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Auf einer Vortragsreise im Auftrag der Glaubenskongregation im Vatikan verirren sich der Parapsychologe Egidio Mazarro und seine Assistentin Coline nachts in der Eifel. Doktor Mazarro sieht sich in einem Flashback im Alter von vierzehn Jahren vor einer düsteren Höhle stehen. Er erinnert sich, damals von seinem Onkel, dem Kardinal Enrico d'Este, ein Märchen gehört zu haben, das von einer schrecklichen Gefahr in einer solchen Höhle berichtet. Mazarro und Coline beschließen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, und geraten dadurch unter den Fluch des blinden Königs.
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Seitenzahl: 193
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Jörg Kleudgen & E. L. BrechtDER FLUCH DES BLINDEN KÖNIGS
In dieser Reihe bisher erschienen:
3401 Jörg Kleudgen & Michael Knoke Batcave
3402 Ina Elbracht Der Todesengel
3403 Jörg Kleudgen & E. L. Brecht Der Fluch des blinden Königs
Jörg Kleudgen & E. L. Brecht
Der Fluch des blinden Königs
Ein Grusel-Thriller
Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerInnenillustration: Jörg KleudgenVignette: iStock.com/Hein NouwensSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-956-0Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
Als Mazarro vor dem Höhleneingang stand, hatte er das Gefühl, dass nicht Jahrzehnte vergangen waren, sondern … er war plötzlich wieder der vierzehnjährige Junge, der seinen Onkel auf einer Reise nach Deutschland begleitete. Damals hatte sein neugefundener Freund Jakob die Höhle unter der Freudenkoppe vor ihm betreten, während Mazarro gezögert hatte. Der schwarze Schlund hatte Jakob verschluckt … und bis heute nicht wieder hergegeben …
Es war einmal eine arme Frau, deren Mann war nicht aus dem Krieg heimgekommen. Sie hatte einen Jungen, der war ihr das Liebste auf der ganzen Welt. Eines Tages in einem besonders bösen Winter, der einfach nicht enden wollte, lag sie mit einem furchtbaren Husten im Bett. In der armseligen Hütte der beiden war es so kalt, dass an den Fensterbrettern Eiszapfen wuchsen und das wenige Essen, das sie besaßen, auf den Tellern gefror. Da rief die Mutter den Sohn notgedrungen und sprach zu ihm: „Sohn, ich tue es nicht gerne, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich muss dich in den Wald schicken, um Brennholz zu sammeln, sonst müssen wir beide erfrieren.“
Der Junge hatte ihr mit großen Augen zugehört, denn er fürchtete den Wald, von dem man sich erzählte, dass dort Räuber lebten, aber auch andere, schlimmere Dinge. Da es aber keine andere Möglichkeit gab, wenn sie überleben wollten, sagte er: „Mach dir keine Sorgen, liebe Mutter. Ich will gehen und bringe so viel Holz mit, als ich nur tragen kann.“ Und er schnürte sein Bündel und ging hinaus. Wie er aber zum Rande des Waldes kam, erschien ihm dieser so viel düsterer, als er ihn in Erinnerung hatte, dass sein Mut sank. Mit bösen Augen schien ihn der Wald zu verfolgen, und die heiseren Schreie unsichtbarer Vögel begleiteten seinen Weg. Am liebsten hätte er ja gleich am Waldrand mit dem Sammeln des Brennholzes begonnen, doch das war ihm nicht erlaubt. Denn jedes Haus im Ort hatte einen festgelegten Platz, und der seiner Mutter lag ganz tief drinnen im dunklen Herzen des Waldes. Also machte er sich auf den Weg.
(Auszug aus: Das Märchen vom blinden König)
„Mazzo, pass auf! Da vorne, ein Junge!“ Coline Lettieres besorgte Stimme riss Doktor Mazarro aus seinen Gedanken. Geistesgegenwärtig lenkte er den Wagen mit quietschenden Reifen auf die Gegenfahrbahn. Wie in Zeitlupe glitt der Junge am Straßenrand vorüber. Täuschte sich Mazarro, oder winkte er ihnen sogar noch zu? Nein, nicht ihnen, sondern nur ihm, so, als würden sie sich kennen. Der Wagen rollte auf dem Standstreifen aus. Gerade rechtzeitig, denn die Straße machte unmittelbar vor ihnen eine Kurve. Eine Leitplanke gab es nicht. Hinter der kaum noch erkennbaren Fahrbahnmarkierung fiel das Gelände steil ab. Der Grund der Schlucht war nicht zu erkennen.
„Entschuldige!“ Der Doktor, der von den meisten, die mit ihm zu tun hatten, kurz Mazzo genannt wurde, fuhr sich durchs Haar. Ihm war der Schreck anzusehen. „Das war knapp.“ Er blickte nach hinten, aber der Junge war nicht mehr zu sehen. Vermutlich hatte er sich ebenfalls erschrocken und war in die Dunkelheit davongerannt.
So hatte er sich ihre Rückreise nicht vorgestellt. Er ärgerte sich darüber, dass sie nicht, wie von Coline vorgeschlagen, gleich nach seinem Gastvortrag zum Thema Der Hexenglaube im modernen Europa in Düsseldorf übernachtet hatten.
Dabei hatten ihre Gastgeber, eine private, aber mit finanziellen Mitteln offenbar großzügig ausgestattete Stiftung, sie geradezu bedrängt, die für sie reservierten Suiten zu nutzen.
Der Abend war insgesamt sehr gut verlaufen. Mazarro hatte ein dankbares Publikum vorgefunden, das seinen Ausführungen gebannt folgte. Sicher, es gab immer einen selbsternannten Experten, der einem widersprach, aber der Doktor kannte dieses Spiel inzwischen gut genug, um damit umgehen zu können. Am Ende ging er daraus doch immer als Sieger hervor. Das verdankte er nicht zuletzt der hervorragenden Ausbildung, die ihm sein Onkel, Kardinal Enrico d’Este ermöglicht hatte, aber auch seiner langjährigen Arbeit für die Congregatio pro doctrina fidei. Die Nachfolgeinstitution der Inquisition. Nicht nur theoretisch hatte er alles über die Häresien und Sakrilege gelernt, die nach Ansicht des Vatikans den wahren Glauben bedrohten, sondern er hatte in den fünfundvierzig Jahren seines Lebens dem Widersacher selbst und seinen Dienern in mehr als nur einem Kampf auf Leben und Tod die Stirn geboten. Im Gegensatz zu den meisten Rednern seiner Profession hatte er seine Kenntnisse hundertfach in der Praxis angewendet. Er war sozusagen mit allen Weihwassern gewaschen.
Coline hatte sich auf ein ausgiebiges Bad und einen entspannten Abend gefreut. Aber Mazarro bestand darauf, gleich im Anschluss an den Vortrag weiter nach Trier zu fahren, wo am nächsten Tag eine weitere Veranstaltung der Reihe vorgesehen war. Er hatte sich ausgerechnet, dass ihnen dann genügend Zeit bleiben würde, sich die älteste Stadt Deutschlands in Ruhe anzusehen.
Es war eine Schnapsidee gewesen. Anfangs waren sie zwar noch gut vorangekommen. Doch dann hatten sie diese schlecht ausgeschilderte Umleitung nehmen müssen, weil die Autobahn wegen eines Unfalls gesperrt war. Egidio Mazarro war froh, dass ihn seine junge Sekretärin wie so oft auf solchen Vortragsreisen begleitete.
„Kehr lieber um, Mazzo!“, hatte Coline Lettiere gesagt, aber er vertraute lieber seinem Navigationsgerät, das ihn immer tiefer in die Eifel gelotst hatte. Sie waren durch winzige Dörfer mit seltsamen Namen gefahren. Der Doktor beharrte darauf, dass sie noch auf dem richtigen Weg fuhren. Vielleicht nicht mehr auf dem schnellsten, aber dafür auf dem kürzesten. Außerdem war es irgendwann zu spät zum Umkehren gewesen, und ein Autobahnschild hatte er auch nicht mehr gesehen. Dafür waren sie in diesen verdammten Wald gelangt. Einen unnatürlich finsteren Wald.
Mazarro konnte sich nicht erinnern, schon einmal in einem Wald mit so alten Bäumen gewesen zu sein. Für gewöhnlich empfand er die Natur nicht als bedrohlich. Doch diesem Wald wohnte etwas Böses inne. Das spürte er mit jeder Faser seines Körpers.
Die Scheinwerfer seines Wagens hatten Probleme, den dichten Regen zu durchdringen. Nasses Laub klatschte gegen die Windschutzscheibe, sodass Mazarro höchste Konzentration aufbringen musste, um der kurvenreichen Strecke zu folgen. Er hatte in Gedanken seine Dickköpfigkeit verflucht, die ihn davon abgehalten hatte, Colines Rat zu folgen.
Und dann war plötzlich der Berg aufgetaucht. Obwohl sie von tiefer Finsternis umgeben waren, hatte er sich als dunkler Kegel vor dem Nachthimmel abgezeichnet. Er war nicht besonders hoch. Eigentlich nur ein hoher Hügel. Doch sein Anblick hatte in Mazarro eine Erinnerung wachgerufen. Der Moment der Unachtsamkeit hatte ausgereicht, um die ungesicherte Kurve zu übersehen.
Zum Glück war niemand hinter ihnen gewesen. Überhaupt waren sie, wenn Mazarro so überlegte, seit ewiger Zeit keinem anderen Auto begegnet.
„Er ist fort. Was hat ein Kind mitten in der Nacht hier im Wald verloren?“ Mazarro ließ den Wagen zurück auf die Straße rollen. Er fühlte sich durch den Schrecken hellwach, wusste aber, dass dieser Zustand nicht lange vorhalten würde.
„Ich weiß nicht, aber ich glaube, wir sollten ihm dankbar sein. Hätte er nicht plötzlich da gestanden, wärst du womöglich den Abhang hinunter gefahren. Ich habe dir ja gesagt, dass …“
„Okay, wir halten am nächsten Hotel, an dem wir vorbeikommen“, lenkte Mazarro schuldbewusst ein.
„Hört, hört! Der Meister kommt zur Vernunft!“, spottete Coline Lettiere, legte ihm aber gleichzeitig ihre Hand auf den rechten Unterarm, sodass er ihr unmöglich böse sein konnte. Aus dem Augenwinkel registrierte er, wie sich seine Partnerin im Beifahrersitz zurücklehnte und die Anspannung wie eine unsichtbare Last von ihr abfiel. Auch für Coline war die Fahrt bei dem schlechten Wetter und der erdrückenden Dunkelheit eine enorme Anstrengung.
Der unheimliche Berg fiel hinter ihnen zurück, und der Wald lichtete sich. Kurz darauf riss die Wolkendecke auf, sodass eine schmale Mondsichel sichtbar wurde. Dann tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein gelbes Ortsschild auf. „Todtenroth“, las Coline laut. Die ersten Häuser schälten sich aus der Dunkelheit. „Sieht nach einem gottverlassenen Nest aus.“ Auf Colines Stirn wuchs eine steile Falte, während sie leise sprach.
Mazarro sagte nichts. Er folgte einer weiten Rechtskurve, dann bremste er abrupt ab.
„Bingo!“
Das Schild mit der Aufschrift Eifeler Hof war so schwach beleuchtet, dass man es kaum bemerkte. Hinter den Butzenscheiben schien jedoch anheimelnd gelbes Licht, und auf dem Kundenparkplatz stand zumindest ein Wagen. „Lass uns mal nachfragen, ob wir hier unterkommen können!“
Mazarro stieg aus und ging um den Wagen herum, um Coline die Tür aufzuhalten. Dabei kam er an dem geparkten Auto vorbei, einem feuerwehrroten Ford Taunus. Der Wagen musste mindestens vierzig Jahre alt sein.
„Aber gut im Lack!“, stellte Mazarro fest. „Als sei er gerade erst vom Fließband gerollt.“
„Wie meinst du?“ Coline trat neben ihn.
„Ach nichts“, Mazarro schloss die Wagentür hinter ihr ab. „Dann wollen wir mal!“
„Jakob ist weg.“ Die Frau sprach diese Worte so beiläufig, als stelle sie fest, dass die Milch sauer geworden ist, aber ihr Gesicht drückte Resignation und Erschöpfung aus. „Er war heute Morgen nicht in der Schule.“
„Nicht in der Schule, sagst du?“ Ihr Mann ließ den staubigen Rucksack kraftlos auf die Eckbank fallen. Der Arbeitstag im Sägewerk war anstrengend gewesen. Es hatte Ärger mit Roland, dem Vorarbeiter, gegeben. Wie so oft in den letzten Wochen. Und nun das! „Der Bengel … ich habe schon immer gesagt, dass er eine harte Hand braucht …“
„Du verstehst nicht, Hermann“, entgegnete seine Frau tonlos. Sie nahm eine Bierflasche aus dem Kühlschrank und stellte sie vor ihrem Mann auf den Tisch, der automatisch danach griff. „Ich habe Peter gefragt, ob er wüsste, wo Jakob ist …“
„Er hat gesagt, er sei in den Wald gegangen, richtig?“ Er wusste, dass er recht hatte, noch bevor seine Frau nickte. „Verdammt, ich habe es ihm hundertmal, tausendmal gesagt …“ Der Mann schleuderte die volle Flasche gegen die Wand hinter dem Herd, wo sie zerschellte. Dann schlug er die Hände vors Gesicht und weinte haltlos.
Seine Frau trat neben ihn und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. „Wir müssen mit Martin sprechen. So kann es nicht weitergehen. Es muss etwas unternommen werden!“
Im Eingangsbereich herrschte eine wohlige Wärme. Neben der Garderobe stand ein Zigarettenautomat mit so exotischen Marken wie Overstolz, Eckstein und Senoussi sowie ein altmodischer Automat für karamellisierte Erdnüsse.
Mazarro öffnete die Tür zur Gaststube und ließ Coline Lettiere den Vortritt.
Die Luft, die ihnen entgegenschlug, war warm, stickig und rauchgeschwängert. Eine solche Wirtshausatmosphäre ließ den Doktor unwillkürlich an seine Kindheit denken.
„Wirt, es sind Fremde gekommen!“, rief ein bärtiger Kerl mit Koteletten und einem riesigen Hemdkragen, der mit anderen Männern am Tisch direkt neben der Tür beim Kartenspiel hockte.
Die Gesichter der Kneipengäste waren gerötet. Mazarro sah keine einzige Frau unter ihnen. Ihre Blicke wirkten herausfordernd und – auf Coline Lettiere bezogen – interessiert. Gut, sie sah wie immer blendend aus, aber die Art und Weise, wie sie gemustert wurde, ging über die übliche Aufmerksamkeit hinaus.
Wie ausgehungerte Raubtiere!, schoss es Mazarro durch den Kopf.
Der Doktor bugsierte seine attraktive Begleiterin zu einem in der Ecke gelegenen Zweiertisch. Das Licht war schummrig, Mazarro hatte den Eindruck, dass sich der Rauch dort sammelte. Er rückte einen Stuhl für Coline zurecht und blickte sich um, nachdem er selber Platz genommen hatte.
Entweder war die Kneipe seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden, oder der Betreiber hatte eine Vorliebe für Inneneinrichtungen aus den 1970er Jahren.
Mazarro musste grinsen, als er auf dem Schwarzweiß-Fernseher in der gegenüberliegenden Ecke Ben und Little Joe Cartwright aus der Fernsehserie Bonanza erkannte. Er wollte Coline gerade darauf aufmerksam machen, als ein Mann an ihren Tisch trat, bei dem es sich offensichtlich um den Wirt handelte. Sein Haar war schulterlang und strähnig; er wirkte ungepflegt. Als seien die fettigen Haare nicht genug, hatte sich der Wirt in ein viel zu enges T-Shirt gezwängt, das sich mühte, den üppigen Bauch zu bedecken. Es musste ein Museumsstück sein, denn darauf prangten die Maskottchen der Fußballweltmeisterschaft von 1974.
„Sie wünschen?“, fragte er an Coline gewandt und schien Mazarro dabei vollkommen zu ignorieren.
„Gibt es die Möglichkeit, bei Ihnen zu übernachten?“, machte sich der Doktor bemerkbar. „Bei Ihnen können wir doch mit Kreditkarte zahlen, oder?“
Der Mann blickte ihn an, als habe er ihn nicht verstanden oder noch nie etwas von elektronischen Zahlungsmitteln gehört. Hinterwäldler!, dachte Mazarro, hütete sich aber, diesen Gedanken auszusprechen.
„Sie ham Glück, es gibt noch Zimmer, wenn Sie nicht allzu anspruchsvoll sind.“
„Wir nehmen beide eins!“, beeilte sich Coline zu sagen. „Und können wir bei Ihnen auch noch etwas zu essen bekommen?“
„Unsere Küche hat bereits geschlossen. Aber ’nen Strammen Max könnt ihr haben!“, brummte der Gastwirt.
„Einen strammen was?“ Coline Lettiere blickte Mazarro fragend an.
„Ein Brot mit Schinken, einem Spiegelei und einer sauren Gurke“, erklärte der Doktor und wandte sich dann an den Schwarzbärtigen. „Das nehmen wir beide. Und dazu bitte zwei Bier.“
Grummelnd zog sich der Mann in seine Küche zurück, während die anderen Besucher sich wieder ihren Gesprächen zuwandten und den beiden Neuankömmlingen, abgesehen von einzelnen verstohlenen Blicken, keine Beachtung mehr schenkten.
Mit dem Wirt verschwand auch der penetrante Geruch von Schweiß und altem Frittierfett.
Während sie auf das Essen warteten, stellte Coline Lettiere eine Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge gebrannt hatte: „Nun erzähl mal, was war eben mit dir los?“
„Wie? Äh ...“ Mazarro löste sich von der Vietnam-Dokumentation, die inzwischen über den Bildschirm des Fernsehers flimmerte. Das Gerät war genauso alt wie der ganze Rest der Einrichtung. Wie in einem Museum. „Ich habe mich eben an etwas erinnert. Jedenfalls glaubte ich das. Ich weiß nicht mal, ob es meine eigene Erinnerung war oder nur etwas, das ich einmal gelesen habe.“
„Was meinst du damit?“
„Also, es ist so, dass ich die Ereignisse einerseits ganz deutlich vor Augen habe, aber andererseits nicht sagen kann, wie die ganze Geschichte ausgegangen ist. Ich habe einen totalen Blackout! Aber ich bin sicher, dass ich schon einmal hier war …“
„Mazzo?“ Enrico Slavo Kardinal d’Este klang besorgt. Als drohe seinem Neffen Gefahr. Todesgefahr! Doch was konnte ihm hier schon passieren?
Mazarro warf einen Blick zurück über die Schulter. Die Straße lag weit entfernt auf der anderen Seite des Landsitzes, in dem sein Onkel sich für zwei Wochen zu Studienzwecken aufhielt. Was genau er dort tat, konnte Mazarro nicht sagen. Nach dem gemeinsamen Frühstück verschwand der Kardinal regelmäßig in der alten Bibliothek, die er erst zum Mittagessen wieder verließ.
Jetzt allerdings war er auf den schmalen Balkon hinausgetreten.
Mazarro sah zum gegenüberliegenden Waldrand, der still und finster da lag, eine kompakte schwarze Masse, die alles in sich aufsaugen würde, was ihr zu nahe kam. Aus diesem Dunkel schälte sich plötzlich ein blasses Oval.
Mazarro erkannte Jakobs Gesicht.
Er hatte den gleichaltrigen Jungen bereits am Tag nach ihrer Ankunft kennengelernt, als er mit dem Fahrrad zum nahegelegenen Dorf gefahren war. Der Waldweg mit seinen knorrigen Wurzeln war eine echte Herausforderung für seine Geschicklichkeit gewesen. Als er mit zitternden Knien am einzigen kleinen Laden des Ortes anlangte, lungerten vier Jungs und ein Mädel vor dem Schaufenster herum. Sie sahen ihn herausfordernd an, und als er mit seinem Eis wieder aus dem Geschäft herauskam, hatte ihm der größte der Jungs ein Bein gestellt. Mazarro war gestürzt. Sein Eis war auf dem Boden gelandet, und er selber hatte sich das Knie aufgeschlagen.
Aber er hatte sich aufgerafft und den Jungen aufgefordert, sich zu entschuldigen. Doch der lachte nur. Und dann, Mazarro wusste selber nicht mehr, wie es dazu gekommen war, rangen sie plötzlich miteinander. Von den Rufen der anderen Kinder angestachelt, wälzten sie sich im Staub und rissen einander an Haaren, Nase und Ohren, bis Mazarro schließlich oben zu liegen kam und der andere Junge zugeben musste, dass er besiegt war.
Nachdem er ihn freigegeben hatte, reichte der Junge ihm die Hand und stellte sich als Jakob Krämer vor.
So hatte sich Mazarro bei den Kindern Respekt verschafft, und sie waren Freunde geworden. In den darauffolgenden Tagen hatten sie den Neuankömmling in ihre Abenteuer mit einbezogen, bei denen Jakob weiterhin der unangefochtene Anführer blieb. Mazarro fühlte, dass der Junge anders war als die anderen. Und als Jakob ihm eine Mutprobe vorschlug, ahnte er, dass dieser kurz davor stand, ihm ein Geheimnis zu verraten, das er nur mit wenigen teilte.
Das Gesicht verschwand im Dunkel, aber die Abmachung blieb: Heute Abend, bei Vollmond, zu den Höhlen!
Mazarro wiederholte die Worte in Gedanken, dann wandte er sich um und ging langsam zum Haus zurück. Sein Onkel kam ihm auf der Terrasse entgegen. Kardinal d’Este hatte Sorgenfalten auf der Stirn. „Was hast du da im Wald gesehen, Mazzo? War da etwas?“
„Nein, nein, Onkel, ich …“ Der Junge wich dem Blick seines Onkels aus. Ohne zu wissen, weshalb, hatte er ihm bislang nicht von Jakob erzählt. Auch nicht an dem Tag, an dem er schmutzig und mit aufgeschürften Knien nach Hause gekommen war.
„Hör mir zu … ich möchte nicht, dass du alleine in diesen Wald gehst. Auf gar keinen Fall! Hast du mich verstanden?“ Mazarro hatte den Onkel selten so ernst sprechen gehört.
„Ja, Onkel“, versprach Mazarro, und das war nicht einmal gelogen. Denn Jakob würde ihn begleiten, in dieser Nacht, sobald es dunkel wurde.
„Gut, dann geh und wasch dich, und sag mir Gute Nacht, bevor du zu Bett gehst!“
Mazarro war froh, dem forschenden Blick des Onkels zu entkommen und nicht noch weitere Fragen beantworten zu müssen. Er lief die Treppe hinauf und ins Bad, doch anstatt sich auszukleiden, ließ er Hemd und Hose an und putzte sich lediglich ausgiebig die Zähne.
Seinen Gute-Nacht-Gruß rief er nur die Treppe herab, doch Kardinal d’Este schien ihn nicht zu hören. Vermutlich war er bereits wieder in seine Aufzeichnungen vertieft und nahm nichts von dem wahr, was um ihn herum geschah. Nun, dann eben nicht! Mit einem Schulterzucken ging Mazarro zu seiner Schlafkammer.
Er legte sich auf sein Bett und starrte zur Zimmerdecke. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass der kühle Abendwind die Vorhänge aufbauschte. Immer und immer wieder, mit jeder Böe, als erwachten sie zum Leben. Mazarro drehte sein Gesicht zum Fenster, um den Tanz der Gardine mit dem Wind besser beobachten zu können. Und dann gefror das Blut in seinen Adern. Hinter der Gardine schien sich eine Figur abzuzeichnen. Mazarro konnte deutlich menschliche Konturen erkennen. Er spürte seinen Herzschlag bis in den Hals; Blut pulsierte in seinen Schläfen.
Wer mochte da stehen? Und warum sagte er nichts?
Langsam erhob Mazarro sich von seinem Bett. Die Gardine fiel glatt herab, um sich im nächsten Windstoß unheimlich aufzublähen.
Mit einem hastigen Ruck riss der Junge den Vorhang zur Seite. Doch dort, wo er einen Eindringling vermutet hatte, war nichts außer Leere und der kalten Luft, die durch das geöffnete Fenster eindrang.
Mazarro schloss das Fenster und legte sich wieder aufs Bett. Erneut überkamen ihn Zweifel, ob die Mutprobe richtig war. Die Arme hinter seinem Kopf verschränkt, glitt er langsam in einen Dämmerzustand. Immer weniger nahm er sein Zimmer wahr. Er bewegte sich an der Grenze zwischen der realen Welt und dem Reich der Träume. Und während er sich ausmalte, was wohl im Wald und der verbotenen Höhle auf ihn wartete, glaubte er den Geruch von feuchtem Laub und einen Wind, der durch Baumkronen strich, wahrzunehmen.
Mazarro sah sich auf dem gewundenen Pfad, der zur Höhle führte.
„Ist es richtig, dass wir hier sind?“, fragte er an Jakob gewandt, doch der grinste ihn nur an und antwortete nicht. Er schien einen Punkt anzustreben, an dem sich die Schwärze zusammenzog. Dort, wo die Bäume so dicht beieinander standen, dass man sich zwischen ihnen hindurchzwängen musste.
Mazarro folgte seinem Freund, doch die Abstände zwischen den Bäumen wurden mit jedem Schritt geringer, bis er schließlich steckenblieb. Zwei Stämme hielten ihn fest, und Jakob verschwand in der Finsternis vor ihm. Mazarro wollte um Hilfe rufen, doch etwas hinderte ihn daran. Die Bäume schienen noch enger zusammenzurücken. Sie quetschten seinen Brustkorb zusammen.
Erstickungsangst flammte in ihm auf.
Er war gefangen, und die nachtschwarze Finsternis raubte ihm die Sicht. Und dann stand er plötzlich vor ihm.
Ein Fremder, der ihm doch irgendwie bekannt vorkam.
Als Mazarro aufwachte, erinnerte er sich nur bruchstückhaft an seinen Traum. Einzelne Bilder verflüchtigten sich wie Rauch. Wie ein gehetztes Wild war er durch einen finsteren Wald gelaufen. Als die Bäume ihn aufgehalten hatten, hatte er geglaubt, ein fortwährendes Flüstern zu vernehmen. Und war dann nicht ein Unbekannter aus dem Nichts aufgetaucht?
Die Warnung seines Onkels musste sich in seinem Unterbewusstsein festgesetzt haben. Zum Glück hatte ihn etwas geweckt und seinen Alptraum beendet.
Ein leises Klirren drang an sein Ohr. Jemand warf kleine Steinchen gegen das Fenster seines Zimmers.
Jakob! Mazarro war mit einem Sprung aus dem Bett. Hastig riss er das Fenster auf, bevor es am Ende noch zu Bruch ging. „Ist schon gut, ich habe dich gehört“, flüsterte er in die Dunkelheit. „Ich komme schon!“
Vorsichtig stieg Mazarro aus dem Fenster und kletterte an einem eisernen Rankgerüst herab, an dem Rosen wuchsen. Bereits mehrmals hatte er diesen Weg gewählt, um sich einen Spaß mit seinem Onkel zu erlauben.
Im Haus war es dunkel. Der Kardinal d’Este schien bereits zu schlafen.
„Ich dachte schon, du kneifst!“, flüsterte Jakob misstrauisch.
Mazarro schüttelte den Kopf und sah mit ernster Miene zu seinem Freund hinüber. „Was ich verspreche, das halte ich auch“. Mit einer kurzen Bewegung machte er dem Freund klar, dass er bereit war, in den Wald zu gehen.
Der schaurige alte Wald wirkte bei Nacht noch unheimlicher. Wie mit ausgebreiteten Armen umfing er die beiden Jungen und saugte sie in seiner Finsternis auf.
Jakobs Taschenlampe spendete nur wenig Licht, und dieses blendete Mazarro eher, als dass es ihm den Weg wies. Sie streiften durchs Dickicht, bis Mazarro plötzlich anhielt. Das Knacken eines Astes hatte ihn aufhorchen lassen.
„Hast du das gehört?“ Mazarro bildete sich ein, eine Gestalt zu sehen. Hob sich da vor schwarzem Hintergrund eine Silhouette ab, oder spielten ihm seine angespannten Nerven einen Streich?
Er strich mit seiner Hand übers Gesicht, als könne er so das Bild verjagen.
Wahrscheinlich stand er noch unter dem Einfluss seines Traumes.
„Nee, was denn?“, vernahm er unmittelbar vor sich Jakobs Stimme. Auch in ihr lag ein leichtes Zittern. „Was ist, Mazzo, kackst du dir schon ins Hemd? Komm schon weiter, wir haben nicht ewig Zeit. Wenn meine Alten bemerken, dass ich weg bin, ist zu Hause die Hölle los!“
Als würden die Bäume mit kalten Fingern nach den Jungs greifen, streiften die Äste über ihre Arme, als sie ihren Weg durch den Wald fortsetzten.
„Du weißt also nicht, was Kardinal d’Este hierher geführt hat?“ Coline betrachtete Mazarro nachdenklich, nachdem er seine Erzählung beendet hatte.