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Was tot ist, soll tot bleiben. David Grau will Rache. Ein letztes Mal müssen sich Stefan und seine Freunde dieser menschenähnlichen Kreatur stellen. Ein Riss im Kosmos, pilzartige Wucherungen mit Bewusstsein und Willen. Und eine Macht, die von außen in unsere Welt eindringen will. Im Kampf gegen den Wahnsinn ist das Leben nicht das teuerste, was für Stefan auf dem Spiel steht. Phillipsdorf - Bezirk des Wahnsinns (5. Roman)
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Seitenzahl: 300
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In dieser Reihe bisher erschienen
3401 Jörg Kleudgen & Michael Knoke Batcave
3402 Ina Elbracht Der Todesengel
3403 Jörg Kleudgen & E. L. Brecht Der Fluch des blinden Königs
3404 Thomas Tippner Heimkehr
3405 Melanie Vogltanz Die letzte Erscheinung
3406 Jan Gardemann Die Seltsamen
3407 Jörg Kleudgen & E. L. Brecht Höllische Klassenfahrt
3408 Daniel Weber Phantasmagoria Park
3409 Jan Gardemann Die Rache der Seltsamen
3410 Daniel Weber Die zweifelhafte Erbschaft
3411 Daniel Weber Die unerwartete Zeugin
3412 Daniel Weber Das zerfallende Genie
3413 Daniel Weber Die andere Welt
3414 Daniel Weber Der ewig junge Herr
Grusel-Thriller
Buch 14
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© 2024 Blitz Verlag
Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH
Mühlsteig 10 • A-6633 Biberwier
Redaktion: Eric Hantsch
Titelbild: Mario Heyer
Umschlaggestaltung: Mario Heyer u.V. der KI Software Midjourney
Vignette: iStock.com/Hein Nouwens
Satz: Gero Reimer
Gedruckt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
www.blitz-verlag.de
3414 vom 27.07.2024
ISBN: 978-3-689-84059-4
Anmerkung
Prolog
Erster Teil: Davids Geschichte
Ein Jahr zuvor: Der unerwartete Gast
Aus dem Leben David Graus I
Veränderungen I
Aus dem Leben David Graus II
Veränderungen II
Aus dem Leben David Graus III
Veränderungen III
Aus dem Leben David Graus IV
Veränderungen IV
Aus dem Leben David Graus V
Veränderungen V
Aus dem Leben David Graus VI
Veränderungen VI
Aus dem Leben David Graus VII
Veränderungen VII
Zweiter Teil: Davids Ende
Die Belagerung
Geiseln
Ein Ultimatum
Unerwartete Hilfe
Wunden lecken
Gefangen im Spukhaus
Die Graugasse
Eine halbwegs frische Leiche bitte
Ein Irrgarten aus Schimmel
Die Beschwörung
In den Kosmos (zum letzten Mal)
Das Laboratorium als Gruft
Ghoulische Heißhungerattacke
Das Ende des ewig jungen Herrn
Zurück zum Anfang
Der Flötenspieler in der Schwärze
Wahnsinn und Genesung
Epilog
Danke!
Über den Autor
Für Oma,
in der Hoffnung,
dass es bei Dir da oben
gut ausgestattete Büchereien gibt.
Mein Name ist Stefan Hanns.
Ich bin verrückt.
* * *
Gestatten Sie mir hier, am Beginn des letzten Teils meiner Geschichte, noch eine Anmerkung:
Man sagt, der Autor sei Herr über seine Geschichte, denn schließlich erzählt er sie ja, hat er sie erfunden. Allerdings fühle ich mich manchmal selbst wie eine Figur in meinen Geschichten, als schriebe ich nur das auf, was mir eine mir höher gestellte Instanz eingibt; mein Erzähler? Ohne Zweifel erzähle ich das, was mir wirklich passiert ist (natürlich mit einigen Auslassungen und vielleicht einigen Verbesserungen bei Stellen, die ansonsten zu langweilig geworden wären), aber manchmal wundere ich mich schon ... Meine Freunde und ich sind auf so viele Schrecknisse gestoßen – warum sind wir noch am Leben, zumindest die meisten von uns? Ich weiß nicht, ob all das Grauen, gegen das wir bereits kämpfen mussten, wirklich böse war; wahnsinnig sicher, sadistisch vielleicht, angsteinflößend auf alle Fälle. Aber Gut und Böse sind menschliche Begriffe. Die Dinge, die mich und meine Freunde bedrohten, waren jenseits davon ... Da wundere ich mich einfach manchmal, welche Gegenkraft wir darstellten – und ob vielleicht doch so etwas wie Vorsehung, Schicksal oder irgendetwas Höheres existiert, das auf uns achtgibt und uns vielleicht sogar lenkt.
Wer weiß ...
Am Morgen des 01. Mai 2017, ein Montag, genau um eine Minute nach Mitternacht, schleppte sich eine Gestalt die Graugasse entlang, dorthin, wo einst das schmiedeeiserne Eingangstor zum Grau-Anwesen aufgeragt hatte. Die Gestalt war ohne Hut, ohne Sakko und ohne Spazierstock auf der Straße. Das Hemd hing ihr in Fetzen, ihr Gesicht war blutverschmiert, denn sie hatte eine lange, lange Zeit aus Augen, Nase, Mund und Ohren geblutet. Auch die schwarzen fettigen Haare waren wie verkrustet und hüllten den Kopf in einem wirren Knäuel ein. Wenn sie nach links blickte, sah sie, dass auch der Grau’sche Grund vollkommen verwüstet war. Der Reitplatz war eingeebnet. Den Tennisplatz gab es nicht mehr. Es war eine reine Ödnis, die vormals zum Verweilen eingeladen hatte. Jetzt nicht mehr.
Keuchend besah sich David Grau die Überreste der Mauer, die einst den Garten seines Anwesens umringt hatte. Er ließ den Blick schweifen über verbrannte Erde. Hie und da standen noch geschwärzte Gerippe einstmals künstlerisch bearbeiteter Büsche, die grässliche Figuren dargestellt hatten, und diese Gerippe weinten auf einer unhörbaren Frequenz. Die Skulpturen, die nicht minder schrecklich gewesen waren, waren zerbröselt, und wo sie gestanden hatten, bildeten weiße Sandhaufen ein vergängliches Denkmal.
David Grau torkelte auf die Stelle zu, wo Stufen zum Haustor geführt hatten, und weiter auf die aufgewühlte Erde, die die meisten Trümmerhaufen seines ehemaligen Anwesens schon verschluckt hatte. Dort lag neben einem Steinbrocken ein Türrahmen. Woanders ein Teil einer mittelalterlichen Ritterrüstung. Wieder woanders fand er zwei Schwerter aus seiner einst so herrlichen Sammlung. Ein loser Buchdeckel war eingequetscht zwischen den Trümmern. Er zog ihn heraus und stellte mit Bedauern fest, dass er einst die von ihm abgeschriebene Version des Necronomicon bedeckt hatte. Ein Teil eines Bilderrahmens knirschte unter seinem nackten Fuß. (Ja, auch Schuhe hatte er keine an.) Und als er weiterging, noch ein oder zwei Schritte, bevor er auf die Knie sank, zog er eine Blutspur von einer neuen Wunde an seiner Sohle hinter sich her.
Der Mond beleuchtete die kauernde Gestalt fast wie ein Bühnenlicht. Vor seinen Knien erkannte er zwei kleine leblose Wesen: Eine verkrümmt daliegende Ratte und einen von Erde halb verdeckten fetten rosa Wurm. Phillipsdorf war selbst in seiner irdischen Version sonderbar. Manches verschluckte der Ort unbarmherzig: Menschen zum Beispiel, oder den Trümmerhaufen, der einst sein Zuhause gewesen war. Aber der Wind hatte die weißen Sandhaufen im ehemaligen Garten nicht berührt. Und jetzt starrte David Grau kniend sogar auf diese beiden unseligen Kreaturen, als wären ihre Leichname eine Botschaft.
Er streckte eine zitternde Hand nach ihnen aus, ballte sie zur Faust und ließ sie sinken. Er grollte unweltlich. Seine Stimme war nur ein hauchendes Flüstern, als er sagte: „Dabei ist es heutzutage so schwer, gutes Personal zu finden.“
Er blickte auf und in die Richtung, wo einst der Abstieg in die Verliese gewesen war. Dieser Abstieg war verschwunden, verschluckt von der Erde, der gruftartige Irrgarten aus feuchtem Gestein und rasselnden Ketten vermutlich aufgeschüttet und unzugänglich. Also war sein Gefangener entkommen ... Vor wie langer Zeit schon? Wie lange hatte er gegen Josef gekämpft, ohne als Sieger aus diesem Kampf hervorgegangen zu sein? Wie lange hatte ihn das Geistergassenviertel festgehalten, bis er endlich hatte fliehen können?
Er knirschte mit den Zähnen. Josef ... Er hatte ihn unterschätzt. Oder vielleicht hatte er sich selbst überschätzt? Wie auch immer. Es war geschehen. So also fühlte sich eine Niederlage an. Es kratzte an seinem Stolz. Nein. Es riss regelrecht daran. Nicht nur das: Josef hatte auch die Verbindung zu seinem Gefangenen gekappt. In beide Richtungen? Oder nur in eine? Konnte der andere immer noch durch seine Augen sehen? Und vor allem: Wo war der andere jetzt?
Ein zynisches Flüstern in seinem Kopf sagte ihm, dass es eigentlich nur einen Ort gäbe, wo sich der andere hätte hin verziehen können. Die Meyrinkgasse 3. Stefan Hanns. Raphael Kurzhaus.
Wieder ballte er die Fäuste und unterdrückte das Wutgeheul, das er ausstoßen wollte.
Nach einem tiefen Atemzug hatte er sich wieder unter Kontrolle. Glücklicherweise waren die anderen Präsenzen noch da. Sie hatten die Vernichtung überlebt, weil sie nicht stofflich waren, hatten sich aber vermutlich versteckt, als alles um sie herum verging. Jetzt scharten sie sich langsam um ihn, erwartungsvoll.
Die Weißen Diener mit ihren grauen Gewändern umringten ihn. Die Arme schlaff an den Seiten, die augenlosen Gesichter auf ihn gerichtet. Seine seelenlosen Lakaien, auf deren weißen Schädeln das Mondlicht glitzerte.
Noch war nichts verloren.
David Grau erhob sich, immer noch schwach, aber entschlossen. Er blickte in die Runde seiner Diener. „Ich muss mich regenerieren. Das wird nicht lange dauern.“ Die Augenlosen starrten ihn an, als verstünden sie, was er sagte. Manchmal glaubte er sogar wirklich, dass sie das taten. Deswegen erklärte er ihnen ab und zu einige Dinge. Er hatte das Gefühl, sie wären ihm dankbar dafür, dass er mit ihnen sprach, obwohl sie keine Seelen mehr hatten, und dass sie ihm dadurch noch fanatischeren Gehorsam schenkten. Aber vielleicht täuschte er sich auch.
„Ich brauche eine Stütze.“
Zwei Diener eilten herbei und nahmen ihn an Schultern und Armen. Wenn ihn jetzt jemand so sehen könnte ... Erbärmlich. Noch war nichts verloren.
Stefan Hanns. Raphael Kurzhaus.
Rache.
Sie fragen sich nun bestimmt, warum ich Ihnen diese Szene so genau schildern kann, wo ich doch seit unserem Ausflug in das Geistergassenviertel meine Kräfte verloren hatte und also keine Visionen mehr empfangen konnte. Nun, ich hatte einen perfekten Informanten, sozusagen, der mir dieses und noch viel mehr berichten konnte. Beinahe aus erster Hand, wenn man so will.
Aber es ist vermutlich am besten, wenn ich da anschließe, wo ich beim letzten Mal aufgehört habe: In den sehr frühen Morgenstunden des 02. Mai 2016, eines Montags, gegen drei Uhr Früh, als ein unerwarteter Gast uns besuchte ...
Ich öffnete die Haustür und spähte die Stiegen hinunter zum Gartentürchen.
Das Herz blieb mir stehen.
An das Türchen gelehnt stand ein hochgewachsener Mann. Am Leib trug er bloß eine weiße Leinenhose und ein zerrissenes Leinenhemd, alles dreckig und blutbesudelt. Die Haare waren eine wirre Mähne, der Bart wucherte wild und ungezähmt. Genau konnte ich seine Züge in der Düsternis Phillipsdorfs nicht erkennen, aber die eisblauen Augen, die unter den Strähnen hervor strahlten, ließen keinen Zweifel zu.
Ich spürte, wie sich Raphael an meine Seite drängte und nach Atem schnappte. Er hob das Messer und warf mir einen Blick zu, der auf nicht viel Hoffnung schließen ließ.
David Grau öffnete den Mund. Seine Stimme war genauso basslastig wie je, aber mit einer Trockenheit, die beinahe kränklich klang. Verzweifelt. Er sagte: „Herr Hanns. Herr Kurzhaus. Ich brauche Ihre Hilfe ...“
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, war vollkommen verwirrt, da wurden Raphael und ich von hinten weggestoßen. Helena preschte kreischend an uns vorbei. Geifer spritzte von ihrem Maul, als sie mit einem einzigen Satz die Stiegen zur Tür nach unten sprang.
„Helena!“, rief ich.
Raphael rappelte sich hoch. „Nicht!“ Flott bellte von hinten.
David Grau taumelte zurück und stolperte über die eigenen Füße. Er stürzte auf den Gehsteig und schlug die Arme über dem Kopf zusammen in einer hilflosen Geste der Angst. Sein erbärmlicher Aufschrei war mitleiderregend.
Helena sprang über den Zaun und holte mit den Händen aus, die Finger gekrümmt, ihre Krallen, trotz der kürzlichen Maniküre, gefährlich und scharf. Aber sie verharrte plötzlich unsicher und schnüffelte in die Luft.
Grau wimmerte: „Bitte! Bitte nicht! Lasst ... lasst mich erklären.“
In Raphaels Gesicht spiegelte sich die gleiche Verwirrung, die ich fühlte. Jetzt drängten sich auch Caro, Karl und Emily hinter uns und spähten über unsere Schultern auf das seltsame Bild. Helena, die Halb-Ghoula, im Pyjama, stand vor dem kauernden und wimmernden David Grau im trüben Sternenlicht. Sie ließ die Arme sinken und wandte langsam ihr Gesicht nach uns um. Die Augen blitzten kränklich gelb in der Nacht, ihre graue Haut und das Zwielicht der Schatten ließen ihr Antlitz ghoulischer denn je, also beinah totenschädelhaft erscheinen.
Sie rümpfte die Nase. „Stefan. Raphael. Ich ... glaube, das ist nicht David Grau. Zumindest nicht wirklich. Er ... riecht anders.“
Das Schluchzen beruhigte sich. Von unter den schützend erhobenen Armen kam ein zynisches, aber schmerzerfülltes Gelächter. Resignation schwang darin mit. Fast flüsterte der unerwartete Gast: „Oh, ich bin der wirkliche David Grau. Zumindest glaube ich das. Ihr kanntet bisher nur mein Spiegelbild.“
Caro fasste meine Hand und zischte mir ins Ohr: „Wir sollten ihn reinlassen, Steffl. Ich spüre ... etwas Seltsames an ihm. Aber nichts Gefährliches.“
„Bist du dir sicher?“ Raphael zuckte herum. Der Kerl hatte einfach zu scharfe Ohren.
Meine Freundin nickte.
Raphael sah mich an. Durchdringend. „Es ist dein Haus.“
Wenn ich mich so umsah, wollte ich dieses Statement infrage stellen: Karl und Emily hatten sich an diesem Wochenende beinahe häuslich eingerichtet bei mir. Helena hatte Caro versprochen, dass sie hier einziehen durfte. Mich hatte niemand gefragt. Und Maxi, die untote Katze, hatte ich eigentlich auch nicht eingeladen, hier zu wohnen, trotzdem war sie da. Aber es war schön, dass mir zumindest die Illusion gegeben werden sollte, wenigstens irgendetwas bestimmen zu können in meinen eigenen vier Wänden. Ich nickte langsam. „Ich vertraue Caro. Und Helena.“ Ich hob die Stimme. „Bringst du ihn zu uns?“
Helena zögerte, wiegte dann aber den Kopf in Zustimmung.
Eine Stunde später saßen wir bei Deckenlicht im Wohnzimmer, beobachtet wie immer von den grausigen Gestalten auf den Gemälden ringsum. Draußen war es noch dunkel, aber der Kribbel der Dämmerung lag irgendwie schon in der Luft. Wir hatten uns alle wieder in die Kleider geworfen und dem zerfetzten David Grau gestattet, sich frisch zu machen und sich ebenfalls Kleidung von mir auszuleihen. (Ich musste dem schnell ein Ende setzen, dachte ich, ansonsten wäre mein Kleiderschrank bald Allgemeingut.) Nach einer ausgiebigen Dusche sah unser Gast halbwegs salonfähig aus, aber er brauchte dringend Haar- und Bartschnitt.
Wir boten ihm Kaffee und Bier an, aber er wollte nur Wasser. Helena machte für sich und Emily Kaffee, wir anderen tranken Bier auf den Schock. Ich teilte mir eins mit Caro, die, wie mir auffiel, verdammt sexy in meinem Kapuzenpullover aussah, der an ihr zwar hing wie ein Sack, aber die wichtigen Stellen erregend andeutete.
Nachdem Grau das erste Glas auf einen Zug geleert und ich ihm aus der Karaffe nachgeschenkt hatte, begann er mit seiner Bassstimme zu reden: „Mein Haus, oder vielleicht sage ich besser: unser Haus ist heute Nacht zusammengestürzt. Das Grau-Anwesen existiert nicht mehr. Josef Zeilner hat es in seinem Angriff auf mein Spiegelbild vernichtet.“
Stille trat ein, die ich brach: „Ihr ... Spiegelbild? Sie sagten das vorhin bereits. Erklären Sie sich genauer.“
Grau lächelte freudlos, die Augen auf das Wasserglas gerichtet, das er in den Händen hielt. „Ich muss Ihnen einiges erklären und erzählen, Herr Hanns. Und ich werde es tun, denn ich glaube, Ihr Großonkel hat uns sehr viel Zeit verschafft.“ Er atmete, wie um Mut zu schöpfen, dann sah er uns der Reihe nach an, bis sein Blick wieder auf mir verweilte. „Als ich, David Grau, im Jahr 1935, vom Priester des Geistergassenviertels das ewige Leben und die ewige Jugend erlangte, hatte dies einen Preis.“
Raphael nickte. „Josef hat davon erzählt. Aber Sie haben den Pakt vor zwanzig Jahren gebrochen und den Priester getötet.“
„Das hat mein Spiegelbild getan.“ Grau machte noch einen Schluck, dann stellte er das Glas auf den Couchtisch. „Ich nehme nicht an, dass Sie guten Whisky hier haben, Herr Hanns?“
Ich presste die Lippen zusammen, goss ihm aber einen doppelten Blue Label aus der Minibar ein. Dieser Kerl wusste besser als ich, wie man Spannung aufbaute. Als ich ihm das Glas hinhielt, sagte ich: „Könnten Sie jetzt bitte verständlich werden.“
„Danke.“ Er nippte sofort am Whisky, ließ die Flüssigkeit eine halbe Minute im Mund, bevor er schluckte. „Es tut mir leid. Über achtzig Jahre in Gefangenschaft sind nicht dazu angetan, die sozialen Kompetenzen zu erhalten.“ Noch ein freudloses Lächeln. „Der Preis, den mein Spiegelbild nicht zahlen wollte, war Dienerschaft. Nach fünfmal fünfzig Jahren sollte ich zurückkehren und dem Priester bis in alle Ewigkeiten dienen. Aber das war nur die eine Hälfte des Preises. Die andere wusste ich theoretisch, konnte mir aber nichts darunter vorstellen, beziehungsweise hatte ich es falsch interpretiert. Beim Erhalt eines solchen Geschenks spaltet sich die Seele in zwei Hälften. Der Mensch wird auseinandergerissen. Der Teil, der nur aus Trieb und Lust und Egoismus besteht, wenn man so will, spaltet sich ab von Vernunft, Empathie und ... nennen wir es Menschlichkeit. Ich glaubte, dies bedeute einfach nur, dass ich etwas werden könnte, wie Robert Louis Stevenson es in Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde beschrieben hat. Und ich war so vermessen, zu glauben, dass ich eine solche Spaltung unter Kontrolle bekommen könnte ...“
„Es und ich“, murmelte Raphael.
„Freud.“ Grau grinste. „Ist der nicht schon veraltet? Aber ja. So ähnlich kann man sich das vielleicht vorstellen. Jedenfalls hatte ich es falsch verstanden. Es war wörtlich gemeint. Aus einem wurden zwei. Ich und es. Es und ich. Es besteht nur aus meinen Trieben, aus meinen Gelüsten, aus meinen Wünschen. In ihm ist keine Spur von Skrupel oder Mitgefühl oder dergleichen übrig geblieben. Das alles ist in mir. Es hat mich überwältigt, denn der empfindsame Geist wird durch eine solche Spaltung geschockt. Der nicht empfindsame steckt so etwas besser weg. Es hat mich überrumpelt und mich eingekerkert. Aber es kann mich nicht töten, denn ich bin wie es unsterblich. Wir können uns nur gegenseitig auslöschen, vorausgesetzt, ich habe diesen Teil richtig verstanden. Aber ich glaube schon. In den Mappen, die Sie aus der Ordination Phillip Osts besitzen, sollten viele dieser Informationen enthalten sein. Ich war ein Studienobjekt dieses ... Arztes.“
„Josef hat gesagt, wir sollen sie vernichten“, warf ich ein.
Grau nickte. „Ja. Die Aufzeichnungen, die mein Spiegelbild verwahrt hatte, sind auch bereits vernichtet. Der Einsturz des Anwesens war ... gründlich. Es war das reine Chaos. Alles, was Sie wissen müssen, weiß ich. Und mehr.“
„Dann gehen wir doch noch einmal ein paar Sätze zurück.“ Raphael beugte sich nach vorne, die Bierflasche zwischen den Knien, Flotts Schnauze ruhte auf seinem Schenkel. „Woher wissen Sie von Josefs Angriff? Sie sagten doch, Sie waren bis vor ein paar Stunden noch ein Gefangener.“
Karl, Emily, Caro und Helena lauschten gespannt und sagten nichts. Helena machte immer wieder den Mund auf, schloss ihn aber gleich wieder.
Grau nahm einen Schluck vom Whisky. „Die Seele spaltet sich, das Bewusstsein bleibt verbunden. Was ich sehe und erlebe, sieht und erlebt es, und umgekehrt. Immer. Jeden Augenblick. Selbst im Schlaf.“
„Das heißt, Sie wissen, wie es Papa geht?“, platzte Helena heraus.
„Ja“, sagte er.
„Geht das auch genauer?“ Raphael gab ihm die Augenbraue.
„Wenn ich mich auf ihn konzentriere, sehe ich nur Schwärze.“ Er schloss die Augen. „Ich spüre Wut, Angst und Verzweiflung. Mein Spiegelbild hat lange schon aufgehört, zu kämpfen, es verteidigt sich nur mehr. Und sucht eine Fluchtmöglichkeit. Josef hält es gefangen. Ihm geht es gut.“
„Papa ...“ Helena klang verwundert und erleichtert gleichermaßen.
Raphael erhob sich abrupt und gähnte. „Na dann. Wenn wir eh noch Zeit haben, wie Sie sagen, können wir das weitere Gespräch auf morgen, respektive heute Abend verlegen. Ich für mein Teil würde gerne noch etwas Schlaf nachholen, bevor wir beginnen, zwei Umzüge zu organisieren.“
Die Anwesenden nickten nacheinander. Eigentlich war der Plan gewesen, nach dem Aufstehen gleich damit zu beginnen, Emily bei Karl und Caro bei mir dauerhaft einzuquartieren.
Grau sah ihn verdutzt an. „Einfach so, Herr Kurzhaus? Sie glauben mir meine Geschichte? Ich ... hatte Sie vorsichtiger und misstrauischer in Erinnerung.“
Raphael schnaubte. „Helena hat sich auf Sie gestürzt und Sie haben sich zusammengekauert wie ein kleines Kind. Caroline hält Sie für ungefährlich. Meinem Flotti sind sie offenbar herzlich wurscht. Und Ihren Augen fehlt die eisige Kälte Ihres Spiegelbilds. Ich bin überzeugt.“ Er sah mich an.
Ich zuckte die Achseln. „Ich glaub schon alles. Außerdem hat Josef uns das hier irgendwie angekündigt. Graus Gefangener sei der Schlüssel. Ich nehme mal an, das sind Sie. Es ist echt nett, wenn die Rätsel sich mal von selber lösen.“ Ich trank mein Bier leer. „Die Frage ist nur, wo Sie schlafen. Alle Betten und Sofas sind belegt ... Hätten Sie was dagegen, wenn ich Ihnen nur zwei Decken in die untere Bibliothek lege? In den nächsten Tagen können wir uns was Dauerhaftes überlegen.“
Grau schien massiv überfordert. Seine Augen weiteten sich und er stammelte. „Das ... das wäre ... außerordentlich freundlich.“
„Nachher kann er sich gleich nützlich machen“, sagte Caro gedehnt. „Bei den Umzügen, meine ich. Viele Hände, rasches Ende.“
Erwartungsvoll blickte ich zu Grau.
Der nickte nur, brachte kein Wort mehr heraus außer ein ersticktes: „Sicherlich.“
Ich weiß nicht, ob es für oder gegen unsere geistige Gesundheit sprach, dass wir diesen unerwarteten Gast einfach so in unserer Mitte aufnahmen. Es sprach auf jeden Fall für unsere Freundlichkeit und Vertrauensseligkeit. Und seien wir einmal ganz ehrlich: Wenn das wirklich der uns bekannte David Grau gewesen wäre, hätte er uns umgebracht, sowie wir die Tür geöffnet hätten.
Elementar, nicht wahr, Watson?
Während der nächsten Wochen und Monate berichtete mir unser neuer Mitbewohner ausführlich über sein beziehungsweise das Leben seines Spiegelbilds. Alles, was er mir erzählte, hier niederzuschreiben, wäre unmöglich, schließlich währte sein Leben bereits über hundert Jahre ... Ich beschränke mich auf das für uns Wesentliche in meiner Nacherzählung. Dazwischen berichte ich, wie sich der Hanns-Haushalt im Laufe des Jahres entwickelte. Denn es gab Veränderungen. Große Veränderungen.
Aber zuerst möchte ich mit der Kindheit David Graus beginnen:
David Grau wurde 1910 als das einzige Kind von Justus und Daria Grau geboren. Über seine Eltern wusste der Sohn nur sehr wenig zu berichten, weil die beiden nie über ihre Vergangenheit, ihre Familien und auch die Geschichte, wie sie sich kennengelernt hatten, sprachen. David wusste nur, dass Justus Grau reich war. Er wusste, dass sein Vater mit Kunst handelte, aber manchmal traf sich der Mann auch mit sehr düsteren Gestalten, die das Kind nur hörte oder kurz durch einen Türspalt erblickte. Als er heranwuchs und bald eine überdurchschnittliche Intelligenz an den Tag legte, brauchte es nicht viel, damit er begriff, dass sein Vater ein Verbrecher war – Wien oder überhaupt Österreich war nie bekannt für organisiertes Verbrechen, zumindest nicht meines Wissens, aber die Indizien deuteten für David Grau darauf hin, dass sein Vater ein mafiöses Netz zumindest über Wien gespannt hatte, wenn nicht auch darüber hinaus.
Daria Grau war eine herzensgute Seele und liebevolle Mutter. Sie störte ihren Mann nie bei seinen Geschäften, delegierte den Haushalt (denn die Familie hatte natürlich Bedienstete) und beschäftigte sich ansonsten mit Dingen, wie man sie von einer aristokratischen oder großbürgerlichen Dame aus diversen Romanen kennt: Sie spielte Klavier, las Gedichte, nähte und stickte ab und an, und machte Spaziergänge durch den Garten. Wahrscheinlich hätte sie auch einen Salon geführt, wenn ihr Wohnort eine eventuelle Attraktivität eines solchen nicht ausgeschlossen hätte.
Phillipsdorf. Warum, ausgerechnet, hatten Justus Graus Vorfahren ihr Luxus-Anwesen in Phillipsdorf errichtet?
Ich möchte nicht zu tief in historische Details über diesen Ort eintauchen. Sie sind zu verwirrend und teilweise zu unglaubhaft. In der gängigen österreichischen Geschichtsschreibung findet man kaum etwas über diesen Ort. In der Phillipsdorfer Bibliothek stehen ein paar Bücher von regionalen Historikern, die ich aber nicht für bare Münze nehmen würde – vielleicht schlage ich Karl einmal vor, dass er sich damit befassen soll. Er ist ja auch Historiker und könnte diese vielen Verwirrungen sicher auflösen.
Klar ist mir jedenfalls, dass Phillipsdorf alt ist. Sehr alt. Ich habe noch aus der Zeit des Hochmittelalters Andeutungen über diese Region gefunden, die damals offenbar bereits besiedelt war. Damals geschah etwas, das als Spectaculum Luminis bezeichnet wurde, als Lichterschein. Und ein schriftgelehrter Bauer der Region, der sich in seinem Bericht Garnmeister nennt, erzählt von leuchtenden Farben, die niemand kannte oder benennen konnte. Ich nehme an, dass das auch Ihnen, werte Leser, bekannt vorkommen wird aus meinen bisherigen Geschichten.
Die Region existierte immer schon mehr oder weniger für sich selbst. Kriegerische Auseinandersetzungen berührten sie nur am Rande. Sie wurde gemieden, wenn auch nicht so vollständig wie heute. Welcher Fürst oder Edelmann wann auch immer zumindest auf dem Papier Kontrolle über diesen Landstrich hatte, bleibt in den Aufzeichnungen, die ich gefunden habe, ebenfalls weitgehend unklar. Immer wieder finden sich Berichte über seltsame Ereignisse wie den Lichterschein. Historische Ereignisse wie die Türkenkriege streifen die Geschichten dieser Region nicht einmal. Und die Pest war hier, wie es scheint, nur eine leichte Verkühlung (was ich gut glauben kann, schreibe ich diesen letzten Bericht ja lange, nachdem alles passiert ist – im Jahr 2021; ich muss nicht darauf eingehen, was gerade auf der Welt abgeht, aber hier in Phillipsdorf ist alles wie immer, niemand ist krank, niemand hat Angst).
Angeblich hatte Phillipsdorf in der Zeit der Hexenverfolgungen, Ende des 16. Jahrhunderts, ein paar Probleme mit Auswärtigen, die sich aber bald wieder behoben hatten. Ich bin in den historischen Aufzeichnungen darüber über den Namen Grau gestolpert – offenbar hat dieser Grau, vermutlich ein Vorfahre Davids, sich der Sache angenommen und die Eindringlinge vertrieben; oder er hat Schlimmeres mit ihnen gemacht. Das geht aus meinen Quellen nicht genau hervor.
In der jüngeren Geschichte, möchte ich noch anmerken, hatte Wien ja einmal 26 Bezirke, die dann wieder auf 23 reduziert wurden. Heute wird Phillipsdorf gerne als der inoffizielle 24. Bezirk bezeichnet, aber bis vor einigen Jahrzehnten war es einfach nur Phillipsdorf. Immer wieder bin ich in meinen Recherchen über die Frage nach der Zugehörigkeit zu Wien gestoßen. Diese Frage ist bis heute ungeklärt. Aber zumindest genießt Wien nun das zweifelhafte Vergnügen, dass Phillipsdorf als Teil von Wien betrachtet wird.
Dieser kurze und vermutlich wirre Abriss über die Geschichte meines Zuhauses dient dazu, zu zeigen, dass Phillipsdorf schon immer ein guter Rückzugsort für jemanden war, der von der Welt – und vom Gesetz – in Ruhe gelassen werden wollte. Ob die Familie Grau schon immer eine dunkle Existenz geführt hatte oder nicht, sei dahingestellt; jedenfalls müssen David Graus Vorfahren einen guten Grund gehabt haben, gerade hier ihre riesige Hütte zu erbauen. Sie hätten doch überall ein angenehmes Luxusleben führen können, aber waren nur hier in der Lage, zu schalten und zu walten, wie sie eben wollten.
Darüber findet sich nichts in meinen Quellen. Fast nichts. Wie gesagt muss Ende des 16. Jahrhunderts bereits ein Grau hier gelebt haben. Danach findet sich auf weite Strecken keine Erwähnung dieses Namens mehr, bis ins 19. Jahrhundert, wo wieder ein anderer Grau, vermutlich Justus Graus Vater oder Großvater, eine Gemeindesanierung initiiert und finanziert hatte, um die Infrastruktur, öffentliche Gebäude und sogar Privathäuser instand zu setzen und zu modernisieren. Das ist, vermute ich, auch der Grau, dem ein Denkmal auf dem Zagler-Platz gesetzt wurde.
Vielleicht war das eine Strategie der Graus, sich unentbehrlich zu machen – vielleicht waren das nicht die einzigen monetären Zuwendungen, die es an Phillipsdorf gegeben hatte. Die Graus wollten sich verstecken, abgekapselt leben. Illegale Machenschaften dürften aber ebenfalls nur ein Teil des Grunds gewesen sein, denn im Alter von sechs Jahren entdeckte David die Bibliothek seiner Mutter. (Das war also im Jahr 1916 – der Erste Weltkrieg wütete seit zwei Jahren, aber natürlich nicht für Phillipsdorf.)
Diese Bibliothek sollte später von ihm massiv erweitert werden. Damals war es ein recht großer Kellerraum, vollgesteckt mit alten Folianten, Handschriften und einigen gedruckten Exemplaren. Okkulte Bücher. Zaubersprüche. Dämonenbeschwörungen. Also business as usual. Und da man nicht herausbekommen kann, woher Daria Grau kam, so nehmen wir, David und ich, an, dass die Familie Grau ein inzestuöses Geschlecht war, aber das ist reine Vermutung.
Als David seiner Mutter von diesem Fund im Keller berichtete, geriet sie in Angst. Der Vater bekam einen seiner gefürchteten Wutanfälle. Er verprügelte Frau und Sohn und verbat Letzterem, je wieder einen Fuß in die Keller-Bibliothek zu setzen. Nachdem sich Daria von den Schlägen erholt und auch ihren Sohn verarztet hatte, bekräftigte sie das Verbot des Vaters. David konnte sich noch genau an ihre Worte erinnern, als er mir die Geschichte erzählte.
Sie sagte: „Manche Dinge sollten bleiben, wo sie sind. In der Vergangenheit. Manche Dinge sollte man besser einfach vergessen.“ Eine Träne floss dabei über ihre aufgeplatzte Wange.
Aber David, neugierig, wie eben nur ein Kind sein kann, schlich sich natürlich heimlich in die Bibliothek. Wieder und wieder. Und las in den Büchern.
Dann kam der Sturm.
Gleich an dem Morgen, nachdem David Grau zu uns gestoßen war, ging es los. Es sollte zwei Monate dauern, bis sich alles wieder beruhigt hatte und wir einen denkwürdigen Sommer 2016 verleben durften, von dem einige Fotografien zeugen, die überall in unserem Haus verstreut stehen.
Eines dieser Fotos zeigt Karl und Emily im Garten von Karls Häuschen beim Mühlwasser. Neben ihnen die Gemüsebeete, die Karls grüner Daumen jedes Jahr üppiger gestaltete, hinter ihnen das Häuschen, ein bisschen schief, mit Doppelglasfenstern, recht winzig, aber heimelig. Emily strahlt übers ganze Fischgesicht und ihre Haut glitzert grün-blau im Sonnenlicht, fast etwas feucht.
Der Umzug Emilys war in nicht einmal einer Woche geschafft. Sie besaß nicht viel. Nur Weniges aus ihrer Wohnung im Bernhardshof, was ihrer Mutter oder ihnen gemeinsam gehört hatte, war noch brauchbar. Wir brachten im Endeffekt zwei ganze Tage damit zu, von der Wohnung zur Mülldeponie zu fahren und wieder retour. Die meisten von uns setzten sich beim Ausmisten der Wohnung einen Mund-Nasen-Schutz auf, um den Gestank etwas erträglicher zu machen. Wir fanden auch Dinge, die wir bei Altmanns Antiquitäten auf dem Walterweg teuer verscherbeln konnten: Schmuck aus Gold und Silber und seltsam aussehenden Muscheln, allesamt in grotesken Formen oder mit Motiven verziert, die an Emilys Herkunft von den Fisch- oder Krötenmenschen denken ließen. Kein Wunder, dass sie diese Erbstücke ihrer Mutter nicht haben wollte. Altmann, der Antiquitätenhändler, ein sehniger alter Kerl mit tiefen Falten im Gesicht, kaufte die Stücke mit Begeisterung an und legte einige davon in die Auslage zu der Maske mit der abnorm hohen Stirn. Karl und ich liebäugelten damit, das ein oder andere Kleinod oder Buch aus diesem düsteren Wirrwarr an betagten Schätzen zu erwerben, aber Raphael packte uns an den Krägen und zerrte uns hinaus.
„Diese Dinge sind nicht gesund“, sagte er leise. „Und wir haben schon genug mit ungesunden Dingen zu tun. Reißt euch also einmal zusammen, ja?“
Raphael kümmerte sich auch darum, dass Emily als offizielles Mitglied der Gesellschaft anerkannt wurde. Er besorgte ihr eine Geburtsurkunde und einen Staatsbürgerschaftsnachweis (beides hatte sie nicht) und zuletzt überraschte er sie mit einem Maturazeugnis, das es ihr ermöglichte, ihren Traum eines Studiums zu erfüllen (natürlich nachdem sie ihre Wissenslücken aufgefüllt hätte – Raphael, Karl, Helena und ich halfen ihr dabei und im Wintersemester 2017 wollte sie für Biologie inskribieren). Auf die Frage, wie Raphael zu all diesen Dokumenten kam, gab es immer nur eine Antwort: „Klienten von mir. Ich habe Kontakte.“
Seither leben die beiden glücklich, wenn auch nicht immer harmonisch zusammen, aber ich denke, das ist so in einer gescheiten Beziehung, was mich zum nächsten Foto bringt, das auf meinem Nachtkästchen steht:
Caro, Helena und ich mit einem Umzugskarton im Wohnzimmer.
Caro war ja von meiner lieben Großcousine eingeladen worden, bei uns einzuziehen. Da waren sie und ich noch nicht einmal einen Tag ein Paar gewesen. Ich fügte mich in die Idee, die von allen Beteiligten mit Begeisterung aufgenommen wurde, und wir machten uns nach Emilys Umzug daran, Caros Sachen aus ihrer Wohnung in Hütteldorf zu holen. Ich hasse es, in Wien mit dem Auto fahren zu müssen, aber irgendwie schaffte ich es, auf den teilweise zwei- bis dreispurigen Fahrbahnen zu überleben und sogar ans Ziel zu kommen. Jetzt beinhaltet der Kleiderschrank im Schlafzimmer zu mehr als der Hälfte Caros Skater-Kleidung, das eine oder andere Kleid, verschiedene Schuhe und Täschchen. Die zum Vorschein gekommenen Tanzschuhe überraschten mich.
„Du tanzt?“, fragte ich.
Sie nickte in ihrer abwesenden Weise. „Das lenkt mich ab von den vielen Stimmen und Schwingungen, die ich immer spüre.“
„Dann sollte ich meine auch wieder raussuchen.“
Sie sah mich an. „Du kannst tanzen, Steffl?“
„Ich müsste wieder reinkommen. Aber die Goldprüfung hab ich.“
Das Grinsen mit den immerzu herabgezogenen Mundwinkeln war schalkhaft. Das Glitzern in den Augen aber freudig. Seitdem machen wir Paar-Kurse und gehen regelmäßig auf Tanzabende in Wien. (Karl probierte es Emily zuliebe ebenfalls. Die beiden sind hoffnungslose Fälle. Aber sie tanzen mit Leidenschaft. Helena hatte versucht, Raphael zu überreden, aber der blieb eisern. Also besuchte sie Single-Kurse und ... Na ja, das kommt später.)
Ansonsten brachte sie verschiedenen Krimskrams mit, den sie als Medium immer mal wieder benutzte: Tarot-Karten, Pendel, Ouija-Bretter und Ähnliches. Dieses Zeug verbannte ich in den Raum, den ich früher der Alten überlassen hatte, natürlich nachdem wir den Winkel wieder begradigt hatten, damit nichts anderes von dort hereinkommen konnte. Ich hatte zu viele Horrorfilme gesehen und grundsätzlich zu viel erlebt, als dass ich so etwas in meinem Sichtfeld haben wollte. Caro quittierte meine Sorgen mit ihrem charakteristischen Hehe, was mich immer an ein Hexenlachen gemahnte, aber bitte.
Dazu kamen noch zwei Skateboards, Discgolfscheiben (sie ist richtig gut in diesem Sport, ich habe dafür kein Talent), ein Haufen Kochbücher und drei Gitarren. Platz fanden wir natürlich für alles, nur ich musste mich erst daran gewöhnen, dass im Wohnzimmer die Gitarre im Weg stand oder dass ich in der Garage über ein Skateboard stolpern konnte.
Und was die Harmonie des Zusammenlebens betrifft: Caro und Helena hatten sich, wie befürchtet, gegen mich verbündet. Ich wurde sukzessive zum Hausmann erzogen. Widerstand zwecklos. Kochen musste ich nicht, weil Caro eine so verdammt gute Köchin ist, dafür wurde unser Haus zu einem Vorzeigebild von Ordnung und Sauberkeit – ich war da teilweise ein bisschen schleißig gewesen, ich geb’s zu. Dann gab es ein paar Diskussionen über Gitarreüben während meiner Schreibzeiten. Auch darüber, dass Skateboards nicht einfach im Flur stehen gelassen werden sollten. Und auch eine heftige Debatte darüber, dass man vielleicht nicht um Mitternacht einen Poltergeist in den Keller rufen sollte.
„Das war ein Versehen, jeder macht mal Fehler“, verteidigte sich Caro.
„Der ganze Keller stinkt von diesem ... Was war das überhaupt, das dieses Ding da ausgespien hat?“
„Schwierige Frage ...“
Den Lärm, der stundenlang aus ihrem Medium-Raum da unten gekommen war, machte ich gar nicht erst zum Thema. Nur Helena und mir wurde dadurch der Schlaf geraubt, der weiteren Umgebung in Hörweite war das natürlich egal.
Alles in allem also gestaltete sich unser Zusammenleben als glücklich.
Ein Foto in Helenas Zimmer unter dem Keller zeigt sie selbst mit zwei Schulfreundinnen: Moni und Lea. Sie hatte die beiden überredet, mit ihr einen Tanzkurs zu besuchen, und das Foto stammt von einem Tanzabend, wo sie nur Grundschritte tanzten und ich mir von Caro anhören durfte, dass ich schlecht führte. Die beiden Mädchen waren sehr lieb und zu dritt bildeten sie ein richtiges Trio Infernale. Wenn man ihnen zuhörte, wie sie über die Jungs in ihrer Klasse sprachen oder über andere Mädchen lästerten, wurde man richtig wehmütig – aber mehr noch freute man sich, dass man aus diesem Alter raus war.
Meine Großcousine lebte auf; mehr und mehr. Sie gab es sogar auf, regelmäßig den Friedhof zu besuchen, um ihre Mutter zu treffen. Sie schloss damit ab und sagte: „Ich hab ja dich, Stefan. Und Caro. Und Raphael, Karl und Emily. Und meine Freundinnen. Es ist alles besser, als ich es mir je erträumt habe.“
Nach der zweiten oder dritten Tanzstunde kam sie mit ihrem ersten Freund an. Er hieß Martin. War zwanzig Jahre alt. Physik-Student. Science-Fiction-Literatur-Nerd. Hochgezogene Schultern, schlaksiges Auftreten, weicher Händedruck. Die Beziehung scheiterte, weil sie keinen Sex wollte. Wobei das falsch ist. Sie wollte schon, aber sie wollte ihm nicht offenbaren, was sie in Wirklichkeit ist. Und ohne Vorbereitung einen graubraunen Ghoulkörper mit ledriger Haut am eigenen menschlichen zu spüren, hätte ihn vermutlich in die Klapsmühle gebracht. Ich gab ihr in ihrer Ansicht recht, dass dieser Martin eine solche Wahrheit nicht verkraftet hätte. (Das war ein wirklich komisches Gespräch.) Seitdem war sie ein bisschen verzweifelt, weil sie auch gerne eine Beziehung hätte. Teenager eben.
Aber kommen wir zum nächsten Foto auf einer Kommode im Wohnzimmer. Georg Bürger, damals noch recht rund, mit seinem Dampfgerät in der Faust und einem altmodischen Köfferchen in der anderen, vor der Eingangstür zum Haus, das früher einmal Pavel Gheorghe bewohnt hatte. Ich klärte die Sache mit Simon Engelbrecht, dem Notar in Phillipsdorf, damit Georg das Haus beziehen konnte. Auch seinen Umzug organisierten wir und entrümpelten seine Wohnung im Bernhardshof. Pavels Sachen sortierten wir ebenfalls aus und veranstalteten eine private Trauerfeier für unseren vampirischen Freund.
Zu Georg gibt es nicht viel zu sagen, außer dass er in den nächsten Monaten immer schlanker wurde. Er fand einen Verlag, der seine verkopft verschrobenen Texte veröffentlichen wollte, und sogar einen Freund, der bald als Lebensgefährte bei ihm einzog. Wir besuchen uns regelmäßig gegenseitig und auch Karl, Emily und Raphael sind bei ihm gern gesehene Gäste.