Mitten im August - Luca Ventura - E-Book
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Mitten im August E-Book

Luca Ventura

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Beschreibung

Der Inselpolizist Enrico Rizzi hat es auf Capri zumeist mit kleineren Delikten zu tun und daher genügend Zeit, seinem Vater in den Obst- und Gemüsegärten hoch über dem Golf von Neapel zu helfen. Bis mitten im August ein Toter in einem Ruderboot an den felsigen Strand getrieben wird: Jack Milani, Spross einer Industriellenfamilie und Student der Ozeanologie. Es ist der erste Mordfall für den jungen Rizzi, ein Fall, bei dem es neben der Aufklärung eines Verbrechens auch um die Zukunft der Weltmeere geht.

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Luca Ventura

Mitten im August

Der Capri-Krimi

Roman

Diogenes

Sie ging auf den Bahnsteig. Die Circumvesuviana stand schon da. Sie stieg in den letzten Wagen und setzte sich nach hinten, ans Fenster. Das Abfahrtssignal ertönte, der Zug fuhr los.

Sie schaute hinaus in die Dämmerung, sah Lichter auf‌flammen, Straßenlaternen und Autoscheinwerfer, die neben dem Zug herkrochen. Sie lehnte ihren Kopf an die Scheibe.

Sie sah sein Gesicht. Auf der anderen Seite der Scheibe konnte sie ihn sehen. Sein Haar hatte er zum Dutt gebunden, und in seinem Dreitagebart war eine Schramme, als hätte er sich geprügelt. Ernst schaute er sie an.

»Jack«, flüsterte sie. »Was ist passiert?«

Er antwortete nicht. Er lächelte nicht. Er schaute sie an, als wollte er sagen: Du weißt, was passiert ist. Und er hatte recht. Sie wusste, was passiert war.

»Warum hast du mir nichts gesagt?«, flüsterte sie und legte ihre Hand an die Scheibe, dorthin, wo seine Wange war. »Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte dich beschützen können.«

Sie schlug die Augen nieder, um ihre Tränen aufzuhalten, und als sie wieder gucken konnte, sah sie nur Spiege‌lungen auf der Scheibe und vorbeiziehende Lichter.

1

Enrico Rizzi zog die Wohnungstür hinter sich zu, nahm seine Gartenschuhe und klopf‌te draußen über den Blumentöpfen den Dreck von den Sohlen. Es war kurz vor fünf und noch nicht hell.

Er setzte sich auf die Stufe, zog die Schuhe an, ging die Außentreppe hinunter und betrat ein Stockwerk tiefer die Wohnung seiner Eltern. Es roch nach Kaffee.

»Guten Morgen«, sagte er.

»Was willst du mit der Uniform?«, fragte sein Vater mit Blick auf die Tüte, die Rizzi auf den Küchenstuhl stellte.

»Ich muss nachher zum Dienst«, antwortete Rizzi.

Vito schaute besorgt auf die Uhr. »Wie viel Zeit bleibt uns denn dann für die Pfirsiche?«

»Genügend.« Marta kehrte ihnen den Rücken zu und belegte die Tramezzini mit Tomatenscheiben. »Ihr habt alle Zeit der Welt. Lass den Jungen seine Arbeit machen.«

Rizzi trank seinen Kaffee in einem Zug aus, stand auf und sagte: »Komm, Papà, wir müssen.«

Seine Mutter wickelte die Brote in Papier und gab ihm das Paket. »Soll ich nachher bei dir oben saubermachen?«

»Nicht nötig.« Rizzi klemmte die Tramezzini unter den Arm, nahm die Thermoskanne und die Tüte mit der Uniform und sagte: »Bis später.«

Vito ließ schon den Motor an. Rizzi gab dem Hund einen Klaps, Romeo sprang auf die Ladefläche, und Rizzi quetschte sich vorne ins Fahrerhäuschen zu seinem Vater.

Um diese Zeit war noch niemand unterwegs, keine Autos, keine Busse, keine Taxen, nur ein paar Hunde stromerten am Straßenrand, als hätten sie irgendwo einen wichtigen Termin, während Romeo hochnäsig seine Schnauze in den Fahrtwind streckte.

Wenn die Sonne erst über den Monte Tiberio schien, würden die Temperaturen schnell wieder steigen. Aber noch war es erträglich, sogar angenehm. Vom Meer wehte eine leichte Brise, und der Himmel war wie ein halbdurchsichtiger Stoff, hinter dem langsam der Tag zu schimmern begann.

Rizzi ließ den Arm aus dem Seitenfenster baumeln, spürte den Fahrtwind auf der Haut, und Vito sagte, wenn später noch Zeit wäre und er ein gutes Werk tun wolle, könne er vielleicht den Wildwuchs hinter dem Schuppen beseitigen. Er brauche den Platz für den neuen Kaninchenstall.

Sie holperten über den Feldweg. Die Ape hüpf‌te auf ihren drei Rädern, und Vito trat das Gaspedal durch. Oben angekommen, fuhren sie auf der Bergkuppe an der Gartenmauer entlang und hielten bei der Pinie, wo die Pforte zwischen zwei Pfeilern schief in den Angeln hing. Rizzi stieg aus, öffnete das Vorhängeschloss, löste die Kette und stieß das Tor auf.

Als Gina das erste Mal hierhergekommen war, hatte sie die Obst- und Gemüsegärten als »Gesamtkunstwerk« bezeichnet. Überall wuchs etwas, kaum eine Fläche war ungenutzt, was vor allem an dem ausgeklügelten Bewässerungssystem lag, das Rizzi mit seinem Vater über die Jahre immer weiter ausgebaut hatte. Doch wo Gina die Schönheit von wild rankendem Wein bewunderte, sah Rizzi, dass die Zweige zurückgeschnitten, Triebe gekappt und der Boden gelockert werden musste. Er kannte hier jeden Strauch, jeden Busch und jeden Baum, hatte als Kind zwischen den Reben Verstecken gespielt und zwischen den Brombeeren und Zwergpalmen Höhlen gebaut.

Jetzt ging es langsam darum zu entscheiden, wie es mit den Gärten weitergehen sollte, ob man auch in Zukunft mit zwei Hilfskräften zur Haupterntezeit zurechtkam oder ob man mal darüber nachdenken musste, die Männer vielleicht dauerhaft zu beschäftigen, um Vito – der ja auch nicht jünger wurde – zu entlasten, und ob sich die Gärten mit den jetzigen Erträgen dann überhaupt noch rechneten.

Aber Vito durf‌te man mit solchen Überlegungen genauso wenig kommen wie mit den Themen »Bio« oder »Nachhaltigkeit«. Dabei musste selbst er zugeben, dass das Frühwarnsystem mit den Rosen vor den Weinstöcken perfekt funktionierte. Wenn eine Rose mit Mehltau befallen war, würden als Nächstes die Rebstöcke dran sein.

»Nächste Woche wird gespritzt«, verkündete Vito, als er half, die leeren Kisten unter den Pfirsichbäumen zu verteilen.

»Kommt nicht in Frage«, antwortete Rizzi. »Nicht mit dem Giftzeug.«

»Womit sonst?« Vito zog sich das Hemd aus. »Mit der Brennnesseljauche hat es letztes Jahr nicht funktioniert, es wird auch dieses Jahr nicht funktionieren.«

»Wir können es mit Marienkäfern versuchen.«

»Und wo willst du die hernehmen?«

»Lass mich einfach machen, Papà.«

Vito schüttelte den Kopf. »Marienkäfer«, murmelte er. »Schon wieder so eine Schnapsidee.«

In den nächsten beiden Stunden arbeiteten sie stumm: der Vater am Boden, während Rizzi in die Wipfel der kleinen Bäume langte. Vito rupf‌te die Pfirsiche wie eine Maschine, während Rizzi mit der Schere arbeitete und bei jeder Frucht als dekorative Dreingabe ein paar Blätter mitnahm.

Sie hatten hier den schönsten Arbeitsplatz der Welt, die sonnenwarmen Früchte, der Duft und obendrein der Blick aufs Meer. Jedes Mal, wenn Rizzi aufs Wasser schaute, hatte sich der Blauton im heraufziehenden Tageslicht verändert.

»Machst du schlapp?«, rief Vito von unten. »Komm, gleich haben wir es geschaff‌t.«

Nachdem sie die Kisten verladen hatten, machte Vito sich auf den Weg, um die Ernte an die Geschäfte und Restaurants auszuliefern und die Bestel‌lungen für die nächste Woche anzunehmen. Rizzi schaute auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Ein Stündchen hatte er noch.

Er zog sein Hemd aus, hängte es in den Walnussbaum, nahm die große Baumschere und begann, auf der Rückseite des Schuppens die Bougainvillea herunterzuschneiden und Platz zu schaffen. Genau genommen, handelte es sich hier gar nicht um die Rückwand des Schuppens, sondern um einen Anbau, der über die Jahre vollkommen in Vergessenheit geraten war.

Er riss die dornigen Zweige von der Wand und stand vor einem Holztor, das mit einem alten Vorhängeschloss verriegelt war. Er warf seine Handschuhe ins Gras, rüttelte daran, und die verrostete Verankerung brach aus dem morschen Holz. Um das Tor aufzubekommen, musste er ziehen und es dabei gleichzeitig anheben.

Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an das schummrige Licht zu gewöhnen. Spinnweben und Gerümpel. Die alten Petroleumleuchten, Korbmöbel, in denen noch seine Großeltern gesessen hatten. Weiter hinten stand das Schaukelpferd, nach dem er vor vielen Jahren gefragt hatte, als er das Kinderzimmer für seinen neugeborenen Sohn, den kleinen Vito, einrichten wollte. Keiner hatte gewusst, wo es abgeblieben war, und er hatte seinen Vater in Verdacht gehabt, es als Brennholz verfeuert zu haben.

Und war das dahinten nicht die Truhe? Rizzi hatte es damals, als sein kleiner Junge gestorben war, nicht übers Herz gebracht, die Sachen zu entsorgen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das Tor einfach wieder zuzumachen, als er hinter einem halbhohen Regal einen großen Gegenstand entdeckte, beinahe kugelig, mit Tüchern bedeckt.

Er kletterte über Gerümpel und das Kopfende der Wiege, auf dem in verschnörkelten Buchstaben sein Name und die Namen seiner beiden Schwestern Valentina und Barbara gepinselt waren, und bekam ein Stoffende zu fassen. Er hob es an, Blech kam darunter zum Vorschein, eine Motorhaube, ein Blinklicht. Mit einem Ruck riss er die Decken herunter.

Zum Vorschein kam das erste Auto seiner Eltern, der alte Fiat Cinquecento. Auf Fotos hatte er es schon gesehen, in einem der Alben. Rizzi hatte nicht gewusst, dass die Kiste hier immer noch geparkt war. Die Reifen waren platt, das Blech von Rostflecken durchsetzt. Er rüttelte am Griff an der Fahrerseite, bis sich die Tür knarzend öffnen ließ.

Der Innenraum war viel geräumiger, als er vermutet hätte. Ein weißes Lenkrad aus Bakelit, ein Tachometer, drei Schalter am Armaturenbrett und ein kleiner Aschenbecher. Im Zündschloss steckte noch der Schlüssel.

Spätestens als er das Auto ins Freie geschoben hatte, war es um ihn geschehen. Er wischte den Staub von den runden Scheinwerfern und der kleinen Windschutzscheibe, betrachtete die winzigen Scheibenwischer, öffnete die Heckklappe, hinter der sich der Motor verbarg. Er war kein Experte, aber so kompliziert konnte die Technik von einem Zweizylinder nicht sein.

Er ging ums Auto herum und machte vorne die Haube auf. Am Kabelbaum waren die Anschlüsse natürlich oxydiert. Auch die Reserveradmulde müsste man erneuern. Und inwieweit Antriebswellen, Getriebelager und die Bremsanlage angegriffen waren, müsste man sehen.

Er kroch mit der Taschenlampe unter den Wagen und stellte fest, dass die Querträger vom Bodenblech noch in einem annehmbaren Zustand waren. Aber die Auspuffanlage müsste man wohl komplett austauschen. Auf dem Rücken liegend, klopf‌te er die einzelnen Roststellen ab.

»Hallo?«, hörte er plötzlich eine Stimme.

Er drehte den Kopf und sah zwei Stiefel im Gras stehen.

»Warum gehst du nicht an dein verdammtes Telefon?«, rief Matteo Savio, sein Kollege vom Polizeiposten, verärgert. »Teresa versucht schon die ganze Zeit, dich zu erreichen. Wir müssen sofort nach Punta Carena.«

Rizzi kroch unter dem Auto hervor. »Was ist passiert?«

Savio wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Es gibt einen Toten.«

2

Matteo Savio hatte das Wenige berichtet, was er wusste, hatte von einem Boot gesprochen, draußen auf dem Wasser, von Blut und Messerstichen. Rizzi wusch sich schnell an der Pumpe die Hände, stieg in seine Uniform und wollte wissen, ob Ispettore Lombardi informiert sei.

»Es ist Mittwoch«, erinnerte ihn Savio.

»Teresa soll die Guardia Costiera informieren«, sagte Rizzi. »Wir brauchen ein Boot. Und der Zugang nach Punta Carena muss abgesperrt werden, bevor die Badegäste kommen.« Rizzi stieg auf den Roller. »Wo ist Agente Cirillo?«

Savio erklärte, dass sie die Kollegin direkt am Lido treffen würden.

Punta Carena lag mit dem Leuchtturm am südlichsten Zipfel der Westküste, für Capreser Verhältnisse also am Ende der Welt. Es war eine Badebucht mit bequemem Zugang zum Wasser, Bootsverleih und Felsen, auf denen man sitzen und sich sonnen konnte. Die Fahrt mit dem Roller dauerte zwanzig Minuten.

Als sie die große Kurve zum Parkplatz fuhren, stand ein Kollege mit ausgestreckten Armen vor einer Gruppe, rund zehn Leute mit Provianttaschen und Sonnenschirmen, die hinunter zum Wasser wollten. Rizzi parkte quer zum Weg.

»Bis auf Weiteres gesperrt«, hörte er den Kollegen sagen.

»Was ist denn passiert?«, rief jemand.

»Eine polizeiliche Ermittlung«, antwortete Rizzi, nahm den Helm ab und gab dem Kollegen die Hand. Hier oben war von der Bucht nicht viel zu sehen. Der Hang war steil, und Gestrüpp versperrte die Sicht.

»Kommt heute Nachmittag wieder«, riet Savio den Leuten und signalisierte einem ankommenden Wagen, dass er gleich wieder umdrehen sollte. »Dann ist alles wieder normal.«

Der Abstieg über den gepflasterten Weg führte an der Standbar von Maria Pierotti vorbei, die an der Treppe stand und ungläubig rief: »Was ist los, Rizzi? Stimmt es, was deine Kollegin sagt?«

»Falls hier Leute entlangkommen, lass sie nicht runter«, erklärte Rizzi.

»Was soll ich denen denn sagen?«, fragte Maria.

»Dass unten abgesperrt ist. Und dass sie bei dir einen Cappuccino trinken sollen.«

»Und überhaupt: Welche Leute?«, rief sie ihm hinterher. »Ihr lasst ja niemanden durch!«

Nach der zweiten Kurve hatte Rizzi freien Blick. Vom Meer näherte sich ein Boot der Guardia Costiera, und eine uniformierte schmale Gestalt, Antonia Cirillo, stand am Ufer, wedelte mit den Armen und zeigte in die Bucht.

Rund fünfzig Meter vor den Felsen trieb ein Ruderboot, in dem ausgestreckt ein menschlicher Körper lag. Unten angekommen, trat Rizzi neben Cirillo und sah, dass auf dem Bootsrand eine Hand lag.

Die Guardia Costiera nahm Kurs auf das Ruderboot, und Rizzi fragte: »Wer hat den Notruf abgesetzt?«

Cirillo machte eine Kopfbewegung. Abseits, im Schatten der Felsen, saß eine junge Frau im blauen Kleid und neben ihr ein Hund. »Caterina Agnesi heißt sie. Feriengast. Kommt morgens zum Schwimmen hierher.«

Schweigend beobachteten sie, wie die Kollegen von der Guardia Costiera langsam an das Ruderboot heranfuhren, wie sich einer der Männer über die Reling beugte und in einer akrobatischen Nummer begann, ein Seil am Kahn zu befestigen, was schwieriger zu sein schien, als es aus der Entfernung aussah.

»Nervös?«, fragte Rizzi seine neue Kollegin.

»Nein«, antwortete sie knapp, »du?«

Bevor er etwas sagen konnte, hatte sie sich abgewandt und ging langsam dem Polizeiboot entgegen, das den Kahn jetzt ins Schlepptau nahm.

Seit einigen Wochen war Antonia Cirillo nun schon am Polizeiposten Capri, aber so richtig schlau wurde er aus ihr noch nicht. Warum sie, die schon in ihren Vierzigern war, auf die Insel versetzt worden war und woher sie ursprünglich kam, darüber schwieg sie.

Einer der Polizisten sprang ans Ufer, das an dieser Stelle eine mit Beton geglättete ebene Fläche war. Mit vereinten Kräften zogen sie zu dritt den Kahn an Land. Der Tote geriet dabei in Bewegung, der Kopf wackelte hin und her, die leblose Hand rutschte vom Rand und fiel ins Boot.

Rizzi schätzte ihn auf höchstens Ende zwanzig. Der Mann trug karierte Shorts und ein kurzärmeliges Hemd, das bis zum Bauchnabel aufgeknöpft war. Mehrere Stichwunden waren in der blutverschmierten Brust zu sehen. Stirn und Augen waren von langen Haaren verdeckt, was dem Mann etwas Verwegenes gab. Eine schmale Nase schaute zwischen den Strähnen hervor, gebräunte Wangen und ein unrasiertes Kinn. Rizzi und die Kollegen nahmen betroffen ihre Mützen ab.

Wie er dalag: als hätte er sich überhaupt nicht gewehrt. Oder war er nach dem ersten Stich nach hinten gefallen, mit dem Kopf an der Kante aufgeschlagen und ohnmächtig geworden? Oder gleich gestorben?

Rizzi beugte sich ins Boot. Keine Tasche, kein Gepäckstück, nichts, auch nicht unter der Sitzbank. Er tastete die Hosentaschen des Toten ab. Der Stoff fühlte sich klamm an, und die Taschen waren so eng, dass er mit den Fingern kaum hineinkam.

Soweit er feststellen konnte, waren alle Taschen leer, auch die Gesäßtaschen und die Brusttasche. Rizzi stützte sich an der Bootswand ab und kämpf‌te gegen ein Gefühl der Übelkeit, als Cirillo ihn auf etwas aufmerksam machte.

Unter dem kurzen Ärmel war ein Tattoo zu erkennen. Rizzi schob den Stoff ein paar Zentimeter nach oben.

Auf dem Bizeps war ein kleines Kunstwerk tätowiert, das sich bei näherer Betrachtung als zwei ineinander versch‌lungene Buchstaben entpuppte: S und J.

Cirillo machte ein Foto, als der Kollege von der Guardia Costiera bemerkte, dass nur ein Ruder in seiner Verankerung steckte. Wenn das andere verschwunden war und irgendwo an Land gespült wurde, könnte sich das noch als glücklicher Umstand erweisen, und die Experten in Neapel könnten daraus vielleicht den einen oder anderen Rückschluss ziehen. Und der Außenbordmotor sei so stark, dass man damit auch längere Strecken zurücklegen könnte. Der Mann musste also nicht von der Punta Carena gestartet, sondern konnte überall, in Bagni da Gioia, Marina Piccola oder sonstwo, losgefahren sein.

Man müsste die Küste absuchen. Irgendwo zwischen den Felsen hatte der Mann vielleicht seine Sachen deponiert. Aber eine solche Aktion war allein nicht zu stemmen, dafür bräuchten sie Verstärkung aus Neapel.

Am Eingang der Bucht kreuzten die ersten Boote. Verdammte Gaffer, dachte Rizzi. Sollen sie doch ihre Inselumrundungen machen und die Grotten abklappern.

»Wenn du mit den Fotos fertig bist«, sagte er zu Cirillo, »deck ihn bitte zu.«

Schweigend fuhr sie fort zu fotografieren, und er ging hinüber zur Frau im blauen Kleid. Caterina Agnesi kauerte unverändert auf dem Felsen, und sie schien gar nicht zu bemerken, dass ihr Hund anfing, wie wild herumzuspringen und zu bellen, als Rizzi sich näherte.

Er stellte sich vor und ließ den Hund seine Hand beschnüffeln. »Ich habe ein paar Fragen«, erklärte er und holte sein Notizbuch hervor.

»Mir ist kalt«, sagte sie mit leiser Stimme. »Und ich würde jetzt gerne nach Hause gehen.«

Er zog seine Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern. »Jetzt erzählen Sie mal. Wie haben Sie den Toten gefunden?«

»Ich habe zuerst gar nicht kapiert, dass der Mann tot ist«, sagte sie und berichtete stockend, wie sie, wie jeden Morgen zwischen sieben und acht, wenn es hier noch ganz leer war, hierher zum Schwimmen gekommen war. Das kleine Boot sei ihr gleich aufgefallen, und auch dass da jemand drin lag. Aber sie habe sich nichts Böses dabei gedacht und sei erst, als der Typ sich partout nicht rührte, neugierig geworden und hinübergeschwommen. Sie habe zuerst gerufen, sich dann am Bootsrand festgehalten, sich hochgezogen – und da habe sie ihn gesehen. Ein grauenhafter Anblick. Sie sei, so schnell sie konnte, ans Ufer zurückgeschwommen und hoch zur Strandbar gelaufen. Aber da war noch niemand. Völlig außer sich sei sie gewesen, bis sie endlich ihr Telefon gefunden und die Polizei gerufen habe. Caterina Agnesi verstummte, wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und hauchte: »Ich habe den Mann schon einmal gesehen.«

Rizzi ließ sein Notizbuch sinken.

»Auf der Via Camerelle«, erklärte sie. »Er hat Gitarre gespielt. Als Straßenmusiker.«

»Wann war das?«

»Am Samstagabend.«

»Und Sie sind sicher, dass es sich um denselben Mann handelt?«, fragte er, während er sein Buch wieder aufschlug, um sich Notizen zu machen.

Sie nickte, und ihre Unterlippe begann zu zittern.

»War er allein?«

Sie schüttelte den Kopf und rang um Fassung. »Stimmt es denn«, stammelte sie, »wurde er wirklich ermordet?«

»Es sieht danach aus«, erklärte Cirillo, die sich zu ihnen gestellt hatte.

»Bitte entschuldigen Sie. Ich bin eine dumme Gans«, heulte Caterina Agnesi. Sie nahm das Taschentuch, das Rizzi ihr reichte, und schneuzte sich ausgiebig.

»Mit wem haben Sie ihn denn gesehen?«, fragte Rizzi.

»Mit einer Frau.«

»Beschreiben Sie bitte die Frau.«

»Pagenkopf.« Caterina Agnesi schnief‌te und wischte sich mit dem Taschentuch über die Nase. »Dunkle Haare, zierlich, ungefähr so alt wie er. Ich glaube, sie war seine Freundin.«

Rizzi machte sich Notizen. »Was hat sie gemacht?«, fragte er.

Caterina Agnesi knüllte das Taschentuch in ihren Händen. »Ehrlich gesagt, habe ich gar nicht auf sie geachtet. Ich glaube, sie stand einfach nur bei ihm.«

»Würden Sie die Frau wiedererkennen?«

»Ich denke schon.«

»Haben Sie gesehen, wo die beiden an jenem Abend hingegangen sind, oder mit wem sie gesprochen haben?«

Caterina Agnesi überlegte und schüttelte den Kopf.

»Oder sind Ihnen die beiden – oder einer von ihnen – später noch einmal über den Weg gelaufen?«

»Nein. Und wenn, habe ich sie nicht wahrgenommen.«

»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, an dem Abend?«

Sie schaute zu ihm auf. »Die Männer hier auf der Insel nutzen wirklich jede Gelegenheit, um einem auf die Pelle zu rücken. Bloß weil man alleine unterwegs ist.«

»Meinen Sie damit auch den Mann im Boot?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, der nicht.«

»Gut.« Rizzi blätterte in seinem Notizheft. »Woher kommen Sie?«

»Aus Padua. Meine Freundin hat mir die Adresse von einem Zimmer in Anacapri gegeben, sie meinte, in dem kleineren der beiden Orte auf der Insel würde ich mich wohler fühlen als in der Stadt Capri, da sei es zu mondän. Aber ehrlich: Ich wünschte, ich wäre nie hierher gekommen. Das Bild von dem Toten werde ich mein Lebtag nicht vergessen.«

»Wie lange bleiben Sie auf der Insel?«

»Gebucht habe ich bis Freitag.«

»Falls Sie früher abreisen wollen, sagen Sie uns Bescheid. Es könnte sein, dass wir noch ein paar Fragen an Sie haben.« Rizzi erhob sich und erklärte: »Agente Cirillo wird jetzt Ihre Personalien aufnehmen. Und wenn Sie es wünschen, bringt sie Sie natürlich auch nach Hause.«

Er nahm seine Uniformjacke von Agnesis Schultern und sagte zu Cirillo: »Also dann. Wir sehen uns auf der Wache.«

*

Antonia Cirillo schaute Rizzi hinterher. Ihr Kollege stapf‌te rüber zu den Männern von der Guardia Costiera, erteilte ihnen Instruktionen, die sie vermutlich gar nicht brauchten, rückte seine Mütze zurecht und machte sich dann endlich an den Aufstieg zum Parkplatz: jeder Schritt Ausdruck seiner Wichtigkeit.

Obwohl sie den gleichen Dienstgrad hatten, war Cirillo gezwungen, sich von dem deutlich jüngeren Enrico Rizzi herumkommandieren zu lassen. Während er und seine Familie hier auf der Insel zu Hause waren, war sie die Neue, und das bedeutete die Fremde. Außerdem war er ein Mann, und das spielte in dieser Region noch immer eine Rolle. Aber sie hatte ja keine Wahl. Sie war degradiert und versetzt worden, und niemand außer ihr selbst war verdammt noch mal daran schuld.

Während sie die Personalien von Caterina Agnesi notierte, bemerkte Cirillo, dass der Hund hechelnd zu ihr aufschaute, als erwarte auch er, befragt zu werden. »Wie heißt er eigentlich?«, fragte sie, als sie ihr Notizbuch wegsteckte.

Über Agnesis Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Das ist mein Lando«, sagte sie.

»Lando«, wiederholte Cirillo und strich dem Hund über den Kopf. »Na, Lando?«, fragte sie. »Hast du Durst?«

Als sie nebeneinander hergingen und der Hund hinterdrein trottete, sagte Cirillo: »Sie haben vorhin eine gute Beschreibung von der Frau gegeben, die den Musiker begleitet hat.«

»Ach ja?«

Cirillo nickte und fuhr fort: »Sie sagten aber auch, dass Sie auf die Frau gar nicht geachtet hätten.«

»Das habe ich auch nicht.«

»Wie kamen Sie dann darauf, dass die Frau und der Musiker ein Paar waren?«

Agnesi schwieg, als würde sie sich jetzt selbst über ihre Aussage wundern. »Na, das merkt man doch einfach«, sagte sie gedehnt. »Wie sie ihn angeschaut hat. Sie wirkten irgendwie vertraut miteinander.«

»Und hat auch er die Frau angeschaut?«

»Kann mich nicht erinnern.«

Sie blieben vor der Strandbar stehen. Cirillo beobachtete, wie Agnesi nervös an den Trägern ihres Kleids zupf‌te.

»Glauben Sie, es ist gefährlich, wenn ich morgens zum Schwimmen hierherkomme?«, fragte Agnesi. »Ich meine, man sagt doch immer, es zieht den Täter an den Tatort zurück.«

»Kann ich euch helfen?«, rief ein junger Mann von der Theke herüber. »Wollt ihr etwas trinken? Espresso oder irgendetwas anderes?«

Agnesi bat um etwas Wasser für den Hund, und Cirillo bestellte einen Cappuccino.

»Wir wissen noch nicht, ob es ein Täter war«, sagte Cirillo zu Agnesi.

»Wie meinen Sie das?«

»Vielleicht waren es mehrere Täter. Oder eine Täterin. Sie sollten in den kommenden Tagen jedenfalls etwas später zum Schwimmen gehen, wenn hier auch andere Gäste sind.«

»Ich denke, ich komme sowieso nicht mehr hierher«, sagte Agnesi und senkte den Blick.

Der Mann brachte eine Schale mit Wasser, der Hund begann zu schlabbern.

»Ich will jetzt nur noch nach Hause, ich brauche Ruhe«, erklärte Caterina Agnesi. »Den Weg finde ich alleine.«

»In Ordnung.« Cirillo reichte ihr ein Kärtchen mit der Bitte, sie möge sich melden, wenn ihr noch etwas einfiele.

Nachdenklich schaute sie der jungen Frau hinterher, die mit gesenktem Kopf, gefolgt von ihrem Hund, davonging.

»Wann wird die Sperrung eigentlich wieder aufgehoben?«, fragte der junge Mann, reichte Cirillo einen Cappuccino im Pappbecher und fügte hinzu: »Wenn die Leute alle wegbleiben, können wir auch gleich zumachen.«

Cirillo warf ein paar Münzen auf den Tresen. »Da unten wurde ein Mensch ermordet, und Sie denken an Ihren Scheißumsatz?« Sie schaute dem erschrockenen Mann scharf in die Augen, nahm ihren Becher und ging.

Sie ging nicht zum Parkplatz, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Der Weg führte oberhalb der Bucht entlang. Der Duft der Pinien, die Ruhe, das ferne Rauschen des Meeres hatten manchmal eine beruhigendere Wirkung als jede Tablette. Das hatte Cirillo in den vergangenen Wochen schon festgestellt. Aber sie musste vorsichtig sein. Musste Gegenmaßnahmen ergreifen, ihren Jähzorn unterdrücken, wenn sie merkte, dass sich etwas zusammenbraute.

Wie vor einem halben Jahr, als ihr ganzes Leben zusammengekracht war und sie, als die Hütte schon brannte, das Feuer nicht etwa ausgetreten, sondern noch ein paar Brandbeschleuniger hinterhergeschmissen hatte.

Cirillo umklammerte den Becher und schaute in die Bucht hinunter, wo ein zweites Polizeiboot festgemacht hatte. Auf der Trage, die mit dem Boot gekommen war, wurde der Tote zugedeckt und verladen. Er kam jetzt aufs Festland, nach Neapel in die Gerichtsmedizin, wo er aufgeschnitten und seziert werden würde.

Die schwarze Wolke war wieder da, umhüllte Cirillo fest und verdunkelte alles. Sie schaff‌te es gerade noch, den Kaffee abzustellen, und schlug die Hände vors Gesicht.

Alles um sie herum versank hinter einem Tränenschleier. Was war bloß los?

Nach einigen Minuten wischte sie sich über das Gesicht und schaute hinunter zum Wasser.

Das Boot mit dem Toten nahm Kurs auf Neapel. Cirillo stand auf. Sie hatte eine Aufgabe, und diese Aufgabe würde sie versuchen zu erfüllen, so gut und so weit es ihr möglich war.

3

Der Schatten des Uhrenturms an der Piazzetta war auf ein Minimum geschrumpft, und das Thermometer an der Apotheke zeigte einunddreißig Grad. Rizzi parkte seinen Roller an der Rampe neben der Roxy Bar und signalisierte mit einer Handbewegung: Habe keine Zeit – aber Alberto kam trotzdem von der Bar herübergeschlendert.

»Stimmt es«, rief er schon von Weitem, »dass es bei Punta Carena einen Polizeieinsatz gab?«

Rizzi verstaute seinen Helm.

»Maurizio behauptet, er hätte gesehen, wie ihr da jemanden aus dem Wasser gefischt habt. Er meint, einen Flüchtling?«

»Blödsinn.« Rizzi klappte den Sattel runter.

»Aber irgendetwas ist doch passiert.« Sein Freund ließ nicht locker. »Zumindest deutet alles darauf hin.«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Der Ispettore ist vor einer halben Stunde mit dem Hubschrauber gelandet.« Alberto schaute hinter sich, als müsse er Giovanni, Marco und den anderen vor der Roxy Bar einen Zwischenstand durchgeben: Nichts Neues, aber ich bin dran.

»Dienstgeheimnis. Ich hab zu tun.« Rizzi schob Alberto beiseite. Er liebte ihn wie einen Bruder, aber mit seiner Neugier war es manchmal nicht zum Aushalten.

»Ihr steckt wohl mitten in den Ermittlungen?«, rief Alberto ihm hinterher.

»Wir haben noch gar nicht richtig angefangen!«

Das Polizeigebäude befand sich am Ende einer abschüssigen Rampe, ein hässlicher Zweckbau, in dem es im Sommer immer ein paar Grad wärmer war als draußen und im Winter ungemütlich kalt. Die Kollegen am Empfang waren beide am Telefon damit beschäftigt, besorgte und neugierige Capreser zu beruhigen und zu bitten, von weiteren Anrufen abzusehen, und bei einem war die Sache gerade dabei, in eine Schreierei auszuarten. Das Gemeinschaftsbüro dahinter war durch eine Glasscheibe abgetrennt, und die Tür, die eigentlich mit einem elektronischen Code gesichert war, stand wie immer offen, so dass Teresas laute Stimme auch hier vorne bestens zu hören war.

»Pressekonferenz?«, rief sie in den Hörer. »Davon weiß ich nichts.«

Rizzi ging an ihrem Schreibtisch vorbei an seinen Platz unter dem vergitterten Fenster, schaltete den Computer an, zog seine Jacke aus und legte die Notizen bereit. Der Ventilator schaufelte die abgestandene Luft durch den Raum.

»Na, wenn Neapel das sagt, dann wird es wohl stimmen!«, rief sie.

Die Programme luden, und Rizzi nahm sich ein Glas Wasser.

»Das höre ich zum ersten Mal«, sagte Teresa.

Er klickte sich in die Protokollmaske und fing an, die Kopfzeile auszufüllen, damit die Informationen so schnell wie möglich nach Neapel kamen.

»Wünsche ich Ihnen auch«, rief Teresa, legte den Hörer weg und setzte ihre Lesebrille auf, die an einer Kette neben den anderen Ketten vor der Brust baumelte.

»Alles okay?«, fragte Rizzi.

»Du sollst zum Chef raufkommen.«

»Sofort?«

»Ja, sofort.« Der Apparat klingelte, und Teresa griff wieder zum Hörer.

Im ersten Stock herrschte Stille. Ispettore Lombardi stand am Fenster, starrte auf den Golf von Neapel und den Vesuv und schien in einer Art Schockzustand zu sein. Normalerweise war er Meister darin, jede Angelegenheit in eine ruhige Kugel zu verwandeln oder – wenn das nicht möglich war – zu delegieren, meistens auf Rizzis Schreibtisch, und alles dem einen Zweck unterzuordnen: die Jahre, die ihm bis zur Pensionierung blieben, möglichst entspannt zu verbringen. Aber ein Mordfall ließ sich weder delegieren noch in eine ruhige Kugel verwandeln. Lombardi schien zu dämmern, dass plötzlich Taten gefragt waren – oder anders ausgedrückt: seine Qualitäten als Vorgesetzter.

»Wie konnte das passieren?«, stieß er heiser hervor und drehte sich um.

»Ich habe gute Nachrichten, Ispettore«, begann Rizzi, dem klar war, dass er zuerst mal eine Beruhigungspille verabreichen musste. »Wir haben bereits eine Zeugin, die erste Angaben machen konnte.«

»Eigentlich müsste ich Ihnen den Kopf abreißen«, sagte Lombardi eisig. »Ich meine es ernst. Die Küstenwache hätte ihn sofort mitnehmen müssen.«

»Wen?« Rizzi verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wen wohl? Den Toten!« Lombardi schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, und vom Porzellandöschen sprang klirrend der Deckel in die Höhe. »Ab damit nach Neapel! Und was machen Sie? Lassen die Leiche an Land bringen.« Lombardi machte eine Handbewegung, als würde er Rizzi eine Ohrfeige geben. »Mit dieser Aktion haben Sie den Toten erst zum Toten von Capri gemacht«, schrie er. »Wissen Sie nicht, was das bedeutet? Stornierungen bei den Hotelbuchungen, weniger Tagestouristen, rückläufige Einnahmen …« Lombardi ging die Luft aus. Hochrot im Gesicht, ruderte er mit den Armen.

Rizzi setzte sich. »Deshalb war es auch keine besonders gute Idee, mit dem Helikopter aus Neapel zurückzukehren. Damit auch der Letzte merkt, dass hier etwas Dramatisches passiert ist. Ich prophezeie Ihnen: Die Presse wird dieses Detail dankbar aufnehmen.«

Lombardi sank ermattet auf seinen Sessel, rieb sich müde das Gesicht, seine fleischigen Wangen schienen nach dieser Massage noch tiefer zu hängen und die Mundwinkel mit herunterzuziehen. »Also gut«, sagte er. »Schauen wir nach vorn. Was haben wir? Was sind die nächsten Schritte?«

»Die Zeugin hat ausgesagt, bei dem Toten würde es sich um einen Straßenmusiker handeln, der in der Via Camerelle aufgetreten ist.«

»Also einer dieser Gangster, die sich an der Steuer vorbei Geld für ihre Drogen verdienen.«

»Der Mann war bei seinem Auf‌tritt in weiblicher Begleitung«, fuhr Rizzi fort. »Kollege Savio ist am Strand und führt Befragungen durch. Cirillo hat Fotos von dem Toten gemacht und hört sich ebenfalls um.«

Lombardi schaute auf die Uhr. »Die Pressekonferenz ist in drei Stunden. Wir brauchen Ergebnisse. Also – worauf warten Sie?«

Rizzi erhob sich. Die Türklinke in der Hand, sagte er: »Ich weiß, es ist ein gigantischer Aufwand, aber wir sollten die Küste absuchen, Marina Piccola, Cala Matermania, Porto di Tragara und so fort, um herauszubekommen, woher das Boot stammt und ob irgendwo am Strand oder in einer Bucht Sachen gefunden wurden, Klamotten, Schlüssel, Ausweise, die dem Toten zugeordnet werden können.«

»Und woher soll ich die Leute nehmen? Ich kann nicht zaubern.«

»Die sollen welche aus Neapel schicken. Jeden, der verfügbar ist.«

»Neapel wird sich bedanken.«

»Wir sollten keine Zeit verlieren.«

»Sonst noch etwas?«

»Ich höre mich in der Stadt um. Irgendjemand muss den Mann ja gesehen und etwas beobachtet haben.«

»Aber machen Sie die Leute nicht verrückt.« Lombardi wedelte mit der Hand, seine Machen-Sie-dass-Sie-wegkommen-Geste.

Auf der Treppe bemerkte Rizzi, dass sein Hemd durchgeschwitzt war. Teresa hing immer noch am Telefon, gab ihm ein Zeichen und sagte: »Die Pressekonferenz ist für 17 Uhr angesetzt.« Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, zeigte sie auf den Bildschirm, das Foto des Toten, das Cirillo inzwischen geschickt haben musste.

»In der Questura in Neapel«, sagte Teresa in den Hörer. »Selbstverständlich, Signore. Wir sind hier nur ein Polizeiposten.«

Rizzi ließ sich auf Cirillos Stuhl nieder und betrachtete den Mann auf dem Bildschirm. Er sah überhaupt nicht tot aus, was wohl an den Haaren lag, die die Augen verdeckten.

»Wünsche ich Ihnen auch.« Teresa legte auf.

»Guck doch mal nach«, bat Rizzi, »ob jemand in der letzten Zeit beim Ordnungsamt nach einer Erlaubnis gefragt hat, um hier als Straßenkünstler aufzutreten.«

Teresa hatte es schon überprüft. Es lag nichts vor. Sie stand auf und trat neben Rizzi.

»So ein junger Mann«, sagte sie. »Wer tut so etwas?« Das Telefon klingelte wieder.

Rizzi druckte das Bild aus, faltete das Papier, der Knick verlief waagrecht unter der Nasenspitze, und schob das Blatt in seine Innentasche.

Er nahm die Treppe zur Via Madre Seraf‌ina, lief unter Wäscheleinen zwischen den Häusern hindurch, an Gemüse-, Lebensmittelläden und anderen Geschäften vorbei, die nun, in der Mittagszeit, alle geschlossen waren. Er rief Savio an, der aus Punta Carena berichtete, er habe jetzt alles abgeklappert und nichts sei herausgekommen, ein absoluter Flop, auch beim Bootsverleih. Und die Jungs bei Maria in der Strandbar machten allesamt den Eindruck, als könnten sie nicht bis drei zählen.

Sie verabredeten, dass Savio nach Marina Grande fahren und seine Befragungen am Hafen fortsetzen würde, während Rizzi die Straßen hier oben in Capri-Stadt übernahm und Cirillo sich in Anacapri umhörte.

Rizzi legte auf, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus der Stirn und bemerkte, dass er hungrig war.

In der Trattoria, auf Enzos kleiner Terrasse, war noch ein Tischchen frei. Enzo brachte Brot und Oliven und betrachtete das Foto.

»Hast du den Mann schon mal gesehen?«, fragte Rizzi.

Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Aber ich sage dir eins: Der Mann ist nicht von hier.«

Kurz darauf brachte er einen Teller hausgemachter tortellini al burro e salvia. Rizzi liebte dieses einfache Gericht, ganz besonders hier bei Enzo, wo man jeder einzelnen Teigtasche ansah, dass sie von Hand geformt war und wo der Salbei direkt von den duftenden Töpfen auf der Terrasse stammte. Am Nebentisch machten Frauen Self‌ies.

Enzo schaute über das Meer und fegte mit dem Geschirrtuch ein paar Krümel vom Tisch. »Sabrina hat Tiramisù gemacht. Du nimmst doch davon?«

Als Rizzi eine halbe Stunde später die Via Camerelle entlangging, waren die meisten Leute entweder am Strand oder zur Siesta in ihren Hotelzimmern. Vereinzelt flanierten Damen in Kleidern mit passendem Sonnenhut an der Seite braungebrannter Herren in Shorts und Hemden mit Button-Down-Kragen vorbei an blätterumrankten Kojen, von wo aus man über die Zitronenbäume auf einen flirrenden Horizont schauen konnte.

Nacheinander klapperte Rizzi die Restaurants ab und zeigte den Kellnern das Foto des unbekannten Musikers, aber niemand konnte sich erinnern, den Mann schon einmal gesehen zu haben.

»Tut mir leid«, sagte auch die Verkäuferin im Souvenirladen und ergänzte mit russischem Akzent, die Musiker in der Straße würden ständig wechseln. Und der glatzköpfige Tabacchi-Verkäufer gab zu bedenken, man würde, wenn man hier den ganzen Tag stand, irgendwann nur noch auf die Leute achten, die den Laden betreten, und was außerhalb dieses Blickfelds passierte, allenfalls in Ausnahmefällen mitbekommen.

»Und dass jemand draußen Musik macht, ist kein Ausnahmefall?«

»Natürlich nicht.«

Rizzi schaute die Straße hinunter, am Oleander entlang, der hier zu dekorativen kugelrunden Bäumchen zurechtgestutzt worden war, betrachtete die gleichgültigen Mienen der Kellner in den kurzen weißen Jacken.

Schräg gegenüber öffnete die Boutique für Kinderbekleidung, eine Verkäuferin schob einen Kleiderständer nach draußen, und irgendwo erklärte die durchdringende Stimme einer Reiseführerin, dass die Häuser größtenteils aus dem 14. bis 16. Jahrhundert stammten und früher von Fischern bewohnt worden waren. Rizzi betrachtete die schmucklosen Fassaden, an denen sich Bougainvillea hochrankte. Das Verbrechen schien hier ganz weit weg zu sein.

»Scusi«, sagte neben ihm eine Stimme. »Wie kommen wir von hier wohl am schnellsten zur Certosa di San Giacomo?« Die junge Frau mit dem französischen Akzent hielt in der einen Hand einen bunten Reiseführer, an der anderen ein kleines Mädchen, das wiederum ein noch kleineres Mädchen, vermutlich sein Schwesterchen, an der Hand hielt. Mit ihren gelben Basecaps schauten die Kinder gespannt zu ihm auf, als wäre es das größte Abenteuer, dass ihre Mama hier einen echten Polizisten ansprach.

Rizzi deutete die Via Serena hinunter und sagte, sie müssten eigentlich immer nur geradeaus gehen, dann könnten sie die Kartause gar nicht verfehlen.

»Und zur Villa Jovis?«, erkundigte sich die Frau.

Rizzi schob seine Mütze aus der Stirn. »Haben Sie denn Wasser dabei?« Der Spazierweg dahin war zwar wunderschön, aber bei der Hitze mit den beiden Kindern … »Ich fürchte«, sagte Rizzi, »das wird zu viel für die Kleinen.«

Die junge Frau erklärte, sie sei zum ersten Mal auf der Insel und sei für die Ferien als Kindermädchen für diese beiden Mädchen engagiert – die im Übrigen nicht immer so brav seien, wie es im Moment den Anschein habe.

Während Rizzi der Frau zuhörte, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Blick kam irgendwo aus dem Verborgenen. Vielleicht aus dem Juweliergeschäft gegenüber? Er unterbrach die junge Frau und wünschte einen schönen Aufenthalt.

Der Laden war mit dunklem Teppich ausgelegt und das Licht gedämpft. In den Schaukästen lagen Schmuckstücke, Ketten, Ringe, Uhren, und hinter einem großen Strauß Lilien saß ein junger Verkäufer, der in sein Smartphone starrte. Das Sakko war ihm zu groß, die Krawatte saß schief, und Rizzi sah ihn hier zum ersten Mal.

Rizzi grüßte und fragte: »Ist Massimo da?«

»Im Moment nicht.« Der junge Mann musterte Rizzi misstrauisch.

»Und wer bist du?«, fragte Rizzi.

»Wie ich heiße? René. Wieso?«

»Dann bist du Massimos Neffe?«

Der junge Mann bestätigte verwundert und erklärte auf Nachfrage, er habe gerade die Matura bestanden und würde jetzt, über die Sommermonate, bei seinem Onkel jobben.

»Wie geht’s der Mamma?« Rizzi nahm seine Sonnenbrille ab und präsentierte das Foto. »Hast du diesen Mann schon mal gesehen?«

Der junge Mann warf einen Blick darauf. »Ja«, sagte er.

»Bist du sicher?«, fragte Rizzi überrascht. »Wann?«

René überlegte. »Vor drei oder vier Tagen.«

»Und wo?«

»Hier vor dem Laden.«

»War der Mann allein?«

René schüttelte den Kopf. »In Begleitung seiner Freundin. Saßen da draußen, wo Sie gerade gestanden haben. Er hatte eine Gitarre dabei und hat ein bisschen Musik gemacht. War angenehm.«

»Wie sah die Frau aus?«

»Geil. Also, ich meine: richtig super.«

»Dann beschreib sie doch mal.« Rizzi holte sein Notizbuch hervor.

René schaute nach draußen. »Mittelgroß, sehr schlank, schmale Hüften. Guter Arsch. Busen – nicht besonders groß …« – René errötete und verstummte.

»Haare?«, fragte Rizzi.

»Halblang. Und ihre Augenbrauen waren – wie gemalt. Das ist mir noch aufgefallen.« Er zögerte. »Sind es Trickbetrüger, oder warum suchen Sie die beiden?«

»Hattest du den Eindruck?«

»Überhaupt nicht. Die waren nett. Total entspannt.«

»Woran machst du das fest?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wie sie da so saßen.« Er nahm sein Smartphone in die Hand, das den Eingang einer Nachricht meldete.

»Hast du sie vielleicht fotografiert?«, fragte Rizzi.

»Sehe ich so aus?«, murmelte er, ohne dabei von seinem Gerät aufzuschauen.

Rizzi nahm ihm das Smartphone weg. »Hör zu, René. Der Mann wurde heute Morgen tot aufgefunden. Alles deutet darauf hin, dass er ermordet wurde, und du bist ein wichtiger Zeuge. Gab es irgendetwas, das du von hier drinnen beobachtet hast, einen Streit oder eine Begegnung? Bitte denk nach.«

René starrte Rizzi ungläubig an. In diesem Moment kam ein Mann herein, grüßte auf Französisch und blieb abwartend stehen. René zupf‌te verwirrt an seinen Manschetten, bevor er sich mit belegter Stimme an den Kunden wandte und fragte, womit er helfen könne.

Der Mann überreichte einen Zettel, den Abholschein für ein Armband, das René in einem Tütchen aus einer Schublade unter der Kasse hervorholte. Seine Finger zitterten, als er den reparierten Verschluss demonstrierte und das Armband zurück in die Tüte steckte.

Nachdem er kassiert und der Franzose den Laden wieder verlassen hatte, sagte er: »Der Typ hieß Jack.«

»Jack«, wiederholte Rizzi. »Und weiter?«

»Keine Ahnung.«

»Und die Frau?«

»Ich erinnere mich nicht mehr.«

»Aber du hast mit den beiden gesprochen?«

»Nur kurz. Sie kamen rein und fragten, ob sie die Toilette benutzen dürfen.«

»Warum sagst du das erst jetzt?«, fragte Rizzi.

»Normalerweise geht das nicht«, fügte René mit gedämpfter Stimme hinzu, »aber ich habe eine Ausnahme gemacht.«

»Weil sie so nett waren. Sie vor allem.«

»Genau.«

»Und dabei habt ihr ein paar Worte gewechselt.«

»Nur mit ihm. Leider. Sie war ja auf der Toilette. Und auch bloß Floskeln. Die Hitze. Alles so voll. Das Übliche.«

»War er Engländer oder Amerikaner?«

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie Ausländer waren. Er sprach jedenfalls fließend Italienisch. Aber sagen Sie mal: Ist das alles wirklich wahr?«

»Wir brauchen ein Phantombild von der Frau«, sagte Rizzi. »Und du musst uns dabei helfen.« Er erklärte, René solle sich in den nächsten Tagen bereithalten, weil sich vielleicht schon morgen ein Kollege aus Neapel bei ihm melden würde. »Keine Angst«, sagte er. »Die Jungs vom Erkennungsdienst sind Experten und helfen dir.«

Als er sich zum Gehen wandte, sagte René unvermittelt: »Sof‌ia heißt sie. Ich erinnere mich wieder. Jack und Sof‌ia. Und sie trug eine Münze um den Hals. An einem Lederband.« Er lächelte schief. »Sah aus wie ein Glücksbringer.«

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