Grüße von Charlie - Stefanie Scheil - E-Book

Grüße von Charlie E-Book

Stefanie Scheil

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Beschreibung

Er dringt in ihre Gedanken, in ihr Bewusstsein, in ihre Gefühle. Er ist ein allgegenwärtiger Begleiter, der über ihr Leben zu herrschen scheint. Sie hat sich aus seinen Fängen gelöst und trotzdem kommt er zurück. Auch als sie in Kanada einen Neustart wagt und dabei ihre große Liebe kennenlernt. Doch die Vergangenheit holt sie ein. Ihre traumatische Vergangenheit, die Glück und Liebe nicht zulassen kann. Er ist hinter ihr her und wird erst ruhen, wenn ihre Seele für immer zerstört ist.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2 - Einige Wochen zuvor

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Nachwort

Danksagung

Vorwort

Sie irrte schweißüberströmt und zitternd durch die dunklen Gassen. Ihre Haare hingen ihr in wirren Strähnen ins Gesicht und versperrten ihr teils die freie Sicht auf die Straße vor ihr, die sich immer mehr in der Dunkelheit verlor. Sie kam schließlich in eine Sackgasse, die selbst das dämmrige Licht der Straßenlaternen nicht erreichte und die sie zu verschlucken drohte. Die Luft blieb ihr weg, als sie erkannte, in welch brenzliger Situation sie sich befand. Die Angst löste Schwindel aus, der ihren ganzen Körper kontrollierte und sie dachte für einen kurzen Augenblick, sie würde einfach umkippen. Keuchend drehte sie um und lief weiter. In einer engen Straße, begrenzt von Mülltonnen links und rechts von ihr, blieb sie schließlich stehen und sah sich ängstlich um. Da hörte sie plötzlich Schritte. Jemand rief ihren Namen. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er sie nicht finden würde. Er war hinter ihr her und würde nicht aufhören sie zu jagen, bis er sie schließlich gefunden hatte. Was würde er dann mit ihr anstellen? Tausend entsetzliche Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Sie sah sich schon blutüberströmt und mit dem Tod ringend auf dem Boden liegen. Die Tränen der Panik stiegen ihr in die Augen. Es gab keinen Ausweg. Er war so viel schneller und stärker als sie. Ihr Blick fiel auf einen besonders großen Müllcontainer, der in dem schwachen Licht der Laternen wie ein drohendes Ungeheuer den schäbigen Hauseingang dahinter zu bewachen schien. Sie zögerte keine Sekunde und schob den schweren Deckel mit einem kräftigen Ruck auf. Der fürchterliche Gestank, der ihr entgegenströmte, brachte sie zum Würgen. In dem Container befanden sich lediglich zwei Müllbeutel und eine Bananenschale, die in einer ekelerregenden, undefinierbaren Flüssigkeit vor sich hin schimmelte. Die zerbrochene Palette, die neben dem Container lehnte, kam ihr gerade recht, um sich hochzuhieven und mit einem schmerzhaften Sprung in dem Inneren des Containers zu landen. Zitternd und mit schmerzendem Handgelenk setzte sie sich auf und tastete in der hinteren Hosentasche nach ihrem Smartphone. Ein weiterer Schrecken setzte ein, als sie feststellte, dass es nicht mehr da war. Panisch tastete sie um sich und war für einen Moment froh um die Dunkelheit, um die Abfälle, die sie beim Tasten berührte, nicht sehen zu müssen. Es würgte sie abermals. Sie stand schließlich vorsichtig auf und spähte hinaus auf die Straße. Tatsächlich war ihr Smartphone beim Sprung in den Container aus der Hosentasche gefallen. Das spärliche Mondlicht fiel direkt auf das zerbrochene Display. So ein Mist! „Wo bist du, verdammt? Ich weiß, dass du in der Nähe bist.“ Die Schritte kamen näher und schließlich konnte sie die Umrisse eines Menschen ausmachen. Eine Gestalt, groß und breit gebaut, kam direkt auf sie zu. Sie duckte sich und presste sich die Hand auf den Mund, um nicht laut zu schreien. Sein Gang wurde immer energischer, als ob er nun ein klares Ziel vor Augen hätte. Dann hielten die Schritte plötzlich inne. Ihr Herz pochte wie wild und sie hatte den absurden Gedanken, man könne es hören. „Wie unachtsam von dir, dein Smartphone einfach hier liegen zu lassen.“ Sein Lachen war leise und bedrohlich. Dann trat er an den Container heran und sie konnte sein dunkles Gesicht über sich sehen.

Kapitel 1

Es war mir ein Rätsel, warum ich nicht die extra Kosten auf mich genommen und einen festen Sitzplatz, im besten Fall am Fenster, gebucht hatte. Meist war man erst im Nachhinein klüger, vor allem dann, wenn man einen Langstreckenflug zwischen einer zu stark parfümierten Frau und einer jungen Mutter mit immerzu weinendem Säugling hinter sich bringen musste. Außerdem waren die Sitze unbequem und die von der Airline versprochene Beinfreiheit ließ zu wünschen übrig. Immerhin war das Essen einigermaßen annehmbar und der Tomatensaft schmeckte im Flugzeug so viel besser als irgendwo sonst. Meine Schwester hatte mir mal die Theorie erklärt, dass die Geschmacksnerven ab einer gewissen Höhe wegen des veränderten Luftdrucks und der geringeren Luftfeuchtigkeit intensiver wahrnehmen und das fruchtige Aroma von Tomaten deshalb besonders gut herauskommt. Das klang für mich tatsächlich plausibel. Gähnend lehnte ich mich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Ich dachte an meine Mutter, die immer große Reisen machen wollte, die es liebte, ferne Länder zu erforschen und sich das gleiche auch für mich gewünscht hatte. „Du hast nur dieses eine Leben und du bist jung. Lass dich niemals aufhalten, deine Träume zu erfüllen.“ Solche und ähnliche Lebensweisheiten hatte sie oft gepredigt. Erst ab einem gewissen Alter hatte ich angefangen, diese zu hinterfragen und ernst zu nehmen. Es war definitiv die richtige Entscheidung gewesen, nach Kanada zu fliegen. Da wusste ich nur noch nicht, dass mich ein Alptraum erwarten würde.

Kapitel 2 - Einige Wochen zuvor

Der Verlust meiner Mutter war für mich nur äußerst schmerzlich zu verkraften. Ihr jahrelanger Leidensweg und die damit verbundene Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein dunkler Schatten über das Leben meiner Familie legte, ließen Narben in mir zurück. Narben, die viel Leid und Trauer in sich trugen und die nie zu verblassen schienen. Ich hatte lange Zeit psychologische Hilfe in Anspruch genommen und natürlich auch Unterstützung von Familie und Freunden bekommen. Und trotzdem fühlte ich mich immerzu von unendlicher Leere umgeben. Dass mein Vater schon kurze Zeit später eine neue Frau an seiner Seite hatte, betrachtete ich mit gemischten Gefühlen. Abwechselnd begegnete ich ihr mit Hass und Respektlosigkeit, doch dann wiederum mit Neugier und Akzeptanz. Ich wusste tief im Inneren, dass sie nur das Beste für uns Kinder und vor allem für meinen Vater wollte. Doch sie würde niemals die Position meiner Mutter einnehmen können. Meine zwei Geschwister hatten sie von Anfang an ins Herz geschlossen und hielten viel von ihr. Aber das nahm ich ihnen nicht übel. Dass unsere Mutter plötzlich an Leukämie erkrankt war, hatte auch in ihnen Spuren hinterlassen. Gedankenverloren nahm ich das Bild in die Hand, das eingestaubt neben meinem Bett auf dem Nachttisch stand. Es zeigte unsere Familie, als diese noch komplett gewesen war. Wir waren damals an der Nordsee. Es war ein fantastischer, unvergesslicher Sommer. Meine Mutter strahlte über das ganze Gesicht, meinen kleinen Bruder Caleb im Arm. Es war Calebs fünfter Geburtstag gewesen, auf dem Bild drückte er fest seinen neu erworbenen Plüschtiger 'Ben', den er immer noch hatte, ihn aber inzwischen in einer Kiste unter seinem Bett einstauben ließ. Mein Vater und meine ältere Schwester Bonnie lagen lachend im Sand. Daneben war meine Wenigkeit zu sehen, gerade mal zehn Jahre alt und den gleichen verschmitzten Blick im Gesicht, den ich heute noch so gut wie damals draufhatte.

„Hey Schlafmütze, hast du Hunger? Ich habe Toast und Eier gemacht. Alles schon für mein Bruderherz bereitgestellt. Ich muss jetzt los, Vivien und ich treffen uns im Café. Bis dann." Meine Schwester Bonnie hatte mich aus meinen Gedanken gerissen.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon kurz nach 10 Uhr. Verdammt! Ich musste um 11 Uhr an der Uni sein, um mit Kate einen Vortrag vorzubereiten. Der Gedanke daran, dass Kate immerzu perfekt vorbereitet war und in jeglicher Situation einen kühlen Kopf zu bewahren schien, wirkte beruhigend auf mich. Ich zog mich an und erledigte in nur fünf Minuten die Art von "Katzenwäsche", für die mich meine Mutter wahrscheinlich getadelt hätte.

Das Frühstück, welches mir Bonnie so liebevoll hergerichtet hatte, packte ich zu einem Lunchpaket zusammen und nahm mir vor, es mittags mit Kate zu teilen. Dann nahm ich den nächsten Bus in Richtung Universität. Die Fahrt dauerte ca. 45 Minuten. Währenddessen versuchte ich schon, mich in das Thema hineinzulesen, welches Kate und ich heute bearbeiten mussten. Leider hatte ich noch absolut nichts dafür getan und das schlechte Gewissen nagte etwas an mir. Doch das Thema interessierte mich einfach viel zu wenig. Es handelte sich um die dänisch-schwedischen Kriege. Manchmal fragte ich mich tatsächlich, warum ich mich eigentlich für ein Historik-Studium entschieden hatte. Insbesondere mein Vater hatte mich dazu getrieben. Er selbst war ebenfalls Historiker und predigte auf meine damalige Frage, warum man Geschichte studieren sollte, nur die einfachen Worte "Weil die Geschichte uns lehrt, dass nichts so bleiben wird, wie es ist und uns damit auf die Zukunftvorbereitet." Interessant fand ich es nun allemal, aber das Beste an diesem Studium war tatsächlich die Tatsache, dass ich dort meine große Liebe Kate kennengelernt hatte. Nein, wir waren nicht zusammen oder so, ganz und gar nicht. Aber ich interpretierte ihr Verhalten immer öfter so, als wäre sie auch ein klein wenig interessiert an mir. An der Uni angekommen, wartete Kate schon ungeduldig auf mich.

Sie saß am Rande eines Brunnens, unmittelbar vor dem Eingang zum zentralen Hauptcampus, die Beine lässig übereinandergeschlagen, einen geöffneten Ordner auf dem Schoß. Ich konnte nicht anders, als sie mit meinen Blicken zu verschlingen. Ihre brünetten Haare hatte sie zu einem lockeren Zopf im Nacken zusammengebunden. Diese Frisur kannte ich nicht an ihr, normalerweise trug sie ihre Haare am liebsten offen. Es ließ sie etwas streng, aber auch unglaublich attraktiv erscheinen. Sie trug ein Jeanshemd und eine schwarze Hose, der typische Alltagslook eben. Und obwohl sie auf die meisten anderen Typen in unserem Alter wahrscheinlich nicht ansprechend gewirkt hätte, zog sie mich in ihren Bann und die Lust stieg in mir auf, sie einfach an mich zu ziehen und zu küssen. Tatsächlich war es ein einziges Mal dazu gekommen.

Wir waren beide ziemlich betrunken, auf einer Studentenparty unseres gemeinsamen Freundes Gary. Ich hatte mich damals einfach getraut. Und sie hatte den Kuss erwidert. Doch dann kam bereits am nächsten Morgen die große Enttäuschung. Obwohl ich so viele Hoffnungen in diesen einen Kuss gesetzt hatte, entschied sie sich, mir klarzumachen, wie wichtig ihr die Freundschaft zu mir wäre und dass sie es dabei belassen möchte. Ein Schlag ins Gesicht. Und dennoch konnte ich einfach nicht aufhören, an sie zu denken und mir eine gemeinsame Zukunft mit ihr auszumalen.

„Kate, hey! Wie gehts dir?”

„Hey Kian, alles bestens und bei dir?” Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich gerade aus ihrem Zopf gelöst hatte und lächelte breit. Ich mochte ihr Lächeln. So offen, so warmherzig. Sofort kribbelte mein ganzer Körper. Ich nickte leicht und lächelte ebenfalls.

„Bei mir auch. Bist du bereit?” Kate stand zustimmend auf, packte ihre Sachen und wir schlenderten gemeinsam hinüber in das Nebengebäude zur Bibliothek. Hier war es meistens ruhig und menschenleer. Studenten kamen und gingen, nahmen sich Bücher mit oder brachten welche zurück. Die Wenigsten hielten sich lange hier auf. Die Bibliothek war kühl und wirkte unfreundlich mit ihren dicken, dunklen Mauern und den unendlich hohen Regalen, die einen zu erschlagen schienen. Bücher über Bücher. Ich liebte Bücher, das war schon als Kind so gewesen, als ich stundenlang in meiner Hängematte im Zimmer eins nach dem anderen verschlungen hatte. Diese Vorliebe war mir geblieben. Nichts ging über ein gutes Buch, das einen zu fesseln schien, wenn die Welt draußen tobte und bebte. Negative Nachrichten, gebrochene Herzen, so viel Leid und Elend auf dieser Welt und ein Buch schafft es innerhalb von Sekunden, den Leser in sich einzusaugen und alles, um einen herum vergessen zu lassen. In der Bibliothek angekommen, mussten wir erstmal das passende Regal ausfindig machen, das uns den notwendigen Lesestoff liefern würde.

Und das war leichter gesagt als getan. Wir schlugen uns durch ein gewaltiges Angebot an Buchtiteln, von “Inkas und Azteken” bis zur “Kapitulation des Deutschen Reiches”. Als wir uns endlich ein paar wichtige Informationen über den dänisch-schwedischen Krieg angeln konnten, trugen wir uns in die Verleihliste ein und gingen nach draußen, wo uns bereits die dünnen Sonnenstrahlen erwarteten, die zwar nicht mehr allzu viel Wärme spendeten, aber immerhin ein bisschen Spätsommerlaune. Wir ließen uns in die Wiese fallen und machten uns widerwillig an die Vorbereitungen.

Nach fast zwei Stunden mehr oder weniger intensiver Arbeit, hatten wir schließlich den Großteil unserer Vorbereitungen erledigt. Kate sah auf die Uhr.

„Ich muss jetzt leider los. Ich habe mich mit Emma verabredet. Aber wir haben sowieso das meiste erledigt. Würdest du zuhause noch nach ein paar Informationen recherchieren bezüglich des schwedischen Befreiungskrieges 1520-1523? Ich kümmere mich um die Biografie von Gustav Wasa.”

Ich nickte.

„Okay Kian, dann sehen wir uns morgen zur Vorlesung?”

Wieder nickte ich.

„Ja, ich bin um 10 Uhr hier.” Damit verabschiedeten wir uns. Nachdenklich fuhr ich zurück nachhause. Wie sollte das nur weitergehen? Ich liebte sie und konnte es einfach nicht ansprechen. Das machte mich rasend und ich hätte mich selbst dafür ohrfeigen können. Ich kam mir vor wie ein Versager. Nachdenklich beobachtete ich das junge Paar, das gegenüber von mir saß. Sie war blond und hübsch, er ein muskulöser Südländer. Wie aus einem schlechten Kitsch-Film. Sie lehnte sich an ihn, beide starrten auf sein Handy. Das Bild wirkte so harmonisch, so friedlich. Das perfekte Paar. Und ich stellte mir vor, wie Kate und ich dasitzen würden. Mit diesem Gedanken schloss ich für ein paar Minuten die Augen, ehe der Zug quietschend am Bahnhof von Crowborough ankam und ich trübsinnig die zehn restlichen Minuten nachhause ging.

Kapitel 3

„Hey mein Großer, alles klar bei dir? Du wirkst betrübt.” Mein Vater wusste einfach immer, wann es mir schlecht ging. Als hätte er Antennen dafür.

„Nein Dad, mir gehts bestens.” Ich log ihn nur ungern an, hatte aber gerade kein Bedürfnis über Gefühle zu sprechen. Mein Vater nickte verständnisvoll und verschwand in der Küche.

Ich lümmelte auf dem Sofa, ein Glas Bier in der Hand. Das sollte mich auf andere Gedanken bringen.

„Du solltest weniger trinken.” Meine Schwester Bonnie war aktuell zu Besuch, eigentlich wohnte sie inzwischen in Luton, ein paar Kilometer nördlich von London.

„Es ist immer wieder schön, dich zu sehen.”, scherzte ich und verdrehte gespielt die Augen.

„Lust auf einen Spaziergang?” Bonnie war immer bereit, irgendetwas zu unternehmen. Sie war viel aktiver als ich und der Rest der Familie. Ich stellte mein Bier zur Seite.

„Wohin soll es gehen?” Vielleicht war ein kleiner Spaziergang jetzt genau das Richtige. Ich musste auf andere Gedanken kommen.

„Ich hätte Lust, in den Ashdown Forest zu gehen.” Der Ashdown Forest lag am östlichen Rand von Crowborough, ein altes Gebiet der offenen Heide, welches aufgrund seiner ökologischen Bedeutung geschützt war.

Trotzdem trieb es insbesondere im farbenfrohen Herbst zahlreiche Spaziergänger und Sportler dorthin.

„Klar.” Ich hatte gute Lust, mir ein wenig die Beine zu vertreten. Also machten wir uns auf den Weg. Der Wald war ca. eine halbe Stunde Fußweg entfernt. Als Kinder hatten wir oft dort gespielt und Lager gebaut. Wir hatten uns vorgestellt neben Elfen und Zwergen zu wohnen und nahmen uns in Acht vor Trollen und menschenfressenden Hexen. So fantasievoll wie damals waren wir zwar nicht mehr, aber der Wald zog uns trotzdem magisch an. Er wirkte mystisch und voller Geheimnisse. An einer großen Lichtung angekommen, warf Bonnie sich ins feuchte Moos.

„Lass uns eine Pause machen und die Natur genießen.” Dagegen war nichts einzuwenden. Ich ließ mich neben sie fallen.

„Und jetzt raus mit der Sprache – was ist los?” Bonnie war immer direkt. Sie sprach offen das an, was sie gerade dachte. Und in diesem Moment machte sie sich offensichtlich Sorgen um mein Wohlergehen. Ich konnte nichts vor ihr verheimlichen.

„Ich habe das Gefühl, alles falsch zu machen.“ murmelte ich deshalb kleinlaut.

„Um wen gehts?” Sie wusste sofort, dass ich von einem Mädchen sprach. „Kate.”

Bonnie nickte verständnisvoll. Ich hatte oft von Kate erzählt. Sie als meine ‚beste Freundin‘ bezeichnet, doch Bonnie hatte mir nie geglaubt. „Hat sie einen anderen?”

„Nein, das nicht. Zumindest hoffe ich das.” Ich merkte, wie mir der altbekannte Kaltschweiß den Rücken hochkroch.

„Wenn ich nur nicht so ein Schisser wäre.“ Ich biss mir auf die Lippen. Verliebt zu sein war ein schreckliches Gefühl. Wenn die Liebe nicht erwidert wurde.

„Vergiss sie.” Bonnie streckte sich.

„Es gibt tausend Mädchen, die dich mehr zu schätzen wissen.” Ich lächelte trüb, doch konnte ihr nicht ganz glauben.

„Aber keine ist wie sie.”

Mein Handy klingelte. Instinktiv hoffte ich darauf, es wäre Kate. Doch es war Keith. Ein langjähriger Freund von mir, der ebenfalls Geschichte studierte und sein Auslandssemester in Kanada verbrachte. Er lebte bereits seit einem Monat dort. Ab und zu hatten wir Kontakt, aber nur sporadisch per WhatsApp-Nachrichten. Ein Anruf war untypisch für ihn.

„Keith?”, meldete ich mich, als ich den Anruf entgegennahm.

„Hey Kian, was geht ab?”, entgegnete er fröhlich. Seine Stimme lallte etwas, als hätte er getrunken.

„Viel zu wenig hier in England. Schön, dass du dich meldest. Erzähl mir was von Kanada."

„Alles cool. Naja, mein WG-Mitbewohner ist vor Kurzem ausgezogen. Seitdem wohne ich allein. Da kam mir gestern die spontane Idee, ich könnte dich einladen zu mir zu kommen. Als Semester-Urlaub sozusagen. Was hältst du davon?” Ich stockte. Kanada? Was? Okay, das überforderte mich etwas. Bonnie sah mich an.

„Wer ist das?”, zischte sie. „Keith, ist das dein Ernst? Ich muss nächste Woche einen Vortrag halten.”

Keith lachte.

„Ach komm, ich kenne dich doch. Du machst das mit links. Komm danach zu mir. Meine Tür ist immer offen für dich.” Ich musste unwillkürlich grinsen.

„Du bist irre”, entgegnete ich. Aber die Idee fand ich trotzdem spannend.

„Wie stellst du dir das vor?”

„Naja, du machst eben das Herbsttrimester lang Pause oder so. Ich habe damals das Gleiche gemacht, als ich auf Hawaii gechillt hab. Ganz einfach. Leider kann ich dich aber nicht ewig beherbergen, weil irgendwann bestimmt der nächste Mitbewohner bei mir einzieht. Der Vermieter macht ordentlich Druck. Trotzdem – es gibt irre viel zu sehen hier. Diese Gelegenheit solltest du ausnutzen. Brad und James haben mir schon abgesagt, also dachte ich, du wärst bestimmt am Start.”

„Ich lass mir das mal durch den Kopf gehen.”, meinte ich. Natürlich war diese Idee absolut absurd. Ich war kein Fan von spontanen Ideen. Allerdings löste diese einen gewissen Reiz in mir aus.

„Melde dich. So bald wie möglich.”

Damit legte er auf. Ich sah Bonnie an, sie mich.

„Wer war das?”, wiederholte sie.

„Ein Freund. Aus Kanada.”

„Aus Kanada?!”, fragte sie verblüfft.

„Ja, Keith. Er hat mit mir studiert. Inzwischen macht er sein Auslandssemester in Kanada. Genauer gesagt in Ottawa, der Hauptstadt. Und er hat mich eingeladen, zu ihm zu kommen.” „Wow. Und? Hast du Bock?” Bonnie wirkte sichtlich begeistert.

„Keine Ahnung. Das ist verdammt weit weg.” Bonnie lachte.

„Gibt es etwas, das dich davon abhält?” Ich schüttelte instinktiv den Kopf. Was hielt mich eigentlich davon ab? Ein Mädchen, das sich nicht für mich interessierte? Zumindest nicht so, wie ich es wollte? Ein Studium, von dem ich ohnehin eine kleine Pause brauchte? „Grundsätzlich nichts.”

„Na dann... nichts wie weg.” Sie zwinkerte.

„Du solltest mal was Neues ausprobieren.” Das stimmte. Kanada! Das klang verlockend. Sehr sogar. Ich starrte gedankenverloren in den Himmel. Eine Scharr Vögel zog vorbei. Frei und ungehemmt. Was hielt sie davon ab, dorthin zu fliegen, wohin sie fliegen wollten? Nichts. Und genau so sollte ich auch denken.

Brief an Tante Jenn

Sehr geehrte Tante Jenn...

Klingt das spießig? Ich weiß nicht, wie ich dich sonst ansprechen soll. Wir haben so lange nichts voneinander gehört, dass es sich anfühlt, als würde ich einer Fremden schreiben.

Einer Fremden, die ich unglaublich vermisse. Und die mir immer ein offenes Ohr geschenkt hat. Ich habe mich nun entschieden, eine Auszeit zu nehmen. Eine Auszeit von meiner derzeitigen Situation. Nicht, dass ich das unbedingt brauchen würde. Mir gehts gut so weit, mein neuer Job ist sehr... bereichernd. Es ist nur so, dass ich momentan die Schnauze voll davon habe, immer nur zu springen, wenn mich jemand ruft oder was von mir braucht. Ich möchte mal nur für mich selbst da sein. Mir selbst was Gutes tun. Lange habe ich überlegt, wohin es mich zieht. Und jetzt endlich eine Entscheidung getroffen. Es zieht mich nach Kanada. Meine Mama hat so oft davon geschwärmt, es aber nie geschafft, dorthin zu reisen. Ich denke, das ist das Richtige. In Gedanken bin ich bei dir, Tante Jenn.

Du wirst bald wieder von mir hören.

Deine Sofia

Kapitel 4

„Hey Kian, bist du gut vorbereitet?”, fragte Kate mich.

„Selbstverständlich!” Und das sagte ich nicht nur so, das war ich wirklich. Aber nicht nur auf den bevorstehenden Vortrag, sondern auch auf Kanada. Ich hatte Keith spontan zugesagt. Nicht nur durch Eigeninitiative, sondern auch durch Bonnies Zuspruch.

„Man, flieg doch einfach, flieg nach Kanada und lass es dir ein paar Wochen gut gehen”, hatte sie gesagt.

Und ich gehorchte. Eine Woche war vergangen seit Keith' Anruf und der Vortrag, den Kate und ich halten sollten, stand unmittelbar bevor. Wir standen auf dem Uni-Campus, Kate war mindestens so nervös wie ich. Prof. McQuaid war ein Urgestein der Universität. Er war alt, streng, aber kompetent. Mit seinem umfangreichen Wissen machte er vielen Professoren Konkurrenz. Aber er wurde geschätzt.

Auch von den Studierenden. Vor ihm sollten wir heute unseren Vortrag halten. Die Note floss in die Leistungsbewertung mit ein, weshalb wir uns richtig anstrengen mussten. Kate machte eine Kaugummiblase nach der anderen und ließ sie laut hörbar platzen. „Kate, hör auf damit. Du machst mich noch nervöser, als ich es eh schon bin.” Kate grinste.

„Wir schaffen das, hörst du? Und dann gehst du erstmal nach Kanada. Und lässt mich hier versauern.”

Ich hatte ihr davon erzählt. Und sie war erblasst vor Neid. Kanada war schon immer Kates großer Traum gewesen. Doch sie hatte panische Flugangst, was sie bis jetzt davon abgehalten hatte, dorthin zu reisen.

„Du bekommst mindestens fünfzig Fotos am Tag. Und etliche Videos. Du wirst das Gefühl haben, als wärst du live dabei.” Kate seufzte. Dann sahen wir Prof. McQuaid vorbeigehen. Er sah uns nicht, weil er den Blick auf seine Kollegin Prof. Higgins gerichtet hatte. Sie war sozusagen die unbeliebteste Professorin der Universität. Auch optisch strahlte sie wenig Sympathie aus. Schlaksige, magere Figur, leuchtend rot gefärbte Haare, eine runde Brille mit übertrieben dicken Rändern, die sie um Jahre älter wirken ließ, als sie war. Sie war streng, genau wie Prof. McQuaid, aber im Gegensatz zu ihm, war es keine liebevolle Strenge, sondern pure Boshaftigkeit. Ich überlegte oft, was einen Menschen dazu trieb, so zu werden. Vielleicht lag es an Unzufriedenheit mit sich selbst und seinem Leben oder Einsamkeit. Sie war nicht verheiratet und hatte keine Kinder, das wussten wir. Ich stellte sie mir als einsame, etwas chaotische Katzenlady vor. Diese Sorte von einsamen Katzenladys, die jeden Abend mit einem Glas Wein auf ihrem geblümten Sofa saß und sich selbst bemitleidete. Der einzige Lichtblick waren vielleicht die BBC News im Fernsehen oder aber auch, Studierende grundlos fertig zu machen. Ich schüttelte den Kopf, als ich sie sah. Prof. Higgins warf uns einen bitterbösen Blick zu.

Vor allem auf mich hatte sie es abgesehen. Vielleicht lag es daran, dass ich ihr in meinem ersten Studiensemester versehentlich ein Frisbee gegen die Schulter geworfen hatte. Dafür hatte ich bei vielen älteren Studierenden Pluspunkte gesammelt, obwohl es tatsächlich keine Absicht gewesen war, wie viele dachten. Kate rüttelte mich aus meinen Gedanken. „So es geht los, mein Lieber.” Da war sie wieder. Die alte, motivierte Kate, die alles so locker und eifrig anpackte. Ich schlenderte neben ihr her in den B-Flügel. Ein langer, mit noblen Marmorfliesen bedeckter Korridor empfing uns hier. Am Ende dieses Korridors lag der Hörsaal, in dem der Vortrag stattfinden sollte. Einige Studierende hatten sich bereits versammelt, es wurde getuschelt und gelacht. Die Stimmung war ausgelassen und harmonisch. Simon, der ganz hinten an der Tür saß, grinste mich an.

„Hey Kian und Kate, viel Glück euch. Prof. McQuaid hat gute Laune.” Das gab mir ein bisschen Zuversicht. Kate war nun noch nervöser geworden, kaute unentwegt an ihren Fingernägeln. Diese dumme Angewohnheit hatte ich bereits vor Jahren abgelegt. Ich piekte Kate kameradschaftlich in die Seite.

„Hey, wir sind vorbereitet, uns kann nichts passieren.” Kate lächelte mich etwas unsicher an. Prof. McQuaid hatte sich bereits an einem Pult positioniert und war damit beschäftigt, Ordner und diverse Unterlagen vor sich auszubreiten. Außer ihm war noch Mr. Reed anwesend, der den zweiten Prüfer darstellen sollte. Ich hatte ihn erst einmal gesehen. Er war groß, sportlicher Statur und hatte auffallend große Augen, die auf eine unergründliche Art und Weise Unbehagen in mir auslösten. Kate und ich bereiteten uns nun ebenfalls vor. Während Kate ihren Laptop für die PowerPoint-Präsentation positionierte, beschriftete ich die Tafel mit Stichpunkten, die unseren Aufbau der Präsentation darstellen sollten. Nachdem wir alles vorbereitet hatten und bereit für unseren ‚großen Auftritt‘ waren, nickte uns Prof. McQuaid kurz zu und gab uns damit zu verstehen, mit dem Vortrag zu beginnen. Während wir die wichtigsten Informationen über den dänisch-schwedischen Krieg so detailliert wie möglich an unsere Mitkommilitonen weitergaben, erwischte ich mich selbst immer häufiger dabei, wie ich Kate beobachtete. Die Art wie sie redete und dabei so anmutig gestikulierte, zog mich in den Bann. Nach gut einer Stunde hatten wir schließlich unsere Präsentation erfolgreich abgeschlossen. Zwischen Schweiß, Nervosität und der immer größer werdenden Erleichterung, sah ich meine Mitstudierenden klatschen. Sie schienen beeindruckt zu sein. Auch Prof.

McQuaid klopfte anerkennend auf das Pult vor sich und machte sich noch ein paar letzte Notizen. Das war also geschafft! Kate streckte mir kaum merklich ihre Hand hin und ich schlug leise ein. Nachdem wir von Prof.

McQuaid noch ein kurzes, sehr positives Feedback erhalten hatten, war die Unterrichtseinheit auch schon beendet und gab uns damit den Freifahrtschein, in die Mittagspause zu starten. Ich merkte erst jetzt, wie hungrig ich war.

„Hey Leute, ihr wart super. Lasst uns doch zur Feier des Tages zu Nandos gehen.” Emma, Kates beste Freundin, stand strahlend vor uns. Sie war eine äußerst herzliche Person, immer gut gelaunt, mit einem ansteckenden Lachen und einem kleinen Anflug von naivem Verhalten. Ich mochte Emma. Sie kannte ich fast schon länger als Kate. Emma war mir damals zuerst auf einer Studentenparty aufgefallen.

Naja, eigentlich mehr negativ als positiv. Während eines heftigen Rauschs hatte sie nämlich die glorreiche Idee gehabt, auf dem Billardtisch eine Tanzeinlage hinzulegen und war dabei so grausam gestürzt, dass sie mit einem gebrochenen Handgelenk und einem geprellten Ellenbogen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Nachdem ich ihren Freund und gleichzeitig meinen guten Kumpel Greg dann ins Krankenhaus zu einem Besuch begleitet hatte, hatte sich eine gute Freundschaft zwischen uns entwickelt. Emma war immer da, wenn man sie brauchte.

Auch jetzt strotzte sie wieder vor Optimismus.

„Ihr habt euch einen fetten Burger verdient. Also was ist, kommt ihr mit? Wir müssten aber noch kurz auf Greg warten, er hat gerade ein Gespräch mit Prof. Laurens. Wegen seinem bevorstehenden Auslandssemester in Washington”.

„Alter Schwede, ihr seid doch alle verrückt geworden. Greg geht nach Washington, Kian nach Kanada, ...”

Kate ordnete gerade die Unterlagen in ihre Tasche.

„Kian geht nach Kanada?!” Emma sah mich gleichzeitig bewundert und tadelnd an.

„Warum erfahre ich erst jetzt davon?” Ich verdrehte die Augen.

„Mensch Leute, das sind doch nur ein paar Wochen. Ich besuche Keith dort und drehe dann noch ein paar Runden durch den Osten. Kaum der Rede wert.”

„Du bist ja lustig. Das nenn ich mal eine krasse Erfahrung, die da auf dich wartet.” Emma grinste breit.

„Wenn du willst, kann ich dir ein paar Tipps für Sehenswürdigkeiten geben. Meine Schwester war doch erst letztes Jahr im Osten Kanadas.”

„Das heben wir uns bitte für die Mittagspause auf. Ich habe echt Hunger”.

Kate hatte inzwischen fertig gepackt und sich die Tasche über die Schulter geworfen.

„Kommt schon. Nandos wartet auf mich.” Und mit diesen Worten schlenderten wir über das Unigelände und bogen in Richtung Innenstadt ein.