In einer stillen Bucht - Luca Ventura - E-Book
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In einer stillen Bucht E-Book

Luca Ventura

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Beschreibung

Auf Capri wird auf einem Felsvorsprung über dem Meer eine Frau tot aufgefunden. Maria Grifo war die Leiterin des berühmten Konservatoriums von Neapel. Hat der Mord womöglich mit dem Verschwinden der einzigartigen Stradivari-Harfe aus ihrem Institut zu tun? Ihr Klang – erfahren die Inselpolizisten Enrico Rizzi und Antonia Cirillo – ist von einer Schönheit, für die manche Menschen töten würden.

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EPUB

Seitenzahl: 373

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Luca Ventura

In einer stillen Bucht

Der Capri-Krimi

Diogenes

Liebe Mamma,

Du sagst, Du fährst nach Capri? Schön. Ich wünsche Dir viel Spaß. Aber – ehrlich gesagt: Dann brauchst Du Dich hier auch nicht wieder blicken zu lassen.

Weißt Du, wie die Kleine sich gefreut hat, ihre Oma wiederzusehen? Seit Wochen, ach was, seit Monaten übt sie auf der Geige, die Du ihr geschenkt hast, und raubt mir damit den letzten Nerv, nur weil sie vor Dir brillieren und Dir zeigen will, welche Fortschritte sie macht. Und ich darf jetzt die Tränen trocknen, wenn ich sage: Tut mir leid, mein Herz, die Oma kommt nicht.

Dir ist das vermutlich egal, wie Dir immer alles egal ist. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich keine Antwort bekommen werde, aber ich frage Dich trotzdem: Was ist so wichtig, dass Du ausgerechnet am Geburtstag Deiner Enkelin nach Capri musst?

Weißt Du was? Geh nach Capri. Und bleib am besten gleich dort. Ich wünsche Dir ein schönes Leben.

Giulia

1

Maria Grifo schloss die E-Mail, beendete das Programm, stand auf und trat ans Fenster. Auf der Via San Sebastiano flanierten Touristen, machten Fotos, und wohl zum hundertsten Mal stellte sie sich vor, wie diese Verbrecher mit ihrer Beute dort unten die Gasse entlanggehastet sein mussten, vermutlich im Schutz der Dunkelheit, hinunter zum Hafen, und wie sie dann das Boot genommen hatten. Sie wusste, wer dahintersteckte, aber sie hatte keine Beweise. Noch nicht.

Ihre Hände zitterten, so sehr regte diese Sache sie auf, viel mehr als die Katzenmusik, die aus den Klassenräumen drang. Die Fleißigen, die auch am Sonntag übten. Jeder Ton erzählte, wie schwer es war und dass Fleiß und ein bisschen Talent nicht reichten, um abzuheben, Flügel zu bekommen und vielleicht in andere Sphären vorzudringen – dorthin, wo die Luft allerdings auch dünn war. In all den Jahren hatte sie nur wenige davonfliegen sehen, die meisten hatten eine Bruchlandung erlebt, von der sich manche ein Leben lang nicht erholten. Es gab immer wieder Leute, die dann sie, Maria Grifo, für ihre missglückte Karriere und geplatzten Träume verantwortlich machten und glaubten, dass sie ihnen etwas schuldete oder etwas wiedergutzumachen hatte. Aber sie schuldete niemandem etwas. Und ganz bestimmt ließ sie sich von diesen Versagern nicht an der Nase herumführen. Sie ging zurück zum Schreibtisch und drehte den Schlüssel in der Schublade, als es klopfte.

»Ja, bitte?« Sie schob die Lade wieder zu, aber Giancarlo stand schon in der Tür – wie immer genau dann, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen konnte.

»Professoressa«, sagte er, und es fehlte nur noch, dass er die Hacken zusammenschlug. »Kann ich noch etwas für Sie tun?« Er zog ein besorgtes Gesicht und trat näher. »Ist alles in Ordnung, Professoressa?«

Sie betrachtete sein gecremtes und gepflegtes Gesicht, die große Nase und absurde Brille, und ein schrecklicher Gedanke durchfuhr sie: Steckte er vielleicht mit den Verbrechern unter einer Decke? War all das ein abgekartetes Spiel, und er schaute nur herein, um herauszufinden, was sie wusste oder ob sie etwas ahnte?

»Mach Feierabend«, sagte sie und schlug den barschen Ton an, den sie immer anschlug, wenn sie mit ihm redete. »Geh nach Hause«, sagte sie. »Es ist Sonntag.«

»Danke, Professoressa.«

»Wofür? Ist noch etwas? Wir sehen uns morgen.«

Er zögerte einen Moment, als wollte er noch etwas sagen, ließ es dann aber bleiben und zog endlich die Tür hinter sich zu.

Sie wartete zur Sicherheit, bis seine Schritte verhallt waren, öffnete die Schublade und holte ihr Schätzchen heraus. Die Pistole war kühl und lag gut in der Hand. Giulia würde sich schon wieder einkriegen. Wie all die Male zuvor. Ohne dabei auch nur ansatzweise zu verstehen, dass es ihr bei allem, was sie tat, doch nur um die Kleine ging.

Maria Grifo hatte keine Ahnung, wie weit sie dabei gehen würde, und sie konnte für nichts garantieren. Sie klappte ihr Köfferchen auf und schob das gute Stück zwischen ihre Wäsche.

In anderthalb Stunden ging ihr Boot. Genug Zeit, um am Hafen noch ein Gläschen zu trinken und ihre Nerven zu beruhigen. Sie würde das Ding durchziehen, die Sache in Ordnung bringen, ein für alle Mal, und zwar auf ihre Weise, und diesen Gangstern zeigen, wo es langging und mit wem sie es zu tun hatten. Sich mit Maria Grifo anzulegen war gefährlich. Wenn sie die Sache erledigt und zu ihren Gunsten zu Ende gebracht hatte, würde sich alles zum Guten fügen. Und niemals würde sie Giulia die Wahrheit sagen.

2

Die Orgel war zu hören. Der Klangteppich kam aus dem offenen Kirchenportal gerollt, hinaus auf die Piazzetta mit ihren Sonnenschirmen und Markisen und dem Mäuerchen, wo Enrico Rizzi seine Vespa parkte. Strenggenommen war die Stelle kein Parkplatz, und Rizzi selbst verteilte gerade hier immer wieder Strafzettel an Leute, die sich nicht daran hielten, es waren immer dieselben, und bezahlt wurden diese Strafzettel nie.

Er verstaute den Helm im Sattel, eilte die Stufen hinauf und betrat die Kirche Santo Stefano. Padre Ivano setzte gerade dazu an, das Kreuz zu schlagen, und wie er da stand mit den ausgebreiteten Armen, in seinem Gewand mit den goldenen Stickereien und dem kleinen Kopf obendrauf, erinnerte er an eine Fledermaus – wenn auch an eine sehr prächtige. Rizzi nahm seine Sonnenbrille ab, bekreuzigte sich und setzte sich in die hinterste Bank neben seinen besten Freund Alberto, der bereitwillig ein Stück zur Seite rückte.

Die alte Beatrice – nun hatte sie es also geschafft. Der Herrgott hatte sie heimgeholt, wie Padre Ivano über Mikrofon in einer Lautstärke verkündete, die auch jene wachrüttelte, die hier im Dämmerlicht gerne mal ein Schläfchen hielten. Die meisten Anwesenden dachten in diesem Moment wohl auch an die Zwillingsschwester von Beatrice, die alte Clarissa, die schon vor zwei Jahren gestorben war. Man konnte nur hoffen, dass die beiden Schwestern, die zu Lebzeiten unzertrennlich gewesen waren, nun im Tode wiedervereint sein würden.

»Kommst du heute Abend zur Probe?«, fragte Alberto halblaut.

»Heute Abend?« Rizzi streckte seine Beine aus, so weit es möglich war, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mal schauen. Ich versuch’s.«

»Was ist los mit dir?«, wollte Alberto wissen.

Rizzi sah seine Eltern in der dritten Reihe sitzen, die schwarze Haarpracht seiner Mutter, die an eine Mütze erinnerte, und den eisgrauen Schopf seines Vaters. Ein Hund stromerte geschäftig durch den Mittelgang und drehte am Altar schnüffelnd nach rechts ab.

»Ich muss mich heute auf jeden Fall noch um die Elektrik kümmern«, sagte Rizzi. »Mit dem Scheibenwischer stimmt etwas nicht. Einmal wischen – und er bleibt stehen, wie eingefroren.«

Alberto seufzte. »Mach, was du willst, aber wir sind auf dich angewiesen. Ohne deine Trompete wird es ein bisschen dünn – zumal Giuseppe schon gesagt hat, dass er mit seiner Alten ausgerechnet am zwanzigsten nach Syrakus fährt. Stell dir das mal vor: Giuseppe mit seiner Alten in Syrakus.«

»Keine Sorge«, sagte Rizzi, »bis zu Edoardos Geburtstag haben wir noch zehnmal geprobt.«

»Denk dran, es ist sein Siebzigster.«

Padre Ivano stimmte das Lodato sia il mio Signore an, die Gemeinde fiel schleppend ein, und Rizzi ließ, während er aus voller Kehle sang, seinen Blick schweifen. Beatrice auf dem Foto neben ihrem Sarg sah genauso aus, wie man sie die meiste Zeit gekannt hatte und in Erinnerung behalten würde: weise und voller Güte. Die unangenehmen Charaktereigenschaften, das Bösartige und dass sie Leute beschimpfte, die es nur gut mit ihr meinten, waren erst in den letzten beiden Jahren hervorgetreten, genauer gesagt, nach dem Tod ihrer Schwester. Rizzi wünschte, er hätte sie vergangene Woche nicht so eilig abgefertigt. Aber wer konnte schon ahnen, dass sie nie wieder auf die Wache getippelt kommen würde mit der Namensliste all jener, die ihr angeblich Schmuck und Bargeld geklaut hatten?

Aber Padre Ivano fand wie gewohnt viele schöne Worte für die alte Nervensäge, und das war auch gut so. Strich vor allem Beatrices Gottesfürchtigkeit heraus und die Zuverlässigkeit und Sorgfalt, mit der sie sich um die Gesangsbücher in der Kirche gekümmert hatte, die immer ordentlich und in ausreichender Zahl bereitlagen, und viele, vor allem die Älteren in der Kirche, nickten zustimmend.

Aber woran wohl die meisten dachten und worüber Padre Ivano natürlich kein Wort verlor, war die Frage, was nun, nach Beatrices Tod, aus dem Haus der Benzoni-Schwestern in der Via Madre Serafina werden würde. Die Frauen hatten keine Geschwister, keine Kinder, keinen Mann, und das Haus, das ihr Großvater noch mit eigenen Händen gebaut hatte, war inzwischen, wie alle Häuser an der Straße, aufgrund der Lage Millionen wert. Man musste allerdings kein Hellseher sein, um zu erraten, was mit dem Haus passieren würde. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn die Schwestern ihr Haus nicht der Kirche vermacht hätten und darin eine Anerkennung sahen für alles, was Padre Ivano in all den Jahren für sie und ganz Capri getan hatte.

Und war er nicht tatsächlich immer zur Stelle gewesen, hatte mit ihnen regelmäßig gegessen und sie in vielen, nicht bloß den finanziellen Dingen beraten? Da war es nur gerecht, wenn die Kirche das Haus künftig nutzte und – wer weiß? – Padre Ivano sich dort seinen Alterssitz einrichtete und den freien Blick aufs Meer genoss, den man vom Wohnzimmer aus hatte.

Padre Ivano breitete die Arme aus für den Segen, und alle standen von ihren Bänken auf. Salvatore liefen die Tränen über die Wangen, als der Sarg angehoben wurde. Dem Straßenkehrer würden die Benzoni-Schwestern wohl wirklich fehlen – wie sie eingehakt, in kleinen Schritten, über die Piazzetta liefen und alle paar Meter anhielten, um auch mit ihm einen Schwatz zu halten, der über das übliche »Wie geht’s, alles gut?« hinausging. Und plötzlich fühlte auch Rizzi, dass die Benzoni-Schwestern eine Lücke hinterließen und dass Capri wieder um eine Farbe ärmer geworden war.

Man reichte einander die Hände, gedachte dabei der Verstorbenen und folgte dem Sarg aus der Kirche. Die Sonne blendete, und die Lilien auf dem Sarg nickten bei jedem Schritt, wie auch Beatrice zeit ihres Lebens immerfort genickt hatte.

Rizzi trat auf die Seite, um Platz für die Leute zu machen, den Trauerzug, der sich Richtung Friedhof in Bewegung setzte. Fortunata Parisi schluchzte, und Rizzi nahm sie in den Arm, während Giuseppe Ruf‌f‌ini tröstend bemerkte, der Abgang der alten Beatrice sei doch genau so, wie man ihn sich auch für sich selbst wünschte: abends in die Klappe gehen, einschlafen und morgens nicht mehr aufwachen.

Auf dem Weg zur Vespa schaltete Rizzi sein Telefon ein, sah in den Augenwinkeln die Tauben aufflattern und eine schlanke Gestalt in Uniform, die sich von der Via Roma näherte. Antonia Cirillo winkte.

»Ich weiß, du hast heute deinen freien Tag«, rief seine Kollegin schon von Weitem. »Aber eben ist ein Notruf eingegangen.«

Rizzi schaute hinauf zum Uhrenturm, wo in diesem Moment der große Zeiger zum kleinen auf die Zwölf rückte, ohne dass die Glocken zu bimmeln begannen, ein technischer Defekt. »Was ist passiert?«, fragte er, klappte den Sattel hoch und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.

»Die Guardia Costiera weiß schon Bescheid und wartet in Marina Grande.« Cirillo trat näher. »Der Anrufer war ziemlich außer sich. Er behauptet« – sie dämpfte ihre Stimme –, »in Cala del fico liege ein Koffer und es sehe so aus, als ob sich darin ein Mensch befinde.«

»Ein Mensch?«, wiederholte Rizzi ungläubig.

»Er sagt, ein Bein wäre zu erkennen.«

*

Auf der Fahrt mit dem Motorroller nach Marina Grande klammerte Cirillo sich hinten an Rizzi fest und schrie ihm ins Ohr, was sie wusste. Der Anrufer, ein gewisser Marcello Perasole, sei ganz außer sich gewesen und habe immer wieder gefragt, was er tun solle, er habe das Boot voller Leute. Sie habe zuerst überhaupt nicht verstanden, wovon er sprach, und auch nicht, wo genau er sich befand. »Cala del fico!«, habe er immer wieder gebrüllt, aber sie kannte die Bucht nicht.

Sie legte sich im Kreisverkehr mit Rizzi in die Kurve und rief in den Fahrtwind, sie habe den Mann nicht beruhigen können und ihm schließlich nur noch eingeschärft, er solle sich bis zum Eintreffen der Polizei nicht von der Stelle rühren. Als sie dann Ispettore Lombardi bei seinem Termin auf dem Festland nicht erreichen konnte und auch Rizzis Telefon ausgeschaltet war, sei sie heilfroh gewesen, als Teresa Villa einfiel, er sei höchstwahrscheinlich auf der Beerdigung der alten Beatrice.

Rizzi beschleunigte auf dem letzten Stück und fuhr mit siebzig Sachen die abschüssige Via Marina Grande hinunter.

Was Cirillo nicht wissen konnte und Teresa Villa ihr in der Eile wohl nicht erklärt hatte: Der Anrufer, Marcello Perasole, war der Sohn des mittlerweile auch schon verstorbenen Fischers Vittorio Perasole und hatte den Kutter seines Vaters so umgebaut, dass er damit nicht mehr zum Fischfang rausfuhr, sondern Inselumrundungen für Touristen machte, womit er wahrscheinlich in einem Sommer hundertmal mehr verdiente als der Vater seinerzeit mit dem Fischfang über das ganze Jahr. Marcello Perasole gehörte mit den anderen Männern seiner Zunft zu den Menschen, die den Blick von außen auf die Insel hatten und denen dadurch fast schon so eine Art Wächterfunktion zukam. Sie meldeten regelmäßig, wenn sie etwas an der Küste und den Steilhängen sahen, das da nicht hingehörte. Das war in erster Linie Müll, den manche Leute über die Klippen entsorgten.

Rizzi hupte, und die Leute auf der Piazza Vittoria, die zwischen Mole, Ticketschaltern, funicolare und den Bars kreuzten, sprangen zur Seite. Auf der Via Cristoforo Colombo gab er noch einmal Gas und hielt an der Mole, wo das Polizeischiff lag und Giorgio Schif‌ino mit laufendem Motor wartete. Kaum hatte Rizzi die Helme verstaut und war mit Cirillo an Bord gegangen, holte der Kollege die Brücke ein.

»Wetten«, sagte Schif‌ino, als Rizzi sich neben ihn ans Steuer stellte, »dass einfach irgendein Schwachkopf eine Schaufensterpuppe entsorgt hat?«

»Hoffen wir es«, antwortete Rizzi.

Eine Yacht mit eigener Radaranlage und so groß, dass sie wahrscheinlich hochseetauglich war, und ein Segelschiff, ein gediegener Zweimaster aus Holz, lackiert, mit schönen Messingbeschlägen, blockierten die Hafeneinfahrt und zwangen eine Reihe von aliscafi zu warten, die hier streng getaktet aus Neapel, Sorrent oder Ischia eintrafen. Schif‌ino nutzte eine Lücke, fuhr vor der großen Fähre aus dem Hafen und schob, nachdem sie die korinthische Säule passiert hatten, den großen Hebel nach vorne. Die Bugspitze hob sich, und das Boot schoss über die gekräuselte Wasseroberfläche.

Cirillo klammerte sich im Heck an die Reling, hatte ihre Mütze zwischen die Knie geklemmt, und ihre Haare flatterten im Wind. Die Nordküste von Capri lag im Schatten, die hohen Felsen waren dunkle Wände und die Eingänge zu den Grotten Bove Marino und Ricotta kaum wahrnehmbare schwarze Löcher. Wilde Pistazien, Rosmarin und andere Sträucher bildeten auf dem zerklüfteten Kalksandstein und an den kargen Hängen einen dichten, immergrünen Pelz.

Schif‌ino fuhr bei Punta del Capo eine weite Kurve um den Monte Tiberio, und das dunkle Wasser der Nordseite verwandelte sich im Sonnenlicht in türkisgrünes Meer, das verheißungsvoll glitzerte, als wäre der Boden in der Tiefe mit Topas und Smaragden übersät.

Dafür, dass der Hochsommer vorbei war, ankerten vor den Grotten Bianca, Preti und Moschino noch viele Boote mit bunten Sonnensegeln, unter denen ein unternehmungslustiges Völkchen darauf wartete, einzufahren und mit Besichtigung der Grotten ein kleines Abenteuer zu erleben. Weiter südlich ragten die Faraglioni-Felsen wie riesige, urwüchsige Kegel aus dem Wasser und dominierten die Landschaft, auch den flachen Felsen Scoglio di Monacone, der wie umgekippt im Meer lag und der mit dem Faraglione di Terra die Bucht von Punta di Tragara begrenzte.

So gesehen, war Cala del fico, gleich hinter Punta Massullo, ein toter Winkel, eine unzugängliche stille Bucht, die nur über das Meer erreichbar und unter normalen Umständen keines besonderen Blicks oder überhaupt nur einer Erwähnung wert gewesen wäre. Dass ausgerechnet hier, genauso wie vor den Eingängen der Grotten, ein ganzer Pulk von Booten lag, war höchst ungewöhnlich und wahrscheinlich noch nie vorgekommen, aber offensichtlich gab es hier etwas, das die Aufmerksamkeit der Leute erregte, so dass sie teilweise aufrecht stehend mit ihren Kameras filmten und fotografierten.

Marcello Perasole auf seinem Kutter befand sich im Zentrum, winkte und schwenkte seine weiße Schirmmütze wie ein Fluglotse seine Kelle und rief: »Da drüben, Erri, siehst du es? Auf dem Stein!« Er deutete auf die Steilwand und auf einen Felsvorsprung, der einen knappen Meter über der Wasseroberfläche ins Meer ragte. Was dort lag, hätte man auf den ersten Blick auch übersehen oder für einen Gesteinsbrocken halten können. Es handelte sich, wenn man genauer hinsah, aber wohl tatsächlich um ein Gepäckstück, einen großen schwarzen Koffer, der durch den Aufprall anscheinend etwas lädiert war. Aber einen Körperteil, der daraus hervorschaute, konnte Rizzi nicht erkennen.

Schif‌ino drosselte das Tempo, und Rizzi rief Marcello zu: »Hast du jemanden gesehen, der dort etwas abgelegt hat oder von dort weggefahren ist?«

»Glaub mir«, schrie Perasole zurück. »In all den Jahren habe ich dort noch nie jemanden gesehen. Warum auch? Dort ist ja nichts. Cala del fico ist tote Hose.«

»Wer hat das Bündel entdeckt?«, schrie Rizzi.

»Was sagst du?«

Rizzi legte seine Hände trichterförmig an den Mund: »Wer die Entdeckung gemacht hat!«

Marcello Perasole wandte sich um, und kurz darauf erhob sich zögernd ein beleibter Mann in Shorts, mit einem Käppi auf dem Kopf, von seinem Sitzplatz. Sein Gesicht war knallrot und leuchtete in der Sonne. Unsicher hob er die Hand.

»Er ist Amerikaner«, schrie Perasole, als würde die Nationalität irgendetwas erklären. »Hast du gehört?«

»Schreib seinen Namen auf«, rief Rizzi, machte die entsprechende Geste, als würde er mit dem Finger etwas auf seine Handfläche notieren, und Perasole antwortete mit Daumen hoch.

Immer mehr Boote näherten sich aus verschiedenen Richtungen. Von einer Nussschale mit Außenbordmotor sprangen zwei Halbstarke ins Wasser, kraulten los, weil sie sich die Sache wohl mal aus der Nähe anschauen wollten, und wurden dabei von allen Seiten johlend angefeuert.

Rizzi ließ sich von Schif‌ino das Megafon geben. »Hier spricht die Polizei«, rief er, und seine Ansage hallte von den hohen Felswänden wider. »Das Baden in dieser Bucht ist bis auf Weiteres untersagt. Kehren Sie zurück in Ihre Boote. Unterlassen Sie das Filmen und Fotografieren, und fahren Sie weiter.«

Während Schif‌ino beidrehte, um den Felsvorsprung und das Gepäckstück darauf mit der Länge des Polizeibootes so gut wie möglich gegen die Blicke der Neugierigen abzuschirmen, versuchten Rizzi und Cirillo das, was da lag, genauer in Augenschein zu nehmen. Sie fotografierten es mit ihren Smartphones, vergrößerten beide mit zwei Fingern ihre Aufnahmen und sahen, dass es sich um einen schwarzen Hartschalenkoffer handelte, der mit einem Reißverschluss zusammengehalten wurde. Genau dort quoll aus einem Riss tatsächlich etwas Weißliches hervor, das schwer zu identifizieren war und matt im Sonnenlicht glänzte.

Schif‌ino kam mit dem Polizeiboot nicht weiter als bis auf zehn Meter heran. Die Brücke konnte man also nicht anlegen. Und einfach die Hosenbeine hochkrempeln und hinüberwaten ging auch nicht, dafür war das Wasser zu tief.

»Gib Teresa Bescheid«, sagte Rizzi zu Cirillo, während er begann, seine Hosentaschen zu leeren. »Gatti soll nach Marina Grande und dafür sorgen, dass die Inselumrundungsfahrten bis auf Weiteres ausgesetzt werden.« Er zog sein T-Shirt aus und streifte die Schuhe ab. »Das betrifft auch Marina Piccola und die Privatboote. Wir können jetzt keine Gaffer gebrauchen.«

»In Ordnung«, sagte Cirillo.

Während seine Kollegin den Anruf erledigte, stieg Rizzi über die Leiter ins Wasser. Er brauchte nur ein paar Schwimmzüge, dann war er am Felsen, wo die Wassertemperatur stark abfiel, als ob von unten, vom Meeresgrund, etwas Eiskaltes heraufsteigen würde. Er griff mit den Händen nach einem Vorsprung, stemmte einen Fuß unter Wasser in den Stein, hoffte, auf keinen Seeigel zu treten, setzte den zweiten Fuß auf und versuchte, sich an dem scharfen Felsen hochzuziehen. Er brauchte jedoch mehrere Versuche, bis er es geschafft hatte und an Land war.

Auf dem unebenen Plateau hatte er nun das Gepäckstück direkt vor Augen. Der Koffer war nass, weil sich die Wellen am Felsen brachen, dabei Salzwasser aufspritzte und den Kunststoff besprühte. Rizzi beugte sich über den Riss im Reißverschluss.

»Alles okay?«, hörte er hinter sich Cirillo vom Polizeiboot herüberrufen. »Kannst du etwas erkennen?«

Rizzi antwortete nicht. Es gab keinen Zweifel: Was im Sonnenlicht wie Porzellan schimmerte, war vermutlich ein Unterschenkel. Er kämpfte gegen ein Gefühl der Übelkeit und hatte ein Brausen in den Ohren, während Cirillo rief: »Soll ich Teresa sagen, dass sie die Mordkommission in Neapel verständigt?«

Wie durch Watte hörte er, dass Cirillo ins Wasser stieg und herübergeschwommen kam, und obwohl die Sonne auf seinen nackten Schultern brannte, fröstelte er. Was sollte er tun? Er war Inselpolizist, und in dem Koffer steckte ein Mensch, vollständig oder zerstückelt, von jemandem verpackt und wie Müll über die Klippen entsorgt. Er war auf eine solche Situation nicht vorbereitet. So etwas passierte woanders auf der Welt, aber doch nicht auf Capri.

Er half Cirillo aus dem Wasser. Tropfnass, in Hose und Bluse, stand sie neben ihm, strich sich die Haare aus der Stirn, sagte nichts, betrachtete den Kasten, und als würde etwas von ihrer Ruhe und Konzentration auf ihn übergehen, bemerkte er, dass der Reißverschluss intakt war und wie bei einem Kleidersack über die ganze Länge verlief. Man brauchte ihn nur zu betätigen.

Cirillo nickte, und er nahm den Metallanfasser und zog den Reißverschluss auf. Stück für Stück gingen die Kunststoffhälften der Hartschale auseinander, und eine Person kam zum Vorschein, die äußerlich unversehrt zu sein schien. Zusammengekrümmt wie ein Embryo, lag sie da und hielt Arme und Hände schützend vor ihren Körper. Es handelte sich um eine Frau, sie war barfuß, trug einen Rock und ein T-Shirt, das mit Pailletten verziert war. Das dunkle Haar war von hellen Strähnen durchzogen und im Ansatz grau. Rizzi schätzte, dass die Frau ungefähr so alt war wie seine Mutter, Anfang, Mitte sechzig, vielleicht auch etwas jünger.

Cirillo kniete vor dem Leichnam und tastete die Taschen des Rocks ab. Als würde noch ein Rest Leben in ihm sein, bewegte sich der Körper: Die Hände rutschten weg, der Kopf fiel auf die Schulter, und das Gesicht kam zum Vorschein.

Die Augen unter den geschwungenen Brauen waren geschlossen, die vollen Lippen bläulich, die fahlen Wangen aufgeschwemmt. Über dem Nasenrücken verlief ein kleines Muster aus geplatzten Äderchen.

Rizzi begann, das dünne Futter des Koffers abzutasten und nach etwas zu suchen, das einen Hinweis auf die Identität der Toten geben könnte, als Cirillo bei der Toten einen Gegenstand aus der Rocktasche hervorzog. Es war ein Kugelschreiber. In verschnörkelter goldener Schrift stand auf den Stift gedruckt: Hotel La Principessa.

»Siehst du das?«, fragte Cirillo und deutete beim Leichnam auf eine Stelle am Hals, unterhalb der weichen Falte, die ein Doppelkinn bildete. Unscheinbare Verfärbungen zeichneten sich dort ab, die wie Schatten auf der farblosen Haut lagen.

»Totenflecken?«, fragte Rizzi.

Cirillo schüttelte den Kopf. »Die Frau wurde wahrscheinlich erwürgt.«

3

Von Cala del fico aus war Punta di Tragara der nächste Landzugang und mit dem Polizeiboot in wenigen Minuten zu erreichen. Obwohl Cirillo Uniform trug, erregte ihre Ankunft keine besondere Aufmerksamkeit, und auf Rizzi, den Mann in Zivil, achtete erst recht niemand. Ab mittags, wenn der Felsen Faraglione di terra seinen riesigen Schatten auf die Bucht warf, packte die Mehrzahl der Badegäste ihre Sachen und wanderte mit der Sonne weiter nach Marina Piccola und Punta Carena. Zurück blieb nur ein kleiner Haufen, Rentner vor allem, die ihre Ruhe liebten. Jetzt beobachteten sie über ihre Lesebrillen hinweg das Anlegemanöver des Polizeiboots und die Kinder im Vorschulalter, kleine Nackedeis, die im seichten Wasser Steine aufeinanderhäuften – und diese Tätigkeit sofort wieder aufnahmen, nachdem Schif‌ino abgelegt hatte und mit großer Bugwelle zurück nach Cala del fico preschte.

»Was ist denn passiert?«, rief Sandro Dominici, der Chef der Anlage war und mit ein paar Handgriffen die leeren Liegestühle zurechtrückte. »Stimmt es, dass sich in Cala del fico jemand von den Klippen gestürzt hat?«

»Der Fall liegt ein bisschen komplizierter«, erklärte Rizzi und legte Dominici im Vorbeigehen eine Hand auf die Schulter.

»Kaffee?«, rief Dominici ihm hinterher.

»Nächstes Mal.« Rizzi stieg die Treppenstufen hinauf, aber Cirillo blieb stehen und sagte zu Dominici:

»So viel können wir Ihnen sagen: Es handelt sich um eine Frau um die sechzig, Identität unbekannt.« Sie trat näher. »Falls Ihnen in der letzten Zeit hier oder drüben in der Bucht irgendjemand oder irgendetwas aufgefallen ist, das Ihnen im Nachhinein seltsam oder verdächtig vorkommt, lassen Sie es uns wissen.«

»Was soll mir denn aufgefallen sein?«, fragte Dominici, seinen Blick starr auf Cirillos Bluse gerichtet, wo sich unter dem feuchten Stoff der BH abzeichnete. »Und die Bucht«, erklärte er, »kann ich von hier gar nicht einsehen.«

Rizzi wartete hinter den Gebäuden, der Strandküche, den Lagerräumen und sanitären Anlagen, wo sich der Weg gabelte. Links ging es nach Belvedere di Tragara und Capri-Stadt, von wo morgens die meisten Badegäste mit ihren Provianttaschen angeschlappt kamen, rechts war der Aufstieg zur Via Pizzolungo, dem Wanderweg, der unterhalb des Monte Tuoro verlief und zur Grotta di Matermania und dem Abzweig zum Arco Naturale führte.

Der Pfad war schmal und an manchen Stellen so steil, dass mit Rundhölzern Treppenstufen gebaut worden waren, die den Aufstieg erleichtern und ihn zusammen mit dem knorrigen Handlauf sicherer machen sollten. Es war windstill und heiß, die Luft über der Macchia flirrte, als wäre es noch immer August, und es duftete nach Rosmarin und Piniennadeln. Das an- und abschwellende Rauschen der Brandung wurde – je höher sie stiegen – immer leiser, bis gar nichts mehr zu vernehmen war, nur hier und da ein Rascheln im Laub, ihre Schritte und Cirillos Atem. Sie stapfte mit ihren schweren Schuhen hinter Rizzi her, blieb aber immer wieder stehen, als wäre sie auf einer Wanderung, bei der sie die schöne Aussicht genießen wollte, und nicht auf der Suche nach der Stelle, von wo die erdrosselte Person mutmaßlich über die Klippen geworfen wurde.

Rizzi schwitzte, und sein T-Shirt klebte ihm am Rücken. »Theoretisch könnte der Koffer mit der Leiche auch vom Meer in die Bucht getrieben worden sein«, sagte er. »Und eine Welle hat ihn auf den Felsvorsprung gehoben, wo er liegen geblieben ist.«

»Glaub ich nicht«, antwortete Cirillo, »eine Leiche, die stundenlang im Wasser treibt, sieht anders aus, das kannst du mir glauben. Ich weiß nicht, ob du das schon mal gesehen hast?« Sie blieb wieder stehen. »Körper und Gesicht sind dann bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen.« Cirillo schnalzte hinter ihm mit der Zunge. »Eine andere Möglichkeit wäre, dass jemand die Leiche von irgendwoher mit dem Boot nach Cala del fico transportiert und dort auf dem Felsen abgelegt hat, um eine falsche Spur zu legen. Kannst du dir nicht vorstellen? Wir sollten es aber nicht ausschließen. Wir sollten grundsätzlich erst einmal gar nichts ausschließen.«

Sie passierten den Aussichtspunkt und ließen die Leute hinter sich, die sich am Geländer vor dem blauen Meer mit den Faraglioni-Felsen im Hintergrund fotografierten. Nach der Kurve, wo es bald über die Treppenstufen zur Grotta di Matermania ging, begegnete ihnen niemand mehr, nur Eidechsen huschten über den Weg und verschwanden im trockenen Laub.

»Schau mal.« Cirillo beugte sich über eine kleine Blume, die in der Sonne platt am Boden lag. Wo das Moos einen löchrigen Teppich bildete, verlief über anderthalb Meter eine Spur, mehrere Zentimeter breit und insgesamt so fein, dass man sie auch leicht hätte übersehen können. Es war ein Reifenabdruck, eindeutig.

»Vielleicht von einem Mountainbike?«, fragte Cirillo.

Rizzi machte ein Foto. »Ich schlage vor, dass wir den ganzen Bereich weiträumig absperren«, sagte er und ließ sich von Cirillo die Rolle mit dem Flatterband geben. Er wickelte das Ende um den Stamm der nächsten Pinie, ging zu den Steineichen hinüber und weiter im Quadrat von Baum zu Baum, bis er das Band an einem Ginster verknotete.

Dahinter brach das Gelände steil ab. Fast auf Augenhöhe und scheinbar zum Greifen nahe, segelte ein Bussard und zog geduldig seine Kreise, während unten, auf der blauen, sanft gekräuselten Wasseroberfläche, wie an einer unsichtbaren Schnur aufgereiht, Boote lagen, Schaulustige wahrscheinlich, die sich auf ihren Yachten nichts entgehen lassen wollten und – vermutlich mit dem Fernglas in der Hand – abwarteten, was als Nächstes passieren würde. Sie hofften natürlich auf großes Kino, das etwas Spannung in ihr langweiliges Leben bringen würde. Es war zum Kotzen.

Rizzi musste sich weit vornüberbeugen, um Schif‌ino auf seinem Boot und die Leiche im Koffer auf dem Felsvorsprung zu sehen. Dorniges Gestrüpp wuchs hier und da aus den Felsspalten und brachte nicht nur Blätter, sondern auch winzige Blüten hervor. Rizzi sah jetzt, wie es passiert sein musste, und Cirillo pflichtete ihm bei: Die Sträucher hatten den Sturz des Koffers gebremst und den Aufprall auf dem Felsen abgemildert, was erklärte, warum die Leiche äußerlich nahezu unversehrt unten aufschlagen konnte und nur der Riss beim Reißverschluss entstanden war.

»Was schätzt du?« Cirillo starrte in die Tiefe. »Wie viele Meter? Zwanzig, dreißig?«

»Könnte hinkommen.« Rizzi schaute in die Ferne. Hinter den Faraglioni-Felsen tauchte ein Schnellboot auf, beschrieb zunächst einen weiten Bogen, kam dann mit hoher Geschwindigkeit näher und drosselte bei der Einfahrt in die Bucht das Tempo. Es war die Guardia Costiera mit den Beamten aus Neapel.

Während Schif‌ino den Kollegen Zeichen gab und ihnen etwas zurief – Wortfetzen, die von den Felswänden widerhallten und hier oben, auf der Klippe, nicht zu verstehen waren –, ließen die Beamten, einer in Zivil und zwei in Schutzanzügen, ein Schlauchboot ins Wasser, stiegen mit zwei Koffern ein und setzten die letzten zehn Meter zum Felsvorsprung über. Das alles passierte zügig, ohne dass zwischendurch überlegt, beratschlagt oder auch nur eine Sekunde Zeit vertrödelt wurde.

Rizzi und Cirillo wollten sich schon abwenden, als plötzlich, wie aus dem Nichts, ein zweites Boot angeschossen kam und mit voller Kraft auf die Bucht und die Felswand zuhielt. Es musste sich aus der Reihe der Boote mit den Schaulustigen gelöst haben.

Ein Wahnsinniger, dachte Rizzi, doch als das Boot im letzten Moment eine waghalsige, scharfe Kurve machte und ein Typ mit Kamera vorne auf dem Deck elastisch in die Knie ging, wusste er, was los war. Dass Paparazzi wie Adler um die Insel kreisten und Jagd auf Prominente machten, war nichts Neues. Aber dass die Klatschreporter genauso bei einer Toten draufhielten, ihre Würde verletzten und die polizeilichen Ermittlungen störten, war eine neue, verbrecherische Dimension.

Das Manöver ging so schnell, dass der Paparazzo schon wieder auf dem Rückzug war, bevor Rizzi die Szene mit dem Smartphone festhalten konnte. Schif‌ino bellte dem Kerl über Megafon noch etwas hinterher, doch die Laute verhallten zwischen den Felsen.

*

Cirillo blieb auf der Via Pizzolungo, Richtung Capri-Stadt, hinter Rizzi zurück, tippte Nachrichten, und wenn Rizzi ihre Miene und die Geschwindigkeit ihrer Daumen richtig deutete, ging es um etwas Privates, um ihren Sohn oder um ihren Ex oder – noch wahrscheinlicher – um beide. Dazu meldeten Mitteilungstöne den Eingang von einer Nachricht nach der anderen.

Rizzi holte ebenfalls sein Telefon heraus und rief Teresa Villa am Polizeiposten an. Sie war sofort am Apparat.

»Ispettore Lombardi ist unterwegs«, erklärte sie im Ton einer vielbeschäftigten Office-Managerin, bei der alle Fäden zusammenlaufen. »Er sagt, er ist in fünfundvierzig Minuten in Marina Grande, kommt dann direkt ins Büro und will ein Brief‌ing. Könnt ihr bis dahin hier sein, oder soll ich das übernehmen? Dann brauche ich Infos.«

Rizzi schaute auf die Uhr. »Wir stecken noch mitten in den Ermittlungen«, sagte er und berichtete, dass die Mordkommission inzwischen eingetroffen war und ihre Arbeit in Cala del fico aufgenommen hatte, während er mit Cirillo den Bereich oberhalb, auf den Klippen, für die Spurensicherung abgesperrt hatte. Jetzt seien sie auf dem Weg ins Hotel La Principessa, um noch etwas zu überprüfen und vielleicht einen Hinweis auf die Identität des Opfers zu bekommen. Bis jetzt wüssten sie nicht mehr, als dass es sich bei der Toten um eine Frau von schätzungsweise sechzig Jahren handelte, eine gepflegte, völlig normale und unauffällige Erscheinung.

»Das heißt, du kennst die Tote nicht?«, fragte Teresa.

»Nein«, antwortete Rizzi.

»Du hast sie noch nie gesehen?«

»Kann mich jedenfalls nicht erinnern.«

»Dann ist sie auch nicht von der Insel«, stellte Teresa fest, und die Erleichterung, die aus ihrer Stimme sprach, machte Rizzi wütend.

»Ja, möglicherweise ist das Opfer nicht von Capri«, bemerkte er. »Aber was ist mit dem Täter? Der lebt vielleicht mitten unter uns.«

»Ist es denn wirklich wahr?«, wollte Teresa wissen. »Wurde die Frau wirklich umgebracht? Oder gibt es am Ende vielleicht doch noch eine andere Erklärung?«

»Die Tote hat Würgemale am Hals«, antwortete Rizzi. »Für mich gibt es keinen Zweifel.«

»Wer tut so etwas, Erri?« Teresas Stimme zitterte. »Was sind das bloß für Menschen?«

»Wir werden es herausfinden.« Rizzi versprach, sich zu melden, sobald sich etwas Neues ergab, und legte auf.

Cirillo war immer noch dabei, Textnachrichten zu tippen, doch als Rizzi kurz darauf die Pforte zu einem Plattenweg öffnete, der in Stufen zwischen Zypressen hindurch den Hang hinunterführte, schaute sie verwundert von ihrem Handy auf und sagte: »Ich dachte, das Hotel ist oben, am Belvedere.«

Hinter einer Biegung und hohen Oleanderbüschen befand sich eine Gartenterrasse mit einem riesigen Feigenbaum in der Mitte. Unter seinem Dach standen runde Tische und eine Ansammlung verschiedener Stühle. Auf einem rundum verlaufenden Mäuerchen waren Töpfe mit Peperoncini, Petunien und üppigen Azaleen platziert. Dazwischen lag eine bernsteinfarbene Katze, die träge den Kopf hob und schläfrig blinzelte.

»Wo sind wir?« Cirillo steckte ihr Telefon ein.

»Bei Marianna«, antwortete Rizzi und rief: »Buongiorno!« Er ging zur Pergola, die von wildem Wein und blauem Plumbago überrankt war und ein Privathaus abschirmte, das etwas oberhalb stand und dessen weiße Mauern zwischen Buschwerk und halbhohen Mandarinenbäumen hindurchschimmerten. »Gibt’s noch was?«, rief er mit lauter Stimme.

»Küche ist zu!«, antwortete eine Frauenstimme, die sich anhörte, als käme sie aus dem Haus.

»Marianna?« Rizzi nahm seine Sonnenbrille runter und schirmte mit der Hand seine Augen vor der Sonne ab. »Ich bin’s. Enrico.«

Irgendwo rummste etwas, dann war zu hören, wie jemand in Holzpantoffeln Treppenstufen herunterkam und eher überrascht als fragend wiederholte: »Erri?«

Kurz darauf erschien das runde Gesicht einer Frau mit eilig hochgesteckten Haaren. Über ihrem Rock trug sie eine weite Hemdbluse. »Das gibt’s doch nicht!«, rief sie und breitete ihre Arme aus. »Gerade neulich sage ich zu Francesco: Dass Erri sich so überhaupt nicht mehr blicken lässt … Wir haben uns schon gefragt, ob es an dieser Frau liegt, der du verfallen bist, und ob wir mal ein ernstes Wörtchen mit dir reden müssen. Und schwups – stehst du da. Was verschlägt dich hierher?« Sie verteilte Küsschen und gab Cirillo die Hand.

»Wir sind dienstlich unterwegs«, erklärte Rizzi und stellte seine Kollegin vor. »Aber erst einmal brauchen wir eine Stärkung.«

»Ich kann euch einen Teller Spaghetti machen. Mit Miesmuscheln. Wie wäre das?« Marianna nahm benutzte Gläser vom Tisch und fegte ein paar Krümel von der Decke. »Einen Schokoladenkuchen habe ich auch, der ist im Ofen und braucht noch zehn Minuten.«

Rizzi ließ sich auf den Stuhl fallen und seufzte: »Her damit.«

Marianna breitete ein frisches Tischtuch über die karierte Decke und lud Cirillo mit einer Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen. »Darf man fragen, was passiert ist?«

»Keine schöne Geschichte.« Rizzi klappte die Bügel seiner Sonnenbrille zusammen. »Kam völlig unerwartet. Wir hatten gerade von der alten Beatrice Abschied genommen.«

»Gott sei ihrer Seele gnädig.« Marianna bekreuzigte sich, und Cirillo erklärte: »In Cala del fico wurde eine Frau tot aufgefunden. Die Umstände sind noch völlig ungeklärt, aber wir müssen von einem Gewaltverbrechen ausgehen.«

»Das ist ja grauenhaft.« Bestürzt schaute Marianna von Cirillo zu Rizzi. »Kennen wir die Frau? Ist sie eine von uns?«

»Die Ermittlungen haben gerade erst angefangen«, sagte Rizzi und fuhr sich erschöpft mit der Hand übers Gesicht. »Mehr können wir dazu im Moment nicht sagen.«

»Natürlich, das müsst ihr auch nicht.«

Nachdem sie hinter der Pergola verschwunden war und mit ihren Holzpantoffeln die Treppenstufen hinaufstieg, erklärte Cirillo: »Ich habe eigentlich gar keinen Appetit.«

»Setz dich«, sagte Rizzi.

Cirillo legte zögernd ihr Telefon auf den Tisch und schaute sich um, als müsste sie noch überlegen, ob die Pause sich mit ihrer Dienstauffassung vereinbaren ließ. Im Licht, das durch die Blätter des Feigenbaums fiel, bemerkte Rizzi, dass ihre norditalienische Blässe einer leichten süditalienischen Bräune gewichen war.

Marianna brachte Brot, Gläser, eine Flasche Wasser, eine Karaffe mit Weißwein und fragte bekümmert: »Müssen wir uns Sorgen machen? Ich meine, Cala del fico – das sind zu Fuß ein paar Minuten von hier.« Im Internet sei von einer Leiche in einem Koffer die Rede.

Rizzi rief auf seinem Smartphone die Seite auf. Als Erstes erschien ein Bild von Marcello Perasole, der sich vor seinem Ausflugsboot in die Brust warf, dazu ein zwanzigsekündiger O-Ton, in dem er – als wäre er nicht nur Augenzeuge, sondern auch von der Polizei – von »ungeklärten mysteriösen Umständen« sprach und damit die Tür zu einem riesigen Raum öffnete, der nun von jedermann in aller Ruhe genüsslich mit Spekulationen gefüllt werden konnte.

»Die Kollegen aus Neapel sind vor Ort«, erklärte Rizzi und legte sein Telefon weg, »und wir gehen schon den ersten Hinweisen nach.«

Marianna nickte anerkennend, füllte die Gläser mit Wasser und erkundigte sich nach Rizzis Schwestern.

Rizzi berichtete, dass Valentina auf Ischia gerade ihr drittes Kind eingeschult hatte und Barbara in Neapel dabei war, in der Staatsanwaltschaft die nächste Karrierestufe zu erklimmen, und wohl bald zur Dezernatsleiterin aufstieg. Barbara habe sie schon immer bewundert, meinte Marianna, wie sie ihr Ding durchzog, beruflich wie privat, und sich von niemandem etwas vorschreiben ließ. Als Cirillo auf die Uhr schaute, rückte Marianna den Brotkorb zurecht und verschwand wieder im Haus.

»Was ich mich frage –« Cirillo legte ihr Notizbuch auf den Tisch. »Kennt der Täter sich auf der Insel aus? Einerseits weiß er von der Stelle über Cala del fico und der Möglichkeit, dort die Leiche loszuwerden. Andererseits hat er nicht bedacht, dass es dort unten einen Felsvorsprung gibt und die Gefahr besteht, dass die Leiche darauf liegen bleibt, statt ins Meer zu fallen, wo sie vermutlich hin sollte.«

»Vielleicht war der Täter unter Zeitdruck«, mutmaßte Rizzi. »Oder in Panik. Und hat gar nicht nachgedacht. Wollte die Leiche einfach nur so schnell wie möglich loswerden.«

Ein Duft nach Knoblauch und Weißweinbouillon wehte herüber. Das Klappern von Geschirr war zu hören, das Zirpen einer Grille und wie Cirillo sich Notizen machte und in ihr Buch schrieb. Es war verrückt. Eigentlich war es sein freier Tag, er hatte nach der Beerdigung von Beatrice vorgehabt, mit der Auberginenernte voranzukommen, sich um den Scheibenwischer des Cinquecento zu kümmern und vielleicht noch einen Teil der Tomaten einzumachen.

»Wenn ich eine Leiche loswerden wollte«, sagte Cirillo, »würde ich zum Tiberio-Felsen gehen. Oder zum Arco Naturale.«

»Der Tiberio-Felsen ist am anderen Ende der Insel, da schleppst du ewig«, sagte Rizzi. »Und zum Arco Naturale musst du mit deiner Leiche über ziemlich viele Treppenstufen. So gesehen, war Cala del fico nicht die schlechteste Idee.«

Marianna brachte zwei dampfende Teller Spaghetti mit Miesmuscheln, gekocht in einem Weißweinsud und vermischt mit Pomodorini, Knoblauch und Petersilie.

Sie aßen schweigend, während ihnen die Katze um die Beine strich, und beendeten die Mahlzeit mit zwei Espressi und einem Stück Schokoladenkuchen, der innen noch warm und außen knusprig war.

»Kann ich noch etwas für euch tun?«, fragte Marianna, als sie die Teller und die Servietten abräumte.

»Danke«, sagte Rizzi, und Cirillo fügte hinzu: »Es war köstlich.«

Rizzi zog einen Geldschein aus seiner Hosentasche, aber Marianna hob empört die Hände.

»Das ist mein Beitrag dazu, dass ihr den Kerl zu fassen bekommt, der das getan hat«, sagte sie.

4

Das Hotel La Principessa war ein weißgetünchter Kasten am Ende der Via Tragara, nicht weit vom Belvedere, dem Aussichtspunkt, den man auf einem Spaziergang von der Piazzetta über die Via Camerelle noch gut in Flipflops erreichte. Nur wer darüber hinaus weitergehen wollte, war besser beraten, festes Schuhwerk zu tragen.

Das Gebäude stand leicht erhöht, war in der Sockelzone und um die Bogenfenster herum mit Felsstein verziert, teilweise von Efeu überwachsen und sah gar nicht besonders groß aus – was daran lag, dass es terrassenartig angelegt war und sich weit nach hinten, über den Hang erstreckte. Eine geschwungene Treppe führte zum Eingangsportal, wo zwischen Säulen und Buchsbäumen ein Portier in königsblauer Livree stand, gegen die sich Cirillos Uniform mit dem weißen Ledergürtel vergleichsweise schäbig ausnahm.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann höflich.

»Ich fürchte: nein«, antwortete Cirillo. »Aber vielleicht kommen wir später auf Sie zurück.«

Die Lobby war von leisem Klaviergeklimper erfüllt, das Licht gedämpft und die Luft angenehm klimatisiert. Im Zentrum der Halle stand ein großer Marmortisch mit einem üppigen Blumenbouquet. Rechter Hand befanden sich eine Sitzgruppe und ein Kaminbereich und im anliegenden Raum das Restaurant mit großen Fenstern zur Terrasse und einem wunderschönen Blick ins Grüne und aufs Meer.

Um diese Zeit war nicht viel los. Wer abreisen musste, war schon weg, wer blieb, war unterwegs, und die Neuankömmlinge checkten erst noch ein. An einer Werbetafel war ein Elektriker im Blaumann zugange, und der Rezeptionist im cremefarbenen Jackett hinter der Theke versuchte den beiden Herren in kurzen Hosen auf Englisch begreiflich zu machen, dass es an der Via Tragara keine Taxis gab, nie und zu keinem Zeitpunkt, weil die Gassen dafür zu eng waren und man hier am besten alles zu Fuß machte.

Rizzi nahm sich einen Kugelschreiber von der Empfangstheke, auf dem – wie bei dem Exemplar, das sie in der Tasche der Toten gefunden hatten – in goldener Schreibschrift Hotel La Principessa stand, und wollte gerade den Rezeptionisten ansprechen, als auf der anderen Seite der Lobby eine laute Stimme zu hören war: »Das lassen wir uns nicht bieten!«, rief ein Mann in gelben Bermudas mit hochrotem Kopf und deutschem Akzent. »Erst der Krach heute Morgen, und jetzt ist auch noch der Pool gesperrt?«

Eine Frau versuchte, den Mann und dessen Begleiterin zu beschwichtigen. »Es handelt sich um Wartungsarbeiten, die wir leider nicht aufschieben können.« Die Hotelangestellte – Rizzi schätzte sie auf Ende zwanzig – hatte ihr blondes Haar streng hochgesteckt, und die Nadelstreifen auf ihrem Hosenanzug suggerierten, dass sie hier eine herausgehobene Position hatte.

»Ich versichere Ihnen«, sagte sie, und ihr Italienisch hörte sich ganz weich an, »morgen früh ist der Pool wieder freigegeben. Darf ich Sie als kleine Geste der Wiedergutmachung zum Aperitif auf unsere Dachterrasse einladen?« Sie lächelte, als könnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als den aufgeblasenen Pinsel, der da auf weltmännisch machte, und seine Frau mit Vergünstigungen zufriedenzustellen, und signalisierte Rizzi und Cirillo durch einen kurzen Seitenblick, dass sie sie gesehen hatte und gleich zu ihnen kommen würde. »Die Getränke dort sind heute für Sie kostenlos«, fügte sie hinzu, »auch wenn ich weiß, dass es den verlorenen Badetag natürlich nicht wettmachen kann.«

»Was meinst du, Liebling?« Der Typ drehte sich zu seiner Begleiterin um, die auf goldenen Sandaletten, in halb durchsichtiger Strandbluse, gleichgültig mit den Achseln zuckte und Rizzi anstarrte, als hätte sie noch nie einen Mann in T-Shirt, mit Sonnenbrille und Gartenhose gesehen. Er erklärte sich mit dem Deal einverstanden und wandte sich zum Fahrstuhl, während seine Begleiterin Rizzi noch einen kurzen Blick über die Schulter zuwarf.

»Bitte, was kann ich für Sie tun?«, fragte die Angestellte im Hosenanzug. Auf dem silbernen Namensschild an ihrem Revers stand »Felicitas Hallin – Hotelmanagerin«.

»Wir ermitteln zu einer bestimmten Person.« Cirillo zeigte ihren Dienstausweis. »Die Frau wurde Opfer eines Gewaltverbrechens.«

»Gewaltverbrechen?« Die Managerin studierte mit roten Flecken am Hals Cirillos Dokument und wiederholte mechanisch: »Wie soll ich das verstehen?«

»Wir versuchen, die Identität der Frau zu klären«, sagte Rizzi, »und eine Spur führt hierher, ins Principessa.« Er schaute sich suchend um. »Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten? Ich bin übrigens Agente Rizzi.«

»Ich habe nicht viel Zeit.« Signora Hallin geleitete Rizzi und Cirillo an der Sitzgruppe vorbei in einen holzvertäfelten Gang mit Vitrinen, in denen Seidenschals und andere Modeartikel ausgestellt waren. Sie wollte anscheinend nicht mit der Polizei in der Hotelhalle gesehen werden.

»Ich bin hier erst seit erstem September angestellt«, sagte sie, und das Weiche und Zuvorkommende in ihrem Gesicht wich plötzlich einem harten, gestressten Ausdruck. »Heute ist mein sechster Tag. Wir haben eine kaputte Filteranlage, die Lärmbelästigung durch Baumsägearbeiten, einen Lieferengpass bei den Austern und Scampi, einige sehr anspruchsvolle Gäste. Und jetzt kommen Sie noch.«

»Tut mir leid.« Rizzi präsentierte ihr den Kugelschreiber mit der goldenen Aufschrift. »So einen hatte die Tote bei sich.«

»Die gibt es hier überall«, sagte Signora Hallin. »Wir schmeißen sie den Leuten hinterher, das ist die Idee. Es gibt sie auf den Zimmern, in der Lobby und an jeder Ecke. Sobald jemand nach etwas zum Schreiben fragt, bekommt er einen in die Hand gedrückt. Und?«

»Ich zeige Ihnen jetzt ein Foto.« Rizzi holte sein Telefon hervor. »Aber ich muss Sie warnen.« Er vergrößerte mit zwei Fingern die Aufnahme, die die Kollegen von der Kripo inzwischen von der Toten gemacht und ihm geschickt hatten. »Sind Sie bereit?«

»Ist in Ordnung«, erklärte Signora Hallin pragmatisch. Sie beugte sich über das Display – und verstummte. Mit regungsloser Miene betrachtete sie die Aufnahme, das dunkle Haar, die hellen Strähnen und geschwungenen Brauen, dazu die toten bläulichen Lippen, und fast schien es, als könnte sie sich nicht losreißen vom Anblick der fahlen, aufgeschwemmten Wangen und dem Muster aus geplatzten Äderchen auf dem Nasenrücken. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Wo haben Sie sie gefunden?«

»Kennen Sie die Frau?«, fragte Cirillo.

Die Aufnahme erlosch, aber Signora Hallin starrte weiter auf das Display. »Nein«, sagte sie, »aber vielleicht gibt es einen Zusammenhang mit einem gewissen Vorfall.« Sie sprach so leise, als würde sie zu sich selbst sprechen: »Eigentlich nichts Besonderes, es kommt immer mal wieder vor, dass Gäste wegbleiben. Leute im Urlaub wollen etwas erleben. Aber vor diesem Hintergrund –«

»Wovon sprechen Sie?«, unterbrach Cirillo.