Lovecrafts Schriften des Grauens 40: Halligspuk - Jörg Kleudgen - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 40: Halligspuk E-Book

Jörg Kleudgen

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Beschreibung

In den dunklen Wintermonaten wird es einsam auf den Halligen im nordfriesischen Wattenmeer.Auch nach Hooge verirren sich dann nur noch wenige Fremde, so wie eines Tages Uwe Voehl und Jörg Kleudgen. Schon bald ließen sich die beiden Autoren von dem unvergleichlichen Zauber des Ortes gefangennehmen.HALLIGSPUK nannten sie ihre Sammlung von eigenen, dort ersonnenen Geschichten, die schon bald vergriffen war und zum gesuchten Sammelobjekt wurde.

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In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume2104 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Stolzenstein2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 22118 Alfred Wallon Salzburger Albträume2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 32122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg2124 Andreas Zwengel Finsternacht2125 Silke Brandt (Hrsg.) Feuersignale2126 Markus K. Korb Treibgut2127 Tobias Reckermann (Hrsg.) Drommetenrot2128 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 42129 Peter Stohl Das Hexenhaus in Arkheim2130 Silke Brandt (Hrsg.) Das Kriegspferd2131 Anton Serkalow Berge des Verderbens2132 Klaus-Peter Walter Sherlock Holmes gegen Cthulhu2133 T. E. Grau Diese alten und dreckigen Götter2134 Anton Serkalow Träume im Heckenhaus2135 Michael Buttler Die Astronautenvilla2136 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 52137 Anton Serkalow Das Fest2138 Julia A. Jorges Hochmoor2139Manuela Schneider Unbekannter Feind2140 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Halligspuk

Halligspuk

Lovecrafts Schriften des Grauens

Buch 40

Jörg Kleudgen

Uwe Voehl

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

© 2024 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a,  51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney

Umschlaggestaltung: Mario Heyer

Satz: Gero Reimer

2140v1

ISBN: 978-3-7579-9526-3

Inhalt

Vorwort

Was Kapitän J. Bandix von seiner großen Fahrt mitbrachte

Jörg Kleudgen

Das Phantom im Nebel

Uwe Voehl

Vom Schicksal der Santa Lucrezia

Jörg Kleudgen

Der Schwarze Fething

Uwe Voehl und Jörg Kleudgen

Die Schwarze Marit

Uwe Voehl und Jörg Kleudgen

Der Sturmflutmann

Uwe Voehl

Der Höllenpesel

Uwe Voehl und Jörg Kleudgen

Der Fliegende Holländer

Jörg Kleudgen

Eine Weihnachtsgeschichte von der Hallig Hooge

Uwe Voehl

Von der verschwiegenen Entdeckung des versunkenen Rungholt

Jörg Kleudgen

Die Begegnung

Uwe Voehl

Anmerkungen

Joerg Kleudgen

Uwe Voehl

Die Geschichten wiedergegeben, wie sie anno 2004 nach bestem Wissen von zwei Festlandbewohnern niedergeschrieben wurden, ergänzt um vier neue, gar schreckliche Ereignisse.

Vorwort

„Wenn sich Festlandbewohner, die mit den ungeschriebenen Gesetzen der See nicht vertraut sind – und derer gibt es mehr als nur den stetigen Wechsel von Ebbe und Flut –, in die schlickgraue Welt des Wattenmeeres und jener scheinbar ziellos dahingeworfenen Erdhügel begeben, die man die Halligen nennt, dann gehen sie mitunter unwägbare Risiken ein.“

Mit diesem Zitat aus der Erzählung Von der verschwiegenen Entdeckung des versunkenen Rungholt begann der Klappentext der 2004 erschienenen Erstausgabe der Sammlung HalligSpuk - Schauergeschichten von der Hallig Hooge, und es beschrieb exakt das, was Uwe Voehl und mir widerfuhr, als wir uns zu Halloween im Jahre 2003 nach der Hallig Hooge begaben, nämlich das Risiko, sich in seinen Geschichten zu verlieren. Innerhalb kürzester Zeit waren sechs Geschichten entstanden, die sich um rätselhafte Artefakte aus der Zeit des Walfangs, um die versunkene Stadt Rungholt und schaurige Orte wie den Höllenpesel rankten.

Dabei lassen sich interessanterweise zwei literarische Einflüsse auf die Texte identifizieren. Zum einen ist der kosmische Horror H. P. Lovecrafts, der sich in den vagen Andeutungen des Grauens widerspiegelt wie in dem Kind der Mette in Der schwarze Fething, das die Mutter vor den Blicken der Öffentlichkeit verbirgt, oder das Unaussprechliche, das die beiden unbedarften Forscher am Ende von Von der verschwiegenen Entdeckung des versunkenen Rungholt eher erahnen, denn wirklich sehen.

Andere, wie Vom Schicksal der Santa Lucrezia oder Der Höllenpesel kann man eher in der Tradition des Seemannsgarns sehen, wie es Martin Luserke sponn, des gebürtigen Berliner Schriftstellers, der zahlreiche schaurige Küstengeschichten verfasste.

Die erste Ausgabe des HalligSpuk war rasch vergriffen und wurde bald zu astronomischen Preisen antiquarisch gehandelt. Eine Neuauflage scheiterte aus verschiedensten Gründen, obschon zwischenzeitlich weitere Geschichten hinzugekommen waren.

Als mich im Sommer 2023, zwanzig Jahre nach unserem Aufenthalt auf der Hallig, deren Tourismusbüro anschrieb, reifte rasch der Plan einer erweiterten Ausgabe, für die sich der BLITZ-Verlag interessierte. Parallel zu dieser Veröffentlichung sollen die Geschichten auf der Hallig selbst an den jeweiligen Schauplätzen mittels eines QR-Codes als Audiodatei abrufbar sein.

Dass der Zauber dieses außergewöhnlichen Ortes auch nach all den Jahren noch fortwirkt, zeigte sich, als wir eigens für diese Sammlung den Text Die schwarze Marit verfassten. Es war, als erzähle sich die Geschichte ganz von selbst. Sie war bereits vorhanden. Wir mussten sie nur noch niederschreiben.

Jörg Kleudgen

Was Kapitän J. Bandix von seiner großen Fahrt mitbrachte

Jörg Kleudgen

Wenn mit Hereinbrechen des Winters die Tage kürzer werden und schwere Stürme über die Uthlande fegen, rücken die Menschen auf Hooge enger zusammen, und in so manch gemütlichem Pesel1 machen dann die Sagen die Runde, die seit Jahrhunderten vom Vater an den Sohn weitergegeben werden. Manche von ihnen lassen sich nicht mehr exakt datieren, und es ist im Grunde auch nicht wichtig, wann sie sich ereignet haben. Die spektakulärsten aber stammen aus der Zeit von 1650 bis etwa 1800, als viele Männer von der Hallig zum Walfang ausfuhren. Mehr als die Hälfte von ihnen fand ein kaltes Grab in der Tiefe ferner Meere, doch die, die zurückkehrten, waren meist gemachte Männer.

Das größte Unglück dieser Zeit fand im Jahre 1777 statt und wird auf den Halligen als die Totenreise bezeichnet. Siebenundzwanzig Walfangschiffe waren damals vor Grönland im Eis eingeschlossen worden. Nachdem ihre Vorräte aufgebraucht gewesen waren, hatten die Männer versucht, zu Fuß zu einer menschlichen Siedlung zu gelangen. Die eine Hälfte von ihnen war der Küstenlinie Ostgrönlands gefolgt, die andere hatte versucht, das besiedelte Westgrönland zu erreichen, unter ihnen auch der einäugige Kapitän Johan Bandix. Er war der Einzige von dreihundert Seeleuten, der die Reise überlebte.

Kapitän Bandix, der ein halbes Jahr nach dem Unglück von einem zurückkehrenden Walfänger in einer Siedlung von Robbenjägern am Rande einer unvorstellbaren Ödnis aufgenommen wurde, berichtete nie, was genau in diesem Winter geschehen war. „Tot ... alle tot!“, waren die einzigen Worte, die er über die Lippen brachte, als man ihn in den Tagen nach seiner Rettung nach dem Schicksal der Kameraden befragte. Er war ein gebrochener Mann, schien es.

Doch Bandix erholte sich erstaunlich rasch. Schon vor der Fahrt war er ein Mensch von geradezu übermenschlicher Kraft gewesen, einer Kraft, die er später übrigens auch an Sohn und Enkelsohn vererbte. Als er nach gefahrvoller Fahrt endlich nach Hooge zurückkehrte, waren ihm die Entbehrungen kaum mehr anzusehen, so kraftstrotzend wirkte er. Selbst sein Haar, das beinahe grau gewesen war, als man ihn im primitiven Dorf der Robbenjäger gefunden hatte, hatte nun wieder eine tiefschwarze Farbe angenommen.

In See stechen wollte Johan Bandix jedoch von da an nicht mehr. Vielmehr schien es, als fürchte er sich, wenn schon nur ein Schiff am Horizont auftauchte. Dann flüchtete er in seine Hütte auf der heute vergessenen Pohnswarft, verriegelte die Tür und war auch für seine nächsten Angehörigen nicht mehr zu sprechen. Selbst die hatten übrigens niemals einen Blick in seine Seemannskiste werfen dürfen, die er quer durch halb Grönland geschleppt haben musste.

Dementsprechend phantastisch waren die Gerüchte, die sich um ihren Inhalt rankten. Sie sei voller Gold und wertvoller Schnitzereien aus Walbein, das er den unbedarften Wilden abgenommen habe, sagten die einen. Nein, ein grausiges Geheimnis hüte die Kiste, meinten die anderen. Einer meinte: „Es ist das Herz eines Walfisches, das er darin aufbewahrt, das jenes Fisches, der seine Gefährten auffraß!“

„Unsinn“, entgegnete der Nächste. „Es ist seine schwarze Seele, die er dem Teufel, um welchen Preis auch immer, abgekauft hat. Das wird kein gutes Ende nehmen!“

Ja, so mancher hatte sich wohl gefragt, wie es Johan Bandix gelungen war, als Einziger die Katastrophe zu überleben, und das eisige Schweigen, in das er sich hüllte, half wenig, das Gerede der Leute zu zerstreuen. Und auch sein durchaus seltsames Verhalten – von dem manches wohl angedichtet war und von den Chronisten, die seine Geschichte weitererzählten, später überhöht wurde – trug dazu bei, ihn zu einer Art dunklen Legendengestalt werden zu lassen. Er ernähre sich nach Art der Inuit ausschließlich von rohem Fleisch und Fisch, hieß es da etwa, und er bekäme in finstren Sturmnächten Besuch von tangbehangenen Gestalten, die der aufgewühlten See entstiegen.

Der alte Kapitän scherte sich nur wenig um die Dinge, die man über ihn erzählte. Er zog sich jedoch mehr und mehr zurück und nahm bald nicht einmal mehr an den Gottesdiensten teil, die er einst noch als stiller Beobachter in der hintersten Bank mitverfolgt hatte.

Irgendwann verloren die Menschen das Interesse an ihm und seiner Seemannskiste. Es gab Wichtigeres. Manche verließen die Insel. Sturmfluten verwüsteten Hooge, es gab Jahre, in denen das Vieh schlimm erkrankte, und andere, in denen den Halligbewohnern ein kleiner Wohlstand beschert war.

Der Kapitän wurde alt und älter und wollte immer noch nicht sterben. Es wurde auffällig, dass er an Stärke seinen Sohn, dem er bei der Bewirtschaftung des Hofes von Zeit zu Zeit zur Hand ging, noch übertraf und von erstaunlich robuster Gesundheit war.

Wer weiß, wie das Ganze geendet wäre, hätte der alte Mann es mit seiner Geheimniskrämerei und seiner Menschenscheu nicht so weit getrieben, dass er an einem Silvesterabend – er war da wohl schon über hundert Jahre alt – wider den alten Brauch des Rummelpottlaufens gehandelt hätte. Es verhält sich nämlich so, dass an diesem Abend die Menschen der Hallig von Warft2 zu Warft ziehen, die Kinder und Jugendlichen teilweise mit furchterregenden Masken und ohrenbetäubend lauten Instrumenten bewaffnet, um großzügige Gaben zu erbitten, die Erwachsenen, um gemeinsam beim Friesengeist und heißen Grog das neue Jahr zu begrüßen.

Zum Haus des alten Bandix ging eigentlich schon seit Jahren keiner mehr, denn man wusste ja, dass er seine Ruhe haben wollte. In diesem Jahr jedoch waren die Kinder wie berauscht vom Trubel des Festes und der Fülle der Geschenke, die sie bereits auf der Hans- und Backenswarft gesammelt hatten. Ausgelassen machten sie sich über den schmalen Stichpfad hinauf zu dem windschiefen Haus, das, von kahlen Apfelbäumen umstanden, wie ein tonnenschwerer Fels im fahlen Licht des Mondes lag.

Wie zu erwarten gewesen war, öffnete der Alte nicht, als die Schar lärmend an seine Türe polterte und kreischend auf den mitgeführten Kochtöpfen trommelte. Er hatte sich in eine kleine Kammer im Giebel zurückgezogen, aus deren einzigem runden Fenster ein honiggelbes Licht fiel.

Die Kinder waren an diesem Abend besonders ausdauernd und wollten sich nicht so leicht geschlagen geben. Deshalb kletterten zwei der leichtesten auf einen der knorrigen Bäume, dessen Zweige bis dicht vor das Dachbodenfenster reichten, durch das die Kinder nun einen Blick werfen konnten. Tatsächlich sahen sie Kapitän Johan Bandix. Und ihnen stockte der Atem, als sie erkannten, dass er vor seiner geöffneten Seemannskiste kniete und etwas in den Händen hielt, das wie ein schwarzer, glänzend polierter, eiförmiger Stein aussah. Er mochte von nicht geringem Gewicht sein, denn der alte Bandix, dessen raue und haarige Hände den Gegenstand liebkosten, entnahm ihn vorsichtig der mit weißem Leinen ausgeschlagenen Kiste und hielt ihn in Augenhöhe gegen das Mondlicht, in dem er in einem blutroten Feuer zu glimmen schien wie ein gewaltiger Tropfen geronnenen Blutes. Dasselbe Licht sprang einem Funkenregen gleich auf das eine Auge des Kapitäns über. Voller Ehrfurcht senkte er den Stein und hielt inne. Er musste eine Bewegung in der Dunkelheit vor dem Fenster wahrgenommen haben.

„Schnell, fort!“, zischte einer der beiden auf dem Baum den unter ihnen Wartenden zu, die längst verstummt waren und gespannt nach oben starrten. Diese Worte brachen den Bann des Augenblicks. Die Schar der Kinder lief kreischend davon. Und Bandix fand, als er nach polterndem Treppenabstieg vor die Tür seines Hauses trat, niemanden mehr vor. Denn nach oben blickte er nicht. Wohl aber behaupteten die beiden auf dem Baum, er habe eine ganze Weile schnüffelnd dagestanden und unverständliche Worte vor sich hin gemurmelt.

Sie erzählten jedoch erst später davon, als die schrecklichen Nebel wieder abgezogen waren, die sich Hooge seit dem Neujahrsmorgen aus westlicher Richtung langsam genähert hatten und die Hallig am Dreikönigstag vollkommen einhüllten, genau dem Tag, an dem siebzig Jahre zuvor das Schiff des Kapitäns vor Grönland gesunken war.

Es heißt, der Alte sei in diesen Tagen immer und immer wieder zwischen Warft und Vorland hin und her, ja, sogar bis auf die Buhne3 hinausgelaufen und habe dabei vor sich hin gemurmelt: „Es darf nicht sein, es darf noch nicht sein! Sie haben es versprochen!“ Er habe nichts mehr essen wollen, berichtete seine Tochter, die auf dem benachbarten Hof lebte und sich um den Vater sorgte, den sie trotz seiner Eigenarten liebte. Und Bauer Jacob Petersen wollte am Abend des fünften Januar auf dem Nachhauseweg durch den Nebel Hammerschläge gehört haben, so als vernagelte Bandix Fenster und Türen. Dass er sein Haus später jedoch noch mindestens einmal verließ, belegt die Tatsache, dass er sich zur Beichte zum Pastor auf die Kirchwarft begab, wie dieser später erklärte. Was der Alte ihm jedoch gebeichtet hatte, wollte er wegen des Schweigegelübdes nicht verraten, so sehr ihn die Halligbewohner auch drängten. Doch wenn er darüber sprach, schob er stets rasch ein: „Friede seiner unsterblichen Seele!“, hinterher und bekreuzigte sich.

Die Ereignisse des Dreikönigstages lassen sich anhand verschiedener, leider nicht übereinstimmender Zeugenaussagen rekonstruieren. Am frühen Morgen hatte der Nebel eine derartige Dichte erreicht, dass sich nur wenige Halligbewohner aus dem Haus wagten. Es war windstill, sodass nicht damit zu rechnen war, dass sich das Wetter bald änderte. Doch still war es nicht. Seltsame Geräusche waren vom Meer her zu hören, ein Knarren und Stöhnen wie von einem Geisterchor, dass es den Menschen, die es hörten, kalt den Rücken hinablief, und ein Brausen, Glucksen und Rasseln, als ob sich etwas Schweres über den Meeresboden aufs Land zuschob. Das Schlimmste war, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, geschweige denn, was sich da im Nebel auf die Insel zubewegte.

Guntram Lorenz, der sich mutig den Geräuschen genähert hatte, berichtete von einer eisigen Kälte, die plötzlich nach ihm gegriffen und ihn gelähmt hatte. Unter Aufbringung aller Willenskraft war es ihm gelungen, sich abzuwenden und, von elementarer Furcht erfüllt wie ein kleiner Junge, in sein Haus zu stürzen und die Tür hinter sich zuzuschlagen.

Die aufschlussreichste und gleichzeitig verwirrendste Feststellung bezüglich der Erscheinungen traf Ommo von Holdt, der an diesem Morgen von der Westerwarft zur Kirchwarft unterwegs war, um dem Pfarrer bei den Vorbereitungen zum Gottesdienst zur Hand zu gehen. Er war stehen geblieben, als er hoch oben im Nebel ein flackerndes blaues Licht sah, das sich langsam der Pohnswarft näherte, und da, noch eins! „Elmsfeuer!“, will er ehrfürchtig gemurmelt haben, als er es gesehen hatte, denn er kannte sich aus, war er doch selbst einst auf einem großen Segler in die Welt hinausgefahren und hatte so manchen Spuk gesehen. Er war überzeugt davon, beobachtet zu haben, wie sich unterhalb der blauen Lichter zuerst die Umrisse von Masten und schließlich die eines ganzen Schiffes, eines Totenschiffes, wie er meinte, abgezeichnet hätten. Und mehr noch: Der uralte Ommo, der 1777 noch ein Kind gewesen war, schwor, dass es sich um genau das Schiff handelte, mit dem Kapitän Bandix damals auf Walfang ausgefahren war.

Anna Beringsen und ihre fünfjährige Tochter Luise waren weiter von der Stätte des Grauens entfernt gewesen. Sie behaupteten, Wolken in der Gestalt galoppierender Schimmel beobachtet zu haben, die mit stampfenden Hufen, von weißer Gischt umgeben, aufs Land und in Richtung Pohnswarft gebrandet waren.

Was auch immer die Menschen vor Schreck an Ort und Stelle gebannt beobachtet haben wollten, man fand keine wie auch immer gearteten Spuren, die sich von der See zur Pohnswarft zogen, nicht einmal ein Grashalm war niedergedrückt. Doch alle hörten dasselbe unheimliche Saugen und Kreischen, als die Erscheinungen die Pohnswarft erreicht hatten und sie umkreisten wie eine Wasserhose. Und sie hörten die unmenschlichen Schreie, die doch die des alten Kapitän Bandix sein mussten, denn ein anderer Mensch war zu dieser Stunde nicht auf der Warft.

Als sich der Nebel am Mittag endlich verzog, war die Tür zum Haus des Johan Bandix gewaltsam geöffnet. Er selbst war spurlos verschwunden. Die Seemannskiste jedoch stand noch auf dem Dachboden, aber sie war leer bis auf den Ballen groben Leinens, das zur Polsterung gedient hatte. Darin deutlich sichtbar fand sich eine Vertiefung, die ein schwerer, etwa eiförmiger Gegenstand hinterlassen hatte. Und alle waren sich einig: Der Leibhaftige hatte sich die Seele des alten Bandix geholt.

Das Phantom im Nebel

Uwe Voehl

Später wussten sie nicht mehr zu sagen, wer das verräterische Glitzern im Schilf zuerst bemerkt hatte. Jedenfalls war es Meike, die leichtfüßig den Graben übersprang, sich bückte und aus dem Schilf einen länglichen Gegenstand herausholte. Erst als Meike wieder an seiner Seite stand, erkannte Sven, um was es sich handelte. Es war eine Pfeife aus altem, schwarzen Bruyèreholz. Das Glitzern stammte von dem silbernen Schmuckring, der Pfeifenkopf und Mundstück miteinander verband. Die Pfeife war in einem armseligen Zustand, verschmutzt mit vertrocknetem Schlick und Seetang, und zugleich verströmte sie den Odem von etwas Kostbarem, das man nicht ohne Weiteres wieder wegwarf.

Dennoch ekelte es Meike, das Ding in der Hand zu halten. Der Pfeifenkopf fühlte sich warm an, wie etwas Lebendiges, als wäre vor Kurzem noch glühender Tabak darin gewesen.

„Zeig mal!“, verlangte Sven, und fast war Meike froh, die Pfeife los zu sein.

Sven war selbst passionierter Pfeifenraucher, und als solcher leuchteten seine Augen interessiert auf, als er das Fundstück einer eingehenderen Betrachtung unterzog. „Die ist schon alt“, sagte er schließlich. „Wer weiß, wie lange sie vorher im Schlick gelegen hat. Der Schmuckring könnte kostbar sein – echtes schweres Silber.“

Er rieb daran. „Der Ring ist sogar verziert. Warte mal ... Hier sind Schriftzeichen drauf ...“ Sven beugte sich vor.

Ein plötzlicher Windstoß ließ Meike frösteln. „Lass uns das Ding wieder wegwerfen!“, sagte sie zweifelnd.

Sven sah sie erstaunt an. „Was ist denn los mit dir?“

„Ich weiß auch nicht, irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl ...“

„Kommt nicht infrage.“ Mit einer raschen Bewegung steckte Sven die Pfeife in seine Jackentasche. Fast, als wolle er ganz sichergehen, dass Meike sie ihm nicht wieder entriss.

Am Abend überraschte Meike Sven, wie er in der Gästeküche saß und den Fund vorsichtig mit Wasser und Wattestäbchen säuberte. Sie setzte sich zu ihm und sah ihm unbehaglich zu. Den Pfeifenkopf hatte er inzwischen so weit von Schlick gesäubert, dass die Schnitzereien darauf besser zu sehen waren.

„Was stellen sie eigentlich dar?“, fragte Meike und kämpfte gegen ihren Widerwillen an. Entfernt erinnerten sie die Schnitzereien an polynesische Statuen, wie sie sie von Aufnahmen kannte, die man auf den Osterinseln gemacht hatte. Außerdem glaubte sie, einige Tentakel zu erkennen.

„Keine Ahnung, vielleicht irgendwelche heidnischen Fischgötter“, mutmaßte Sven. „Die Arbeit ist recht grob ausgeführt – fast wie ein Holzschnitt. Interessanter erscheinen mir die Zeichen auf dem Silberring. Einige davon könnte man als Buchstaben deuten, andere sind nur verschlungene Hieroglyphen ...“

„Glaubst du, dass sie schon lange dort im Schilf war?“

Sven runzelte die Stirn. „Sie scheint sehr alt zu sein. Auch der Zustand, in der sie sich befindet, lässt darauf schließen, dass sie schon sehr lange im Schlick lag. Vielleicht nicht an der Stelle, an der wir sie gefunden haben. Möglicherweise ist sie freigespült worden oder irgendein Vogel ist auf das Glitzern des Silberrings aufmerksam geworden und hat sie in das Schilf transportiert.“

„Hi Mom, hi Paps!“, ließ sich plötzlich eine Stimme hören. Tanja, ihre dreizehnjährige Tochter, kam mit langen, wehenden Haaren ins Zimmer gestürmt. Ihre Wangen glänzten rot.

„Na, wie war’s heute im Pferdestall?“, fragte Meike. Irgendwie ahnte sie, dass etwas Besonderes vorgefallen war.

„Ich glaube, ich habe mich heute zum ersten Mal verliebt“, sagte Tanja. „Ich meine, richtig verliebt!“

„Erzähl schon!“, drängte Meike. Die Idee, hier Urlaub zu machen, schien sich zumindest für Tanja auszuzahlen. Während sie und Sven tagsüber endlich mal wieder Zeit zum Lesen fanden und bei langen Spaziergängen rund um die Hallig seit Langem wieder ernsthaft miteinander ins Gespräch kamen, konnte Tanja ihrem Hobby – Pferde – frönen.

„Er heißt Ole, ist sechzehn und gestern hier angekommen.“

„Herzlichen Glückwunsch!“, sagte Sven und wandte sich wieder seinem Fundstück zu.

In der Nacht kam Sturm auf. Er rüttelte an den Fensterläden des kleinen Zimmers, das Sven und Meike für eine Woche gemietet hatten. Tanja schlief gleich nebenan in einem Einzelzimmer. Einmal krachte etwas so laut von draußen gegen das Fenster, dass beide kerzengerade in ihren Betten standen. Als Sven das Fenster öffnete und draußen nachschaute, war nichts zu sehen. Selbst der Sturm hatte sich gelegt.

Am nächsten Morgen fühlten sich beide wie gerädert. Tanja hatte nichts gehört. Sie hatte wie ein Stein geschlafen, wie sie behauptete. Erst der Kaffee brachte Sven und Meike wieder auf die Beine. Sie nahmen das üppige Frühstück wie jeden Morgen in dem gemütlichen Café ein, das gleich gegenüber ihrer Pension auf sie wartete.

Meike gönnte sich einen Extralöffel der köstlichen, hausgemachten Erdbeermarmelade, die sie auf dem noch ofenwarmen Brötchen verteilte, während sie auf den Sturm zu sprechen kam. „Ist doch komisch“, sagte sie zwischen zwei Bissen, „dass der Sturm so plötzlich wieder aufhörte in der Nacht.“

„Was ist daran merkwürdig? Auf einer Hallig spielt das Wetter öfter Kapriolen.“ Mit der Messerspitze köpfte Sven geschickt sein Frühstücksei und gab einen zufriedenen Laut von sich. Es hatte genau die richtige Konsistenz – nicht zu weich und nicht zu hart. „Unsere Zimmerwirtin ist wirklich ein Genie.“

„Lenk nicht ab, Sven. Der Lärm heute Nacht war ebenso merkwürdig.“ Plötzlich fiel Meike etwas ein. „Wenn es ein Ast gewesen ist, der gegen das Fenster geknallt ist, müsste er doch noch dort draußen liegen. Wir könnten nachsehen und ...“

„Wollten wir nicht heute Morgen nach Landsende wandern?“, unterbrach Sven sie, und irgendwie vergaßen sie beide darüber, weiterhin über die vergangene Nacht zu diskutieren.

Wer auf der Hallig spazieren geht, der hat immer einen herrlichen Rundumblick. Die langen Wege führen geradeaus, das Meer ist meistens in Sichtweite und ein paar der Warften ebenfalls. Bei guter Sicht sieht man andere Spaziergänger schon kilometerweit. Manchmal vertut man sich. Dann entpuppen sich die vermeintlichen Menschen als Pfähle in der Landschaft. Starr und knorrig gen Himmel gerichtet wie mahnende Zeigefinger.

An dem Spätnachmittag, an dem Sven und Meike den unheimlichen Spaziergänger das erste Mal bemerkten, zogen bereits die ersten Nebelschwaden über die Hallig hinweg. Der Fußgänger war vielleicht einen Kilometer weit entfernt und stand regungslos da.

„Was der wohl da macht“, wunderte sich Meike. Irgendetwas an seiner Gestalt flößte ihr einen leichten Schauder ein.