«

Mario Valente schaute hinauf auf den Berg, an den Masten entlang, die immer kleiner wurden und sich in der Ferne verloren. »Sein Herz muss irgendwo auf dem Weg einfach aufgehört haben zu schlagen. Als er oben ankam, war er tot.« Er schüttelte fassungslos den Kopf und hatte Tränen in den Augen. »Wenigstens war das Letzte, was er gesehen hat, die wunderschöne Landschaft. Der erhabenste Ausblick der Welt.«

»Was ist oben passiert, als der Tote ankam?«

»Fabrizio war da.« Mario Valente schaute Rizzi an, als wäre damit alles gesagt. »Ich weiß nicht, wie er ihn da oben aus dem Sessel bekommen hat. Fabrizio ist kein Schwächling, aber er hat auch nicht gerade die Statur eines Boxers, und Alessandro war sicher siebzig, achtzig Kilo schwer.«

Rizzi betrachtete die blauen Markierungen auf dem Betonboden, Pfeile und Fußabdrücke, die anzeigten, wo man sich bei der Abfahrt hinzustellen hatte.

»Können Sie den Sessellift für mich in Betrieb nehmen?«, fragte er. »Ich denke, es ist der schnellste Weg, auch für den Dottore, der hier demnächst eintreffen wird.«

»Selbstverständlich, Agente.«

»Wie lange braucht es nach oben?« Rizzi holte sein Telefon hervor.

»Keine fünfzehn Minuten.«

»Savio«, rief Rizzi in den Kassenraum hinunter, wo der Kollege die ratlosen und empörten Touristen beruhigte. »Ich fahre jetzt rauf.« Als Savio näher kam, fügte Rizzi hinzu: »Der Tote befindet sich oben auf dem Monte Solaro.«

Er bat den Kollegen, hier unten an der Sesselliftstation zu bleiben und dafür zu sorgen, dass es am Eingang zu keiner größeren Menschenansammlung kam, und Antonia Cirillo, wenn sie eintraf, auszurichten, sie solle nachkommen.

»Alles klar, Chef«, antwortete Savio.

Rizzi setzte sich in den Sessel, der ihm am nächsten war, und klappte vor seiner Brust den Bügel herunter, der wie eine kleine Schranke einrastete.

»Attenzione!«, rief Mario Valente.

Fast zeitgleich ertönten ein Signal und ein Quietschen, und der Sessellift setzte sich ruckelnd in Bewegung.

Rizzi verlor den Kontakt mit dem Boden, der Sitz an der Stange schwankte hin und her, und Mario Valente hob grüßend die Hand. Die Plattform unter Rizzi entschwand. Terrassen und Dächer tauchten auf und entfernten sich wieder.

Er ließ seinen Blick über die Ebene schweifen, eine sonnenverbrannte Macchia mit Mastixsträuchern und wilden Pistazien, struppigem Ginster und Grüppchen von Steineichen. Die Böschung linker Hand schien streckenweise zum Greifen nahe und bestand aus dornigem Gestrüpp, während rechter Hand Anacapri zu sehen war, kleine weiße Häuser, wie über die Anhöhen gewürfelt. Dahinter schimmerte das Meer in leuchtenden Blautönen, und mittendrin thronte Ischia, die grüne Insel. All das hatte der unbekannte Mann, Alessandro, Stammgast der seggiovia, auf seiner Fahrt auf den Monte Solaro vor nicht mal einer Stunde auch gesehen, bevor er plötzlich gestorben war. Ob er gespürt hatte, dass der Tod nahe war? Ob er in Panik verfiel, aussteigen wollte und noch um Hilfe rief? Oder war er einfach in sich zusammengesackt? Rizzi war sich nicht sicher, ob es hier oben der schönste oder der schrecklichste Ort war, um einen Herzinfarkt zu bekommen.

Die Plattform auf dem Monte Solaro kam in Sicht, eine glatte Betonfläche auf einem steil abfallenden Felsen, von einem Geländer begrenzt. Am Rand befand sich ein grünes Häuschen, das ganz neu aussah, mit großen, modernen Fenstern und einer Tür, die offen war. Davor standen ein Campingtisch, ein Stuhl und ein Mann, der dasselbe Polohemd mit der Aufschrift Seggiovia Monte Solaro trug wie sein Kollege Mario Valente an der Station unten.

»Ich bin froh, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte der Mitarbeiter, der sich als Fabrizio Fabbri vorstellte. Trotz seiner Bräune sah er blass aus, aber er versuchte zu lächeln, als er seine Hand ausstreckte, um Rizzi aus dem Sitz zu helfen.

»Danke. Wo ist der Mann?«, fragte Rizzi, sah jedoch im selben Moment hinter dem Campingtisch zwei Sneaker, die mit den Schuhspitzen nach oben ragten, behaarte Männerbeine und ein weißes Tischtuch, mit dem der restliche Körper bedeckt war.

»Ich hoffe, ich habe nichts falsch gemacht«, stammelte Fabrizio Fabbri und fuhr sich nervös mit der Hand durchs verstrubbelte Haar. »Ich wusste nicht, wohin mit ihm, wollte ihn aber auch nicht einfach in der Sonne liegen lassen. Ich konnte ihn allerdings nicht weit bewegen und nur ziehen.« Der Mann verstummte und starrte fassungslos auf die Sneaker, die Beine und das Tuch, unter dem sich der Körper abzeichnete.

»Sie haben alles richtig gemacht«, sagte Rizzi, bückte sich und hob das Tuch an.

Der Tote hatte ein gebräuntes Gesicht mit glatt rasierten Wangen und einem vorspringenden Kinn, das ihm etwas Energisches gab. Das rotblonde Haar war akkurat geschnitten, in der Mitte gescheitelt und fiel über die geschlossenen Augen. Der Mund war auf‌fallend klein und eine Oberlippe fast nicht vorhanden. Die Unterlippe dagegen sinnlich geschwungen. Rizzi schätzte den Mann auf Mitte dreißig, also auf etwas älter, als er selbst war.

»Wie hat es sich abgespielt, als er hier oben ankam?«, fragte Rizzi und zog das Tuch nun ganz weg. Ein hellblaues Hemd und eine knielange Leinenhose kamen zum Vorschein. »Hat er noch etwas gesagt, oder haben Sie noch mit ihm sprechen können?«

»Kein Wort.« Fabrizio Fabbris Stimme zitterte. »Ich habe zuerst gar nicht geschaltet, als er im Sessellift hier oben ankam, und habe gerufen: Hey, Alessandro, schläfst du? Aufwachen! Ich habe ihn sogar noch aufgezogen, weil ich es in dem Moment einfach nicht geschnallt habe.«

Er presste seinen Handrücken gegen den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, was ihm nicht gelang. »Aber er war schon tot«, stieß Fabrizio Fabbri mit heiserer Stimme hervor. »Verstehen Sie? Er konnte mich nicht mehr hören.«

Rizzi tastete beim Toten die Hosentaschen und aufgenähten Seitentaschen ab, aber sie waren leer. Keine Ausweise, kein Smartphone, nichts.

Fabrizio Fabbri versicherte, er habe den Toten, nachdem er ihn aus dem Sessellift gehievt hatte, nicht angerührt und beim Verstorbenen keine Ausweise und kein Telefon gefunden oder im näheren Umfeld gesehen.

»Kommen Sie«, sagte Rizzi, nachdem er den Toten wieder mit dem Tuch zugedeckt hatte, nahm Fabrizio Fabbri am Arm und führte ihn zum Stuhl. »Setzen Sie sich«, sagte er und fügte hinzu, als der Sessellift wieder anlief: »Der Dottore wird gleich da sein. Wollen Sie etwas trinken?«

Fabrizio Fabbri schüttelte den Kopf. »Bitte entschuldigen Sie, Agente.« Er schluchzte auf. »Ich bin sonst nicht so. Aber dieser Moment, als er mir im Arm lag und ich gemerkt habe, dass er tot ist – das war grauenhaft.« Er atmete tief durch und schien sich etwas zu beruhigen. »Gleichzeitig«, fuhr er stockend fort, »hatte ich kaum Zeit nachzudenken. Ich musste ihn ja irgendwie aus dem Sessellift bekommen. Ich habe ihn gezogen, bin rückwärts gestolpert, und dann ist Alessandro mit seinem ganzen Gewicht auf mich draufgefallen. Da erst habe ich begriffen, dass er wirklich tot ist.« Er starrte auf den grauen Beton und den blau markierten Pfeil und flüsterte: »Dieses Gefühl – das werde ich nie vergessen.«

»Sind Sie hier oben alleine?«, fragte Rizzi und schaute über einen gepflasterten Weg die Treppe hinauf zur Aussichtsplattform, die er schon vom Sessellift aus gesehen hatte.

»Notgedrungen.« Fabrizio Fabbri wischte sich mit dem Unterarm über die Nase. »Wir sind im Moment dünn besetzt.«

»Gab es niemanden, der Ihnen geholfen hat?« Rizzi reichte Fabrizio ein Taschentuch.

»Ich habe die Leute, die nach Alessandro mit dem Sessellift ankamen, gebeten, mit anzufassen. Ich glaube, ich habe sie sogar angeschrien. Aber die haben sich nicht gerührt. Erst als zwei jüngere Typen kamen, konnte ich Alessandro aus dem Weg schaffen. Und dann« – Fabrizio Fabbri schnäuzte sich – »habe ich an der Talstation bei Mario angerufen. Und der hat sofort den Sessellift gestoppt. Es war zum Glück gerade kein weiterer Passagier unterwegs.«

»Wer hat den Toten zugedeckt?«, fragte Rizzi.

Fabrizio Fabbri zog die Schultern hoch, als würde er frösteln. »Das war Annamaria. Sie arbeitet oben im Café.« Mit einer Bewegung seines Kinns deutete er die Richtung an.

Rizzi schaute hinauf und erblickte hinter der Aussichtsplattform ein Café und ein paar Menschen, die dort standen und zu ihnen hinunterschauten, während Fabrizio Fabbri sich bei den Markierungen in Position stellte.

Im Sessellift näherte sich mit baumelnden Beinen eine Person in Uniform. Rizzis Kollegin Antonia Cirillo öffnete den Bügel, um bereit für die Ankunft zu sein.

Fabrizio Fabbri streckte den Arm aus und half ihr aus dem Sitz.

»Buongiorno«, grüßte Cirillo, noch bevor sie festen Boden unter den Füßen hatte, und stellte aufatmend fest, während sie beiseitetrat: »Mit den Beinen so im Nichts, während der ganzen Fahrt – das fühlt sich schon abenteuerlich an.«

Fabrizio Fabbri hatte wahrscheinlich mit einem männlichen Polizeikollegen gerechnet und betrachtete mit offenem Mund Cirillos seidige braune Haare, die unter der Polizeimütze hervorschauten und einen hübschen Kontrast zu ihren Augen bildeten, die einen ganz eigenen veilchenblauen Schimmer hatten.

Rizzi machte Cirillo und Fabrizio Fabbri miteinander bekannt und fasste die Fakten aus der Befragung zusammen, wobei er erwähnte, dass der Verstorbene keine Ausweise, kein Telefon und auch sonst nichts bei sich trug, was ihnen einen Hinweis auf seine Identität hätte liefern können.

»Wir gehen also von einem Herzinfarkt aus«, stellte Cirillo fest, während sie neben dem Leichnam in die Hocke ging und behutsam das Tuch zurückzog. Sie betrachtete das Gesicht des Verstorbenen und murmelte verblüfft: »Was für ein seltsamer Zufall.«

»Wovon sprichst du?«, fragte Rizzi.

Cirillo nahm den Toten bei den Schultern und bewegte den Oberkörper ein wenig zur Seite, erst nach rechts, dann nach links, und versuchte den Kopf, der dabei in Bewegung geriet, festzuhalten.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Rizzi.

Cirillo ging auf die Knie, schlang beide Arme um den Toten, als wolle sie ihn umarmen, und versuchte den Oberkörper weiter anzuheben.

»Gar nichts ist in Ordnung«, sagte sie, während sie den Rücken des Toten betrachtete.

Rizzi kam näher und sah im Rücken, im hellblauen Hemd, ein Loch, das ungefähr die Größe eines Kirschkerns hatte. Der Stoff drum herum war zerfetzt. Aber es war kein Blut zu sehen.

»Ist das ein Einschussloch?«, fragte er ungläubig.

»Für mich besteht kein Zweifel«, antwortete Cirillo. »Der Mann ist während seiner Fahrt auf dem Sessellift erschossen worden.«

3

Über die Aussichtsplattform wehten leere weiße Zuckertütchen und Blütenblätter von Bougainvillea und Oleander in Rot- und Rosatönen, als Rizzi am Geländer lehnte und Teresa Villa am Polizeiposten über die neuesten Erkenntnisse informierte: den Toten namens Alessandro, der im Sessellift, mit einer Schusswunde im Rücken, tot auf dem Monte Solaro ankam. Mögliche Zeugen, die noch kurz nach dem Toten die Bergstation erreichten, hielten sich zur Aufnahme der Personalien und zu einer ersten Vernehmung im Café bereit.

»Bist du noch dran?«, fragte Rizzi, als er die Stille am anderen Ende der Leitung bemerkte.

»Wir haben es wirklich mit einem Mord zu tun?« Teresas Stimme klang heiser und belegt.

»Ich fürchte, so ist es.« Rizzi starrte auf die riesigen Faraglioni-Felsen, die aus dem Meer ragten und sich gestochen scharf gegen den blauen Himmel abzeichneten. »Ich kann es selbst noch gar nicht glauben: Ein Mann ist bei schönstem Wetter friedlich mit dem Sessellift unterwegs, genießt den tollsten Ausblick auf die Natur und wird hinterrücks erschossen.«

Teresa am anderen Ende pustete wortlos in den Hörer, während Rizzi versuchte, seine Gedanken zu sortieren: Hatten sie es mit einem Verrückten zu tun, der wahllos durch die Gegend ballerte? Hätte es also jeden im Sessellift treffen können, auch die Menschen, die kurz danach auf den Monte Solaro hochgeschwebt kamen? War es reiner Zufall, dass sie noch lebten? Oder galt der Mord tatsächlich dem unbekannten rotblonden Mittdreißiger? Bedeutete es, dass die Tat von langer Hand geplant war und von einem Täter kaltblütig durchgeführt, der jetzt unbehelligt über die Insel streif‌te und beobachtete, wie nun die Ermittlungen anliefen und eine ganze Insel in Angst und Schrecken versetzt wurde? Oder war der Killer auf der Flucht und hatte schon mit dem Schnellboot aufs Festland übergesetzt?

»Informier die Kriminalpolizei in Neapel«, sagte Rizzi zu Teresa. »Und wo steckt Ispettore Lombardi? Hat er wieder private Termine?«

»Moment.« Teresa fand glücklicherweise zu ihrer alten Geschäftigkeit zurück, die auf Rizzi eigenartig beruhigend wirkte. Im Geiste sah er sie durch den Terminkalender scrollen. »Jawohl, er ist in Neapel«, sagte sie und schlug pragmatisch vor, dass der Ispettore sich mit dem Commissario kurzschließen könnte, um mit ihm gemeinsam so schnell wie möglich nach Capri und auf den Monte Solaro zu kommen.

Rizzi stimmte zu und trieb Teresa zur Eile an, auch wenn er sich den Aufmarsch des Ispettore im Windschatten vom Commissario, womöglich begleitet von Journalisten, nicht vorstellen wollte und eigentlich gerne verhindert hätte, aber das war jetzt nebensächlich.

Er beendete das Gespräch. Cirillo kam die Treppe von der Sesselliftstation zur Aussichtsplattform herauf.

Sie berichtete schon von Weitem, der Kollege Savio habe die Sesselliftstation an der Piazza Vittoria geschlossen und sei soeben eingetroffen, um auch hier oben alles abzusperren und den Leichnam bis zum Eintreffen der Kriminalpolizei zu bewachen.

Während sie zur Zeugenbefragung zum Café hinübergingen, sagte Cirillo: »Ich muss dir etwas erzählen.«

»Du kennst den Toten?«, fragte Rizzi ungläubig.

Cirillo nickte. »Ich war heute Morgen mit dem Mann im selben Bus.« Sie berichtete, dass ihr Motorroller nicht angesprungen war (und wie es dazu kam, sei noch mal eine extra Geschichte) und sie deshalb um kurz nach acht Uhr den Bus nach Capri-Stadt nahm. »Ich bin am Friedhof eingestiegen und musste stehen, weil der Bus so voll war.« Cirillo fasste Rizzi am Arm. »Da steht plötzlich ein Mann auf und bietet mir seinen Sitzplatz an.«

»Alessandro«, ergänzte Rizzi.

»Genau.« Cirillo berichtete, sie habe zuerst dankend abgelehnt, doch der Mann sagte, er steige ohnehin gleich aus. An der nächsten Station, der Piazza Vittoria, habe er den Bus verlassen und sie noch gesehen, wie er die Straße in Richtung seggiovia überquerte.

»Und du bist dir sicher, dass es Alessandro war?«

»Hundertprozentig.« Cirillo war stehen geblieben und schaute über das Meer in die Ferne. »Was ich im Nachhinein fast seltsam finde: dass ich während der Fahrt im Bus noch über den Mann nachgedacht und mich gefragt habe, ob er wohl von der Insel ist oder von auswärts kommt.«

»Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«, fragte Rizzi.

»Ehrlich gesagt: So höf‌lich und gut gekleidet, hat er auf mich nicht wie ein Einheimischer gewirkt.« Cirillo schob ihre Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. »Aber wie ein Fremder, ein Tourist, war er auch nicht. Er machte eher den Eindruck, als wäre ihm hier auf Capri alles ganz vertraut.«

»Ist dir sonst noch etwas an ihm aufgefallen?«, fragte Rizzi. »War er nervös oder verängstigt oder vielleicht ärgerlich?«

»Keine Spur.« Ein kühler Windstoß strich über ihre Köpfe hinweg, und eine Möwe, die sich mit ausgebreiteten Flügeln im Gegenwind treiben ließ, senkte den orangefarbenen Schnabel, als würde sie Cirillo ins Visier nehmen, bevor sie abdrehte und in einem eleganten Bogen davonflog. »Im Gegenteil. Auf mich hat der Mann einen tiefenentspannten Eindruck gemacht. Tut mir leid.« Cirillo zuckte die Achseln. »Der Mann wirkte nicht, als würde er irgendetwas oder irgendjemanden fürchten.«

Sie betraten die Terrasse, wo vorne, am ersten Tisch, ein Ehepaar im Rentenalter saß, das sich bei den Händen hielt und ihnen ängstlich entgegenschaute. Auf der anderen Seite steckten zwei Männer tuschelnd ihre Köpfe zusammen, bis einer von ihnen sein Smartphone zückte, um Rizzi und Cirillo in ihren dunkelblauen Uniformen mit dem weißen Gürtel zu fotografieren.

Während Cirillo die Hand hob und schnurstracks zu den Männern hinüberging, präsentierte Rizzi dem Ehepaar seinen Dienstausweis, zog einen Stuhl heran, setzte sich, fragte nach ihren Personalien und forderte sie auf zu berichten, was sie beobachtet hatten.

Bei dem Ehepaar handelte es sich um Lorenzo und Bianca Tonelli aus Florenz, die sich mit dieser Urlaubswoche einen schon lange gehegten Wunsch erfüllten: einmal im Leben nach Capri reisen. So sagte es Lorenzo Tonelli, und seine Frau fügte mit mädchenhafter Stimme hinzu: »Capri sehen und sterben« – woraufhin Lorenzo Tonelli ihr einen tadelnden Blick zuwarf und sich bei Rizzi wegen des mangelnden Taktgefühls entschuldigte.

Sie berichteten, einander immer wieder ins Wort fallend, sie seien vor drei Tagen angekommen, hätten sich schon den Arco Naturale und die Grotta di Matermania erwandert, den Monte Tiberio und die Villa Jovis, und dabei festgestellt, dass fernab der Piazzetta und der stark frequentierten Gassen drum herum oft so wenig Menschen anzutreffen seien, dass man fast das Gefühl haben konnte, allein auf der Insel zu sein.

»Wie Sie wissen«, übernahm Rizzi das Wort, »geht es um den Mann, der heute früh auf dem Sessellift verstorben ist. Sind Sie ihm schon mal begegnet? Zum Beispiel heute Morgen unten an der Talstation der seggiovia?«

»Verzeihen Sie.« Lorenzo Tonelli lächelte beschämt. »Wir erzählen von unseren Ferien, wo doch dieser Mann gestorben ist – beinahe vor unseren Augen.« Er drückte die Hand seiner Frau. »Wir haben den Signore in der Tat vor der Abfahrt gesehen und ihm sogar noch den Vortritt gelassen.«

»Warum?«, fragte Rizzi.

Lorenzo Tonelli schaute seine Ehefrau zärtlich von der Seite an. »Wir beide waren uns nicht einig, wer zuerst einsteigt und vorausfährt«, sagte er und wandte sich erklärend, mit gesenkter Stimme, an Rizzi. »Es sind ja Einzelsitze, und ich wollte ihr den Vortritt lassen. Aber sie wollte partout, dass ich zuerst einsteige.«

»Ich wollte sehen, wie die Sache funktioniert«, meldete sich Bianca Tonelli zu Wort.

Lorenzo Tonelli seufzte. »Mit anderen Worten: Wir waren wie zwei störrische Esel und haben sogar ein wenig miteinander gestritten. Bis dann dieser Mann kam.«

»Wir standen ihm im Weg.«

»Ist Ihnen etwas an ihm aufgefallen?«, fragte Rizzi.

»Er war sehr höf‌lich«, sagte Lorenzo Tonelli. »Hat uns direkt angesprochen und so etwas gesagt wie: Schauen Sie, es ist ganz einfach. Er hat sich auf die blaue Markierung gestellt, wie es uns vorher schon der Ragazzo der seggiovia erklärt hatte, und sich auf den Sitz gesetzt, der von hinten angefahren kam – und ist davongeschwebt. Ich glaube, er hat sogar noch gewunken.«

Bianca Tonelli beugte sich zu Rizzi. »Für jemanden in meinem Alter ist es gut, erst einmal zu gucken, wie es funktioniert«, erklärte die alte Dame in vertrauensvollem Ton. »Mein Mann ist da immer etwas ungeduldig. Hat ständig das Gefühl, ihm renne die Zeit davon. Deshalb waren wir heute Morgen ja auch die Ersten an der seggiovia.«

»Das heißt, Sie waren im Sessellift hinter ihm«, stellte Rizzi fest. »Wie groß war der Abstand? Können Sie sich noch erinnern?«

»Sie meinen: wie viele Sessel zwischen uns waren?« Lorenzo sah seine Frau fragend an. »Fünf oder sechs?«

»Eher zehn«, antwortete sie.

Das war nicht die Antwort, die Rizzi sich erhofft hatte. »Und wer von Ihnen war dem Mann näher?«

»Ich«, sagte Bianca Tonelli.

Rizzi wandte sich nun direkt an die Frau: »Das heißt«, sagte er, »Sie hatten ihn während Ihrer Fahrt auf den Monte Solaro im Auge?«

Signora Tonelli schüttelte entschieden den Kopf. »Nein«, widersprach sie. »Hatte ich nicht. Ich habe die Aussicht genossen. Und dabei nur einen einzigen Gedanken gehabt: Das ist Capri, wie ich es mir vorgestellt habe.«

»Das freut mich«, erwiderte Rizzi. »Aber davon einmal abgesehen: Haben Sie in der Böschung oder im Gelände, als sie darübergeschwebt sind, etwas bemerkt?«

»Wieso? Was soll ich bemerkt haben?«

»Haben Sie ein Geräusch gehört, genauer gesagt: einen Knall oder – einen Schuss?«

»Einen Schuss?« Bianca Tonelli schaute Rizzi verständnislos an.

»Der Mann vor Ihnen im Sessellift wurde erschossen«, erklärte Rizzi. »In Kürze wird die Kriminalpolizei aus Neapel eintreffen und Ihnen all diese Fragen noch einmal stellen. Bitte überlegen Sie sich genau, was Sie antworten. Jeder Hinweis kann wichtig sein.«

»Sie sagen, dass er vor unseren Augen erschossen wurde?« Lorenzo Tonelli rutschte erregt auf seinem Stuhl nach vorne. »Dass in unserem Beisein ein Mord verübt wurde? Das hätten wir doch mitbekommen.«

»Vielleicht haben Sie es mitbekommen, irgendein Detail, und es in Ihrer Erinnerung nur falsch eingeordnet.«

»Das wäre uns doch aufgefallen.« Lorenzo Tonelli schüttelte energisch den Kopf. »Wir sind zwar alt, aber nicht senil.«

»Habe ich Sie richtig verstanden?«, meldete sich nun auch Signora Tonelli zu Wort, als wäre die Nachricht erst jetzt bei ihr angekommen. »Der Mann wurde von einem Schützen getötet? Wie ein Stück Wild? War es vielleicht ein Versehen?«

»Die Ermittlungen haben gerade erst angefangen«, erklärte Rizzi.

»Aber das heißt doch«, unterbrach Bianca Tonelli und schaute entsetzt in die Ferne, bis ihr Blick auf ihren Mann fiel, »dass der Verrückte genauso gut einen von uns hätte töten können!«

»So etwas darfst du nicht einmal denken, Liebes«, bat ihr Mann und fasste wieder nach ihren Händen.

»Wer sagt uns« – Bianca Tonelli schaute argwöhnisch zu Cirillo und den beiden Männern am anderen Ende der Terrasse hinüber und senkte verängstigt die Stimme –, »dass der Kerl hier nicht irgendwo noch lauert?«

»Bitte bleiben Sie hier im Café, und halten Sie sich zu unserer Verfügung.« Rizzi stand auf. »Die Kriminalpolizei wird Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Danach, das verspreche ich Ihnen, werden wir dafür sorgen, dass Sie sicher in Ihr Hotel zurückkommen.«

 

Cirillo signalisierte Rizzi mit einem Blick und einem müden Augenaufschlag, dass ihre Vernehmung der beiden Zeugen noch andauere und sie seine Zeit und Unterstützung nicht benötige. Rizzi nickte und betrat das Café.

An den Tischen entlang der Fensterfront standen die Stühle so ordentlich, als hätte hier heute noch niemand gesessen. Rizzi ging um die Theke herum und schaute in den Hinterraum und eine kleine Küche, aber auch hier war von einer Mitarbeiterin nichts zu sehen.

»Hallo?«, rief er. »Annamaria?«

Die Frau, die nach Auskunft von Fabrizio Fabbri den Toten mit einem Tischtuch zugedeckt hatte und im Café arbeitete, war verschwunden.

Rizzi verließ den Gastraum nicht über die Terrasse, sondern durch den Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite.

In dem kleinen Foyer waren in der Ecke Terrassenstühle aufeinandergestapelt, während zwei Sessel und ein Sofa eine Wohnzimmeratmosphäre verbreiteten. Ein Duft lag in der Luft, als wäre hier vor wenigen Minuten jemand durchgegangen, der ein edles Parfüm oder ein teures Rasierwasser benutzte.

Neben einer Pinnwand mit Veranstaltungshinweisen befanden sich zwei Türen: die Zugänge zu den Waschräumen. Ohne weiter darüber nachzudenken, betrat Rizzi zuerst das Männer-WC, durchquerte den Vorraum mit zwei Waschbecken und einem Kondomautomaten und ging in den Bereich für die Urinale und mehrere WC-Kabinen. Von vier Türen waren zwei geschlossen. Er stieß die erste auf und rüttelte an der zweiten. Die Tür war von innen zugesperrt.

»Ist hier jemand?«, fragte er.

Kein Laut war zu hören, nicht mal ein Atmen.

Rizzi ging auf die Knie, bückte sich und schaute unter der Tür hindurch, konnte aber keine Füße entdecken.

Er stieg in der Nachbarkabine auf die Klobrille und schaute über die Trennwand hinüber.

Das Wasserklosett war abmontiert, die Kabine gesperrt.

Bevor Rizzi hinausging, durchwühlte er im Vorraum den großen Abfalleimer, der – abgesehen von ein paar Papiertüchern – leer war. Dann betrat er nebenan den Waschraum für Damen und kontrollierte auch hier die Kabinen.

Als er zurück ins Foyer kam, entdeckte er die Duftquelle. Es waren die Orchideen auf der Fensterbank.

Er verließ das Gebäude durch den offiziellen Haupteingang. Auf dem Vorplatz stand ein E-Bike, das mit einer Kette und einem massiven Vorhängeschloss gesichert war. Rechts führte ein Weg zwischen Pinien hindurch nach Anacapri – wie auch die Trampelpfade, die sich im Dickicht verloren.

Rizzi stieg links eine Treppe hinauf, landete aber nicht, wie er gedacht hätte, auf der Terrasse bei Cirillo, den Männern und dem Ehepaar Tonelli, sondern auf einer weiteren Aussichtsplattform. Er trat ans Geländer, beugte sich vor und wusste beim Blick in die Tiefe nicht, ob es sich bei dem schmalen Küstenstreifen dort unten um Cala San Costanzo oder um Cala Ventrosa handelte. Für jemanden, der über eine Bergsteigerausrüstung verfügte, wäre es vielleicht möglich, den Monte Solaro auch von dieser Seite aus zu besteigen. Allerdings müsste diese Person geübt und trainiert sein und über ein Boot verfügen.

Er sah übers Meer zum Festland hinüber, nach Amalf‌i und Sorrent, drehte den Kopf und sah in die entgegengesetzte Richtung an der Inselküste entlang nach Ischia, als er im Gegenlicht, keine zwanzig Schritte entfernt, zwischen den Pinien eine Gestalt entdeckte, eine schwarze Silhouette. Sie stand erhöht, durch kein Geländer und keine Mauer vor dem Abgrund geschützt, auf einem Felsvorsprung, bewegungslos wie ein Denkmal.

»Hallo!« Rizzi schob seine Sonnenbrille hoch und schirmte seine Augen mit einer Hand gegen das grelle Licht ab. »Kommen Sie bitte runter.«