9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Downton Abbey in Hinterpommern von 1913 bis 1919 - Der erste Teil der großen Familien-Saga über eine Grafen-Familie zwischen Tradition und wahrer Liebe am Vorabend des 1. Weltkriegs Mai 1913: Konstantin, ältester Grafensohn und Erbe von Gut Greifenau, wagt das Unerhörte: Er verliebt sich in eine Bürgerliche, schlimmer noch – in die Dorflehrerin Rebecca Kurscheidt, eine überzeugte Sozialdemokratin. Die beiden trennen Welten: nicht nur der Standesunterschied, sondern auch die Weltanschauung. Für Katharina dagegen, die jüngste Tochter, plant die Grafenmutter eine Traumhochzeit mit einem Neffen des deutschen Kaisers – obwohl bald klar ist, welch ein Scheusal sich hinter der aristokratischen Fassade verbirgt. Aber auch ihr Herz ist anderweitig vergeben. Beide Grafenkinder spielen ein Versteckspiel mit ihren Eltern und der Gesellschaft. So gut sie ihre heimlichen Liebschaften auch verbergen, steuern doch beide unweigerlich auf eine Katastrophe zu … Die Gut-Greifenau-Reihe im Überblick: Band 1 "Gut Greifenau. Abendglanz" Band 2 "Gut Greifenau. Nachtfeuer" Band 3 "Gut Greifenau. Morgenröte"
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 759
Hanna Caspian
Gut Greifenau Abendglanz
Roman
Knaur e-books
Mai 1913: Konstantin, ältester Grafensohn und Erbe von Gut Greifenau, wagt das Unerhörte: Er verliebt sich in eine Bürgerliche, schlimmer noch – in die Dorflehrerin Rebecca Kurscheidt, eine überzeugte Sozialdemokratin. Für Katharina dagegen, die jüngste Tochter, plant die Grafenmutter eine Traumhochzeit mit einem Neffen des deutschen Kaisers – obwohl bald klar ist, welch ein Scheusal sich hinter der aristokratischen Fassade verbirgt. Aber auch ihr Herz ist anderweitig vergeben.
Beide Grafenkinder spielen ein Versteckspiel mit ihren Eltern und der Gesellschaft. So gut sie ihre heimlichen Liebschaften auch verbergen, steuern doch beide unweigerlich auf eine Katastrophe zu …
Für Minne
Du warst eine großartige Geschichtenerzählerin.
Ich bin mir sicher, diese Geschichte hier hätte dir sehr gefallen.
Donatus von Auwitz-Aarhayn alter Patron
Adolphis von Auwitz-Aarhayn neuer Gutsherr von Gut Greifenau
Feodora, geb. Gregorius Gutsherrin
Konstantin ältester Sohn
Anastasia älteste Tochter, verheiratete Gräfin von Sawatzki
Nikolaus mittlerer Sohn
Alexander jüngster Sohn
Katharina jüngste Tochter
Albert Sonntag neuer Kutscher
Karl Matthis Hauslehrer
Theodor Caspers oberster Hausdiener und Butler
Ottilie Schott Mamsell und Kammerzofe
Irmgard Hindemith Köchin
Bertha Polzin Küchenmagd
Wiebke Plümecke Stubenmädchen
Clara Fiedel Stubenmädchen
Hedwig Hauser Hausmädchen
Kilian Hübner Hausknecht
Johann Waldner Stallmeister / Vorknecht
Eugen Lignau Stallknecht
Tomasz Ceynow polnischer Landmaschinenarbeiter
Egidius Wittekind evangelisch-lutherischer Pastor
Paula Ackermann Enkelin von Egidius Wittekind
Rebecca Kurscheidt Dorflehrerin
Julius Urban Sohn eines reichen Industriellen
Ludwig von Preußen Neffe von Kaiser Wilhelm
Raimund Thalmann Gutsverwalter
Annabella Kassini Mätresse
Hektor Schlawes früherer Kutscher
Tobias Güstrow ältester Sohn eines Pächters
Er würde an den guten alten Traditionen noch ersticken. Zum Teufel mit dem alten Sturkopf! Neuerungen drängten, sonst würden sie den Anschluss verpassen. Konstantin machte sich gefasst auf unausweichliche Streitgespräche mit seinem Großvater, jetzt und in den kommenden Jahren.
Immerhin hatte er die besseren Argumente. Dieses Wissen zauberte ihm ein grimmiges Siegerlächeln ins Gesicht. Selbst wenn er Großpapa nicht würde überzeugen können, weil dieser jegliche Diskussionen im Keim erstickte – er würde trotzdem gewinnen, früher oder später, denn die Zeit spielte für ihn.
Die Kutschen, die mit ihren luxuriösen Ausstattungen Bequemlichkeit vorgaukelten, rumpelten über die gepflasterte Auffahrt. Draußen nickten die Kopfweiden zur Begrüßung. Das Herrenhaus thronte auf einem sanften Hügel. An den Ecken des Gebäudes ragten Treppentürme hoch, reich verziert mit Reliefs. Blatt- und Perlenzinken schmückten die vordere Fassade. Es war fast ein Schloss. Sie waren zu Hause.
Schon für gewöhnlich trug Caspers eine strenge Miene zur Schau, die niemals von einem Lächeln behelligt wurde. Aber jetzt gerade war sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Er stürmte den Wagen entgegen, was nichts Gutes prophezeite. Die Rockschöße seiner Livree flatterten. Der Regen wusch ihm Strähnen des lichten schwarzen Haares in die Stirn.
Caspers warf einen finsteren Blick in ihre Kutsche und eilte sogleich zur zweiten, in der Katharina mit den Eltern saß. Der Hausdiener riss die Tür auf. Das war ein ungehöriges Benehmen. Alexander, Konstantins jüngster Bruder, hob spöttisch interessiert die Augenbrauen. Was da vor sich ging, verhieß Abwechslung. Sogar Mamsell Schott schien verblüfft.
Endlich blieb der Landauer vor der Freitreppe stehen. Warteten die anderen Bediensteten in der Halle auf sie? Immerhin kam die Familie nach drei Wochen Aufenthalt in der Reichshauptstadt heim. Für gewöhnlich löste ihre Ankunft einen Aufmarsch des Hauspersonals aus. Beunruhigt zwängte Konstantin sich zum schmalen Ausstieg hinaus.
Caspers zappelte hektisch vor der anderen Kutsche. Seine Stimme klang schrill. »… schon unterwegs und holt Doktor Reichenbach.« Der oberste Hausdiener trat zur Seite, und Konstantins Vater, Graf Adolphis Eitel von Auwitz-Aarhayn, stieg aus.
»Konstantin. Du ebenso, Alexander. Wir müssen …« Sein Blick sprang verstört zwischen seinen Söhnen und der leeren Treppe hin und her. Der Regen benetzte sein hochrotes Gesicht.
»Der Leiterwagen wird gerade fertig gemacht. Eugen müsste jeden Moment vorfahren«, erklärte Caspers eilfertig.
»Euer Großvater … ist … verunglückt. Wir fahren sofort hin.«
Just in dem Augenblick erschien das Pferdegespann auf dem Weg zum Vorplatz.
»Adolphis, du willst doch wohl nicht auf diesem Gefährt … mit der teuren Kleidung.« Gräfin Feodora von Auwitz-Aarhayn klang empört, verstummte aber, als sie das Gesicht ihres Mannes sah.
»Waldner, räumen Sie die Koffer runter. Wir nehmen eine Kutsche und den Leiterwagen.« Konstantins Vater wandte sich an Mamsell Schott, die mit ihm und Alexander in einem Wagen gesessen hatte. »Bringen Sie rasch einige Decken. Wir müssen meinen Vater vermutlich transportieren.«
Adolphis von Auwitz-Aarhayn packte Konstantin bei den Schultern. »Er war Holz rücken draußen im Dunkelhain.« Seine Stimme brach. »Ein morscher Baum …«
»Bei diesem Wetter?!« Es hatte den ganzen Tag geregnet. Im Wald musste es furchtbar matschig sein. Aber genau so kannte Konstantin seinen Großvater. Stur und über alles erhaben, sogar über das Wetter. Er würde sich nichts und niemandem beugen und so einem bisschen Regen schon mal gar nicht.
Der neue Kutscher, Albert Sonntag, räumte in größter Eile mit Johann Waldner, dem Stallmeister, die Koffer vom Gepäckträger auf den Kies. Wiebke, eines der Stubenmädchen, eilte mit einem Stapel Wolldecken aus dem Eingang. Mamsell Schott sowie zwei weitere weibliche Bedienstete folgten ihr und fingen an, das Gepäck ins Haus zu tragen.
Konstantins Vater wischte sich Regentropfen von der Stirn, oder war es Angstschweiß? »Kilian ist ins Dorf, zu Doktor Reichenbach.«
»Wie schlimm ist es?« Die Worte kratzten in Konstantins Kehle.
»Wir beeilen uns besser.« Vater wollte schon einsteigen, als er erst Johann Waldner, dann den neuen Kutscher ansah. »Herr Sonntag, Sie fahren mit uns. Eugen, du folgst uns mit dem Leiterwagen.« Sonntag überragte alle an Körpergröße, sogar Caspers. »Waldner, Sie fahren Kilian entgegen. Der Doktor soll nicht erst hierherkommen. Sie sollen direkt zur Unfallstelle fahren. Umgehend!«
Konstantin, sein Vater und auch Alexander stiegen in die Kutsche und folgten dem Leiterwagen.
Am Waldsaum stiegen sie ab. Die letzten Meter führten durchs Dickicht, wo sie über morsches Totholz, abgebrochene Äste und Teppiche aus Farn stiegen. Der Geruch feuchter Erde, die in ihrem Zersetzungsprozess den fruchtbaren Boden nächster Generationen vorbereitete, stieg Konstantin in die Nase. Der Geruch der Heimat.
Donatus von Auwitz-Aarhayn lag im nassen, modrigen Laub des Vorjahres und atmete pfeifend. Papa kniete sich zu Großvater, der wie ein fernes Echo seiner selbst wirkte. Die Haut verschrammt, die weißen Haare verklebt. Das Gesicht bleich. Die Lider flatterten. Im Blick lag Panik. Konstantin schaute beiseite. Als hätten seine gut gemeinten Gedanken sich zu etwas Bösem verschworen. Das hatte er keinesfalls gewollt. Ein Schauer lief durch seinen Körper.
Der Patriarch war ein Bär von einem Mann, ein stattlicher ostelbischer Landjunker von Bismarck’schem Format. Dicker Schnauzer und Tränensäcke unter den eisblauen Augen. Altersmilde schien ihm unbekannt. Sein Wettermantel lag verrutscht unter ihm, der schwarze Filzhut wenige Meter weiter neben dem schweren Eichenstock. Quer über seinem Oberkörper lag ein gewaltiger Holzstamm.
Die zwei deutschen Doggen des Patriarchen waren an einem Baum angeleint. Sie jankten nervös. Ihr Herrchen lag verletzt auf dem Boden. Die gequälten Laute ließen Schlimmes erahnen. Zwei Waldarbeiter standen so schuldbewusst wie verängstigt daneben.
»Der Baum ist einfach so umgestürzt.«
Großvater ging häufig querfeldein, um den Holzbestand zu inspizieren. Eine seiner Marotten.
»Er ist morsch. Man kann es sehen«, verteidigte sich der andere. »Wir waren auf dem Rückweg, den letzten Stamm zum Polterplatz bringen.« Wie zum Beweis zeigte er auf den eindrucksvollen Kaltblüter, der ein paar Schritte entfernt auf dem Waldweg wartete, eine gefällte Kiefer am Zuggeschirr.
Konstantin schaute zum Vater, der eindringlich auf den Verwundeten einredete. »Befestigt das Geschirr an dem Baumstamm«, bellte er. Sie hätten es längst tun können. Wertvolle Zeit war vertan.
Einer der Waldarbeiter, ein gedrungener, stämmiger Kerl mit roten Wangen, trat nahe an ihn heran.
»Gnädiger Herr, das hatten wir zunächst auch im Sinn, aber wir befürchten …« Er verzog sein Gesicht und zeigte mit dem Kinn Richtung Baumkrone.
Konstantin begutachtete die Situation. Dass der Großvater nicht gänzlich zerquetscht worden war, verdankte er einigen Felsbrocken, auf denen die Krone der maroden Eiche gelandet war. Er schaute zum anderen Ende, wo Sonntag, der neue Kutscher, den gebrochenen Rumpf des Baumes untersuchte. Zerrissen und zersplittert – eine gefallene Naturgewalt.
»Hat es hier in den letzten Tagen gestürmt?«, fragte der Kutscher.
»Nicht so stark wie Anfang des Monats.«
In den ersten Maitagen hatte es in Teilen Europas einen erneuten Wintereinbruch gegeben. Hier im Norden, nahe der Ostsee, hatte er das Land besonders schwer getroffen. Frost, Schnee und heftige Stürme hatten die Region überzogen. Felder waren verwüstet. Bei vielen würde es Ernteverzögerung geben.
Sonntag blickte kritisch, als würde er etwas suchen. »Wir können den Stamm nicht zur Seite ziehen. Das würde Ihrem Großvater … Das wäre nicht gut«, beendete er den Satz. »Wir brauchen einen Hebel. Zusammen schaffen wir es, den Stamm anzuheben. Und zwei müssen den Grafen wegziehen.«
Konstantin nickte. Der Mann schien so findig zu sein, wie er hochgewachsen war. »Ja, einen Hebel. … Papa! Wie geht es ihm?«
Vater schaute auf. Seine Augen schimmerten feucht. »Es sieht nicht gut aus.« Zögerlich ließ er die Hand des Familienoberhauptes los und stemmte sich auf die Beine. »Ich fürchte, eine Rippe hat die Lunge erwischt«, flüsterte er.
»Kann er sprechen?«
Adolphis schnaubte. »Geflucht hat er.«
Der Kutscher löste die Seile vom Zuggeschirr des stämmigen Kaltblüters. Er zeigte auf eine nahegelegene Stelle. Konstantin erkannte sofort, was er vorhatte.
»Papa, du musst mit Alex zusammen Großvater wegziehen, während wir den Baum hochwuchten.«
Die Waldarbeiter schleppten das frisch geschlagene Holz in Position und schoben es neben dem Grafen unter dem morschen Gehölz durch. Sie ächzten. Eugen Lignau, der Stallbursche, der bisher nur verängstigt danebengestanden hatte, packte mit an. Sonntag half mit, bis sie den schlankeren Stamm geschickt positioniert hatten.
»Es muss schnell gehen«, mahnte Konstantin.
»Alexander, du packst ihn an der linken Schulter, ich an der rechten«, befehligte der Vater.
Konstantin postierte sich zwischen den Waldarbeitern und dem Kutscher, der ein Ende des gefällten Baumstammes gepackt hatte. Eugen stand auf der anderen Seite und drückte mit seinem Körper den Stamm in den Boden, sodass er nicht wegrutschen konnte.
»Auf drei!« Konstantin zählte.
Der Hebel setzte an. Holz knarrte auf Holz. Die Männer stöhnten. Der massige Stamm bewegte sich. Der Körper kam frei, wurde weggezogen, begleitet von gottlosen Flüchen und dumpfen Schmerzenslauten. Sie ließen den Stamm fallen und sprangen zur Seite.
Erst jetzt erlaubte Konstantin es sich, beim Großvater zu knien. Dessen Augen flimmerten, die Augäpfel durchzogen mit rot geplatzten Äderchen, im Mundwinkel verwischtes Blut. Der Atem ging pfeifend, der Brustkorb blieb flach beim Luftholen.
Der Anblick ging ihm durch Mark und Bein. Sein geliebter und gefürchteter Großvater. Es gab keine Erinnerung an eine Zeit ohne ihn. Wie alle anderen litt Konstantin unter der herrischen Art. Sein innerer Kampf – in den letzten Jahren überdies echte, wenn auch nur verbal ausgetragene Kämpfe – hatte Konstantin viel gelehrt. Er hatte gelernt, was er vom Leben zu erwarten hatte und was nicht. Zuoberst stand: Er wollte nicht so werden wie Großpapa. Das bedeutete aber nicht, dass er ihn entbehren konnte. Nicht jetzt schon. Nicht so unerwartet. Ein stechender Schmerz griff nach seinem Herzen. Konstantin ließ endlich den einen Gedanken zu, den er in den letzten Minuten verdrängt hatte: Was, wenn Großvater starb? Mit dem Daumen wischte er ihm liebevoll das Blut von den Lippen.
Donatus von Auwitz-Aarhayn war erst dreiundsiebzig Jahre alt. Für den Patron gab es keinen Grund, warum er zeitiger von der Welt abtreten sollte als der eiserne Kanzler, den er so verehrte. Über achtzig Jahre sollten es schon werden. Donatus dachte nicht daran, die Verantwortung an seinen Sohn zu übergeben – noch lange nicht. Dreiundsiebzig Jahre war kein Alter für einen von Auwitz-Aarhayn zu Greifenau.
Wie viele Dispute hatte Konstantin in den letzten Jahren mit ihm geführt? Über technische Alternativen. Über Änderungen, um effizienter, um ertragreicher zu arbeiten. Jedes einzelne Mal hatte er beim Alten auf Granit gebissen. Und Papa hatte häufig genug den Raum verlassen, so als ginge ihn das nichts an. Pures Desinteresse, oder war es ein Seitenhieb gegen seinen eigenen Vater, den Sturkopf, der seinem Zweitgeborenen ewig die Aufmerksamkeit verweigert hatte? Als Papas älterer Bruder vor Jahren plötzlich an Diphtherie gestorben war, hatte Donatus den jüngeren Sprössling in die Pflicht nehmen müssen. Doch der hatte sich schon an einen unnützen und freien Lebensstil gewöhnt, den er nicht mehr aufgeben wollte.
Alexander erschien mit einer Decke, die er neben dem Großvater ausbreitete. Konstantin nickte zustimmend, aber Vater zweifelte. »Er hat zu große Schmerzen. Wir dürfen ihn nicht bewegen.«
»Das müssen wir«, sagte Konstantin mit sanftem Nachdruck. »Er muss auf den Leiterwagen.« Aus den Augenwinkeln sah er, wie Eugen bereits die restlichen Decken auf der Holzpritsche verteilte.
Als würde diese Vorstellung die Kräfte des Vaters übersteigen, ließ er den Kopf hängen. »Seid um Gottes willen behutsam.«
Zu sechst zogen sie die Decke unter den malträtierten Körper und trugen ihn vorsichtig zum Leiterwagen. Der alte Patriarch stöhnte unentwegt.
Konstantin hockte sich zu ihm auf den Wagen. Die fleckige, runzelige Hand war eiskalt und steif. Wie seltsam es war, diesen so vertrauten Menschen zu berühren. Ein Klopfen auf die Schulter oder ein Schlag hinter die Ohren war die einzige Art des Körperkontaktes gewesen, die es bislang zwischen ihm und seinem Großvater gegeben hatte.
Das Stöhnen hielt an, während der Leiterwagen langsam über den Waldboden holperte. Als sie den Waldrand erreichten, kam ihnen die zweite Kutsche entgegen. Kilian, der Hausbursche, lenkte sie geschickt an die Seite.
Doktor Reichenbach kletterte sofort zum Verletzten hinauf. Er hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf, sondern untersuchte den alten Grafen sofort. Er betastete den Oberkörper. Die Laute, die der Großvater von sich gab, machten klar, wie es um ihn stand. Die Miene des Doktors verdüsterte sich. Als er aufblickte, blieb er stumm. Er schien nach gütigen Worten zu suchen, um das Schlimmste zu formulieren. Schließlich schüttelte er fast unmerklich den Kopf.
Vater verstand. »Bringen wir ihn nach Hause.«
Katharina mochte ihren Großvater, auch wenn er ihr gelegentlich Angst machte. Wenn ihm eine Sache nicht passte, donnerte seine Stimme über den Hof wie Gefechtslärm. Mehr als einmal hatte sie erlebt, wie ihr Großvater einem Pächter so zugesetzt hatte, dass der wie ein geprügelter Hund davongeschlichen war. Oft genug hatte sie dem alten Mann zugehört, wenn der von Zeiten geschwärmt hatte, in denen sein Vater die Bauern noch mit dem Ochsenziemer gezüchtigt hatte. Alle Welt hatte Angst vor ihm. Auch Konstantin und Nikolaus, ihre ältesten Brüder, schienen für ihn beständiger Anlass zum Tadel zu sein – von ihren Eltern ganz zu schweigen. Glücklicherweise war Großpapa zu ihr und Alexander, den beiden Jüngsten, nicht so herrisch.
Im Moment beschlich sie echte Beklemmung. Vorhin war Papa furchtbar bleich geworden, und Mama hatte die Hand vor den Mund geschlagen. Eine theatralische Geste, die sie von ihr gewohnt war, dieses Mal aber hatte es gewirkt, als wäre sie wahrhaftig bestürzt.
Großpapa war nicht mit nach Berlin gereist. Er hasste es, Grund und Boden zu verlassen. So waren Aufgaben, die er Papa übertrug, ausschließlich mit Reisen verbunden. Wann immer er es einrichten konnte, ließ er Geschäftspartner aufs Gut kommen. Ein Tag, an dem er den Fuß nicht auf die Scholle setzte, sei ein verlorener Tag. Dies sei der beste Ort auf Erden. Der einzige für ihn.
Indessen hatten die drei Wochen in Berlin Katharina die Augen geöffnet. Als hätte ein eiskaltes Wasserbad ihr den letzten Rest Kindheit abgewaschen und sie in ein neues Leben gestoßen. Hellwach und aufgeregt, so fühlte sie sich. Sie sah die Welt mit neuen Augen. Sie wollte ihr entgegenstürmen und sie einsaugen mit jedem einzelnen ihrer Atemzüge. Ihr Dornröschenschlaf war zu Ende.
Dann war der Tag der Abreise gekommen. Mit jedem Kilometer, den sie hinter sich gebracht hatte, hatte sie gespürt, wie das alte Leben nach ihr gegriffen und die eingeübte Ordnung eingefordert hatte. Jetzt würde sie wieder weggeschlossen, verborgen hinter Mauern, die Langeweile und Starrheit atmeten. Wie konnte sie in dieses eintönige Leben zurückkehren? In einen Alltag, in dem ein rascher Wetterwechsel die großmöglichste Abwechslung versprach. Auf die unerquickliche Spannung, die ihre Rückkunft für sie bereitgehalten hatte, hätte sie allerdings verzichten können. Überrascht spürte sie, wie die Vorfreude auf Veränderung der Angst vor einem drastischen Wandel wich.
Oben an der Balustrade der großen geschwungenen Treppe blieb Katharina stehen. Hauslehrer Matthis hatte sich unten in der Eingangshalle postiert, die Daumen in seine Hosenträger eingehakt, und observierte die Dienstboten. So stand er mit vorgestrecktem Bauch mitten im Weg und wippte auf seinen Füßen vor und zurück. Bertha, die Küchenmagd, kam mit zwei großen Koffern unter den Armen hinein.
»Schneller, schneller. Was soll denn die Familie denken? Ihr seid ja immer noch nicht fertig. Du arbeitest wie ein lahmer Gaul«, trieb Matthis sie an.
»Wie lange muss ich ihn noch ertragen?«, flüsterte Katharina leise. Sie schüttelte unwillig den Kopf, als könnte sie so seine Existenz auslöschen. Unten schleppte sich Wiebke, eins der Stubenmädchen, klein und schmal, mit einem einzigen riesigen Koffer auf dem gebeugten Rücken ab. Sie bugsierte ihn um Matthis herum. Eigentlich wäre das Tragen der Koffer die Aufgabe von Kilian gewesen, aber der war gerade mit wichtigeren Aufgaben betraut.
»Keine Müdigkeit vorschützen. Ich denke, das geht auch schneller.« Matthis liebte es, anderen Befehle zu erteilen. Oder Lektionen. Oder ihre Wortwahl zu verbessern.
»Ich denke, Herr Hauslehrer, wenn jemand dem Personal sagt, dass es schneller arbeiten muss, dann bin ich es.«
Das war die kratzende Stimme von Caspers. Schnell zuckte Katharina zurück. Wenn die beiden Männer sie nicht entdeckten, würde sie vielleicht das Vergnügen haben, bei einem Hahnenkampf zuschauen zu können. Heimlich drückte sie sich in den Hintergrund.
»Ja, aber die Herrschaften … Es soll doch schnell gehen. Und gerade jetzt, wo … es ein Unglück gegeben hat.«
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie ein für alle Mal die Anleitung der Dienstboten mir überließen.«
Matthis, dem man von hier oben gut auf die immer lichter werdenden rotbraunen Locken schauen konnte, schniefte laut. Das schmeckte ihm überhaupt nicht. Caspers hatte ganz klar das Sagen über das Hauspersonal und er nur über die jungen Herrschaften. Und mit ihnen musste man leider sehr viel nachsichtiger umgehen, als ihm lieb war.
Katharina vermutete, dass er davon träumte, sie genauso zu dressieren wie einen Hund, dem man einen Stock zum Apportieren hinwirft. Aber das war ihm leider nicht gestattet. Und seit Papa vor zwei Jahren nach einem unschönen Vorfall, bei dem Alexander eine maßgebliche Rolle gespielt hatte, dem Hauslehrer den Einsatz des Rohrstockes verboten hatte, blieb ihm seine Lieblingsbeschäftigung verwehrt. Damals hatte die Fehde zwischen ihm und Caspers angefangen. Auch wenn die Geschwister keinen von beiden so recht leiden konnten, waren sie schon aus Prinzip auf Caspers Seite.
»Und ich sehe hier nur einen, der sich nicht schnell bewegt«, setzte Caspers nun nach.
Das war zu viel. Hörbar echauffiert drehte Matthis sich um und ging schnaubend davon.
Katharina grinste breit. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass es zwischen den beiden ganz schön hoch hergegangen sein musste während ihrer Abwesenheit.
»Katharina!« Ihre Mutter trat gemeinsam mit Mamsell Schott aus der Bibliothek und bedachte sie mit einem strafenden Blick. »Geh dich umziehen. Ich weiß nicht genau, wann es unter diesen Umständen Essen geben wird, aber du solltest lernen, vorbereitet zu sein.« Gräfin Feodora von Auwitz-Aarhayn eilte durch die Eingangshalle. »Ich muss dringend in den Park. Ich muss wissen, dass es meinen Rosen gut geht.«
Katharina starrte ihr entgeistert nach. Niemand wusste genau, was mit Großpapa war, aber dass es schlimm sein musste, war allen bewusst. Und das Einzige, was ihrer Mutter in den Sinn kam, waren ihre geliebten Blumen.
War sie denn besser? Sie selbst hatte sich doch auch an dem Gefecht der beiden Gockel ergötzt. Noch etwas anderes verursachte ihr ein schlechtes Gewissen: Mehr als der mögliche Tod ihres Großvaters umklammerte eine Sorge ihre Brust: Die Aussicht, ihr Vater würde die Leitung des Gutes übernehmen. Was, wenn er nicht auf Konstantin hören würde?
Mit einem letzten Blick ins prunkvoll gestaltete Vestibül wandte sie sich ab und ging in den Westflügel. Sie würde der Anweisung ihrer Mutter besser schnell nachkommen.
Ihre Zimmertür ging auf, gerade als Katharina ihren Reisemantel ablegte. Clara war sofort bei ihr und half ihr mit dem Hut.
»Und, haben Sie sie gesehen? Prinzessin Viktoria Luise? Was für ein Hochzeitskleid hat sie getragen?« Clara war das andere Stubenmädchen und wechselte sich mit Wiebke ab, ihr beim Ankleiden zur Hand zu gehen. Um ihre Mutter kümmerte sich meistens Mamsell Schott.
»Leider nein. Ich durfte nicht mit ins Berliner Schloss. Ich bin ja noch nicht offiziell bei Hofe eingeführt.« Bedauerlicherweise hatte Katharina die Prinzessin nur von Weitem gesehen. Bei den Feierlichkeiten waren nur ihre Eltern und Konstantin anwesend gewesen. Mama hatte ihr allerdings in aller Ausführlichkeit am nächsten Tag davon berichtet.
»Meine Mutter hat mir aber davon erzählt. Es war weiß, und sie hatte wohl einen langen, luftigen Schleier unter der großen Krone. Der Saal muss prachtvoll geschmückt gewesen sein. Die Damen haben alle ihre neuen Kleider vorgeführt. Mama auch. Alle trugen ihre besten Schmuckstücke, und die Männer sind in Gardeuniformen gekommen. Oh, wäre ich nur einen Tag im Leben so schön wie Prinzessin Viktoria Luise.«
Clara erwiderte ihr sehnsuchtsvolles Lächeln. Für einen Augenblick gaben sich die beiden unterschiedlichen Mädchen dem gleichen Traum hin.
Katharina schüttelte den Kopf. »Es gab sogar Kinematographen.«
»Was ist das?«
»Das sind Apparate, mit denen ganz viele Fotografien hintereinander geschossen werden. Und wenn man sie schnell hintereinander zeigt, nennt man es Film.«
»Ah so, Filme. Davon habe ich gehört. Ich würde gerne mal in ein solches Lichtspieltheater gehen.«
»In Stettin gibt es eins, hat Konstantin erzählt.«
»Haben Sie schon mal einen Film gesehen?«
»Leider nein. Aber Papa war mit Mama einen Abend im Varieté, wo sie neben anderen Kuriositäten auch Filme gezeigt haben. Es soll sehr echt aussehen.«
Clara runzelte die Stirn. Sie wusste wohl nicht recht, wie sie sich das vorzustellen hatte. »Und was haben Sie sonst noch alles erlebt?«
»Berlin ist so anders. Es gibt so viele Kraftwagen, viel mehr als bei uns. Und die Straßenbahnen fahren durch die Stadt, mitten auf der Straße. Man muss vorsichtig sein, dass man nicht unter die Waggons gerät. Und dann wieder gibt es Züge, die fahren hoch oben über den Straßen.«
»Züge im Himmel?«
»Nein, nicht im Himmel, eher wie Brücken mitten zwischen den Häusern. Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben. Es gibt auch Züge in der Erde. Die fahren unter der Stadt, unter den Häusern!«
»Davon habe ich gelesen. Ich frage mich, was passiert, wenn die Häuser einstürzen.«
»Deswegen durften wir auch nicht mit. Konstantin und Vater haben sich den Bahnsteig der Untergrundbahn am Viktoria-Luisen-Platz angeschaut. Ich wäre zu gerne dabei gewesen. Ach, es gibt so viele aufregende Dinge in Berlin. Es war einfach überwältigend.« Während Clara ihr das Kleid aufknöpfte, ließ Katharina ihre Eindrücke Revue passieren.
Der bewegendste Vorfall war zu demütigend für Mama gewesen, als dass Katharina diese Episode erzählen durfte. Da außer Konstantin noch niemand von ihnen je mit einer Straßenbahn gefahren war, hatte Papa Billetts für die ganze Familie gelöst. Währenddessen verursachte Mama weiter hinten einen kleinen Tumult, weil sie – eingezwängt vom Korsett und behindert durch ihre lange Schleppe – es nicht schaffte, auf das Podest der Straßenbahn zu steigen. Alexander und Konstantin halfen unten, als plötzlich eine schmutzige Männerhand nach ihr griff und sie hochzog. Der Arbeiter wollte nur helfen, aber Mama lamentierte lautstark, was die Aufmerksamkeit des Schaffners erregte. Er kam nach hinten und forderte Mama zu allem Überfluss auf, ihre Hutnadel während der Fahrt aus dem Hut zu nehmen. Natürlich kam sie der Aufforderung nicht nach. Nicht einmal der Hinweis auf einen überaus blutigen Unfall, der sich vor wenigen Wochen beim Bremsen einer Straßenbahn ereignet hatte, konnte sie umstimmen. Daraufhin nötigte der Schaffner sie, den Waggon wieder zu verlassen. Man dürfe ansonsten nicht weiterfahren. Mama empörte sich vernehmbar. Auch Papas Einschreiten änderte die Haltung des Schaffners nicht. Unmut machte sich breit. Die Leute wollten weiterfahren. Eine Frau schimpfte mit Mama und ließ sich über ihr Gehabe aus, bis die Gräfin empört die Straßenbahn verließ, was wiederum eine Weile dauerte. Die Schleppe ihres Kleides hatte sich auf einer Stufe verfangen und war eingerissen. Ein absolut entwürdigender Vorfall. Nein, davon konnte Katharina gegenüber einer Dienstbotin kein Wort verlauten lassen.
»Wir waren einen ganzen Vormittag im Kaufhaus Wertheim. Ein glitzernder Kunsttempel mit Hunderten von Spiegeln und buntem Glas überall. Es soll das größte Warenhaus in Europa sein. Überhaupt ist in dieser Stadt alles groß. Riesige Häuser und überall breite, gepflasterte oder asphaltierte Straßen. So viel Stein, rundherum nur Stein, und die Häuser sind alle so hoch. Mama und Papa sind alle paar Tage mit uns im Tiergartenpark prominiert. Damit wir frische Luft bekommen. Überall sind Leute, egal wohin man geht. Immer ist etwas los. Auf der Prachtallee Unter den Linden und auf der Friedrichstraße ist ein exklusives Geschäft neben dem anderen, Hunderte von Metern auf beiden Seiten. Was immer auch irgendjemand in der Welt produziert – dort kann man es kaufen. Unfassbar. Die Gehsteige sind bevölkert von fliegenden Händlern mit ihren Bauchläden und Blumenfrauen und Ständen mit exotischem Obst. Vater hat an einem halten lassen. Wir haben eine Ananas gekauft, und für jeden gab es eine Banane.«
»Eine Ananas? Was ist das?«
»Eine Frucht aus den Südsee-Kolonien. Sie soll sehr süß schmecken, wenn sie richtig reif ist, aber unsere hat nicht besonders gut geschmeckt. … Oh, das muss ich dir erzählen. Zar Nikolaus hat eine Automobilfahrt durch die Stadt gemacht. Und dann waren dort die Anarchisten.«
»Anarchisten? Mitten in Berlin?«
»Sie haben gegen das – wie sie es nennen – blutige russische Zarensystem demonstriert.« Katharina lachte auf. Es klang absurd, den Zaren in einem solchen Licht zu sehen. »Mama hat sich furchtbar aufgeregt. Sie hat fast die ganze Nacht nicht geschlafen.«
»Clara!«
Clara ließ sofort das Kleid los und drehte sich um. »Jawohl, Mamsell Schott.«
»Hatte ich dir nicht eine andere Aufgabe aufgetragen?«
»Aber Wiebke war gerade doch schon …«
»Verteilst du jetzt die Aufgaben hier?« Ihre Augen wurden schmal. Mamsell Schott hörte nicht gerne Widerworte.
Clara machte einen Knicks und lief sofort davon. »Jawohl, Mamsell Schott.«
»Komtess, Wiebke ist sofort da.« Die Mamsell verließ den Raum.
Katharina seufzte leise. Mit Clara hatte sie immer viel mehr Spaß als mit Wiebke. Aber natürlich würde sie der Mamsell nicht in die Verteilung ihrer Aufgaben dreinreden. Stumm stand sie da und schaute auf die stoffüberzogenen Wände, die ganz in Mamas Lieblingsfarben gehalten waren: Rubinrot und Smaragdgrün. Goldene Trotteln baumelten an den Brokatvorhängen. Zu schwer, zu tragisch, befand Katharina zum ersten Mal.
Wiebke kam herein und nickte schüchtern. Die beiden Stubenmädchen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Clara war pausbäckig, hatte schwarze Haare und braune, engstehende Augen. Sie war lebhaft und wollte immer alles wissen. Wiebke dagegen war ein stilles Wasser. Sie hatte feuerrote Haare, die sie immer streng nach hinten frisierte.
Katharina vermutete, dass sie sie am liebsten ganz versteckt hätte, aber dafür war die Haube, die die Stubenmädchen trugen, nicht groß genug. Wiebke war schmal gebaut und hatte eine Haut, so weiß wie Sahne. Im Sommer bekam sie leicht Sommersprossen, für die sie sich zu schämen schien. Allerdings waren ihre schönen grünen Augen bemerkenswert. Katharina hatte selber grüne Augen, so wie ihre Mutter, aber sie strahlten lang nicht so hellgrün wie Wiebkes. Und da war noch etwas, was sie mit dem Mädchen sofort getauscht hätte. Das Stubenmädchen wirkte schon so erwachsen, dabei war sie erst vierzehn, kaum zwei Jahre älter als Katharina.
»Komtess.« Wiebke deutete einen Knicks an. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, fuhr sie fort, das Kleid aufzuknöpfen.
Katharina hatte so viel gesehen, sie sprudelte förmlich über vor lauter Neuem. »Die Hochzeit war unbeschreiblich. Alles, was Rang und Namen hat, war dort in diesem Saal versammelt. Der britische Kronprinz und der russische Zar waren auch dort. Meine Mutter hat mir alles erzählt. Wie schade, dass ich noch zu jung bin und nicht dabei sein durfte.«
»Es war sicher ein rauschendes Fest.«
»Aber zwei Tage zuvor durfte ich mit auf das Jubiläumsfest anlässlich Wagners hundertstem Geburtstag. Ich durfte das grüne Prinzesskleid von meiner Schwester tragen. Es war himmlisch. Stell dir vor, Ludwig von Preußen hat mir seine Karte gegeben.«
»Wer ist das?«
»Einer der Neffen des Kaisers.«
»Oh.« Wiebke war so einsilbig wie immer.
Einen Wimpernschlag lang sonnte Katharina sich in der Erinnerung, aber eilig beschlich sie wieder dieses ungute Gefühl. Etwas an Ludwig von Preußen hatte ihr Angst gemacht. War sie so sehr beeindruckt von diesem großen Namen? Oder war es doch etwas in seinem Gesicht gewesen, das ihr eine Gänsehaut über ihre Arme hatte laufen lassen?
Ihr Kleid glitt zu Boden. Sie trat heraus. »Bitte schnür mir das Korsett weiter.« Mama hatte es nicht einmal auf der anstrengenden Reise erlaubt, dass sie das Korsett bequem schnürte. Zu viel Luftigkeit würde ihre Taille verderben. Da kannte sie keine Nachsicht. Rasch zog Wiebke ihr noch das Unterkleid aus. Dann kam der Korsettschoner fort, und endlich fing Wiebke an, ihr Korsett zu lockern.
»Mach es ganz auf – wenigstens für einen Moment.« Katharina atmete tief durch. Ihr halbes Leben trug Katharina diesen Käfig nun schon. Zu lange, wenn es nach ihr ging. In Berlin hatte sie vereinzelt modern gekleidete Damen gesehen, die das Korsett bereits abgelegt hatten und diese befreiende Reformmode trugen.
Katharina setzte sich aufs Bett, und Wiebke rollte ihr die Strümpfe von den Beinen. Nicht mal das konnte sie alleine machen mit diesem vermaledeiten Teil, das ihr alle Freiheit raubte.
»Soll ich Ihnen das schöne Rote herausholen?«
Katharina nickte, doch dann fiel ihr der Großvater ein. Rot wäre doch gerade etwas unschicklich. »Nein, bitte bring mir das Dunkelblaue.« Sie wartete, bis Wiebke wenig später mit dem Kleid und einem frischen Unterkleid erschien. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Damenschneidereien und Herrenausstatter es gibt. Mama hat drei neue Kleider für mich bestellt.« Ihre Augen glänzten. »Ein weißes Tageskleid für den Sommer, ein elegantes Abendkleid in Russischgrün mit Spitze und schimmernden Glasperlen abgesetzt. Und dann noch eins aus hellblauem Chintz mit feinsten Chiffonärmeln und Pailletten und edlen Stickereien.«
»Das muss aufregend sein.«
Klang die Stimme des Stubenmädchens bewundernd oder resigniert?
»Ja, sehr.« Enttäuscht dachte Katharina daran, dass Clara jetzt sofort nach dem Schnitt gefragt hätte und wie die Ärmel aussahen. Und überhaupt, wie denn in Berlin die neueste Mode sei. Vielleicht sollte sie Mama fragen, ob Clara nicht offiziell ihre Kammerjungfer werden könnte. Natürlich würde man nicht Kammerjungfer sagen, denn das bedeutete, dass sie mehr Geld bekommen würde. Andererseits war Wiebke immer sehr gründlich und viel geschickter im Frisieren. Bei Clara verlor sie häufig schon nach zwei Stunden die Haarnadeln. Wenn Wiebke nur nicht so zurückhaltend wäre.
»Ich brauche endlich keine bauschenden Röcke mehr zu tragen. Keine elegante Dame in Berlin trägt das noch. Mutter hatte letztlich ein Einsehen. Sie hat sich selbst neue Garderobe bestellt.«
Katharina freute sich ungemein auf die neuen Kleider. Zwei Blusen und einen Rock hatte sie direkt mitnehmen können, ebenso ein Paar neue Stiefel. Alles war sehr viel moderner als die Kleidung, die sie bisher trug. Ihr fiel ein, dass sie bei dieser Gelegenheit einige ihrer alten Kleider ausmustern und für Weihnachten zurücklegen sollte. Sie würden an die Dienstmädchen gehen. Wenn sie die eleganten Spitzen abtrennten, könnten sie die Kleider gut zum sonntäglichen Gottesdienst tragen. Ansonsten bot sich den Bediensteten eher selten eine Gelegenheit, den Gutshof zu verlassen.
Sofort kam ihr der neue Kutscher in den Sinn. Immerhin hielt ihre Rückkehr wenigstens einen unverhofften Lichtblick bereit. Schon beim ersten Anblick war sie gebannt von ihm gewesen. Groß gewachsen war er und hatte wunderschöne strahlende Augen. Wenn Katharina sich jemals einen Prinzen vorgestellt hatte, der sie erretten würde, dann hatte er sicher so ausgesehen wie der neue Angestellte. Er musste während ihrer Abwesenheit gekommen sein. Mehr hatte sie bei der kurzen Begrüßung am Bahnhof nicht mitbekommen, als er sich zusammen mit Johann Waldner um ihre Koffer gekümmert hatte.
»Wie ist er denn so, der Neue?«
Wiebke, die gerade frische Strümpfe aus der Kommode holte, zuckte lakonisch mit den Schultern. Trotzdem entging Katharina nicht das kurze Lächeln, das über ihr Gesicht huschte. Auch das Hausmädchen fand den neuen Kutscher attraktiv. Wie sollte es auch anders sein?
»Ich kann noch nicht viel über ihn sagen. Er ist erst gestern Abend spät angekommen, und heute Morgen war er schon sehr früh auf und hat auch nicht mit uns zusammen gegessen. Er war den ganzen Tag über im Stall bei den Pferden und den Kutschen. Ich denke, er wollte heute bei Ihrer Familie wohl einen guten ersten Eindruck machen.«
Katharina schmunzelte. »Das ist ihm sicher gelungen.«
Der Regen hatte endlich aufgehört, und die Sonne stand tief. Ein warmes goldoranges Licht umhüllte das Herrenhaus. Feingelbe Wolken schmückten den Himmel in der Ferne, so verspielt, wie es sonst nur ein Maler verstanden hätte. Katharina liebte ihr Zuhause, aber urplötzlich kam ihr der Landsitz wie ein steinernes Symbol eherner Traditionen vor, die sie gefangen hielten. Selten genug kam sie weiter hinaus als in eines der nahe gelegenen Dörfer auf einer nachmittäglichen Kutschfahrt. Neben Berlin waren Stettin und Swinemünde die einzigen größeren Städte, die sie kannte, abgesehen von Besuchen bei Mamas Familie in Sankt Petersburg. Doch Sankt Petersburg war so ganz anders als Berlin. Allerdings war sie das letzte Mal vor fast zwei Jahren in der russischen Metropole gewesen und hatte die Stadt noch mit den Augen eines Kindes gesehen. Und nicht einmal Swinemünde, diese prachtvolle Stadt an der Ostsee, die sie mit der Familie einmal im Jahr zu den Kaisertagen besuchte, hatte auch nur annähernd das Flair wie Berlin. Die Hauptstadt war so lebendig, so quirlig, so modern.
Als wollte der Himmel ihren Abschied beweinen, hatte es fast den ganzen Tag geregnet. Seit sie heute früh am Stettiner Bahnhof in ihren Salonwagen gestiegen waren, war es mit der Freiheit vorbei. Konstantin und Alexander hatten das letzte Stück Weg ab Stargard in der zweiten Kutsche mitfahren dürfen. Wie sie sie beneidet hatte! Mamsell Schott war wirklich eine amüsantere Unterhaltung als ihre Mutter, die sie unentwegt gemaßregelt hatte.
Katharina setzte sich aufs Fensterbrett. Näher beim Haus und doch etwas abseits gelegen war ein Hügel aufgeschüttet, unter dem sich das Eishaus verbarg. Angespannt lief ihr Blick über die Weide hinaus. Dahinter lag die gepflasterte Chaussee, die am Dorf vorbei und weiter nach Stargard führte. Pferde grasten entfernt auf einer Koppel. Wald und Wiesen und Felder, so weit das Auge reichte. Nichts, was sie nicht schon Tausende Male gesehen hatte.
Auf dem Kiesweg waren die Kutschen zu hören. Da der Trakt mit den Zimmern der Familie seitlich vom Haupttrakt lag, konnte sie nur einen kurzen Blick erhaschen, als die Kutsche auf dem Kiesboden der Auffahrt wendete.
Sie rannte zur Balustrade oberhalb der Eingangshalle. Sechs Männer trugen Großpapa auf einer Decke herein. Konstantin wies die Männer an, wie sie sich auf der Treppe am besten bewegten, sodass der alte Mann möglichst wenig Erschütterung spüren würde. Erstarrt beobachtete Katharina die Szene. Papa und Doktor Reichenbach blieben unten stehen. Ihr Vater murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte. Der Doktor nickte und folgte sogleich dem Kranken, aber Papa sah sich nach Caspers um.
»Veranlassen Sie, dass Wittekind umgehend geholt wird.«
Caspers verbeugte sich knapp und besprach sich eilig mit Eugen, der wartend am Eingang stehen geblieben war. Der nickte, und die beiden verschwanden sofort.
Als hätte jemand eine schwere Last auf die Schultern ihres Vaters gelegt, stieg er die Treppe hoch.
Papa entdeckte sie. »Kleines.« In seiner Miene konnte sie erkennen, dass es schlecht um den Hausherrn stehen musste. Sehr schlecht, wenn Papa sogar Pastor Wittekind rufen ließ.
Ihr Vater nahm sie kurz in den Arm. »Bereite dich auf das Schlimmste vor.« Er ließ sie los und wischte sich diskret über seine Augen. »Lass uns bitte Kaffee hochbringen. Und etwas zu essen. Ich werde den Abend oben verbringen.« Dann folgte er den anderen.
Zum allerersten Mal in ihrem Leben verstand sie den Satz, den ihre frühere Gouvernante ihr jahrelang vorgebetet hatte, wann immer sie zu direkt einen Wunsch geäußert hatte: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Es könnte in Erfüllung gehen. Sie hatte sich so sehr eine große Veränderung in ihrem Leben herbeigesehnt. Und nun schien es, als würde ihr innigster Wunsch umgehend wahr.
Unten in der Küche wurde bereits in aller Hektik das Abendessen vorbereitet. Katharina gab Frau Hindemith, der Köchin, Bescheid, weil sie Mamsell Schott nicht finden konnte. Gerade kamen Kilian und der neue Kutscher die Treppe ins Untergeschoss herunter. Katharinas Herz hüpfte. Wie gut er aussah. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, sich mit ihm bekannt zu machen, worauf sie schon seit ihrer Ankunft am Bahnhof brannte. Dann sah sie, dass ihm zwei Waldarbeiter folgten. Es war vielleicht nicht der passende Augenblick. Doch er blieb stehen und nahm seine Kappe ab.
»Komtess, wenn ich mich kurz vorstellen darf: Albert Sonntag. Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag.« Für einen winzigen, glückseligen Moment lächelte er Katharina zu.
»Gewiss.« Oh Himmel, was sollte sie nur sagen? »Ich meine, ich weiß. … Wie bedauerlich, dass an Ihrem ersten Tag solch ein Unglück passiert.«
»Das ist in der Tat sehr unerfreulich.« Er sah so aus, als wollte er noch etwas nachsetzen, sagte jedoch nichts weiter.
»Wie geht es meinem Großvater? Wissen Sie, was ihm fehlt?«
Der schöne Mund mit den vollen weichen Lippen zuckte, als wollte er nichts Falsches sagen. »Besser, Sie warten auf den Befund des Doktors.« In seiner Miene lag ehrliches Mitgefühl.
»Oh … nun. Das werde ich. Danke.« Meine Güte, was hatte er für strahlend blaue Augen! Verhuscht schaute sie zur Seite, als hätte er sie ertappt.
Die zwei Männer hinter ihm scharrten mit den Füßen. Er drehte sich halb zu ihnen. »Ihr Herr Vater sagte, wir sollten uns alle hier unten aufwärmen und unsere Kleider trocknen.«
»Ja, das wird das Beste sein.« Erst jetzt bemerkte sie seine verschmutzte und durchnässte Livree. Die beiden Arbeiter sahen ähnlich mitgenommen aus. Kilian saß schon in der Leutestube am Ofen, und Bertha brachte ihm gerade etwas Warmes zu trinken. »Tun Sie das.«
Ihre Hände zitterten, als sie über den Handlauf der Treppe glitten und sie die Stufen hocheilte. Meine Güte, was für ein merkwürdiges Gefühl ergriff da von ihr Besitz? Es war ihr gänzlich neu.
Als sie oben in der Eingangshalle ankam, wusste sie nichts mehr mit sich anzufangen. Unschlüssig blieb sie stehen. Verdeckt in einer Nische lag der Speiseaufzug. Sie hörte ein leises Quietschen. Er war, vermutlich beladen mit dem gewünschten Kaffee, auf dem Weg in den ersten Stock. Katharina trat mitten ins Vestibül. Hinter der rückwärtigen Wand lag der große Ballsaal, der sich über zwei Etagen erstreckte. Im Westflügel, wo die Zimmer der Familie lagen, flitzte das kindliche Hausmädchen mit Ascheimer und Handfeger durch den Flur und wollte gerade herunterkommen. Als sie Katharina sah, drehte sie abrupt um. Jetzt, da die Familie zu Hause war, waren die Dienstboten wieder auf die Hintertreppe verbannt.
Das Mädchen lief beinahe in Mama hinein, die aus dem Garten zurück war und sich umgezogen hatte. Gräfin Feodora warf ihr einen erbosten Blick zu, doch ohne eine verbale Zurechtweisung rauschte sie von einem Gebäudeflügel in den anderen. Sie hatte es eilig.
Draußen hörte Katharina eine Kutsche. Eugen kam mit Pastor Wittekind. Bestimmt war er gerufen worden, um ihrem Großvater die Krankensalbung zu spenden und die Beichte abzunehmen. Das war ein schlechtes Zeichen. Beklommen begrüßte sie ihn und geleitete ihn den Weg bis zum Schlafzimmer des Großvaters.
Hier im Ostflügel waren die Wände in dunklen Farben gehalten. Seit sie denken konnte, residierte ihr Großvater im alten Trakt des U-förmig angelegten Anwesens. Hier hatte sich nichts verändert, nachdem ihre Großmutter vor acht Jahren gestorben war. Mama ließ ihre privaten Räumlichkeiten und alle Bereiche, in denen Gäste empfangen oder beherbergt wurden, alle paar Jahre modernisieren. Davon hielt ihr Großvater nichts, aber da er ihr den Haushalt überlassen hatte, sagte er dazu nichts. Nichts zur Ausstattung der Räume und zur Kindererziehung, aber bei allem anderen behielt er lautstark das letzte Wort. Ans Aufhören schien er keinen einzigen Gedanken zu verschwenden. Vater störte das nicht.
Katharina klopfte, und ohne ein weiteres Wort wurde Wittekind eingelassen. Sie selbst blieb unschlüssig vor der Tür stehen, die man ihr vor der Nase zumachte. Doch nur einen kurzen Augenblick später trat ihre Mutter mit Konstantin und Alexander heraus. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie die Kinder wegscheuchen.
»Kommt, lasst euren Vater alleine mit eurem Großvater.« Ungewohnt behutsam schloss sie die Tür.
»Was wird jetzt mit dem Gut?«
Feodora sah ihren jüngsten Sohn überrascht an. »Was meinst du damit?«
»Was, wenn er stirbt?«
»Alexander, was für eine dumme Frage! Ich muss mich doch sehr wundern. Dein Vater übernimmt natürlich das Gut.« Sie schob sich zwischen den Kindern hindurch und eilte den Gang hinunter.
»Talent soll ja oft eine Generation überspringen. Wohlan, Brüderchen. Ich gratuliere dir.« Alexander klopfte seinem älteren Bruder jovial auf die Schulter.
Als Konstantin ihm die Hand wegschlug, strich Alexander sich gelassen durch die strubbeligen Haare. Spöttisch lächelnd folgte er seiner Mutter.
Konstantins Blick wechselte zwischen der geschlossenen Tür und Katharina. Er ahnte die Befürchtungen seiner Schwester. »Es wird schon alles gut gehen. Papa hat ja noch uns.«
»Du meinst wohl dich! Alexander macht ohnehin nur Blödsinn, und ich … ich bin nur ein Mädchen.« Es klang bedauernd, aber im Moment fühlte Katharina sich genauso hilflos, wie Mama sie immer darstellte. Wenn Großpapa sterben sollte, dann würde sich hier vieles ändern.
Konstantins Gesichtsausdruck war unergründlich. So heftig er sich mit ihm streiten konnte, so sehr bewunderte er seinen Großvater. In ihrer Liebe für das Land waren sie vereint wie sonst niemand in der Familie. Großvater hielt große Stücke darauf, ein Junker alter Tradition zu sein. Genau deshalb geriet Konstantin wieder und wieder mit ihm aneinander. Ihr Bruder hatte Landwirtschaft studiert und allerlei Ideen mitgebracht, seit er vor ein paar Monaten von der Universität zurückgekehrt war.
Bisher hatte Donatus von Auwitz-Aarhayn Konstantins Vorschläge, und kamen sie Katharina noch so klug vor, mit Wucht und unfreundlichen Worten abgeschmettert. Es stand außer Frage, dass nur der Tod des Patriarchen den Weg in eine modernere Landwirtschaft frei machen würde. Wie erging es ihrem Bruder mit dieser Brücke, die so urplötzlich den Weg zu seinen Wünschen frei machte? Überwog bei ihm die Hoffnung oder die Trauer? So, wie sie Konstantin kannte, würde dieses Dilemma ihm das Herz zerreißen.
Zögerlich zog ihr Bruder sich von der Tür zurück, gerade so, als wollte er den Großvater nicht im Stich lassen. Katharina folgte ihm. Sie hoffte, dass Papa sie noch einmal hineinrufen würde, damit sie sich gebührend von ihrem Großvater verabschieden konnte, falls es zum Äußersten kommen würde. Aber sie sagte nichts, denn sie wollte nicht aussprechen, was sie befürchtete: dass Großpapa sterben würde.
Am Ende des Ganges bogen sie um die Ecke. Hier in Sichtweite des Vestibüls begann der Teil, in dem ihre Mutter den dekorativen Oberbefehl führte. Lebendige Farben fanden sich auf den Seidentapeten, nur die Vasen mit den üblichen prächtigen Bouquets fehlten. Ursprünglich war geplant gewesen, erst übermorgen nach Hause zu kommen. In der Eile, das Haus für ihre Rückkehr herzurichten, hatten frische Blumen offenbar an letzter Stelle der Aufgaben gestanden.
Ihr jüngster Bruder übersprang die letzten beiden Stufen der breiten Treppe und kam laut auf dem Boden auf.
»Alexander!«, rief Matthis ihn zurecht. Wie aus dem Nichts war der Hauslehrer unten in der Halle aufgetaucht. »Ein bisschen mehr Benimm, wenn ich bitten darf! Dein Großvater liegt im Sterben.«
Für einen Moment herrschte Stille, dann platzte es ungewohnt bissig aus Katharina heraus: »Das wissen Sie doch gar nicht, ob er stirbt!«
Erhobenen Hauptes stolzierte sie Richtung Westflügel, wo ihr Familientrakt lag. Doch dann drehte sie ab und lief neugierig zu einem Fenster, das nach vorne rausging. Sie sah, wie Konstantin das Haus verließ. Vermutlich würde er hinüberreiten zum Haus des Verwalters Thalmann und ihm Bescheid geben, was passiert war. Und er würde sich erkundigen, was in den letzten Wochen auf dem Gut vorgegangen war. Er war dreimal mehr ein Gutsherr, als ihr Vater es je sein würde. Trotzdem betete Katharina dafür, dass Großvater das Gut noch einige Jahre weiterführen würde.
»Ja, da brat mir doch einer ’nen Storch. Wo ist denn der Rest Sülze von gestern?« Irmgard Hindemith, die Köchin, reckte den kurzen Hals auf ihrem gedrungenen Körper in alle Richtungen. Verwundert schüttelte sie den Kopf. »Da war doch was übrig.«
Bertha stand hinter der Köchin in der Tür zur Fleischkammer. »Wirklich? Ich dachte, Kilian hätte sich das letzte Stück genommen.«
»So, ach so. Na ja dann.« Irmgard Hindemith sah sich in der Fleischkammer um. Hier lagerten die Würstchen und der Schinken. An Ketten, die an groben Fleischerhaken an der Decke angebracht waren, hingen zwei Kaninchen, denen man bereits das Fell abgezogen hatte. Daneben eine Kette Rügenwalder Teewurst. Das große Steingutfass mit den eingelegten Gurken stand an der Mauer. Die Steintöpfe mit dem Schweine- und Gänseschmalz der letzten Herbstschlachtung waren auf einem hängenden Holzbrett außerhalb der Krabbelkünste der Mäuse untergebracht.
Die Köchin griff nach dem Brett, das auf einem ebenfalls an Ketten hängenden Metallrost lag. Ein Stück Schinken lag unter einem Tuch. »Dann müssen wir den hier nehmen. Ich wünschte, die Herrschaften hätten uns früher Bescheid gegeben. Meine Bestellung kommt doch erst morgen. Und dann haben wir noch direkt fremde Leute im Haus. Als wenn ihre verfrühte Rückreise nicht schon Durcheinander genug wäre.« Sie reichte Bertha das Brett heraus. »Schneid noch eine grobe Landwurst auf.«
Bertha wartete, als Irmgard Hindemith den Kühlkeller nebenan aufschloss. Die Köchin griff sich das Butterfass und schloss die Tür wieder sorgfältig ab. In der Küche zurück, schnitt Bertha die Wurst, während die Hindemith Stückchen goldgelber Butter auf kleine Tellerchen verteilte. Jetzt, während der Löwenzahnblüte, war die Butter besonders gelb und geschmackvoll.
Die Herrschaften hatten sich zunächst noch alle vom Patron verabschiedet, bevor sie sich zum Abendessen gesetzt hatten. Jetzt war endlich die Dienerschaft dran, viel später als üblich.
Bertha hatte ihren ärgsten Hunger schon mit zwei Schmalzschnitten gestillt. Irmgard Hindemith würde es sowieso nicht merken. Wann immer etwas Unvorhergesehenes passierte, was die Köchin zur Eile antrieb, geriet sie schwer in Not. Zudem ließ ihre Gicht sie von Monat zu Monat langsamer arbeiten. Wenn Bertha nur schnell genug war und einen Teil ihrer Aufgaben übernahm, konnte sie so viel naschen, wie sie wollte.
»Nun schneid sie schon auf, dann sind wir fertig.« Die Köchin griff zu den Topflappen und brachte die schwere Blechkanne mit dem Hagebuttentee rüber in die Leutestube. Bertha schnitt die Wurst geschickt in dünne Scheibchen und drapierte sie auf einem Brett. Das übrig gebliebene Stück wickelte sie in ein Küchentuch ein, damit sich keine Mäuse daran zu schaffen machen konnten. Auch wenn sie in den fünf Jahren, die sie nun schon hier arbeitete, hier unten selten eine Maus zu Gesicht bekommen hatte. Dafür hielten sie sich zu viele Katzen.
Mit dem letzten Tablett folgte sie der Köchin in die Leutestube, in der die Dienstboten aßen oder sich aufhielten, wenn ihnen eine kurze Ruhepause vergönnt war. Das Abendessen war fertig, der Topf mit der sämigen heißen Graupensuppe stand vor Berthas Platz. Clara, Wiebke und Kilian saßen bereits. Irmgard Hindemith setzte sich an den Platz links vom Kopfende. Bertha würde später neben ihr Platz nehmen.
Mamsell Schott trat ein. »Clara, ich sage das jetzt zum letzten Mal. Wenn du dich noch einmal meinen Anordnungen widersetzt, bekommst du Sonntag keinen Ausgang.«
»Aber Wiebke war schon dabei, das warme Wasser hochzubringen.«
»Das tut nichts zur Sache. Ich hatte es dir aufgetragen. Und Wiebke sollte der Komtess beim Umziehen helfen. Ich dulde nicht, dass du dir immer die leichteste Arbeit heraussuchst. Du hast dich schon um das Gepäcktragen gedrückt.«
Clara schaute betreten drein, und Mamsell Schott ließ ihren Blick weiter über den gedeckten Tisch wandern. »Wir sind so weit, oder?«
Irmgard Hindemith nickte.
Als die Mamsell wieder den Raum verließ, sagte Wiebke entgegenkommend: »Mir ist es egal. Ich hätte auch das Wasser geschleppt.«
»Warum hast du mich dann verraten?«
»Hab ich doch gar nicht!«, verteidigte sich Wiebke. Clara machte trotzdem ein verdrossenes Gesicht.
Wiebke war fast ein Jahr länger im Dienst als Clara. Sie wusste mehr, sie konnte mehr, und sie war fleißiger. Alle wussten, die Rothaarige war ein ewiger Stachel im Fleisch des dunkelhaarigen Stubenmädchens.
Draußen erklang der Gong, der die Dienstboten zum Essen rief. Die Mamsell kam zurück. »Ist der Kutscher schon wieder da?«
»Er ist gar nicht gefahren. Sowohl der Doktor als auch der Pastor bleiben noch … die Nacht über.« In Kilians Stimme lag ein Unterton. Jeder wusste, wieso sie noch hier waren. Sie würden so lange bleiben, bis der alte Gutsherr gestorben war. Seit dem Nachmittag war die Stimmung gedrückt. Niemand wusste, was ein Wechsel in der Führung des Gutes mit sich bringen würde.
Die Mamsell wandte sich an Clara und Wiebke: »Dann richtet ihr beiden später zwei Gästezimmer her.«
Wiebke nickte, während Clara jetzt mit Kilian tuschelte.
»Was gibt es denn da Spannendes, was wir anderen nicht hören dürfen?« Theodor Caspers, der oberste Hausdiener, war hereingekommen und ließ sich am oberen Kopfende des Tisches nieder.
»Ich wollte nur wissen, wie die Gräfin mit dem russischen Zaren verwandt ist«, gab Clara kleinlaut zu.
»Nahe genug, damit wir ihr größten Respekt zollen.«
Bertha raunte ihr leise über den Tisch zu: »Aber nicht nahe genug, als dass sie im März auf das Bankett im Petersburger Winterpalais zum dreihundertjährigen Jubiläum der Romanows eingeladen gewesen wäre.«
Mamsell Schott warf ihnen beiden einen warnenden Blick zu und setzte sich rechts neben Caspers. »Überhaupt, in Tagen wie diesen will ich keinen Klatsch und Tratsch hören.«
Bertha hatte alles vom Tablett auf den Tisch verteilt und ließ sich neben der Köchin nieder. In diesem Moment trat Albert Sonntag ein. Sofort richteten sich alle Augen auf ihn. Bertha hatte ihm heute Morgen zwei Brote zum Mitnehmen geschmiert, nachdem er eins im Stehen in der Küche gegessen hatte. Für alle anderen war es das erste Mal, dass sie mit ihm zusammen essen würden. Er nickte kurz in die Runde und ließ den Blick über die längliche Tafel schweifen.
»Wo soll ich sitzen?«
»Ihr Platz ist neben mir«, sagte Mamsell Schott.
Bertha grinste verstohlen in die Runde. Wegen ihrer schiefen Zähne lachte sie selten mit offenem Mund, und wenn, dann hielt sie sich die Hand davor. Der Neue saß ihr genau gegenüber, auch wenn es ihr persönlich lieber gewesen wäre, wenn Hektor dort noch sitzen würde. Trotzdem, Clara würde platzen vor Neid. Sie warf ein vorwitziges Lächeln zum Tischende und behielt recht. Missgunst flammte in der Miene des Stubenmädchens auf. Der Kutscher umrundete die Tafel und zog sich einen Stuhl heran. Wortlos blickte er in die Runde. Clara kicherte leise, und Wiebke wurde rot.
»Kilian, hast du mir etwas zu sagen?«
Mit hochgezogenen Schultern drehte Kilian sich zu Caspers um. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam heraus.
»Nun, wenn du es nicht bemerkt hast. Du darfst nicht glauben, dass ich es nicht zur Kenntnis nehme. Die Schramme? Die Schramme auf dem braunen Koffer, als du ihn vorhin in die Wäschekammer zurückgebracht hast!«
Kilian stotterte: »Welchen braunen Koffer?« Er ahnte, was kommen würde.
»Den braunen Koffer, den der gnädige Herr Alexander bei sich hatte.«
»Der alte?«
Caspers hieb so mächtig mit der Faust auf den Tisch, dass das Besteck klirrte. »Es ist völlig egal, ob er alt ist. Du gehst gefälligst besser mit den Sachen um. Das ist nicht dein Eigentum. Ich zieh dir fünfzig Pfennig vom Lohn ab. Das wird dich lehren, demnächst vorsichtiger zu sein.«
Kilian presste wütend die Lippen aufeinander. Es war nicht das erste Mal, dass er Geld abgezogen bekam. Alle hier am Tisch wussten: Wenn er jetzt widersprach, würde sich die Summe verdoppeln. Er sagte also nichts und starrte auf den Brotkorb vor sich. Der Miene von Mamsell Schott nach zu urteilen, war sie ebenfalls nicht mit dem Vorgehen einverstanden. Aber auch sie hielt den Mund. Bertha war nur froh, dass sie so selten direkt mit Herrn Caspers zu tun hatte. Aber auch ihr hatte er schon Geld abgezogen und sogar einmal Frau Hindemith, als die eine Terrine aus teurem Porzellan hatte fallen lassen.
Hedwig, das dürre Hausmädchen, kam hereingeschlichen.
»Hast du deine Hände gewaschen?«
»Jawohl, Mamsell Schott.«
Die nickte und wartete darauf, dass die Kleine sich setzte. Das Mädchen, fast noch ein Kind, hatte strohige hellblonde Haare, die ihr immer etwas vom Kopf abstanden. Sie war beängstigend dünn. Meistens war sie die Letzte, die zu Tisch kam, und die Erste, die wieder aufstand. Für ihr zartes Alter arbeitete sie wirklich hart.
»Hast du das schmutzige Wasser runtergeholt?«
»Jawohl, Herr Caspers.« Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum zu hören war.
Für einen Moment war Ruhe am Tisch, dann räusperte sich Caspers und schaute auf die zwei leeren Plätze am Tisch. »Nun, wenn sie sich verspäten. Wir können heute nicht noch länger warten.«
Sie senkten ihre Köpfe, und Mamsell Schott sprach ein kurzes Gebet. Bertha verteilte die Graupensuppe, und alle griffen nach Brot und Butter. In den folgenden Minuten fiel kein einziges Wort. Niemand wusste, wann sein nächster Einsatz sein würde. Deswegen empfahl es sich, möglichst schnell so viel zu essen, dass man satt war.
Vom anderen Ende des Flures hörte man eine Tür. Dann wusch sich jemand in der Küche die Hände, und wenig später kam Eugen, der Stallbursche, herein.
»Hast du dir auch die Schuhe gut abgeputzt? Ich hab keine Lust, wieder hinter dir herzuputzen.«
Eugen nickte der Köchin stumm zu und setzte sich. Sofort griff er zu Brot und Butter. Bertha füllte ihm einen Suppenteller und reichte ihn hinüber.
»Was ist mit Johann?«, fragte Caspers.
Der Junge, der gerade seinen ersten Bissen nehmen wollte, legte die Brotscheibe neben den Teller. Hungrig starrte er auf die Scheibe. »Er kommt sich später etwas holen. Er muss noch arbeiten.«
»Du brauchst ihn nicht ständig zu verteidigen. Wir wissen sowieso alle, dass Johann sein Essen wohl wieder nur flüssig einnimmt.«
»Clara! Das war jetzt wirklich zu viel. Iss deinen Teller auf, mehr bekommst du nicht. Und dann machst du die beiden Gästezimmer alleine.« Mamsell Schott war nicht gewillt, solche Boshaftigkeiten bei Tisch durchgehen zu lassen.
Sauertöpfisch blickte das Stubenmädchen in die Runde. Ihr letzter Blick galt Wiebke, als wäre sie daran schuld.
Eugen schien darauf zu warten, endlich essen zu dürfen. »Es stimmt aber. Er ist noch mit dem jungen Gutsherrn bei Thalmann.«
»Ist schon gut«, sagte die Mamsell besänftigend. »Iss ruhig. Du kannst es gebrauchen. Und du auch, Hedwig.«
Für die nächsten Minuten herrschte gefräßige Stille, dann waren die Ersten so weit gesättigt, dass sie wieder anfingen zu reden. Die Mamsell kündigte große Wäsche für die nächsten Tage an. Das würde Hedwig, Clara und Wiebke betreffen, auch wenn die selbst nicht für das Waschen zuständig waren. Sie mussten das Drumherum organisieren.
Schließlich ließ sich die Unruhe nicht mehr verbergen. Es war Kilian, der den ersten Schritt wagte. Immerhin hatte der Neue bisher kaum einen Ton von sich gegeben: »Herr Sonntag, wo kommen Sie her?«
»Ich hab zuletzt auf einem Gutshof in der Nähe von Elbing gearbeitet.«
»Einem großen Gut?«
Der Kutscher nickte und nahm sich noch ein Stück Brot. »Es ist größer als dieses hier. Mehr Landwirtschaft, viel Vieh, Kühe und Schweinezucht. Aber vor allem lebt es von der Pferdezucht. Es ist ein Trakehner Gestüt.«
Alle machten große Augen. Das war etwas Besonderes. Bertha fragte sich, warum wohl einer von einer westpreußischen Trakehnerzucht in die hinterpommersche Einöde wechselte. Clara aß sehr langsam ihre Suppe. Natürlich wollte sie den spannendsten Teil des Abends nicht verpassen.
Amüsiert beobachtete Bertha, wie Clara den letzten Löffel Suppe auf dem Teller herumschob. Bestimmt war sie schon ganz kalt. Es war mal wieder typisch für Clara, sich so vorwitzig zu verhalten. Von allen weiblichen Bediensteten war sie die hübscheste, auch wenn sie nicht wirklich schön war. Bertha gönnte es ihr, dass sie am Tisch zurechtgewiesen wurde. Als Zweitjüngste nahm sie sich wirklich viel zu viel heraus. Bertha ließ sich einige Teller für den Nachschlag reichen. Claras sehnsüchtiger Blick galt der Schöpfkelle.
»Dann kennen Sie sich gut mit Pferden aus?«
Sonntag nickte bescheiden, während er sich dick die Butter auf die Schnitte strich. »Ich denke doch.«
»Wie lange waren Sie dort angestellt?«
Er räusperte sich, biss in die Schnitte und hob seinen Teller in Richtung Bertha. Die verstand und gab ihm einen Nachschlag. »Ein paar Jahre«, sagte er unbestimmt.
»Und davor?«
Albert Sonntag atmete tief ein und blickte unbestimmt im Raum umher: »Das hier ist mein drittes Gut, auf dem ich arbeite. Davor war ich in der Nähe von Kolberg schon als Kutscher tätig.« Es klang abschließend, so als wollte er nicht weiter über seine Lebensgeschichte sprechen. Stattdessen wandte er sich an Caspers: »Ich nehme an, ich bleibe die Nacht über in Bereitschaft?«
»Ja, das wäre das Beste.« Der oberste Hausdiener schien zufrieden mit der Arbeitsmoral des Neuen.
»Der Pastor heißt Wittekind? Egidius Wittekind?«
Erstaunt blickte die Mamsell von ihrem Teller auf. »Ja, wieso? Kennen Sie ihn?«
Sonntag schüttelte leicht den Kopf. »Ich war mir nur nicht sicher, ob ich den Namen vorhin richtig verstanden hatte. Und ich möchte den Herrn Pastor nicht mit einem falschen Namen ansprechen.«
Diese Erklärung schien alle zu beruhigen. Doch gerade die jungen Dienstboten warfen ihm weiter neugierige Blicke zu.
»In Elbing ist doch sicher mehr los als hier? Wieso haben Sie gewechselt?« Schließlich war bekannt, dass Danzig in der Nähe lag, und auch das schöne Königsberg war nicht weit entfernt.
»Kilian, eine solche Frage gehört sich nicht.«
Der Hausbursche schaute zerknirscht zu Mamsell Schott.
Nach wenigen Minuten stand der Neue auf und verabschiedete sich mit dem Hinweis darauf, dass er schauen wollte, ob die Pferde genug Heu hatten. Clara aß endgültig den letzten Löffel kalte Suppe und stand auf. Missgelaunt verließ sie den Raum.
Als Hedwig aufstehen wollte, sagte die Mamsell: »Nein, iss wenigstens den einen Teller. Du darfst nicht eher gehen, bevor dein Teller nicht leer ist.«
»Aber ich muss noch frisches Wasser hochbringen.«
»Das kann Kilian heute machen«, befahl Caspers. Er nickte ihm zu.
Der Junge stand auf und griff nach den letzten Scheiben der Landwurst.
»Kilian, lass das liegen. Du hattest gestern schon das letzte Stück Sülze.« Die Köchin schaute ihn tadelnd an.
»Ich? Aber das stimmt doch gar nicht.«
Die Köchin warf Bertha einen merkwürdigen Blick zu. »So? Ach, na gut. Ich dachte. Dann nimm es dir ruhig.«
Hedwig brauchte ewig, bis sie endlich den Teller leer gegessen hatte. Als alle fertig waren, brachte Bertha den großen Suppentopf in die Küche. Wiebke sah aus, als wenn sie dösen würde. Und auch Eugen starrte vor sich auf den Holztisch, zappelte aber unruhig mit den Beinen.