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Nachdem Samantha Fairchild im Weinkeller des Restaurants, in dem sie als Kellnerin arbeitet, einen Mord beobachtet hat, ist sie auf der Flucht. Sie fürchtet, der Killer könnte es auch auf sie abgesehen haben. Als sie den attraktiven Zach Angelino wiedertrifft, mit dem sie einst eine heiße Affäre hatte, bittet sie ihn um seine Hilfe. Doch Zach ist nicht mehr der Mann, der er früher war. Vom Kriegseinsatz in Kuwait entstellt, wird er von seiner dunklen Vergangenheit verfolgt. Dennoch zögert er nicht, die Frau, die er noch immer liebt, zu beschützen. Und Sam gerät schon bald in große Gefahr, als der Mörder ihre Spur aufnimmt.
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Seitenzahl: 518
ROXANNE ST. CLAIRE
GUARDIAN ANGELINOS
Die zweite Chance
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Nele Quegwer
Für meinen Neffen, Captain Anthony Roffino,
der alle außergewöhnlichen und erstaunlichen Eigenschaften
eines Army-Ranger-Helden besitzt … und noch so viele mehr.
Ich bin stolz, deine Tante Rocki zu sein.
1
»Wie ich höre, wurden Sie zum Jurastudium an der hübschen kleinen Uni am anderen Flussufer angenommen.«
Samantha Fairchild sammelte die Cocktails von der Theke ein und lächelte dem Mann zu, der sie durch seine randlose Brille unauffällig begutachtet hatte. »Unsere vertrauenswürdige Barkeeperin hat wohl mal wieder mit mir angegeben.«
Hinter der Theke schwenkte Wendy einen Martinishaker, als wäre es eine Wunderkerze, und funkelte vielsagend mit den Augen. »Nur ein bisschen, Sam. Schließlich bist du unsere einzige Bedienung, die nach Harvard geht.«
Sam, die eigentlich nicht darauf erpicht war, ein Gespräch anzufangen, wenn der Speisesaal des Paupiette’s an einem Samstagabend gerammelt voll war, nickte dem Herrn mit den hellen Haaren zu. Er war sowieso nicht ihr Typ. Zu blass, zu blond, zu … ungefährlich.
»Nichts, wofür man sich schämen müsste, ein Juraabschluss von Harvard«, sagte der Mann. »Ich habe selbst einen.«
»Ach ja? Und was machen Sie jetzt?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Geld scheffeln, und das werden Sie auch.«
Er redete wie ein typischer Harvard-Absolvent. »Mich interessiert das Geld nicht so sehr. Ich habe andere Pläne für die Zukunft.« Und sie bezweifelte, dass ein Typ, der von Armani und Rolex nur so strotzte, diese Pläne zu schätzen wusste. Es sei denn, er war Strafverteidiger. Sie betrachtete ihn gerade kritisch, als sich von hinten zwei Hände auf ihre Schultern legten.
»Ich habe Joshua Sterling nebst Begleitung in deinen Bereich gesetzt.« In Keegan Kennedys sanfter Stimme schwang ein warnender Unterton mit, wahrscheinlich, weil sie an der Bar mit Rechtsanwälten flirtete, während ihre Tische voll besetzt waren. »Ich rechne mit einer Provision.«
»Das ist nur gerecht.« Sie machte sich los und balancierte dabei das Tablett mit den Cocktails in den Händen.
»Ich wette, der gibt ein saftiges Trinkgeld, Sam«, sagte der Anwalt, während er zwei Zwanziger auf die Theke legte und der Barkeeperin mit einem Wink zu verstehen gab, dass sie den Rest behalten könne. »Das werden Sie allein schon für die Gesetzestexte brauchen.«
Sie schenkte ihm ein wehmütiges Lächeln, nicht zu vielversprechend, aber auch keine komplette Abfuhr. »Danke …«
»Larry«, half er ihr weiter. »Vielleicht komme ich noch mal vorbei, bevor Sie anfangen, um Ihnen ein paar Tipps für das erste Jahr zu geben.«
»Toll, Larry.« Sie zwang sich zu einem ermutigenderen Lächeln. Er sah aus, als wäre er ein netter Kerl. Langweilig wie trockener Toast, aber andererseits würde er ihr Herz auch nicht mit Füßen treten … oder gar mit Armeestiefeln. »Tun Sie das.«
Sie wandte sich ab, um in den Hauptspeisebereich zu spähen, und erhaschte einen Blick auf eine Gesellschaft von sechs Personen, die vom stellvertretenden Oberkellner zum Tisch geleitet wurde.
Das für Joshua Sterling charakteristische silberne Haar, vor der Zeit ergraut und über die Maßen attraktiv, schimmerte unter den Halogen-Hängelampen, die eigentlich dazu dienten, die Haute Cuisine ins rechte Licht zu rücken, diesem besonderen Gast jedoch einen perfekten Heiligenschein verliehen.
Es war nicht nur sein Trinkgeld, an dem Sam interessiert war. Das letzte Mal, als Bostons berühmter Kolumnist hier gespeist hatte, hatte sich zwischen ihnen eine lebhafte Diskussion über die Innocence Mission entsponnen, und am Ende hatte er einen ganzen Artikel über die gemeinnützige Organisation für den Globe geschrieben. Nach dieser Story war eine Menge Geld in das Bostoner Büro geflossen, in dem Sam ehrenamtlich arbeitete.
»Gute Arbeit, Keegan.« Sam bedachte den Oberkellner, der, seit er vor ein paar Monaten angefangen hatte, ständig zwischen totaler Nervensäge und Geschenk des Himmels hin- und herpendelte, mit einem dankbaren Lächeln. »Rechne mit zehn Prozent.«
Er legte ihr eine Weinkarte auf ihr Cocktailtablett und brachte damit das empfindliche Gleichgewicht der kopflastigen Martinigläser in Gefahr. »Sein Trinkgeld hängt vom Wein ab, also überrede ihn, was aus dem Gewölbekeller zu nehmen. Erhöhe meinen Anteil auf fünfzehn Prozent, und ich verspreche dir, dass uns das Tatar nicht ausgeht. Das ist Sterlings Leibspeise.«
Sie grinste. »Abgemacht, du hinterhältiger irischer Gauner.«
Nachdem sie an einem anderen Tisch die Cocktails serviert hatte, steuerte sie auf die frisch platzierte Gesellschaft zu. Auf dem Weg dorthin nickte sie einem Gast zu, der ihr ein Zeichen gab, dass er zahlen wollte, blieb bei dem Liebespaar in der Ecke stehen, um ihren Cakebread Chardonnay zu entkorken, und versuchte dabei die ganze Zeit herauszufinden, wen genau Joshua Sterling heute Abend bewirtete.
Neben ihm saß seine wunderschöne Ehefrau, eine atemberaubende junge Dame namens Devyn, mit ausgeprägten Wangenknochen und goldenem Haar, das ihr in Wellen bis auf die vom Training gestrafften Schultern fiel. Zwei weitere Paare vervollständigten die strahlende Sechsergruppe, und eine der Frauen erzählte gerade lebhaft eine Geschichte zu Ende, während sie sich auf ihren Plätzen niederließen. Bei der Pointe zeigte sie mit dem Finger auf Joshua, wofür sie von den Übrigen schallendes Gelächter erntete. Außer von Devyn, die sich mit ausdrucksloser Miene zurücklehnte, während ihr eine Speisekarte hingelegt wurde.
Joshua legte seiner Frau locker eine Hand auf den Rücken und winkte beiläufig quer durch den Gastraum jemandem zu. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann strahlte er Sam an, die sich dem Tisch näherte.
»Hallo, Samantha.« Natürlich erinnerte er sich an sie. Das war seine besondere Gabe, machte seinen Charme aus. »Bereit zum Sturm auf Hahvahd?« Er zog das Wort in die Länge und verlieh ihm den Klang eines übertriebenen Boston-Akzents.
»Die Vorlesungen fangen in zwei Monaten an«, sagte sie und reichte ihm die Weinkarte, die sie bei der teuersten Auswahl aufgeschlagen hatte. »Also, bereit bin ich schon, aber auch nervös.«
»Nach allem, was Sie mir über ihre ehrenamtliche Arbeit erzählt haben, glaube ich, dass Sie mehr juristisches Wissen und Erfahrung haben als die Hälfte der Erstsemester. Sie werden’s denen da drüben schon zeigen.« Er fügte seinem laserblauen Blick das Lächeln des Fernsehsprechers für liberale Belange hinzu, dem auf den Nachrichtenkanälen immer mehr Sendezeit gewidmet wurde.
Niemand bezweifelte, dass Joshua Sterling in New York ganz groß rauskommen würde.
»Hoffentlich haben Sie Recht«, sagte sie und machte dem Junior-Oberkellner Platz, damit er Devyn Sterling eine schwarze Serviette auf die dunklen Hosen legen konnte. »Wenn nicht, werfe ich alles hin und gehe wieder zurück in die Werbung.«
»Zweifeln Sie nicht an sich«, warnte Joshua sie mit einem eindringlichen Blick. »Sie haben zu viel Köpfchen, um bloß Computer und Burger zu puschen. Sie müssen unschuldige Opfer vor dem verkorksten System retten.«
Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und wünschte sich, sie wäre sich selbst ihrer Talente so sicher. Eine seiner Gaben war es natürlich auch, den Leuten Blödsinn zu erzählen. »Was ist denn der Anlass?«, fragte sie in der Absicht, die Unterhaltung weg von sich selbst und hin zu einer fetten Getränkebestellung zu lenken.
Joshua zeigte mit der Hand auf die Braunhaarige, welche die Geschichte erzählt hatte. »Wir feiern Merediths Geburtstag.«
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Sam nickte Meredith zu. »Wir haben noch zwei Flaschen von dem ’94er Tattinger da.«
»Ja, Champagner wäre eigentlich angemessen«, sagte er, »aber ich glaube, das hier ist eine Weingesellschaft. Du trinkst gern Bordeaux, stimmt’s, Meredith?«
Die Frau beugte sich vor, stützte sich auf den Ellenbogen und lächelte träge, während sie ihn ansah. »Etwas Komplexes und Elegantes.«
Sam wartete einen Augenblick, während der Blick der Frau fest auf ihren Gastgeber gerichtet blieb. Devyn rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, und Sam konnte die knisternde Spannung in der Luft förmlich spüren.
»Dann gehe ich mal den Sommelier holen«, schlug Sam rasch vor. »Ich wette, er hat den perfekten Bordeaux für Sie.«
»Ich weiß, dass er ihn hat.« Joshua gab Sam die Weinkarte zurück, ohne überhaupt einen Blick hineinzuwerfen. »Sagen Sie René, dass wir gern zwei Flaschen von dem 1982er Château Haut-Brion hätten.«
»Eine ausgezeichnete Wahl.« Das war es tatsächlich. »Während ich Ihnen den besorge – können wir Ihnen eine Flasche Wasser anbieten, mit oder ohne Kohlensäure?«
Sie trafen ihre Wahl, und Sam flüsterte sie einem Hilfskellner zu. Dann düste sie den schmalen Gang zwischen Gästebereich und Küche entlang, ihre Schuhe federten auf dem Gummifußboden, und die gedämpften Gespräche und die Musik des Speiseraums verwandelten sich in das Geklapper und Gebrutzel der Küche.
»Wo ist René?«, fragte sie, während ein Duft nach Butter, Knoblauch und sautiertem Fleisch sie einhüllte.
»Bin schon da.« Die Tür zum Keller flog auf, und der massige Sommelier kam auf sie zugehastet, die Arme voller Flaschen. Zwei weitere Kellner folgten ihm, ähnlich überladen.
»René, ich brauche zwei Flaschen ’82er Haut-Brion, sofort.«
»Ich muss erst die Gäste oben bedienen«, warf er zurück.
»Dann gib mir den Schlüssel und sag mir ungefähr, wo ich die ’82er finde.«
»Du wirst die ’82er nicht holen, Schwester.« Der falsche französische Akzent, den er vor den Gästen benutzte, war verschwunden, als er gewandt die Flaschen auf der Vorbereitungstheke abstellte. »Ein kleines Missgeschick, und du bringst uns beide um ein ganzes Monatsgehalt.«
»Herrgott noch mal, René. Ich werde doch wohl in der Lage sein, zwei Flaschen Wein zu holen.«
»Du kannst warten, wie alle anderen, Sam.« Er begann einem der anderen Kellner Flaschen auszuhändigen, der ihr einen triumphierenden Blick zuwarf.
Die Türen zum Speiseraum schwangen auf, und Sam spähte den Gang entlang, um eben noch einen Blick auf Joshua zu erhaschen. Er schlenderte gerade durch den Raum, um ein hinreißendes ehemaliges Model und deren Begleitung zu begrüßen, die an Tisch zwei neben der Theke saßen. Es hatte also keine allzu große Eile mit seinem Wein. Sie sah sich die Teller auf der Durchreiche aus Edelstahl an, um genau auszurechnen, wie viel Zeit sie hatte, diesen Wein auszuschenken, bevor ihre vier Bestellungen für die Angehörigen des alten Ostküstenadels an Tisch zehn kamen.
Nicht viel. Sie wollte den Haut-Brion vorher servieren, sonst würde sie völlig aus dem Rhythmus kommen.
Eine weitere Kellnerin kam mit mehreren Flaschen in den Händen aus dem Keller herauf. »Das ist der Rest, René. Ich muss nur noch mal runter und abschließen.«
»Ich schließ ab«, sagte Sam und schnappte sich die Schlüssel.
»Nein.« René durchbohrte sie mit seinem Blick. »Ich hole sie, Sam. Nur fünf Minuten.«
»Ach komm, René.«
Die Tür zum Gastraum flog auf, und Keegan kam hereinmarschiert. »Sterling will seinen Wein«, verkündete er und blickte René scharf an.
»Dann hol du ihn«, sagte René. »Nicht Sam.«
Aber Sam war bereits auf dem Weg. »Danke, Keegan«, sagte sie ruhig im Vorbeigehen. »Du weißt ja, ich werde dich heute Abend mit Bestechungsgeld überschütten.« Während sie die Tür öffnete, rief sie René zu, »Die Bordeaux sind doch in den hinteren Regalen und der Haut-Brion in der unteren Hälfte, oder?«
»Sam, wenn du das vermasselst –«
»Ich werde die Flaschen abstauben! Du kannst dir morgen das Video ansehen«, fügte sie lachend hinzu. Als wenn diese prähistorische Kamera je benutzt würde.
»Darauf kannst du Gift nehmen!«, rief René. »Ich hab gerade ein neues Band eingelegt.«
Hastig lief sie die schlecht beleuchtete Treppe hinunter und fegte an einem der Köche vorbei, der gerade einen Sack Mehl aus der Trockenspeisekammer trug. Weiter unten fiel die Temperatur ab, und die Steinwände strahlten Kälte aus, als sie die schwere Tür zum Weingewölbe erreichte.
Ein Luftzug ließ die Haarsträhnen wehen, die ihrem Pferdeschwanz entwischt waren, woraufhin sie stehen blieb und in den dunklen Flur spähte. Die Hilfskellner waren ständig zum Rauchen da draußen, aber sie würden ihre Lungen ja wohl hoffentlich nicht gerade dann strapazieren, wenn das Paupiette’s so überfüllt war wie heute.
Der Duft von Estragon und Rosmarin entströmte der Trockenspeisekammer, aber die würzigen Gerüche verschwanden in dem Moment, als sie die Messingklinke des Weingewölbes hinunterdrückte und die Angeln bei ihrem Eintreten knarrten und quietschten. In diesem dämmerigen und staubigen Raum roch es nur nach Erde und Moschus.
Sie schaltete das Deckenlicht an, aber die einzelne, nackte Glühbirne trug nicht gerade zur besseren Beleuchtung des länglichen, schmalen Gewölbes oder der Regale bei, die ein anderthalb Meter hohes Labyrinth bildeten. Sie suchte sich ihren Weg nach hinten, und ihre Gummisohlen bewegten sich geräuschlos über den Steinboden. Der Staub kitzelte in ihren Nasenlöchern, und die vierzehn Grad kalte Luft tat ihr Übriges. Sam kämpfte gar nicht erst gegen den Niesreiz an und schaffte es, rechtzeitig ein Taschentuch hervorzuzaubern, um die lautstarke Entladung aufzufangen.
Hinter der letzten Reihe ging sie in der Ecke mit den teuersten Weinen in die Hocke. Sie begann damit, den Staub von den Flaschen zu pusten und zu wischen, und fand fast auf der Stelle das unverkennbare, weißgoldene Etikett des Haut-Brion.
Sam zog die Flasche heraus, staubte sie ab und las auf dem Etikett die Jahreszahl 2000. Innerhalb der chronologisch sortierten Regale war sie also noch gut achtzehn Jahre von ihrem Ziel entfernt. Ihr geriet Staub in den Hals, und sie hustete leise. Sie kauerte sich noch tiefer hin und holte eine weitere Flasche hervor – 1985.
Langsam kam sie ihrem Ziel näher. Aus der Hocke griff sie nach einer Flasche, und im selben Augenblick öffnete sich die Tür. Das Geräusch der Messingklinke hallte durch das Gewölbe. Sie wollte sich aufrichten, doch die gedämpfte Stimme eines Mannes brachte sie von ihrem Vorhaben ab.
»Ich bin drin.«
Sie erstarrte und versuchte auszumachen, wo die Stimme herkam, jedoch vergeblich. Sie war tief, schroff und männlich.
»Jetzt.«
Es lag etwas Dringliches im Tonfall. Etwas, das sie mucksmäuschenstill werden ließ.
Sie wartete darauf, Schritte zu hören. Wenn es ein anderer Kellner war, würde er zu einem Regal gehen, um seine Weinflasche zu suchen. Wenn es René war, würde er nach ihr rufen, weil er wusste, dass sie hier unten war. Und jeder andere …
Doch hier unten hatte kein anderer etwas verloren.
Ihr Puls erhöhte sich leicht, als sie auf das nächste Geräusch wartete und ihr ein unbehagliches Kribbeln den Rücken hinaufstieg.
Nichts rührte sich. Niemand atmete.
Sie betete, dass ihre Knie nicht knacken und sie verraten würden, und erhob sich wenige Zentimeter, damit sie über das Regal hinwegsehen konnte. Währenddessen bewegte sich die Klinke erneut, und dieses Mal zog sich das Quietschen der Angeln in einer Weise in die Länge, als würde die Tür ganz langsam geöffnet. Sie streckte sich noch ein bisschen mehr, um über das oberste Fach mit Flaschen zu spähen.
Ein Mann stand mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt, eine Hand in Brusthöhe unter einem Jackett verborgen, den Kopf zur Tür gedreht. In der Dunkelheit konnte sie kaum sein Profil erkennen, sah jedoch sein schwarzes Hemd und den Umriss seines dunklen Haars vor der Wand hinter ihm. Kein Kellner. Niemand, den sie je zuvor gesehen hatte.
Während sich die Tür weiter öffnete, stand er völlig regungslos da, und Sam riss den Blick von dem Fremden los und richtete ihn auf den Neuankömmling. Die Glühbirne an der Decke fing ein unverwechselbares Schimmern von silbernem Haar ein. Was in aller Welt machte Josh –
Die Bewegung war so rasch, dass Sam kaum die Hand des Mannes aus dem Jackett schnellen sah. Vielleicht hatte sie beim Anblick der überraschend langen Pistole nach Luft geschnappt, aber das Geräusch eines Schusses, gedämpft wie ein Faustschlag in ein Kissen, übertönte ihren Atem.
Joshuas Gesicht verzerrte sich und wurde starr. Er brach zusammen und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Ihr Selbsterhaltungstrieb brachte Sam dazu, sich wieder hinter das Regal zu ducken, plötzlich leicht benommen und so sehr unter Schock, dass sie keinen zusammenhängenden Gedanken zu fassen bekam. Nur das Bild, wie Joshua Sterling eine Kugel in den Kopf bekam, stand ihr vor Augen.
Sam schloss die Augen, doch der mentale Schnappschuss verschwand nicht. Er versengte ihre Netzhaut und brannte sich in ihr Hirn.
Etwas scharrte über den Boden, und sie erstarrte bis ins Mark. Sie umklammerte mit ihrer rechten Hand die Flasche und hielt sich sprungbereit, um sich jeden Moment auf denjenigen zu stürzen, der um die Ecke kam.
Sie konnte ihn mit der Flasche außer Gefecht setzen. Sie ihm über den Kopf ziehen. Zeit gewinnen und Hilfe holen.
Aber niemand kam um das Regal herum. Stattdessen hörte sie ein metallenes Geräusch, ein Klicken und ein leises Stöhnen vom vorderen Teil des Gewölbes. Was trieb der Kerl da?
Immer noch in der Erwartung, um ihr Leben kämpfen zu müssen, richtete sie sich wieder auf – gerade so weit, dass sie sah, wie der Mann auf einer Kiste stehend flink die Videokamera abmontierte.
Die Sicherheitskamera war direkt auf die hinteren Regale gerichtet.
Rasch duckte sie sich, aber es war zu spät. Sie hörte, wie er die Schrauben in der Wand bearbeitete, und versuchte, sich sein Profil einzuprägen. Ein Höcker auf einer aristokratischen Nase. Hohe Stirn. Eine Ansammlung von Pockennarben im unteren Bereich der Wange.
Aufwirbelnder Staub stieg ihr in die Nase, kitzelte, quälte und reizte sie fast zum Niesen. Oh, nein, bitte nicht.
Sie hielt die Luft an, während die Kamera sich knackend von der Wand löste und der Mann mit den Füßen auf dem Boden aufkam. Eine Sekunde später quietschte die Tür, fiel ins Schloss, und er war weg.
War es möglich, dass Joshua noch lebte? Sie musste ihm helfen. Fünf qualvolle Herzschläge lang wartete sie, dann kam sie hinter den Regalen hervor und rannte durch den Mittelgang.
Leblose blaue Augen starrten ihr entgegen, sein Gesicht war farblos, und ein Rinnsal tiefroten Bluts sickerte aus einem einzelnen Loch in seiner Schläfe. Die Flasche entglitt ihren Händen, doch sie nahm das Zerbersten des Glases kaum wahr, als sie auf den Toten hinunterstarrte.
Gott, nein. Gott, nein. Nicht schon wieder.
Ungläubig wimmernd sank sie in die Knie und widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken und den Mann zu berühren, der noch vor wenigen Minuten mit Freunden gelacht, seiner Frau einen Witz erklärt und einen seltenen, teuren Bordeaux bestellt hatte.
Das konnte nicht wahr sein. Es konnte einfach nicht sein.
Das Blut sammelte sich neben seiner Wange, vermischte sich mit dem Wein. Der Geruch drehte ihr den Magen um, und sie musste würgen, als ihr die Galle hochstieg und ihr die Glasscherben Knie und Handflächen zerschnitten.
Zum zweiten Mal in ihrem Leben hatte sie mitangesehen, wie ein Mensch einem anderen das Leben genommen hatte. Doch dieses Mal war sie dabei gefilmt worden.
2
Mit Laptop und Handy saß Sam auf dem Boden ihres Kleiderschranks und überlegte sich ihren gesamten Fluchtplan und eine Verkleidung, in der sie sich mitten in der Nacht aus ihrer Wohnung schleichen konnte – hoffentlich, ohne dabei geschnappt und getötet zu werden.
Bis jetzt hatte sie aber keine Ahnung, wo sie hinsollte, wenn sie erst mal draußen war. Sie brauchte auf jeden Fall einen Freund. Aber noch dringender brauchte sie jemanden, der für sie herausfand, wie dicht die Polizei Joshua Sterlings Mörder auf den Fersen war. Denn ihr würden sie nichts sagen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Und als sie, versteckt in ihrem Kleiderschrank, die Wohnungstür verbarrikadiert, auf ihrem Computer durch die Nachrichten surfte, sah sie den Namen – und mit einem Mal war die Antwort klar.
Vivi Angelino. Eigentlich stand sie nicht besonders weit oben auf Sams Liste mit Freundinnen – in diesem Fall der Liste früherer Freundinnen, denn in den letzten drei Jahren hatten sie sich kaum gesehen – die ihr aus diesem speziellen Schlamassel helfen konnten. Aber als sie las, dass Vivi den Leitartikel für die Verbrechensermittlung des Boston Bullet verfasst hatte, katapultierte sie das auf Sams Liste ganz nach oben.
Niemand konnte ihr besser helfen als Vivi, die hartnäckige Reporterin mit dem Gespür für gute Storys und einer neugierigen Ader, der die Bedeutung der Worte »kein Kommentar« gänzlich unbekannt waren. Ganz bestimmt wusste sie, was innerhalb des Boston PD vor sich ging, sie wusste, ob Verdächtige festgenommen worden waren oder gegen sie ermittelt wurde, und sie würde verstehen, warum die Polizei der Augenzeugin keinerlei Schutz gewährte.
Sie kannte Sams Vorgeschichte mit der hiesigen Polizei. Sie wusste auch … nein, ihn würden sie da schön raushalten. Der Mann hatte der Freundschaft zwischen Vivi und Sam schon genug geschadet. Der Stich, den Sam allein sein Name schon versetzte, würde sie nicht davon abhalten, sich die nötige Hilfe zu suchen.
Sie klappte ihr Telefon auf und blätterte die letzten Anrufe durch. Jetzt begriff sie, warum Vivi sie, nach Monaten ohne das kleinste Hallo, in der vergangenen Woche zweimal angerufen hatte. Sam hatte nicht vorgehabt, zurückzurufen – sie hatte in dieser letzten Woche eigentlich mit niemandem gesprochen, abgesehen von der Polizei. Aber wenn Vivi über die Tat berichtete, wollte sie wahrscheinlich die Angestellten des Paupiette’s interviewen. Tja, Sam würde Vivi zur Exklusivstory ihres Lebens verhelfen … wenn sie Sam ein bisschen mit Insider-Informationen versorgen konnte.
Sie tippte eine SMS.
Hi. Hab deinen Artikel im Boston Bullet gesehen. Bist du daheim?
Das war unverfänglich genug, für den Fall, dass jemand ihre Anrufe oder SMS-Nachrichten anzapfte.
Sie drückte auf Senden, und ihr Blick blieb an der Überschrift hängen.
Polizei tappt im Sterling-Fall im Dunkeln.
Die Kopfschmerzen, die vor einer Woche im Weinkeller begonnen hatten, hämmerten bei jedem Wort aus Vivis Feder gegen Sams Schläfen.
Kein Durchbruch in dem Fall.
Keine Hinweise auf den Mörder.
Keine Beweise, keine Motive, keine Verdächtigen … keine Zeugen. Polizei vermutet professionellen Killer am Werk.
Zwei Wörter sprangen ihr ins Auge. Keine Zeugen. Das bedeutete, dass die Polizei die Tatsache, dass es eine Augenzeugin gegeben hatte, immer noch nicht öffentlich gemacht hatte. Zumindest, was das anging, hatten sie ihr Wort gehalten.
Welche Informationen hielten sie noch zurück? Sam musste unbedingt herausfinden, ob sie jemanden verhaftet hatten oder ob es eine Liste mit Verdächtigen gab. Und, dem Mann zum Trotz, der sich zwischen sie gestellt hatte, war Vivi definitiv diejenige, die ihr dabei helfen konnte.
Aber sie durfte dieses Gespräch keinesfalls am Telefon führen, das war zu riskant. Es musste persönlich stattfinden.
Und deshalb war es so wichtig, dass ihr Fluchtplan auch wirklich funktionierte.
Das Blackberry vibrierte in ihren Händen, und Vivis Name leuchtete wie eine Rettungsleine auf.
Mann. Lang nix von dir gehört. Was machst du?
Ja, ziemlich lang.
Was sollte sie antworten … was machte sie? Sich zu Tode ängstigen, sich verstecken, verzweifeln? Sie entschied sich für den direkten Weg. Kann ich rüberkommen?
Sie zerquetschte das Telefon fast in der Hand und hoffte inständig, dass Vivi verstand, was siemeinte, und nicht fragte, warum.
Klar. Komm ruhig her.
Sie starrte auf die Antwort, und ihr Herz füllte sich mit Zuneigung und Wertschätzung. Also, das war eine echte Freundin. Sie stellte keine Fragen – ein kleines Wunder, wenn man bedachte, dass es sich um Vivi Angelino handelte, bei der jeder Satz mit wer, was, wann, wo und warum begann.
Danke, schrieb sie zurück und schaltete das Handy aus, bevor sich doch noch ein Feuerwerk von Fragen auf dem Bildschirm entzündete. Sam würde persönlich antworten. Sofern sie Antworten hatte.
In geduckter Haltung, damit sie keinen Schatten warf, kroch sie durch ihr Schlafzimmer, um Perücke und Turnschuhe zu holen. Sie hatte die schwarze Perücke ganz hinten im Schrank gefunden, ein Überbleibsel von einem Kleopatra-Kostüm, das sie bei irgendeiner Halloween-Party auf dem College getragen hatte.
Nun, Kleo würde Sam zu frischer Luft und Informationen verhelfen, und diese Verkleidung würde sie hoffentlich an jedem sicher vorbeibringen, der nach ihr Ausschau hielt. Vorbei an ihm.
Angenommen, er war da draußen – und davon musste sie ausgehen – war das die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben.
Sam stopfte sich die Haare unter die Perücke, unter deren billigem Gewebe die Kopfhaut sofort zu jucken begann. Sie schlüpfte in ein Paar Nikes, band sich die Schuhe zu und lief gebückt zur Schlafzimmertür. Sie schlich den fensterlosen Flur entlang, krabbelte durchs Wohnzimmer und gelangte über den Linoleumboden zur Küchentür.
Jetzt kam der schwierige Teil. Das Haus durch die Hintertür im ersten Stock zu verlassen … ohne Hintertreppe.
So leise wie möglich trat sie hinaus auf eine kleine Sonnenterrasse, von der aus man in den eingezäunten Garten der Brodys blicken konnte. Schon seit ihrem Einzug versprach Mr Brody ihr, eine kleine Treppe zu bauen, damit sie Zugang zu ihrem Garten hatte. Bisher war er nicht dazu gekommen, aber Sam wusste, dass ihr Vermieter für sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde – nach alldem, was die Innocence Mission für seinen Cousin in Arizona getan hatte. Als er erfahren hatte, dass Sam ehrenamtlich für diese Organisation arbeitete, hatte er sogar die Miete heruntergesetzt.
Aber die Treppe hatte er trotzdem noch nicht gebaut. Obwohl er sehr genau wusste, dass das Haus so nicht die Brandschutzbestimmungen erfüllte. Doch das erwies sich nun als Vorteil. Jeder, der ihre Wohnung überwachte, würde sich auf die Vorderseite konzentrieren, den einzigen Ausgang der oberen Wohnung.
Niemand würde den eingegrenzten Garten beobachten oder die baufällige Veranda im ersten Stock, die ihre Pflanzen beheimatete und wo sie sich hin und wieder ein wenig sonnte. Niemand würde auf die Idee kommen, dass sie sich eine Perücke und dunkle Klamotten anziehen würde, dass sie von einer viereinhalb Meter über dem Boden liegenden Terrasse springen, durch eine geheime Öffnung im Zaun schlüpfen und der Seitenstraße bis zur Ecke Prospect und Somerville Ave folgen würde, wo Samstagabends immer Taxis parkten, um Betrunkene nach Hause zu fahren.
Niemand – schon gar nicht der Mann mit dem Höcker auf der Nase, den pockennarbigen Wangen und der todbringenden Pistole, der in diesem Moment in einem Auto auf der anderen Straßenseite sitzen konnte – rechnete damit, dass Sam das Haus verließ.
In geduckter Haltung lief sie zum Geländer und nahm die Häuser zu beiden Seiten in Augenschein, welche zu dieser nächtlichen Stunde im Dunkeln lagen. Die ganze Gegend um Somerville war eigentlich ziemlich ruhig, außerdem waren jetzt im Sommer auch die meisten Studenten fort, die sonst hier wohnten. Sie beugte sich hinüber und versuchte, den Abstand zum Boden zu schätzen. Vielleicht doch keine viereinhalb Meter. Vielleicht nur dreieinhalb, und wenn sie sich seitlich herunterhängen ließ, nur noch etwa zwei Meter bis zum weichen Rasen unten. Ein bisschen riskant, aber nicht direkt wie Fallschirmspringen ohne Fallschirm.
Die andere Möglichkeit war, Regenrinne und Fenstersims zu benutzen, was in Filmen immer so einfach aussah, sich aber wahrscheinlich im echten Leben nicht so leicht bewerkstelligen ließ. Davon abgesehen hatte Mrs Brody einen leichten Schlaf, und es handelte sich um ihr Badezimmerfenster – welches so nah am Schlafzimmer lag, dass sie Sam dort hören würde. Das Licht würde angemacht, Fragen würden gestellt werden, und falls jemand das Haus überwachte, würden sämtliche Alarmglocken bei ihm angehen.
Sam entschied sich fürs Springen. Sie kletterte über das Geländer und brachte sich in Position, wobei sich ein Holzsplitter in ihren Finger bohrte. Tapfer ignorierte sie den stechenden Schmerz, schielte zum Boden hinunter, und das Herz blieb ihr stehen.
Wenn sie sich nun ein Bein brach –
Verdammt. Sam, hör auf, deine Entscheidungen zu hinterfragen und spring.
Ein Auto fuhr die Loring Street entlang, und auf Garten und Hausseite fiel diffuses Licht, das sich nur langsam vom Fleck bewegte. Viel zu langsam. Vielleicht langsam genug, um Fotos von ihrem Haus zu machen? Um einen Einbruch zu planen, bei dem man der Zeugin eine Kugel in den Kopf jagen konnte?
Ja, zum Teufel, langsam genug dafür.
Sie ließ los, befand sich eine Sekunde lang in unwirklich erscheinendem freien Fall, der wie in Zeitlupe ablief, die Luft rauschte an ihren Ohren vorbei, und es wehte ihr fast die Perücke vom Kopf. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie, rollte sich nach rechts ab, blieb dann bewegungslos liegen und wartete auf den Schmerz eines gebrochenen Knochens.
Alles drehte sich. Sie steckte ein paar verirrte Haare wieder zurück unter die falschen, drahtigen und machte sich auf zur hinteren Gartenecke mit den kaputten Latten, wo sie vor ein paar Wochen die Nachbarskinder beim Versteckspielen hinein- und hinausschlüpfen gesehen hatte.
Damals, in den guten alten Zeiten, als sie noch auf ihrem eigenen Balkon sitzen konnte und nicht darauf warten musste, dass die Kugel eines Heckenschützen sie traf.
Die Latten ließen sich leicht anheben, genauso wie bei den Kindern. Der Durchgang dahinter führte zwischen den Zäunen der Nachbargrundstücke hindurch, diente lediglich als Abstellplatz für Müllcontainer und Unrat und war kaum breit genug für ein Auto. Sam verfiel in ein lockeres Joggen, nicht so schnell, dass sie Aufmerksamkeit erregte, und nicht so langsam, dass sie erschossen werden konnte.
Der Strecke folgend, die sie im Voraus auf ihrer mentalen Landkarte geplant hatte, preschte sie über die erste Kreuzung, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen war. Die Lichter der Hauptstraße strahlten wie Leuchtfeuer, und als sie den ersten Blick auf ein gelbes Taxi erhaschte, entlockte das ihren Lippen ein zufriedenes »Jawoll!«
Als sie näherkam, richtete sich der Fahrer auf, der wahrscheinlich gerade aus einem Nickerchen erwacht war. Während sie die Tür öffnete und er sich zu ihr umdrehte, rechnete sie eine schreckliche Sekunde lang halb damit, in sein Gesicht zu blicken. Hakennase. Pockennarben. Schallgedämpfte Pistole.
Aber es war nur ein verschlafener Farbiger, der sie ansah und ihr zunickte, während sie sich auf den Rücksitz fallen ließ und die Tür zuschlug.
»Brookline. Ecke Tappan, Beacon am Washington Square.« Sie rutschte im Sitz tief nach unten und hüllte sich in Dunkelheit.
»Rennen Sie vor jemand weg, Miss?«
Jemand. »Bitte, fahren Sie einfach. Ich hab’s eilig.«
Er verstand die Botschaft und fuhr schweigend die Mass Ave entlang, über den Charles, wo ihr Herz im Takt mit den Schlägen der Reifen auf der Brücke pochte. Als sie auf der Bostoner Seite des Flusses angekommen waren, näherte ihr Puls sich allmählich wieder normalen Werten.
Sie legte die Hand auf das Handy in ihrer Tasche, widerstand aber dem Drang, es herauszuholen, anzuschalten und die Nachrichten zu lesen, die Vivi ihr möglicherweise noch geschickt hatte. Sie würde ihr alles erzählen, wenn sie da war. Jetzt musste sie auf der Hut sein.
Bei jeder Abbiegung prüfte sie die Straße hinter ihnen, die Spuren neben ihnen, den Gegenverkehr.
»Niemand folgt uns, glauben Sie mir«, sagte der Fahrer mit einem flüchtigen Lächeln. »Im Ernst. Sie können sich entspannen. Sie sind in Sicherheit.«
Entspannen? Sicherheit? Er hatte ja gar keine Ahnung.
Sie würde sich niemals entspannen oder in Sicherheit wiegen können, solange der Kerl, der Joshua Sterling umgebracht hatte, nicht geschnappt, verurteilt und hinter Gittern war. Und solange sie die einzige lebende Zeugin war, würde sich die halbe Bostoner Polizei einen Dreck darum scheren, ob der Mörder sie zu seinem nächsten Opfer machte. Sie lachten sich schlapp über diese Sache, das wusste sie genau.
Ausgerechnetsie als Zeugin eines Mordes.
Das Taxi polterte über den Bahnübergang und die Bodenwellen der Beacon Street, Seite an Seite mit der wahrscheinlich letzten Straßenbahn der Green Line für diese Nacht. An der Station Tappan hielt diese an und versperrte ihnen die Abbiegemöglichkeit.
Sam beugte sich vor und spähte den Block entlang zu dem Wohnkomplex aus rotem Backstein, den sie einst ihr Zuhause genannt hatte, und eine Welle der Wehmut packte sie. Sie hatte in diesem Gebäude viel Spaß gehabt, in der Werbeagentur gearbeitet, Freundschaften geschlossen – einschließlich Vivis. War auf Vivis Partys gegangen …
Fang nicht damit an, Sam.
Aber war nicht genau das der Grund dafür gewesen, dass sie so lange nicht mehr hier bei ihrer Freundin gewesen war? Und das war falsch gewesen. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass das, was passiert war – oder nicht passiert war – einen Keil zwischen sie trieb. Und wenn man bedachte, dass sie es zugelassen hatte, war Vivi wirklich ein Engel, ihr um ein Uhr morgens die Tür zu öffnen.
Diese ganze Geschichte war genau das …Geschichte. Frauen sollten niemals eine Freundschaft für einen Mann opfern. Egal, wer er war oder was er getan hatte.
Als sich die Straßenbahn gerade wieder in Bewegung setzte, kam ein Mann um die Ecke gestolpert, winkte hilflos hinter dem Zug her und schwankte dabei so sehr, dass er um ein Haar hingefallen wäre.
»Da ist ja mein nächster Fahrgast«, sagte der Fahrer. »Auch wenn er wahrscheinlich völlig pleite ist.«
Sam lächelte. Es gab doch noch gute Menschen auf der Welt.
»Dann lassen Sie mich einfach hier raus«, sagte sie. »Ich muss gleich ins erste Gebäude da drüben. Dann können Sie ihn aufgabeln.« Sie griff in ihre Tasche, holte ein kleines Lederetui heraus und gab ihm zwei Zwanziger, den doppelten Fahrpreis. »Das müsste auch für ihn reichen.«
»Danke.« Er drehte sich zu ihr um, und an die Stelle des verschlafenen Blicks war nun herzliche Wärme getreten. »Ich hoffe, das Arschloch findet Sie nicht.«
»Ich auch.«
»Hier.« Er gab ihr eine Karte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie heute Nacht noch irgendwohin müssen. Ich bleib in der Gegend.«
Sie nahm sie und nickte zum Dank, dann rutschte sie hinüber zur Tür und stieß sie auf. Sie ließ ein Auto vorbeifahren und überquerte dann die Beacon Street, sicher im Schein der Straßenlaternen und in Sichtweite der hellroten Lichter des Star Market.
Der Eingang zu Vivis Wohnung lag keine dreißig Meter vor ihr, doch mit jedem Schritt den Hügel hinauf schien es dunkler zu werden. Sie joggte den Rest des Weges und blickte dabei zu Vivis Eckwohnung im dritten Stock hinauf, konnte aber kein Licht sehen.
Der Mut verließ sie. War Vivi doch nicht aufgeblieben?
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und erweckte den Bildschirm zum Leben. Keine neuen Nachrichten.
Sie verlangsamte ihre Schritte und ging im Kopf die Möglichkeiten durch. Vivi war eingeschlafen. Vivi war nicht allein. Oh – an diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht.
Die Vorderseite des Gebäudes war immer schlecht beleuchtet, allerdings war Brookline eine so sichere Gegend, dass es bisher gar keine Rolle gespielt hatte. Aber jetzt erschienen ihr die Schatten beunruhigend und bedrohlich, und im abgeschlossenen Eingangsbereich brannte nur ein mickriges Licht. An der Klingelanlage streckte sie die Hand nach V. Angelino in Einheit 414 aus.
Gerade, als ihr Finger das Plastik berührte, legte sich eine Hand auf ihre. Von hinten rammte sie der Körper eines Mannes, und sie schnappte nach Luft, als ihr die Perücke vom Kopf gerissen wurde und ihr starke, große Finger ins Haar fuhren.
»Die Perücke ist Zeitverschwendung, Sam.« Sein Atem war so heiß wie seine Stimme. »Diesen Hintern würde ich überall wiedererkennen.«
3
»Anscheinend bist du doch nicht tot.«
Er drückte ein bisschen fester zu. »Dachtest du das denn?«
»Ein Mädchen wird ja wohl noch hoffen dürfen.«
»Nein, nicht tot.« Weit davon entfernt. Vielmehr stand Zachs ganzes Dasein unter Strom, als sich Samantha Fairchilds Körper noch einmal an seinen schmiegte. Er widerstand ihrer Anziehungskraft, hielt sie in dieser Stellung fest und sorgte dafür, dass sie sich nicht umdrehen konnte. Er erwartete zwar nicht gerade, dass sie ihm um den Hals fiel und ihn als Helden wieder zu Hause willkommen hieß, aber er musste die Kontrolle behalten.
»Tja, was für ein Jammer«, sagte sie kühl. »Das wäre nämlich eine tolle Entschuldigung für unentschuldbares Verhalten gewesen.«
Oha. Das hatte ja nicht lang gedauert. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Sammi. Ich bin gesund und …« Er schlang ihr einen Stiefel um den Fußknöchel, als wollte er sie aufs Kreuz legen. »Munter.«
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