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Himmlische Gefahren - Ein Schutzengel in der Klemme Zack hat sich seine Rückkehr auf die Erde als Schutzengel anders vorgestellt. Statt Harmonie erwarten ihn Chaos und Ablehnung: Maja, die er beschützen soll, hasst ihn, und dunkle Mächte setzen alles daran, ihn zu Fall zu bringen. Zum Glück helfen ihm Sylver und Derek. Als Zack gezwungen wird, Maja sein tiefstes Geheimnis zu offenbahren, gerät die fragile Freundschaft der Gruppe in Gefahr - und damit auch seine gesamte Mission. Kann er seine Fehler wiedergutmachen, oder wird seine Mission zur größten Prüfung seines Lebens? Ein fesselnder Roman über Liebe, Loyalität und dunkle Gemeinmisse
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Seitenzahl: 640
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Verlag
Title Page
Hinweis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Danke!
Impressum
Traumschwingen Verlag GbR
Kevin Soni
Auf der Erde liegt das Glück
Wir haben sie euch in einer Spotify-Playlist zusammengestellt, damit ihr sie beim Lesen hören könnt.
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Viel Spaß
Kevin Soni und das Team vom Traumschwingen Verlag
Die Halle von Grandma Sunams zauberhaftem Laden scheint von flackernden Schatten durchzogen, die sich um die zerklüfteten Wände wenden. Überall um die beiden herum stapeln sich mystische Gegenstände, Kräuter und magische Tränke, die ein regelrechtes Sammelsurium der Zauberkunst bilden. Das sanfte Glühen von Kerzen taucht den Raum in ein warmes Licht, das die Aura des Übernatürlichen verstärkt.
Grandma Sunam, eine Hexe von jahrhundertealter Weisheit und geheimnisvollen Augen, geleitet Derek zu einer gemütlichen Couch, auf der sie sich niederlassen. Der Duft von magischen Kräutern, Räucherstäbchen und mysteriösen Mixturen vermengt sich zu einer betörenden Symphonie der Magie.
Während Grandma Sunam Tee einschenkt, kann Derek die Spannung in der Luft förmlich spüren. Der Engel rutscht nervös auf dem Sofa hin und her, bis er schließlich nicht länger warten kann und die Frage in den Raum wirft: »Sunam, wozu hast du mich hergerufen?«
Die Hexe lächelt sanft und schließt kurz die Augen, bevor sie antwortet: »Ich habe etwas gespürt, Derek. Eine ungewöhnliche Kraft, die durch die magischen Schleier dringt. Etwas hat nicht gestimmt, als ob…«
Bevor sie ihren Satz vollenden kann, durchbricht Derek ihre Worte: »Ja, ein anderer Engel ist hier. Es sollte mein Bruder sein. Er wollte auch nach Kapma Hill.«
Grandma Sunam schüttelt langsam den Kopf, ihre Augen bleiben jedoch von einer tiefen Ernsthaftigkeit erfüllt. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Tee, bevor sie fortsetzt: »Nein, Derek, es ist nicht dein Bruder. Dieser Engel trägt eine andere Geschichte in sich. Das Leben auf der Erde legt sich wie ein zarter Schleier über sein Engeldasein.«
Derek starrt sie mit aufgerissenen Augen an, seine Gedanken überschlagen sich. »Ein anderer Engel? Aber wer könnte das sein und was führt ihn hierher?«
Grandma Sunam lächelt weiterhin rätselhaft. »Das müssen wir herausfinden, Derek. Es gibt Mächte im Spiel, die wir nicht ignorieren können. Dieser mysteriöse Engel könnte eine Bedrohung darstellen oder etwas noch Dunkleres verbergen. Wir müssen wachsam sein und die Magie unseres Seins nutzen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.«
Doch Derek ist von diesem Gedanken wenig begeistert. Eigentlich sollte mein Bruder hier auf der Erde als Schutzengel kommen. Jetzt soll ich irgendeinen fremden Engel finden und ihn babysitten?, denkt er verärgert.
Doch bevor er seine Gedanken aussprechen kann, bemerkt er, dass Grandma Sunam bereits seine innersten Überlegungen mitbekommen hat.
Grandma Sunam hebt beruhigend die Hand und schüttelt den Kopf. »Nein, Derek, du sollst ihn nicht babysitten. Du bist ein Schutzengel, der seit Jahrzehnten hier auf der Erde ist. Du kannst diesen Engel nicht nur beschützen, sondern ihm auch an die Hand nehmen und helfen. Es geht um die Sicherheit von uns allen. Dieser Schutzengel ist mächtiger, als wir uns vorstellen können!«
Derek seufzt, als er die Worte der Hexe versteht. Trotz seiner anfänglichen Abneigung gegen die Vorstellung, Verantwortung für einen unbekannten Engel zu übernehmen, erkennt er nun die Wichtigkeit der Aufgabe. Es liegt in seiner Natur, zu schützen und zu führen, und dieses Gefühl überwiegt letztendlich seinen Unmut.
»Also gut, Grandma Sunam. Ich werde diesen Engel finden und tun, was in meiner Macht steht, um ihn zu unterstützen und zu beschützen. Aber wir müssen mehr über ihn herausfinden. Wer ist er und warum ist er hier? Diese Fragen müssen beantwortet werden, bevor wir handeln können«, erklärt Derek entschlossen.
Grandma Sunam nickt zustimmend und sinniert: »Du hast recht, Derek. Die Antworten liegen vielleicht in den verborgenen Ecken der Magie, und wir müssen bereit sein, sie zu finden, um das Gleichgewicht zu wahren und mögliche Gefahren abzuwenden.«
Die beiden setzen sich in die Tiefe des magischen Ladens und vertiefen sich in Überlegungen, wie sie den mysteriösen Engel aufspüren und mehr über seine Anwesenheit auf der Erde erfahren können. In der Welt der Magie und Geheimnisse beginnt eine neue Mission für Derek, und er ist gewillt, den unbekannten Engel zu schützen, egal, welche Herausforderungen auf sie warten.
Genau wie all die Räume hier oben ist auch dieser Raum komplett weiß. Aber nicht nur die Räume, sondern auch die Kleidung der Personen hier. Es ist wirklich so, als hätte jemand einen Eimer voller weißer Farbe über die Welt hier gekippt.
Ich habe mich schon oft gefragt, warum alles hier oben farblos ist, aber niemand will mir diese Frage beantworten. Vielleicht wissen sie es ja selbst nicht. Na ja, meine Theorie ist, dass man uns glücklich machen will. Überall ist alles weiß und hell, da haben dunkle und trübe Gedanken erst gar keine Chance. Die Leute sind stets fröhlich. Von überall erklingt Gute-Laune-Musik. Und wenn man draußen in der Natur ist, dann scheint stets die Sonne. Nie gibt es eine Wolke am Himmel, nie wird es mal finster. Es ist tagein und tagaus immer Friede, Freude, Eierkuchen. Bin ich froh, hier bald verschwinden zu können, denkt sich der Junge, während er in dem riesigen Wartezimmer sitzt und seine Gedanken schweifen lässt.
»Nummer 144 in Kabine 14. Ich wiederhole: Nummer 144 in Kabine 14«, ruft eine Frau aus ihrem Büro heraus. Er hört, wie sich von weitem ein Mädchen erhebt und voller Erleichterung an ihm vorbeihuscht.
Das glückliche Mädchen hat die lange Wartezeit endlich hinter sich, denkt er sich.
Der Junge schaut hinunter auf den kleinen Zettel mit der großen schwarzen Nummer, den er in seiner Hand hält.
Nummer 414. Das kann ja noch eine Ewigkeit dauern. Hätte ich doch nur auf Oma gehört und hätte mich heute Morgen schon früher auf den Weg gemacht.
Er verschränkt seine Arme vor der Brust und sein Kopf wird immer schwerer. Warum musste ich gestern auch noch feiern gehen? Schulabschluss hin oder her, es war klar, dass es heute hier so voll werden würde.
»Und jetzt einen Applaus für Morgan Dua, die nun ihre Reise zur Erde antritt. Wir wünschen dir viel Glück und eine erfolgreiche Zeit.«
Es spricht wieder die gleiche weibliche Stimme aus irgendeinem Büro heraus.
Es dauert einige Sekunden und dann sieht man das Mädchen Namens Morgan Dua. Sie wird auf einem Podest hochgefahren, verabschiedet sich von ihrer Familie, die, wie alle anderen, draußen warten muss, und dann ist sie auch schon weg. Das Podest schießt mit einer Geschwindigkeit nach unten, so dass man nur noch ein Geräusch wahrnimmt.
Nun, als der Moment immer näher rückt, überkommt den Jungen Nervosität. Er fängt an, wie verrückt mit seinem Bein zu wippen und sofort schauen alle Personen in dem riesigen Raum zu ihm. Auf den gewachsten Boden verursachen seine Schuhe bei jedem Wackler ein quietschendes Geräusch. Er beendet sein nervöses Wackeln und guckt nervös um sich. Der Junge neben ihm schaut zu ihm herüber und lächelt mitfühlsam. Obwohl der Junge eine gewisse Art von Stolz und Arroganz ausstrahlt, erkennt er ihm die Nervosität an und versucht ihn durch ein Gespräch etwas abzulenken.
»Hey. Ich heiße Dylan. Bist du genauso aufgeregt wie ich?«
»Hey. Ja, es wird von Sekunde zu Sekunde schlimmer«, lacht der Junge nervös.
»Ja, ist bei mir nicht anders. Bist du auch von hier?«
»Nein, wir mussten drei Stunden herfahren. Meine Oma wartet draußen mit meiner kleinen Schwester.«
»Ja, das ist echt nicht vorteilhaft, wenn man nicht von hier kommt. Wir wohnen um die Ecke, meine Eltern wollten später erst vorbeikommen«, spricht Dylan voller Stolz.
»Das ist echt cool. Wie gut hast du denn die Schule bestanden?«
»Sagen wir mal so, meine Eltern kannten die ganzen Lehrer in meiner Schule und wenn ich in einem Fach mal nicht so gut war wie erwartet, dann gab es Gespräche und Nachhilfelehrer, die dafür gesorgt haben, dass meine Noten schnell wieder besser wurden.«
Unbeeindruckt antwortet er ihm: »Du Glücklicher. Bei mir war es anders. Letztes Jahr hatte ich es auch schon versucht, vergeblich, die Noten haben nicht gestimmt.«
Er wendet seinen Blick ab und verschwindet kurz in seinen Gedanken.
»Aber hey, schau dich an, nun hast du es ja geschafft. Welche Nummer hast du?«
»Ich habe Nummer 414 und du?«
»Echt? Da bist du ja viel früher dran als ich. Ist mir zwar ein bisschen peinlich zu fragen, aber würdest du mit mir tauschen? Ich habe die Nummer 444. Aber ich habe Angst, dass meine Eltern so spät keine Zeit mehr haben. Sie sind immer mit irgendwelchen Dingen im Geschäft beschäftigt und haben immer wichtige Termine, die sie dringend einhalten müssen. Ich würde sie nur zu gerne noch ein letztes Mal sehen und ich habe den großen Wunsch, ihnen zu winken, wenn ich auf der Rampe bin. Aber wenn sie dann schon wieder gehen müssen, dann verpasse ich diese letzte Chance. Ich hoffe, du kannst mich verstehen?«
Der Junge schaut auf seinen Schein mit der Nummer. Er überlegt, ob er es seiner Oma und seiner Schwester antun kann, dass sie noch länger draußen warten müssen. Er kommt zu dem Entschluss das Angebot abzulehnen, als der fremde Junge seinen Gedankengang unterbricht: »Ich würde dich nicht fragen, wenn es mir nicht so viel bedeuten würde. Aber ich kann es natürlich auch verstehen, falls du ›Nein‹ sagst. Ich weiß ja selbst nicht, wie ich reagieren würde.«
Er schaut immer noch wie erstarrt auf seinen Schein und trifft schließlich ganz plötzlich die Entscheidung. »Ja. Ja, wir können tauschen. Es macht mir nichts aus, ich hätte genau das gleiche getan wie du.«
Er übergibt Dylan seinen Schein, die beiden schauen sich lange in die Augen, bis er schließlich seinen neuen Schein entgegennimmt.
»Vielen Dank. Echt, das bedeutet mir viel.«
Dylan, der von dem Deal profitiert, wendet sich nach dem Tausch wieder ab und setzt sich eine eisige Miene auf. Dieser Trottel.Was schafft man nicht alles mit einer einfachen Lüge, spricht Dylan in seinen Gedanken.
Die Zeit vergeht während des kurzen Gesprächs rasant, so ist nun schon die Nummer 304 aufgerufen worden.
Der Junge, der nun die Nummer 444 hat, schaut wieder in die Menge. Zwischendurch wagt er einen Blick nach oben zu den Leuten, die es geschafft haben und nun ihrem neuen Leben entgegentreten. Mit jeder aufgerufen Nummer schlägt sein Herz schneller.
Plötzlich knurrt sein Magen, unfreiwillig zieht er zum zweiten Mal die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er kramt seine Brotbüchse aus der Tasche. Die Brote von seiner Oma schmecken ihm am besten. Wie er selbst immer sagt, sie bereitet die Brote mit sehr viel Liebe zu. Dazu gibt es immer eine kleine Botschaft. Er hat all die Weisheiten behalten und nimmt sie später mit sich auf dem Weg zur Erde. So kann er sich immer an seine Großmutter erinnern. Er hört ein leichtes Lachen, doch schenkt ihm keine Aufmerksamkeit. Er nimmt den ersten Bissen, als Dylan wieder rüber schaut und ein Gespräch erzwingt.
»Was isst du da? Ist das etwa Brot mit Aufstrich?«
»Ja! Möchtest du was abhaben? Meine O...«, noch bevor er eine Antwort auf die Frage von Dylan geben kann, funkt der merkwürdige Junge wieder dazwischen.
»Also, ich zeig dir mal, was ich leckeres Brot nenne.«
Er öffnet seine Tasche und holt eine weiße Brotdose heraus. Vorsichtig öffnete er diese.
»Also, das nenne ich Frühstück. Das hier ist das teuerste Brot, was man in einem Radius von fünfzig Kilometer käuflich erwerben kann. Und weißt du, wer es zubereitet hat?«
Er sieht ihn prüfend an.
»Natürlich weißt du das nicht. Kein geringer als Benoît Patrick David Violier, der beste Koch, Konditor und Bäckermeister hier oben im Himmel.«
»Wow, das habe ich ja noch nie gegessen. Was ist da denn drauf?«
»Das ist feinster Kaviar, den kriegst du normalerweise hier oben gar nicht.«
»Was? Du isst Eier von Tieren? Aber, das ist doch strengstens verboten. Wenn es hier einer mitbekommt, dann war alles umsonst für dich.«
»Ach, mach dir doch nicht gleich in die Hosen. Meine Eltern bekommen hier oben das Feinste vom Feinsten und das weiß jeder hier. Ich glaube, du hast immer noch nicht kapiert, wer mein Vater ist.«
Der leere Blick des Jungen verrät, dass er keine Ahnung hat, was Dylan ihm mitteilen will.
»Mein Vater ist niemand geringeres als der Boss hier oben. Wincent Ye‹ Tête, der Marketingchef und Inhaber aller großen Firmen im Himmel.«
Der Junge erstarrt bei dem Namen des Vaters. Niemals hätte er erwartet, dass der Sohn des großen Wincent Ye‹ Tête jemals hier neben ihm sitzen würde. Hätte er ihn von Anfang an erkannt, dann hätte er keine Sekunde daran verschwendet zu überlegen, ob er die Nummer tauschen wollen würde. Er hätte sie ihm freiwillig angeboten.
»Da staunst du nicht schlecht, was? Also, sag lieber nichts Falsches, sonst ist deine Familie schneller unten auf der Erde, als du in dein schwabbeliges Brot reinbeißen kannst.«
Der Junge ist immer noch erstaunt und traut sich nicht mal mehr, ein Wort zu sagen.
»Jetzt wach mal wieder auf. Du musst mir Mut machen, ich bin gleich dran.«
Und schon wieder vergeht die Zeit schneller als gedacht. Er schaut hoch zu dem Bildschirm und da steht die Zahl 400. Erfreut springt er auf: »Ich bin gleich dran.«
Doch Dylan bringt ihn wieder zurück in die Wirklichkeit.
»Setz dich wieder hin, mein Freund. Du hast wohl vergessen, dass wir getauscht haben. ICH bin gleich dran und ich bin echt aufgeregt. Nur mal so, du bist echt schlecht im Aufmuntern, du solltest lieber kein Motivationscoach da unten werden.«
Der Junge fängt sich wieder und entgegnet ganz verlegen: »Es tut mir leid. Ich war nur so aufgeregt.«
»Kein Problem. Das geht allen so!«
»Mach dir keine Sorgen du bekommst bestimmt einen Platz in der Stadt deiner Wahl. Wenn es nicht die erste Wahl ist, dann die zweite.«
»Ha, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mir darum Sorgen mache? Ich bin Dylan Ye‹ Tête, der Sohn von DEM Wincent Ye‹ Tête, ich kriege immer meine erste Wahl.«
Der Junge schaut wieder zu Boden. Eigentlich ist er einer der selbstbewusstesten Personen in seiner Klasse gewesen. Dies ist auch eine Voraussetzung, um eine Aufgabe auf der Erde zu erlangen, doch neben dem Sohn von Wincent Ye‹ Tête wirkt er fast eingeschüchtert.
»Nebenbei, was ist denn deine erste Wahl?«, fragt Dylan den eingeschüchterten, naiven Jungen.
»Ich weiß es nicht, es ist mir eigentlich egal. Ich will nur nach unten auf die Erde. Schon seit ich ein kleines Kind war ist dies mein Ziel und bald wird dieser Wunsch endlich in Erfüllung gehen.«
»Ja, dann sag gleich, dass du nach Kapma Hill möchtest. Da komme ich nämlich hin, das haben meine Eltern schon geklärt. Dann würdest du da unten jemanden kennen und Kontakte sind schließlich Gold wert.«
Der Junge lässt es sich durch dem Kopf gehen und kommt schnell zu der Einsicht, dass dies wirklich von Vorteil sein könnte.
»Ja. Ja, das wäre wirklich super. So mach ich das. Aber denkst du, wir würden uns finden in einer riesigen Stadt voller Menschen?«
»Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, wie das alles da unten funktioniert.«
Der Junge nickt und freut sich innerlich über die Tatsache, dass er auf der Erde nicht komplett allein sein wird.
»Nummer 413 in Kabine 1. Ich wiederhole: Nummer 413 in Kabine 1.«
»Dylan, du bist der Nächste!«, freut sich der Junge für seinen neuen Freund.
»Ja, ich weiß.«
»Bist du denn gar nicht aufgeregt?«
Dylan denkt einen Moment nach. Innerlich ist er zwar sehr aufgeregt und kaum noch zu halten, denn gleich fängt für ihn ein neues Leben an und das für mehrere Jahrzehnte, da wäre schließlich jeder aufgeregt. Doch er möchte seine coole und harte Fassade nicht verlieren und lügt deshalb erneut: »Nein, kein bisschen. Was ist denn auch schon dabei?«
Der Junge bewundert ihn, denn er selbst kann sich vor Aufregung kaum noch halten.
Dylan steht auf und bereitet sich auf seinen Auftritt vor, wenn er gleich aufgerufen wird.
»Na, sehe ich für meine Reise auf die Erde bereit aus?«
»Ehm, warte.« Der Junge steht auf, läuft einmal um ihn herum und scherzt: »Naja, die Leute werden sich schon nicht vor dir erschrecken.«
»Das finde ich echt nicht witzig.«
»Nummer 414 in Kabine 13. Ich wiederhole: Nummer 414 in Kabine 13.«
»Na gut, nun ist die Zeit gekommen, sich zu verabschieden, Dylan.«
Der Junge steht auf, Dylan gibt ihm die Hand und zieht ihn an sich. Sie umarmen sich freundschaftlich und nun setzt er seinen ersten Schritt in Richtung seines neuen Lebens.
»Wir sehen uns unten!«, schreit Dylan dem Jungen noch zu und verschwindet.
Der Junge schaut ihm noch eine Weile hinterher, erst als er die Tür des Büros öffnet und hineingeht, löst er seinen Blick.
Er beginnt erneut, mit seinem Bein zu wackeln, aber hört schnell wieder auf. Langsam bereut er es, sein Ticket mit Dylan getauscht zu haben. Er hätte jetzt die Person sein können, die dort drinnen sitzen und bald die Ehre bekommen würde, auf die Erde zu reisen.
Er beobachtet weiter die Personen, die von dem Podest aus verschwinden, die Personen, die neu dazu kommen und noch all die lange Wartezeit vor sich haben und die Personen, die nach dem Aufrufen ihrer Nummer in die Luft springen und sich freuen, endlich dran zu sein und nicht mehr in dem weißen, langweiligen Raum sitzen zu müssen. Doch jetzt vergeht die Zeit viel langsamer als vorher in Dylans Gesellschaft.
Er träumt von dem Weg aus Granja hier hin, zu dem Ort, welcher hier oben im Himmel den Ruf des schönsten und größten Gebäudes genießt. Doch ihm gefällt es hier nicht einmal, denn sein Lieblingsort ist der Bauernhof seiner Oma. Nach all den weiß gestrichenen Orten ist der Bauernhof mit all seinen Pflanzen und Tieren abwechslungsreich. Er hat jede einzelne Minute dort genossen. Umso schwerer war es für ihn, in diese weiße Metropole zu kommen. Die Schule war schon schlimm genug für ihn, denn dort gab es auch nichts anderes als Weiß.
Nach gefühlten Stunden schaut er hoch zu dem Bildschirm und realisiert, dass er derjenige ist, der als Nächstes drankommen wird. Sein Herz fängt an, noch schneller zu pochen als vorher. Er steht schon mal auf und betrachtete sich vor einem Spiegel. Es fühlt sich an, als wäre er der Einzige von all den Leuten hier, die so viele Gepäck dabeihaben. Er hat zwei Koffer und einen Rucksack mit dabei. Er steht schon in den Startlöchern, als endlich, nach all der langen Wartezeit, seine Nummer aufgerufen wird: »Nummer 444 in Kabine 1. Ich wiederhole: Nummer 444 in Kabine 1.«
Er erstarrt. Anders als erwartet, rennt er nicht direkt los zur Kabine, sondern fällt in eine Art Schockstarre.
Die Schockstarre endet erst, als er erneut aufgerufen wird: »Zweiter und letzter Aufruf für Nummer 444. Bitte in die Kabine 1. Nummer 444 in die Kabine 1.«
Nun löst er sich allmählich aus seiner Starre und rennt mit schweren Schritten in Richtung Kabinen. Er liest die Schilder an den Wänden und folgt ihnen in Richtung Kabine 1. Dabei verläuft er sich, biegt zwei Mal falsch ab, bis er schließlich zurück in den Gang läuft und die Tür der Kabine 1 findet. Er stellt sich breitbeinig vor die Tür, schließt seine Augen, atmet einmal tief durch und klopft an die Tür. Er wartet ab, doch bekommt keine Antwort. Er klopft erneut, als sich plötzlich die Tür von selbst öffnet.
»Guten Tag Nummer 444. Setzen Sie sich«, spricht eine junge Frau. Sie hat, wie alle Mitarbeiter hier, ebenfalls weiße Kleidung an, ihre Haare sind nach oben gesteckt und zudem hat sie einen strengen Blick aufgesetzt.
Der Junge setzt sich und wartet einen Moment, während die Frau ihre Papiere sortiert. Er schaut sich im Büro um. Ihm fällt auf, dass auch hier ein Glasdach einen Blick auf die angehenden Engel auf dem Podest ermöglicht.
»Wir haben nicht viel Zeit, also müssen wir uns beeilen. Ich bin Frau Enyo Baya, ich darf dich doch duzen, nicht wahr?«
Er nickt.
»Super. Also, ich werde mit dir nun alle Formalitäten klären und dich betreuen, bis du deine Reise zu Erde antreten kannst. Ich bin also für die kommende Prozedur deine Ansprechpartnerin und Vertraute. Höre mir gut zu, befolge, was ich sage und alles wird zügig über die Bühne gehen, ohne dass dir was geschieht. Zuerst müssen wir ein paar Daten abgleichen. Nenn mir bitte deinen Namen, Wohnort, Geburts- und Todesdatum, Todesgrund, die Wohnorte in deinem Leben auf der Erde und die Namen der Personen, mit denen du hier bist.«
»Mein Name ist Zack. Ich wohne in Granja mit meiner Oma und meiner Schwester. Ich bin am 6. Juni 1980 in New York City geboren und am 4. Juni 1998 an Blutkrebs verstorben. Ich habe dann noch fünf Jahre in Atlanta gewohnt. Und heute mit dabei sind meine Oma Ingrid Lightwood und meine kleine Schwester Amie Lightwood.«
Die Mitarbeiterin tippt die von ihm genannten Informationen hastig in ihren Computer ein und nickt hin und wieder passend zum Rhythmus der Tasten.
»Okay, also daraus kann ich entnehmen, das New York City plus 50 Kilometer tabu sind, genauso wie Atlanta plus 50 Kilometer!«
Sie tippt weiter und schenkt Zack kaum Aufmerksamkeit.
Zack sieht ein umgedrehtes Glas und eine Flasche Cola, er fragt sich, ob er sich ein Glas einschenken darf. Er hat großen Durst und Cola ist hier oben nur etwas für die Elite.
»Du kannst dir ruhig etwas einschenken. Dafür steht die Flasche schließlich hier«, erwidert die Mitarbeiterin, ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen.
Zack ist überrascht, denn er hat nicht ein Wort gesagt. Waren es seine Blicke, die ihn verraten haben oder kann die Mitarbeiterin Enyo wirklich seine Gedanken lesen?
»Ja. Du hast es erfasst. Ich kann Gedanken lesen, das ist meine Gabe, welche ich auf der Erde entdeckt habe.«
Der Junge sagt weiterhin kein Wort.
»Du wirst bestimmt auch eine Fähigkeit auf der Erde erlangen. Also, nicht bestimmt, sondern sicher. Aber damit hat sich dann wohl die Frage erledigt, ob jemand deiner Familie schon mal auf der Erde war.«
»Doch«, schreit Zack plötzlich auf. »Mein Bruder ist auf der Erde.«
Die Frau schaut ihn an, zieht ihre Brille mit dem Zeigefinger ein Stück nach unten und fängt wieder an zu reden: »Ah, ja. Okay. Sonst etwas, was ich wissen sollte?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Enyo fängt wieder an zu tippen und Zack schenkt sich ein Glas Cola ein.
»Auf der Erde ist Cola etwas Normales. Fast jeder hat es zu Hause. Man kann es überall kaufen und keiner kontrolliert den Konsum dieses Getränks. Also pass lieber auf, nicht dass du zu viel davon trinkst, denn auch auf der Erde sind wir betroffen von all den Krankheiten, wie sie auch die Menschen dort bekommen können. Und Cola ist nun wirklich nicht besonders gesund. Gut das wir hier oben es ohne Bedenken trinken können. Ich würde nie wieder freiwillig zur Erde gehen. Hier oben lebt man doch um einiges sicherer.«
»Danke für die Information«, denkt er.
»Keine Ursache, es dauert auch nicht mehr lange.«
Zack ist wieder von der Fähigkeit der Frau überrascht worden und versucht, seine Gedanken zu kontrollieren.
»Ich brauche jetzt noch einige Daten bezüglich deines Aufenthalts auf der Erde.«
Zack nickt.
»Ich werde jetzt nicht die ganze Zeit deine Gedanken lesen, also Worte wären nicht schlecht.«
»Tut mir leid. Schießen sie los.«
»Was wäre denn deine erste Wahl, bezüglich der Stadt, in die du möchtest?«
Zack überlegt einige Sekunden, ob er überhaupt mit Dylan in einer Stadt leben möchte, und entscheidet sich schnell dafür.
»Ich würde liebend gerne nach Kapma Hill. Das liegt in Nordkalifornien.«
»Ah, ja, ich sehe. Da habe ich persönlich ja noch nie eine Person hingeschickt.«
Zack fühlt sich plötzlich unwohl. Die Stimmlage von Enyo, ihr ernster Blick, das nervöse Zucken ihrer Hand. Kann sein ungewöhnlicher Wunsch ein Grund sein, ihn nicht dahin zu schicken? Obwohl er sich unsicher war, hatte er sich aber schon auf einen Aufenthalt mit Dylan in der gleichen Stadt gefreut.
»Es spricht nichts dagegen, dich dahin zu schicken. Ich habe da auch einige Kandidaten, die dich dort unten gebrauchen könnten.«
Yeeeaaah, denkt sich Zack und diesmal ist ihm bewusst, dass Enyo die Mitarbeiterin es auch hören kann.
»Also, willst du zu einem Mädchen oder Jungen?«
Über diese Frage hat sich Zack schon seit dem Beginn seiner Entscheidung, auf die Erde zu reisen, Gedanken gemacht und sich auch von seiner Oma viel Rat eingeholt. Doch leider hat er nie eine Entscheidung treffen können und muss jetzt spontan entscheiden. Er wiegt die Vor- und Nachteile ab.
»Ja.«
»Wie, ja? Mädchen oder Junge? Da gibt es kein Ja oder Nein.«
»Ehm, ja, sorry. Ich würde gerne einem Mädchen zugeteilt werden!«
»Bist du dir da sicher? Es gibt kein Zurück mehr, wenn du dich jetzt einmal entschieden hast, und das für Jahrzehnte!«
»Ja, ich bin mir sicher. Sie verwirren mich nur.«
»Okay, dann soll es ein Mädchen sein!«
Sie tippt wieder einige Minuten und erst als Zack wieder anfängt nachzudenken, hört sie mit dem Tippen auf.
»Gibt es eine Möglichkeit, die Gedankenleser auszutricksen?«
»Ich sag jetzt einfach mal nein.«
»Ach, kommen Sie. Wir werden uns doch eh nie wieder sehen.«
Die Mitarbeiterin Enyo überlegt einige Minuten und schließlich beschließt sie, ihm das Geheimnis zu verraten und ihn einzuweihen.
»Es gibt eine Möglichkeit. Du musst es schaffen, deine Gedanken zu greifen und sie in einem imaginären weißen Raum in einer Truhe zu verstecken. Und als Profi kann man die Gedanken separieren und nur den Teil, der versteckt bleiben soll, in die Truhe packen und den Rest einfach ganz normal frei lassen, somit merken die Gedankenleser das auch nicht.«
Der Junge guckt sie an, als würde er ihr nicht glauben und dies verraten auch seine Gedanken.
»Ob du es glaubst oder nicht, so ist es. Aber um dies zu schaffen, braucht man eine gewaltige Menge an Macht und noch mehr Geduld.«
Zack guckt immer noch ganz verwirrt. Diese ganzen Informationen gehören nicht zu dem Stoff, den die Schüler kennen müssen, die auf die Erde wollen.
Er braucht einen Moment, um alles zu verarbeiten.
»Also war es das oder willst du noch etwas wissen?«
Zack ist sehr verwirrt und überlegt sich, ob er noch irgendetwas wissen möchte.
»Nein. Das war es.«
Enyo, die Mitarbeiterin, wendet den Blick ab und fängt wieder an zu tippen.
»Ist dir das Alter deines Schützlings wichtig?«
Zack überlegt wieder und Enyo weiß schon die Antwort. »Also, ja. Wie alt soll sie denn sein?«
Langsam wird Zack sauer, weil sie die ganze Zeit seine Gedanken liest. Doch angehenden Engeln ist es nicht gestattet, wütend zu werden. Deswegen atmet er einmal tief durch, um sich zu beruhigen, und schiebt das aufkeimende Gefühl in sich beiseite.
»Da hat wohl jemand andere Qualitäten, denn sonst wärst du mit deinem Temperament nicht genommen worden.«
Zack ist sichtlich verwundert. Natürlich ist ihm sein eigenes Temperament schon aufgefallen, aber er hat nie so richtig darüber nachgedacht. Es ist ja klar, dass jemand, dem eine so große Aufgabe in den Händen liegt, schließlich hat er Menschenleben in der Hand, die Ruhe in Person sein muss. Er wird nervös, da er nun denkt, dass er der Aufgabe nicht gewachsen sein wird.
»Ach, reg dich ab. Wie gesagt, unser Meister hier oben trifft seine Entscheidungen mit Bedacht, das heißt, er hat sich auch bei dir etwas gedacht, sonst wärst du niemals so weit gekommen.«
Doch Zack denkt an Dylan, der nur durch die Position seines Vaters so weit gekommen ist. Also muss sich der Meister hier oben ja hin und wieder auch mal irren.
»Jetzt mach dir keine Sorgen und such dir ein Alter aus, du Lebensretter.«
Zack versucht, die Selbstzweifel zu verdrängen und überlegt sich ein Alter. »Also gut, sie sollte so alt sein wie ich, dann haben wir einen besseren Draht zueinander.«
»Ah, da steht wohl jemand aufs Flirten.«
Zack wird rot und versucht, dies mit einem Schluck Cola zu überspielen.
»Aber vergiss nicht, es ist in jeder Hinsicht verboten-«
»Sich in einen Erdenbewohner zu verlieben oder jeglichen intimen Körperkontakt zu haben«, unterbricht er Enyo und vollendet den Satz der Mitarbeiterin. »Ja, wir kennen alle die Regel.«
»Na gut, also, so alt wie du. Wie Sie es möchten, Sir«, scherzt die Mitarbeiterin Enyo nun mit Zack. Die Stimmung scheint aufgelockert zu sein. Vielleicht durch die Gespräche, die ein gewisses Maß an Sympathie und ein Stück weit Vertrauenswürdigkeit ausgestrahlt haben.
»Hier ist nun eine Liste mit all den Mädchen, die für dich in Frage kommen. Also, ich meine natürlich als Schützling«, grinst Enyo breit über das ganze Gesicht.
Zacks Wangen bleibt errötet, doch er hat sich nun damit abgefunden.
»Na gut, lassen Sie mich mal sehen.«
Sie schiebt den Bildschirm in die Mitte, so dass beide drauf schauen können.
»Was ist denn mit ihr? Die sieht ganz nett aus«, schlägt Enyo ihm vor.
»Nein. Ich… sie strahlt irgendwie einen schlechten Vibe aus.«
»Hallo. Du sollst sie nicht heiraten!«, scherzt Enyo mit Zack.
»Ja, aber ich muss es Jahrzehnte mit ihr aushalten. Dann sollte es schon einfach passen.«
»Na gut, wie du willst. Was ist mit ihr? Sie hat auch noch wunderschönes langes Haar.«
»Ja, aber irgendwie passt es noch immer nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, nach der Schule bei ihr zu sitzen, damit wir uns über die Jungs in ihrer Klasse austauschen und tratschen«, spricht Zack und gestikuliert dabei mit seinen Händen und Armen wild herum.
»Ja, da hast du recht. Also, für dich sollten wir echt einen Chemie-Filter einbauen«, scherzt sie.
Beide lachen und dies nimmt ihm etwas von der Aufregung vor allem, was ihm noch bevorsteht.
»Die sieht ganz gut... ähm, ich meine, ganz nett aus«, er läuft erneut rot an.
»Ja, ja, das könnte passen. Also das ist dann wohl dein Typ. Schöne lange Haare mit einem Rotstich und kristallblaue Augen. Hey, das klingt ja wie ich«, scherzt die braunhaarige Enyo.
»Ja, natürlich, Sie könnten Zwillinge sein.«
»Also gut. Bist du dir sicher, dass sie es ist? Willst du vielleicht erstmal einige Informationen über sie haben?«
Er ist in seinen Gedanken vertieft, weshalb sie einfach weiterredet.
»Also, sie ist 18 Jahre alt. Sie reitet, seit sie 5 ist. Wird in der Schule wegen ihres Aussehens gemobbt und ist sehr tollpatschig. Ach ja, und ihr Name ist -«
»NEIN, nicht verraten. Ich will mich überraschen lassen. Diese Informationen reichen, danke!«
»Oh, ein ganz Romantischer.«
Sie fängt wieder an zu tippen, es dauert, wie immer, etwas länger und endlich widmet er seine Gedanken mal an die Glücklichen oder eher Unglücklichen, die da oben stehen und gleich einfach verschwinden. Es ist ein Mädchen mit roten Haaren, die nach oben gefahren wird auf dem Podest. Er schaut nach oben und fragt Enyo in seinen Gedanken: Hat schon einmal jemand den Sprung verpasst?
»Fragst du gerade mich?«
»Ja, wer kann hier denn sonst noch Gedanken lesen?«
»Gut, dann erzähle ich dir mal eine Geschichte: Grundsätzlich liegt die Chance, dass so etwas passiert, bei eins zu einer Million. Es ist jetzt schon öfter vorgekommen, aber wenn man sich konzentriert und einfach alles tut, genauso, wie man es gelernt hat, dann klappt der Absprung.«
Er schweigt und guckt ihr tief in die Augen. Die Angst scheint ihm ins Gesicht geschrieben.
»Und was passiert mit den Leuten, die es nicht geschafft haben«, fragt er und lässt den Blick nicht von ihr ab.
»Es ist ein Fall aus über 80 Metern. Ich glaube, die Frage erübrigt sich von selbst.«
Er schluckt und sagt erneut kein Wort.
»Aber mach dir keine Sorgen, ich garantiere dir zu 100%, dass du es schaffst.«
Er sagt immer noch kein Wort, sondern versinkt in seinen Gedanken.
»Hey, Kleiner. Bleib bei mir, deine Chica wartet auf der Erde auf dich.«
Er sieht sie an und sagt immer noch kein Wort.
»Wenn du dir jetzt sicher bist und zu ihr willst, dann hast du die Ehre, hier auf diesen Knopf zu drücken. Dann ist es aber beschlossen Sache. Es gibt dann kein Zurück mehr. Deine Zeit läuft, entscheide dich jetzt.«
Der Junge denkt nochmal an alles, was ihn an seinen Traum glauben lässt. Es war schließlich schon immer sein Wunsch, schon seit er ein kleiner Junge ist. Doch er weiß auch, wie schwer es seiner Familie fallen wird. Zum Glück will seine Schwester Amie nicht auch zur Erde, denn Oma allein zu wissen, hier oben, würde für ihn nicht in Frage kommen und dann müssten sich beide einigen, wer auf die Erde darf. Doch sie will hierbleiben und einen mehr oder weniger normalen Job erlernen. Somit hat er die Chance und will diese nun auch nutzen.
Er lässt nun langsam seine Hand in Richtung Entertaste gleiten. Er muss es jetzt machen, er muss sich seinen Traum erfüllen, auch wenn es heißt, dass er seine Oma nie wieder sehen wird und seine Schwester alt ist, wenn er wieder zurück im Himmel ist. Er muss es tun und jetzt tut er es auch. Er lässt seinen Finger über die Entertaste gleiten und drückt sie.
»Glückwunsch, Zack. Du hast erfolgreich deinen Schützling erwählt.«
Zack überlegt einige Sekunden, fängt an zu grinsen und schaut noch einmal auf den Bildschirm und erstarrt.
»Wieso dieser Blick, was ist denn los?«
Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmen kann.
»Error? Was heiß denn hier bitteschön Error? Das habe ich ja noch nie gehabt.«
Sie tippt wie wild auf ihrer Tastatur herum und jedes Mal erscheint in roter dicker Schrift das Wort: ›Error‹.
»Das versteh ich nicht. Vielleicht update ich mal mein System, dann sollte das Problem behoben sein.«
Sie tippt wieder herum, bedient die Maus und wartet ungeduldig sehr lang andauernde fünf Minuten, bis das Update abgeschlossen ist.
»Nanu, wie kann das den bitteschön sein? Ich habe eine schlechte Nachricht, Amigo: Sie ist weg!«
Zack ist schockiert, er schaut in das Gesicht von Enyo und zieht ruckartig den Bildschirm in seine Richtung.
»Wie kann es denn sein, dass sie weg ist?«
»Ich weiß nicht genau, aber die zwei Möglichkeiten, die am nächsten liegen, sind entweder, dass sie nicht mehr auf der Erde weilt und deswegen nicht mehr in der Liste auftaucht, oder dass jemand anders sie als Schützling ausgewählt hat. Doch beide Möglichkeiten kommen mir sehr gewagt vor.«
Zack ist sehr traurig, dass die Herzensdame, deren Name er nicht einmal kennt, einfach verschwunden ist.
»Also gut. Ich werde mein Bestes geben um Ma... ich meine dieses Mädchen wieder zu finden«, sie guckt Zack optimistisch an und versucht ihn wieder aufzumuntern: »Aber dazu brauche ich deine Hilfe Zack. Ich schaffe das nicht allein.«
Sie streckt ihm die Hand entgegen. Zack zögert, doch erwidert ihren Handschlag.
»Also los. Ich rufe eben bei der Säuglingsbehörde an und frage, ob ein Mädchen Namens Ma- halte dir dann lieber gleich mal die Ohren zu. Also ich werde da anrufen und du musst dich durch mein System durchklicken und herausfinde, ob jemand in den letzten Stunden nach Kapma Hill gereist ist!«
Sie rollt mit ihrem Bürostuhl hinüber zu ihrem Telefon. Der Junge beugt sich vor, um die Tastatur von Enyos Platz zu sich zu ziehen.
Er fängt sofort an, die aufgerufene Liste durchzublättern. In diesem riesigen System werden minütlich hunderte Schutzengel auf die Erden geschickt. Doch schnell kommt ihm ein Name in dem Sinn: Dylan war ein paar Nummern vor ihm dran und wollte auch nach Kapma Hill. Und so, wie er ihn nach den paar gewechselten Sätzen einschätzen kann, hat er sich wohl das gleiche Mädchen wie er als Schützling ausgesucht.
»Enyo, warte. Ich glaub ich weiß, wer sie ausgewählt hat. Dylan Ye‹ Tête, der Sohn von DEM Wincent Ye‹ Tête. Ich hatte meine Nummer mit ihm getauscht und er hat mich erst auf die Idee gebracht, nach Kapma Hill zu reisen.«
Enyo legt das Telefon wieder auf ihren Platz, rollt zurück zu ihrem Schreibtisch und hat nach einigem Tippen das Bild von Dylan und von seinem Traummädchen nebeneinander auf dem Bildschirm.
»Deine Vermutung war richtig. Ma... ich meine, das Mädchen ist der Schützling von Dylan Ye‹ Tête. Es tut mir echt leid, das war es wohl dann mit der Freundschaft.«
Zack blickt um sich. Es ist nicht Wut, die erneut in ihm hochkommt, es ist vielmehr Trauer, um eine Person, die er nicht kannte, aber mit der er bereit war, ein ganzes Leben und seinen ganzen Aufenthalt auf der Erde, zu verbringen.
»Ach, Zack, komm schon, du kanntest dieses Mädchen doch gar nicht. Guck dir doch wenigstens einmal die anderen Mädchen an. Steck den Kopf nicht in den Sand.«
»Es ist vorbei. Das ist doch ein eindeutiges Zeichen, dass es einfach nicht sein soll. Ich kann das alles nicht. Ich meine, schon der Anblick dieses Podests und diese Höhe bringt mich zum Überlegen, alles hinzuschmeißen.«
»Zack du bist ein selbstbewusster, starker Junge und ich weiß, dass du es locker schaffst!«
Enyo blickt auf den Bildschirm und anschließend auf die Uhr an ihrem Arm: »Apropos Podest, schau hoch, dein Freund Dylan könnte jeden Moment dran sein.«
»Der kann mir gestohlen bleiben. So etwas nennt man doch nicht Freundschaft.«
»Zack. Er konnte doch nicht wissen, dass sie deine Wahl sein würde. Er war nun mal als Erster in der Kabine und hat sich für sie entschieden. Jeder ist seines Glückes eigener Schmied, er hat sein Ticket mit dir getauscht und das hat ihn nun mal zu deiner Traumfrau gebracht.«
»Ja, aber das ist doch kacke. Da will man nett sein, dies wird uns ja 19 Jahre lang ins Gehirn gepumpt und dann wird man vom Schicksal reingelegt.«
»Komm, jetzt würdige deinen Freund wenigstens eines Blickes.«
Zack schaut widerwillig hoch zu der Glasdecke und erkennt Dylan, wie er dort oben auf dem Podest steht. Er streckt seine Arme in die Höhe und spielt mit seinem Trizeps.
»Wieso muss er denn jetzt dort oben diese Show abziehen? Kann er nicht einfach verschwinden und gut ist.«
»Schau doch einfach nach oben und gönne ihm sein Schicksal. Du willst doch auch nicht, dass über dich später jemand hier unten so redet, oder?«
Falls es bei mir ein Später gibt.
»Es wird ein später geben und wenn ich dich höchstpersönlich da hochtragen und dich vom Podest schubsen muss.«
Er schaut hoch und versucht, sich mit einem guten Gedanken von ihm zu verabschieden. Vielleicht war es auch ein Zeichen, dass er nicht nach Kapma Hill soll, es gibt schließlich noch hunderte, wenn nicht sogar tausende andere Städte, bei denen sich ein Aufenthalt mehr als nur lohnen würde. Sollte er jetzt trotzdem dahin? Enyo würde ihn eh nichts mehr ändern lassen, nicht, solange sie wüsste, dass er wegen Dylan nicht dahin wollen würde.
»Zack, denk nicht mal dran.«
Er schaut nach oben und das Podest wird gerade nach oben gefahren. Man hört von innen wie von außen einen riesigen Applaus. Ja, es ist der Sohn von Wincent Ye‹ Tête, wir haben es ja alle kapiert.
»Höre ich da etwa Eifersucht?«
Zack antwortet nicht, sondern blickt stumm nach oben. Da oben steht der Junge, der jetzt Dutzende von Jahren an der Seite dieses wunderhübschen Mädchens verbringen wird.
Dylan stellt sich breitbeinig in seiner einstudierten Siegerpose hin. Er ist hochkonzentriert, doch als er nach mehreren unbemerkten Versuchen seine Eltern draußen nicht entdecken kann, verlässt er seine Position und fängt hysterisch an, das Publikum vor der Einrichtung abzusuchen.
Wo können sie denn nur sein? Sie haben mir doch versprochen, vorne in der ersten Reihe zu stehen.
Er sucht weiter und schaut jedem einzelnen Menschen in sein Gesicht, obwohl es strengstens verboten ist, lehnt er sich gegen die Glasscheibe, die das Podest umgibt und versucht, seine Eltern doch noch irgendwo zu erblicken. Er wagt zwischendurch einen Blick nach oben, um sich zu vergewissern, dass noch genügend Zeit ist, bevor er sich auf seinen Absprung vorbereiten muss. Als er jedoch kurz vor dem Ziel seine Eltern nicht findet, bricht er in Tränen aus.
Sie haben es mir doch versprochen. Es wäre das letzte Mal für mehrere Jahrzehnte gewesen, dass ich sie hätte sehen können.
Obwohl Dylan an die Abwesenheit seiner Eltern gewohnt ist, fällt es ihm sehr schwer, dass seine Eltern nicht hier sind, um sich von ihm zu verabschieden. Er kommt aus dem Weinen gar nicht mehr heraus. Obwohl im klar ist, dass es nur noch Sekunden dauert, bis er oben ankommt und sich längst bereit machen müsste, kann er es einfach nicht. Er ist immer noch fokussiert, durch die Glasröhre hinaus seine Eltern doch noch zu finden, doch ganz tief in seinem Inneren weiß er, dass sie nicht da sind. Es ist wie bei den zig Schulaufführungen und all den Elternabenden, sie waren noch nie da.
»Herr Ye‹ Tête, bitte bereiten sie sich auf ihren Sprung vor. Es dauert nur noch Sekunden«, redet eine Stimme auf ihn ein, um ihn schnell wieder auf die Beine zu kriegen, doch er schafft es einfach nicht. Diese eine Aktion seiner Eltern hat das Fass zum Überlaufen gebracht. All die Aktionen seiner Eltern haben ihn zu diesem Punkt getrieben. Zu dem Punkt, dass er realisiert, er wurde noch nie geliebt.
In der Stille des Büros unten nimmt Zack alles wahr und ist fassungslos. Sein neuer Freund Dylan Ye‹ Tête, der stets selbstbewusst und charakterstark erschien, ist plötzlich innerlich zerrissen und gebrochen.
»Enyo, sag mir, ob es eine Möglichkeit gibt, mit ihm dort oben zu kommunizieren. Schnell!«
Enyo überlegt, doch sie hat leider keine guten Nachrichten: »Nein. Hier unten gibt es nur eine Person, die mit ihm reden kann und das ist die Dame, die vorne an der Rezeption sitzt und die einzelnen Nummern aufruft.«
Zack hört sich nicht die komplette Antwort von Enyo an, sondern rennt aus dem Büro Nummer 1.
Er sprintet all den Weg, den er vorher gelaufen ist, zurück, um sofort mit Dylan zu sprechen, denn er weiß, dass es auf diese Sekunden ankommt.
»Hallo... Hallo? Schnell! Es ist dringend. Ich kenne den Jungen da oben. Bitte, ich kann ihm helfen.«
Die Frau aus dem Raum öffnet schnell das Fenster der Rezeption, um Zack das Mikrofon hindurchzureichen.
»Junge, BEIL DICH! Er ist gleich oben.«
Zack krallt sich das Mikrofon und denkt erst gar nicht drüber nach. was er sagen soll: »Dylan. Dylan, ich bin es, dein Freund Zack!«
Während seiner Rede bemerkt Zack, dass Dylan von dem 80 Meter hohen Podest versucht nach unten zu blicken. Versucht, einen Blick auf Zack zu erhaschen.
Und dann geschieht alles schneller als gedacht.
Das Podest hat den höchsten Punkt erreicht und Dylan schafft es nicht, sich in den wenigen Sekunden, in denen ein Absprung gelingen könnte, aufzurappeln. Er bleibt auf dem Boden des Podestes sitzen. Das Podest verbleibt einige Sekunden bewegungslos in seiner Position und rast schließlich mit einer hohen Geschwindigkeit nach unten. Die Schwerkraft sorgt dafür, dass Dylan nicht mehr auf dem Podest bleibt und somit im freien Fall auf den Boden der Röhre zurast. Er versucht, sich an den Wänden der Röhre abzustützen, doch die Glaswände sind einfach viel zu glatt, um sich dort festzuhalten. Dieser Versuch, sich Halt zu verschaffen, geht nach hinten los, denn jetzt wird er auch noch gegen die Glaswand der Röhre geschleudert. Der Aufprall seines Kopfes gegen die Scheibe erzeugt einen lauten Knall, den Zack sogar unten hören kann. Schließlich sind es nur noch wenige Meter bis zum Boden. Unten ertönen Schreie und alle halten sich entsetzt die Augen zu.
Im Kopf von Zack geht gerade zu viel vor sich. War es das Richtige, ihn einen falschen Freund zu nennen? Hat er sich einfach viel zu früh auf eine Freundschaft mit Dylan gefreut? Oder hat ihm seine kurze Ansprache den Rest gegeben und dafür gesorgt, dass er nicht aufgestanden ist?
Während er in seine Gedanken vertieft ist, passiert das Unfassbare: Dylan klatscht mit einer enormen Kraft gegen den Boden des Podestes, das in wenigen Minuten hätte wieder hinauffahren sollen. Sofort rennen ein Dutzend Sanitäter aus allen Türen zu ihm herüber.
Die Menschen sind schockiert, denn die sonst immer weiße Umgebung ist plötzlich von roten Punkten und Spritzern überdeckt.
Und Zack? Zack ist am Boden zerstört. Er kann sich kaum noch halten. Seine Beine werden schwer und er fällt nach vorne auf die Knie. Es herrscht ein riesiges Durcheinander in dem Gebäude. Alle möglichen Türen öffnen sich und von außerhalb stürmen immer mehr Sanitäter mit den verschiedensten medizinischen Geräten und einer Liege in das Gebäude hinein. Kurz danach laufen Leute mit Anzügen und dicken Akten in das Gebäude. Aber auch der Chef und andere wichtige Mitarbeiter rennen aus ihren Büros in Richtung Dylan.
Niemand kümmert sich um Zack, der immer noch auf seinen Knien, vor der Rezeption, in einer Art Schockstarre hockt.
»Zack? Zack? Wo bist du?«
Enyo kommt aus ihrem Büro gerannt und sucht jeden Winkel nach Zack ab. Doch dieser verschwindet im Gerangel der herumlaufenden Menschen.
»Zack, da bist du ja!«
Ohne auf die anderen Menschen achtzugeben, rennt sie herüber zu Zack.
»Hör mir zu, bleib bei mir. Ich will nicht unsensibel sein, aber du hast deine Maja! Hast du mich gehört? Maja ist wieder frei und ich habe sie für dich gesichert.«
Enyo gibt ihm eine leichte Backpfeife, um ihn aus der Starre zu befreien.
»Wir müssen uns beeilen. Du hast noch einige Etappen vor dir, bevor es los zur Erde für dich geht!«
Zack jedoch ist völlig außer sich.
Dylan kann nicht überlebt haben. Das war ein freier Fall aus über 80 Metern.
»Dylan lebt noch. Du kannst ihn vielleicht noch sehen, wenn er medizinisch versorgt wurde, bevor du dich auf deine Reise begibst!«, sagt Enyo, um ihn wieder ins Hier und Jetzt zu bringen.
Das sind die Worte, die ihm neue Kraft geben. Er erwacht aus der Starre und blickt Enyo tief in die Augen.
»Ja, du hast richtig gehört. Dylan ist am Leben und erhält die bestmögliche ärztliche Betreuung. Die Ärzte kümmern sich um ihn und werden ihn wieder auf die Beine bringen. Mach dir keine Sorgen! Komm, lass uns weitermachen.«
Ohne zu zögern umarmt Zack sie, obwohl sie sich erst vor einigen Minuten als Fremde kennengelernt haben. Zack braucht diesen Körperkontakt, diese Zuneigung, diese Wärme. Enyo hilft ihm hoch und stützt ihn. Sie laufen zurück in ihr Büro, um schnell die letzten Formalitäten zu klären.
Also heißt sie Maja, denkt Zack, während er zurück ins Büro geht. Was für ein wunderschöner Name.
Sie schubst ihn auf den Stuhl und hält ihm ein Stapel Zettel vor das Gesicht.
»Hier Zack, lesen und dann nur noch eine Unterschrift und du kannst auf die Erde zu Maja. Sie wartet unten auf dich und braucht einen Schutzengel.«
Zack ist noch nicht ganz bei Sinnen, doch in seinem Kopf schwirrt eine Unsicherheit, denn er weiß, was vorgefallen ist und wer eigentlich vorgesehen war, um Maja zu helfen und zu beschützen.
»Nein, Enyo, ich kann das doch nicht tun. Dylan war eigentlich für Maja vorgesehen und nicht ich.«
»Zack, hör mir zu: Dylan geht es gut! Das Schicksal hat ihn nicht ausgesucht, sondern dich, deswegen stehst du jetzt hier und hast die einmalige Chance, dem Mädchen deiner Träume zu helfen und es zu beschützen.«
Enyo wartet vergeblich auf eine Antwort von Seiten ihres Klienten. Als keine Reaktion erfolgt, versucht sie es erneut: »Nenne mir bitte einen einzigen guten Grund, wieso du jetzt nicht zu Maja willst? Kennt Dylan sie persönlich oder sind sie gar verwandt?«
Sie wartet einige Sekunden und spricht schließlich weiter: »Nein, nein, sie war eine Fremde für ihn genauso wie für dich!«
Langsam kommen auch in ihm die Zweifel auf, ob er nicht wirklich unterschreiben und die Sache abschließen soll.
»Bei dir ist es ein ganz anderer Fall. Du hast sie gesehen und ihre Biografie gelesen und du wusstest sofort, dass sie es werden soll und dass sie dich braucht. Also, wieso zögerst du jetzt noch?«
Zack überlegt lange, doch am Ende bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu unterschreiben. Er kann Maja schließlich nicht ohne jegliche Hilfe auf der Erde lassen. Sie braucht jemanden und wenn es nicht sein Freund Dylan ist, dann muss er halt ran und seinen Job erledigen.
Obwohl er noch zögert, wirkt der schmollende Blick von Enyo auf ihn und unterstützt ihn bei seiner endgültigen Entscheidung. Schließlich stimmt er zu: »Ja, okay. Ich mache es.«
Enyo hat sich noch nie dermaßen über die Wahl eines Klienten gefreut. Sie springt auf und klatscht begeistert in die Hände.
»Ich wusste, dass du dich für das Richtige entscheidest. Versuche, die Gedanken an Dylan auszublenden. Er wird schon wieder!«
Zack blickt in ihre erfreuten Augen und unterschreibt die Papiere, die vor ihm liegen. Er fühlt einen Mix aus Schadenfreude, Glück und Trauer. Aber er ist sich nicht wirklich sicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hat, und verliert sich wieder in seinen Gedanken.
»Aber ich darf ihn doch gleich noch sehen, oder?«, fragt er mit einem starren Blick ins Leere.
Enyo weiß, dass ihn die Antwort fertig machen würde, und somit erzählt sie ihm die halbe Wahrheit: »Erst einmal müssen wir dich für den Abflug bereit machen. Alles andere kommt danach.«
Sie klärt die letzten Formalitäten und schickt die Unterlagen ab zur Verwaltung.
»Glückwunsch, du bist nun offiziell ein Schutzengel!«
Plötzlich klopft es an die Bürotür von Enyo. Die Tür öffnet sich und im Türrahmen steht ein großer, breiter Mann, der in dieser Organisation bekannt ist als liebevoller, herzenswarmer Mitarbeiter. Er lebt für seine Arbeit und wartet nach jedem erfolgreichen Schutzengel, den sie auf die Erde schicken nur darauf, dass Enyo ihm den nächsten Klienten herüberschickt.
»Hey, mein Name ist Henry und ich werde dich mit Enyo zusammen bis nach da oben begleiten.«
Er zwinkert Enyo zu und lächelt Zack an. Außerdem deutet er mit einem verschmitzten Kopfnicken zu Abschussrampe.
»Wie ist denn dein Name, Bursche?«, fragt er Zack, der zusammengesackt auf dem Stuhl sitzt und mit einem leeren und starren Blick nach oben zum Podest schaut.
»Henry, komm mal bitte kurz rüber. Wir müssten etwas besprechen.«
Enyo zeigt ganz unscheinbar auf den nebenstehenden Raum. Ganz langsam bewegt sich Henry in Richtung Nebenraum, verliert sein Lächeln jedoch keine Sekunde lang. Die beiden gehen in den Raum, lehnen die Tür an, jedoch schließen sie diese nicht ganz. Enyo möchte Zack nur ungern jetzt aus den Augen lassen. Sie spürt, dass ihn die Situation mit Dylan sehr mitnimmt.
»Zack ist gerade nicht wirklich kommunikativ. Weil, naja, der Junge, der da gerade heruntergestürzt ist, war so etwas wie sein Freund. Ganz komplizierte Angelegenheit.«
Henry vergeht das Lächeln das erste Mal am heutigen Tage: »Nein, nicht im Ernst! Der arme Junge. Müssen wir alles trotzdem durchführen wie gewohnt?«
»Ja, klar! Wir müssen. Das arme Mädchen da unten braucht ihn und das am besten sofort!«
Henry guckt durch den Türspalt herüber zu Zack und sieht ihn, wie er mit einem leeren Blick immer noch nach oben schaut.
»Na gut, dann machen wir alles schnell, ohne großes Drama.«
»Ja, aber hab ein Auge auf ihn. Er will unbedingt seinen Freund sehen, nicht dass er einfach ausbüxt oder auf andere dumme Gedanken kommt«, flüstert sie Henry zu und kehrt wieder zurück zu Zack.
Die beiden kehren zu Zack zurück, jedoch bemerkt er zunächst nicht, dass sie wieder da sind und auf ihn warten.
Enyo geht herüber zu ihm und streicht ihm sanft über die Haare wie eine fürsorgliche Mutter: »Zack, komm schon, wir müssen weiter. Unten wartet jemand ganz Besonderes auf dich.«
Sie schaut ihm in die Augen, doch er schafft es einfach nicht, sich von dem Gedanken loszureißen, dass der Unfall von Dylan, seinem einzigen Freund auf der Erde, seine Schuld gewesen sein könnte.
»Zack, schaffst du es oder soll dir Henry helfen?«
Schließlich bekommt Zack einen mehr oder weniger vernünftigen, geraden Satz heraus: »Wer... Wie... Was soll ich machen?«
»Aufstehen, Zack. Schaffst du das oder nicht?«
»Ja. Ja, ich glaube schon, dass ich das schaffen sollte«. Er ist zwar physisch in dem Raum, kann jedoch einfach nicht aufhören zu versuchen, seine Gedanken in irgendeiner Art und Weise zu ordnen.
Er wagt es, aufzustehen, und kann zu seiner eigenen Verwunderung auf seinen eigenen, wackeligen Beinen stehen.
»Ja, super, geht doch!«, redet Henry von der Seite auf ihn ein. »Der Junge ist doch ein kräftiger und selbstbewusster Schutzengel.«
Zack schafft es nicht, sich ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Enyo gibt ihm einen kleinen Schubser von der Seite. Der kleine Schubser sorgt dafür, dass Zack einen Schritt nach vorne macht, dies wird von allen als Weg zur Einsicht interpretiert.
»Komm, hier entlang«, sagt Henry und zeigt ihm mit seiner Hand den Weg in Richtung seines Ateliers.
Enyo macht den ersten Schritt und schnell folgen ihr Zack und Henry. Sie müssen nicht lange gehen, bis sie Henrys Atelier erreichen. Er öffnet die schwere Tür und beide betreten einen riesigen Raum, der sofort als Arbeitsplatz eines kreativen Köpfchens ausgemacht werden kann. Obwohl auch dieser Raum hauptsächlich die Farbe Weiß hat, erkennt man Kreativität und Eigensinn in dem Raum.
Enyo ist stets aufs Neue in Ehrfurcht versetzt, wenn sie das Atelier betritt. Das außergewöhnliche Können ihres Freundes Henry überrascht und begeistert sie jedes Mal aufs Neue.
Unter normalen Umständen würde auch Zack vermutlich nicht aufhören, sich zu begeistern, denn er hegt eine Liebe für Farben und die kreative Vielfalt, und bewundert das Talent eines jeden. Doch derzeit befindet er sich in einer Lage, die es ihm nicht erlaubt.
»Also Zack, setz dich erst einmal, dann zeige ich dir zuallererst, was für ein Muster ich mir für dich ausgesucht habe«, spricht Henry, der auf seine eigene Arbeit jedes Mal sehr stolz ist.
Enyo und Zack setzten sich und Henry fängt sofort an, in seinen Unterlagen zu wühlen. Es sind tausende von Skizzen, die auf den Tischen verteilt herumliegen. Vor allem im Vergleich zu Enyos Arbeit, die aus langweiligen Buchstaben und Zahlen besteht, herrscht ein großer Unterschied.
»Du musst wissen, Henry ist einer der begehrtesten Designer hier oben«, erzählt Enyo und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Zack reagiert nicht und lenkt seinen Blick abermals zur Decke. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Atelier und dem Büro besteht darin, dass man nicht durch die Decke des Ateliers sehen kann. Dennoch hält Zack das nicht davon ab, sich selbst weiterhin für alles verantwortlich zu machen.
»Weißt du, jeder auf der Erde hat ein einmaliges Paar an Flügeln und für dich habe ich ein ganz besonderes Paar ausgesucht.«
Zack sitzt auf dem Stuhl und denkt darüber nach, dass er die Schuld für alles trägt. Doch plötzlich steht er auf und ohne weiter drüber nachzudenken, läuft er in Richtung Tür. Enyo und Henry sagen nichts, im Gegenteil sie beachten ihn gar nicht mehr. Er öffnet die Tür, spaziert hinaus und läuft zu dem naheliegenden Fahrstuhl. Im Fahrstuhl drückt er einfach aus Reflex den Knopf für die vierte Etage und steigt dort aus. Er läuft den Flur entlang. Zuerst nach rechts, dann nach links und schließlich wieder nach rechts. Er weiß ganz instinktiv, wo er hinmuss. Er hat keine Ahnung, wieso das so ist, aber er lässt es einfach geschehen. Wie von selbst stoppt er vor einem Raum, aus dem gerade ein Arzt herauseilt.
»Sie können jetzt rein zu ihm«, spricht der Arzt zu einer Frau, welche vor dem Zimmer auf einem Stuhl sitzt.
Sie hört die Nachricht und rennt schnell hinein. Beim Anblick des Krankenbettes kann sie ihre Tränen schließlich nicht mehr zurückhalten und fängt lautstark an zu weinen. Zack steht draußen vor der Tür des Raumes, er hat keine Möglichkeit in das Innere des Raumes zu gucken, doch er weiß genau, dass es Dylan ist, der dort liegt und gerade höllische Qualen erleidet. Er beschließt, in den Raum zu gehen und sich von Dylan zu verabschieden, bevor er auf die Erde geht, während sein Freund hier oben verweilen muss. Er stellt sich vor den Raum, seine Augen sind verschlossen. Seine Hand wandert zu dem Türknauf des Raumes, umschließt diesen und drückt ihn voller Kraft nach unten.
Er öffnet die Augen und sitzt plötzlich wieder auf dem Stuhl in Henrys Atelier und erkennt, wie Enyo ihn mit einem fragenden Blick anstarrt.
»Erde an Zack. Bist du noch bei uns?«, fragt Enyo ihn und schnippst ihm vor seinem Gesicht herum.
Zack ist verwirrt und schaut abwechselnd Henry und Enyo ins Gesicht. Die beiden merken natürlich, dass etwas nicht stimmt, doch wissen nicht, was los ist.
»Saß ich die ganze Zeit hier?«, fragt er verwundert und sorgt damit für Verwirrung bei Enyo und Henry.
»Ja, natürlich, wo solltest du sonst gewesen sein? Was ist das bitteschön für eine Frage?«
Ganz unvermittelt fragt Zack nach einer kurzen, schweigenden Pause: »Gibt es hier eine Toilette irgendwo?«
»Ja, natürlich. Draußen vor dem Fahrstuhl, die zweite Tür links.«
Ohne sich zu bedanken oder jemanden ins Gesicht zu schauen, erhebt sich Zack und läuft hinaus. Der Unterschied zum letzten Mal ist, dass Henry und Enyo ihm hinterherschauen und ihn nicht einfach ignorieren.
Zack versucht, auf dem Weg zur Toilette zu verarbeiten, was gerade geschehen ist. Er ist doch gerade zu dem Raum auf der vierten Etage, zu Dylan, gegangen. Obwohl er gar nicht wusste, wohin er musste. Ihm schwirren tausende von Fragen im Kopf herum, doch das Wichtigste ist, wieso hat er Dylan nicht gesehen und ist jetzt plötzlich wieder bei Enyo und Henry, wo er eigentlich hätte die ganze Zeit sein sollen?
Soll ich jetzt etwa dahin gehen, wo ich gerade schon einmal hingegangen bin? War das eben wirklich der richtige Weg? Und warum wusste ich, wohin ich gehen musste?
Zack überlegt lange und läuft gleichzeitig in Richtung Toilette. Als er vor dem Fahrstuhl angelangt ist, geschieht alles schneller, als er es realisieren kann. Die Tür des Fahrstuhls geht auf, jedoch ist niemand drin. Er schaut zur Sicherheit in den Fahrstuhl und erkennt, dass die Vier schon gedrückt wurde. Er überlegt nicht lange und begibt sich in den Fahrstuhl. Die Tür schließt direkt und der Fahrstuhl hält in der vierten Etage. Er zögert und bleibt erst unschlüssig wie festgewachsen im Fahrstuhl stehen, er streckt vorsichtig seinen Kopf hinaus und schaut nach rechts und links. Er weiß gar nicht, wonach er genau Ausschau halten soll, aber er will einfach sichergehen, dass er nicht entdeckt wird. Als er niemanden sieht, geht er einfach genau die gleiche Strecke, wie vorhin, zu dem Raum, in dem mit Sicherheit Dylan liegt. Zwischendurch kommen ihm Menschen entgegen, doch niemand scheint ihn richtig wahrzunehmen.
Vor dem Raum angekommen, hält er Ausschau nach der Frau, die vorhin auch vor dem Raum saß und für die vor einigen Minuten die Welt zusammengebrochen ist. Doch er ist allein und der Arzt von vorhin ist auch nicht in Sicht. Er überlegt lange, ob er sich wirklich in den Raum wagen soll, oder einfach wieder nach unten, zurück zu seinen beiden Begleitern, gehen soll.
»Der arme Bursche. Das macht einem wirklich zu schaffen, wenn man überlegt, dass auch wir beide früher Mal da oben standen und es geschafft haben. Und er hat es einfach nicht geschafft«, Zack lauscht dem Gespräch zwischen dem Arzt und der Frau, als die beiden aus dem Zimmer herausspazieren.
»Aber er wird es schaffen?«
»Ja! Es sind zwar schwere Verletzungen und, ich bin ehrlich, es wird hart. Es ist abzuwarten, ob er physisch und psychisch jemals wieder auf dem gleichen Stand sein wird wie vorher. Aber er wird wieder und die Versorgung hier oben sind ja auch nicht die schlechteste. Vor allem, wenn man ein Vermögen besitzt, wie Herr Ye‹ Tête Junior.«
Die beide reden weiter und bewegen sich in Richtung Fahrstuhl.
Das ist meine Chance. Wenn ich da jetzt nicht hineingehe, werde ich ihn wahrscheinlich nie wieder sehen.
Dieses Mal zögert er nicht lange und entscheidet, in den Raum hineinzugehen, um Abschied zu nehmen.
Wie beim letzten Mal stellt er sich vor die Tür und zögerlich öffnet er diese. Er setzt den ersten Schritt mit seinem rechten Bein hinein. Der Unterschied zum letzten Mal ist, dass er diesmal nicht plötzlich wieder im Atelier sitzt, sondern in dem Raum steht und sieht, wie Dylan, auf einem Krankenbett liegend, um sein Leben kämpft. Er liegt ganz still da, ohne seine gewohnten Plaudereien, mit denen er seine Ängste und Unsicherheiten überspielt. Sein rechter Arm und seine beiden Beine sind eingegipst und um den Nacken herum trägt er eine Halsbandage. Plötzlich wirkt er nicht mehr so taff und selbstbewusst wie vorher. Von seinem Gesicht aus führen drei Schläuche und Kabel zu Computern und anderen Krankenhausgeräten.
»Oh nein, Dylan, was ist nur mit dir passiert?«