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Der große Abschluss der historischen Bestseller-Saga über ein Gut in Hinterpommern und seine adligen Herrschaften und Dienstboten von Erfolgsautorin Hanna Caspian Berlin 1929: Katharina erleidet einen schweren Schicksalsschlag. Plötzlich scheint ihr Traum von einem Leben als Ärztin in weite Ferne gerückt. Auch über Gut Greifenau hängen dunkle Wolken, denn die Weltwirtschaftskrise setzt seinen Bewohnern – der Grafenfamilie wie auch den Bediensteten – schwer zu. Graf Konstantin ändert angesichts der finanziellen Probleme und der bedrohlichen Lage immer mehr seine politische Haltung – sehr zum Ärger seiner Frau Rebecca. Die kümmert sich tatkräftig um ihre drei Kinder und um Katharina, die in ihrer Not auf das heimatliche Gut flüchtet. Diese freundet sich mit dem Gutsverwalter Albert an – und entdeckt sein Geheimnis … Derweil überschlagen sich in der Dienstboten-Etage die Ereignisse. Bertha ist zurück, und nicht nur sie bringt unerwarteten Zuwachs mit. Aus Amerika kommen überraschende Gäste ... Das fulminante Finale der Gut-Greifenau-Serie und der krönende Abschluss der Familiensaga! Band 1: "Gut Greifenau. Abendglanz" Band 2: "Gut Greifenau. Nachtfeuer" Band 3: "Gut Greifenau. Morgenröte" Band 4: "Gut Greifenau. Goldsturm" Band 5: "Gut Greifenau. Silberstreif"
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Seitenzahl: 835
Hanna Caspian
Roman
Knaur eBooks
Das fulminante Finale der Bestseller-Serie um Gut Greifenau und seine Bewohner
Berlin 1929: Katharina erleidet einen schweren Schicksalsschlag. Plötzlich steht sie alleine mit zwei Kindern da, und ihr Traum von einem Leben als Ärztin scheint in weite Ferne gerückt. Auch über ihrer Heimat Gut Greifenau hängen dunkle Wolken, denn die Weltwirtschaftskrise setzt der Grafenfamilie und den Bediensteten schwer zu. Graf Konstantin ändert angesichts der finanziellen Probleme und der bedrohlichen Lage immer mehr seine politische Haltung – sehr zum Missfallen seiner Frau Rebecca. Die kümmert sich tatkräftig um ihre drei Kinder und um Katharina, die vor ihrem Schwiegervater auf das heimatliche Gut flüchtet. Hier freundet sie sich mit dem Gutsverwalter Albert an – und entdeckt sein Geheimnis …
Der Abschluss der Saga um das deutsche Downton Abbey – spannend, leidenschaftlich und dramatisch!
Karten
Personenübersicht
Kapitel 1
23. Dezember 1928
Januar 1929
1. Februar 1929
Mitte Februar 1929
2. April 1929
Kapitel 2
12. April 1929
2. Mai 1929
Juni 1929
August 1929
September 1929
3. November 1929
Kapitel 3
November 1929
Weihnachten 1929
2. Januar 1930
Mitte Januar 1930
Ende März 1930
Kapitel 4
Anfang April 1930
Anfang April 1930
Mai 1930
Mai 1930
18. Juli 1930
Anfang August 1930
Kapitel 5
Mitte August 1930
Mitte August 1930
Mitte September 1930
13. Oktober 1930
Oktober 1930
Kapitel 6
Oktober 1930
November 1930
November 1930
22. Dezember 1930
Ende Dezember 1930
Kapitel 7
Januar 1931
Februar 1931
11. März 1931
April 1931
Mai 1931
Kapitel 8
10. Juli 1931
12. Juli 1931
14. Juli 1931
August 1931
September 1931
Kapitel 9
September 1931
Oktober 1931
Oktober 1931
6. Dezember 1931
Dezember 1931
Dezember 1931
Kapitel 10
23. Dezember 1931
28. Dezember 1931
Januar 1932
Januar 1932
Januar 1932
Kapitel 11
Ende Januar 1932
Februar 1932
Februar 1932
März 1932
17. April 1932
Kapitel 12
Anfang Juni 1932
Anfang Juli 1932
Ende Juli 1932
August 1932
12. September 1932
Kapitel 13
Mitte November 1932
29. November 1932
24. Dezember 1932
Silvester 1932
Nachwort
Leseprobe »Schloss Liebenberg«
Konstantin Graf von Auwitz-Aarhayn – Gutsherr von Gut Greifenau
Rebecca Gräfin von Auwitz-Aarhayn – Gutsherrin
Richard – ihr Sohn
Charlotte – ihre erste Tochter
Elisabeth – ihre zweite Tochter
Gräfin Feodora, geb. Gregorius – Witwe und Mutter der fünf Kinder, ehemalige Gutsherrin von Greifenau
Anastasia – älteste Schwester, verheiratete Gräfin von Sawatzki
Albert Sonntag – Gutsverwalter, ehemaliger Kutscher und Chauffeur
Bruno – Alberts Ziehsohn
Siegfried – Alberts und Idas leiblicher Sohn
Theodor Caspers – oberster Hausdiener und Butler
Wiebke Plümecke – Stubenmädchen
Bertha Polzin – Köchin
Lieselotte – Berthas Tochter
Sibylle Weidemann – Küchenmädchen
Kilian Hübner – Hausbursche
Gustav Minkwitz – Schweizer/Melker
Leah Rosenthal – Kindermädchen im Gutskindergarten
Eugen Lignau – ehemaliger Stallmeister
Agnes Frenzel – Dienstmädchen aus Amerika
Irmgard Hindemith – ehemalige Köchin, leitet eine Pension
Therese Hindemith – Irmgard Hindemiths Schwester, leitet eine Pension
Paul Plümecke – Wiebkes Bruder, Dorfschmied
Lorenz Kurscheidt – Rebeccas Vater
Walburga Kurscheidt – Rebeccas Mutter
Karoline Kurscheidt – Rebeccas Schwester
Egidius Wittekind – ehemaliger evangelisch-lutherischer Pastor
Matthäus Quadflieg – evangelisch-lutherischer Pastor
Brunhilde Quadflieg – Frau des Dorfpastors
Luise Tetzlaff – Dorflehrerin
Margarete Emmerling – ehemalige Prostituierte, alias Annabella Kassini
Katharina Urban – Konstantins jüngere Schwester, geb. Komtess von Auwitz-Aarhayn
Julius Urban – Katharinas Mann
Amalie Urban – ihre Tochter
Ferdinand Urban – ihr Sohn
Cornelius Urban – Julius’ Vater, Großindustrieller
Eleonora Urban – Julius’ Mutter
Alexander von Auwitz-Aarhayn – jüngster Bruder
Nikolaus von Auwitz-Aarhayn – mittlerer Bruder
Malwine von Auwitz-Aarhayn – seine Frau
Pavel Graf Gregorius – jüngerer Bruder von Feodora
Raissa Gräfin Gregorius – Pavels Frau
Loenid Graf Gregorius – Pavels und Raissas Sohn
Andrej Graf Gregorius – Pavels und Raissas Sohn
Magda – Dienstmädchen bei den Urbans
Gustl – Katharinas Dienstmädchen
Wilma – Katharinas Kindermädchen
Dr. Arthur Levy – jüdischer Anwalt in Berlin
Julius vermutete nichts Böses, als Katharina, kaum aus der Stadt heimgekehrt, ihn nach draußen in die Kälte bat. Sie führte ihn vom Haus weg, über den schneebedeckten Rasen hinter eine Hecke, als gäbe es ein unaussprechliches Geheimnis. Und so war es ja auch.
Gestern Abend war sie spät nach Hause gekommen. Nach dem Überfall hatte sie ihren Bruder Alexander ins Krankenhaus gebracht. Bemitleidenswert war eine unzureichende Beschreibung seines Zustands. An der Schwelle zum Tod war da passender. Deswegen war sie heute Morgen noch einmal bei ihm gewesen. Sie musste sich vergewissern, dass ihr Bruder die Nacht überlebt hatte. Gestern wie auch heute hatte sie ihrem Mann Julius und Rebecca und Konstantin eine Lüge aufgetischt. Sie müsse Nadeschda dringend in der Privatpraxis helfen, hatte sie behauptet. Einen Tag vor Weihnachten. Julius war verärgert gewesen. Innerlich vollkommen aufgewühlt, hatte Katharina sich nichts anmerken lassen. Erst einmal hatte sie ihre Gedanken ordnen müssen.
Als sie heute schon wieder nach Berlin reingefahren war, hatte Julius großen Unmut gezeigt. Was denn da so dringend sei? Katharina schaute ihn verunsichert an. Gleich würde er die Wahrheit erfahren. Er würde erfahren, was so dringend war. Alexander hatte die Nacht überlebt. Katharina war so erleichtert gewesen, als er sie vorhin erkannt und sogar ein paar Worte gesagt hatte. Aber das bedeutete, dass sie das nächste Problem angehen musste.
Nun standen sie also hier im Schnee, knöcheltief. Julius trat von einem Bein aufs andere. Der Schnee quoll ihm über den Rand der Schuhe in die Socken. Bis gerade hatte er in weihnachtlicher Stimmung geschwelgt. Zusammen mit Konstantin und Rebecca hatte er mit den Kindern gespielt. Deren Vorfreude und Aufregung waren deutlich zu spüren. Morgen würde das Christkind kommen. Der große Salon war herrlich dekoriert. Die Kerzen auf dem Adventskranz brannten und erfüllten die Räume mit ihrem Duft nach Wachs. Überall glänzte es, schimmerten die gold überzogenen Äpfel und glitzerte das Lametta am Baum. Diese Idylle würde Katharina nun mit einem Streich zerstören. Allmählich schien Julius zu ahnen, dass etwas kam, was er nicht hören wollte. Sein Blick wurde zunehmend skeptischer.
Es schmerzte sie, ihre Lüge zugeben zu müssen. »Ich war gestern nicht bei Nadeschda, um ihr zu helfen. Und auch heute nicht. Ich war im Krankenhaus. Alex … er wurde zusammengeschlagen. Übel, richtig übel. Bis heute Morgen war ich mir nicht sicher, ob er überlebt.«
»Er wurde … was?« Julius schaute sie schockiert an. »Wieso?«
Sie schluckte und erzählte ihm von dem merkwürdigen Anruf, den sie erhalten hatte, nachdem sie gestern mit Konstantin und Rebecca in der Stadt gewesen war, um im Warenhaus nach Geschenken für die Kinder zu suchen.
»Dann ist er schwer verletzt? Wer macht denn so was? … Wieso hast du mir das nicht gleich gesagt?« Julius schaute seine Frau an. »Wir müssen zur Polizei!«
»Das wird Alex kaum recht sein. Denn … sollten sie die Täter fassen, dann kommt die Wahrheit sicher ans Licht.«
Julius schaute irritiert. »Die Wahrheit? Welche Wahrheit denn?«
Katharina sog Luft ein, doch dann wollte einfach kein Wort über ihre Lippen kommen. Ängstlich starrte sie Julius an. »Anscheinend ist Alex zusammengeschlagen worden, weil er … homosexuell ist.« Knapper hätte sie es nicht formulieren können.
»Ich finde, das ist ein ziemlich geschmackloser Scherz.« Julius’ Worte waren stechend. Seine Reaktion löste eine bleierne Schwere in ihr aus.
»Es ist wahr. Er wurde zusammengeschlagen und in einem dieser Etablissements abgeladen. Sie haben mich angerufen«, sagte Katharina nun mit Zittern in der Stimme.
Julius trat einen Schritt auf sie zu. »Du warst in so einer Spelunke? Etwa alleine?«
»Es ist doch nichts passiert«, versuchte Katharina ihn zu beruhigen. Als Julius sie weiter anklagend anschaute, holte sie noch einmal tief Luft. »Und es ist wahr. Alex ist homosexuell. Mein Bruder liebt Männer. Ich weiß es seit ein paar Monaten.«
»Monaten?! … Liebt Männer?!« Julius wollte es immer noch nicht fassen. Konnte es nicht fassen. »Ich …« Diese abwegige Information musste erst einmal ankommen.
In der Zeit erzählte Katharina davon, wie sie zu diesem höchst ominösen Ort, diesem Etablissement, gefahren war, vor dessen Pforten man Alexander abgeladen hatte wie Müll. Sie wiederholte knapp, was die Männer ihr erzählt hatten. Viel mehr wusste sie ja auch nicht. Und dann berichtete sie von der Untersuchung im Krankenhaus und Alexanders Verletzungen. »Ausgerechnet jetzt. Jetzt muss ich allen erklären, warum er nicht zur Feier kommt.«
»Als wäre das das Problem. … Alex ist homosexuell? Verdammt noch mal!«
»Mir ist bewusst, dass du Alexanders Neigung nicht gutheißen wirst.«
»Gutheißen? Wer würde denn so was gutheißen?«
Sie schüttelte ihren Kopf. »Ich war zuerst auch … Ich habe Alex sogar mit einem anderen Mann im Bett überrascht. Du kannst dir vorstellen, wie kalt mich diese Information erwischt hat.«
Verstört schaute Julius sich im Garten der Grunewalder Villa um. Dann warf er seine Hände in die Luft, als wollte er damit seine Worte unterstreichen, aber ihm fiel einfach nichts ein, was er hätte sagen können. Heftig stieß er den Atem aus. Vor seinem Mund bildeten sich kleine Wolken. Hilflos ruderte er weiter mit den Armen durch die Luft. »Und das musst du mir unbedingt jetzt sagen? Hättest du nicht wenigstens warten können, bis die Feiertage vorbei sind?« Sein Eingeständnis, dass er Katharinas Worten glaubte. Natürlich glaubte er ihr. Sie macht keine geschmacklosen Scherze.
»Ich … habe gedacht, er stirbt mir unter den Händen weg.«
In Julius’ Gesicht spielte sich ein Widerstreit der Gefühle ab. Abscheu über Alexanders Neigung. Mitleid für seine Frau. Er suchte nach einer Antwort. »Katharina, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« Er schüttelte den Kopf, als könnte er so dieses unangenehme Wissen wieder loswerden.
»Er ist ziemlich heftig malträtiert worden. Am Kopf, am Körper. Aber der Arzt sagt, mit der Zeit wird alles einigermaßen verheilen … vermutlich.«
Julius nickte. »Also verbringt er Weihnachten im Krankenhaus. … Was wirst du deiner Familie sagen? Wie willst du erklären, dass er nicht kommt?«
Katharina kaute auf ihrer Unterlippe. »Es wird niemand erfahren. Alex will nicht, dass jemand es weiß«, sagte sie. »Auch nicht Konstantin und Rebecca. … Ich werde sagen, dass … er einen Unfall mit einem Automobil gehabt hat. Schlimm genug dafür sieht er wenigstens aus. Aber ich bin nicht gut in Ausreden. Ich brauche deine Rückendeckung.«
Julius drehte sich ein wenig, schob mit den Schuhspitzen Schnee zur Seite. »Na gut. Wie du willst. Ich werde nichts sagen. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass einer von euren aristokratischen Verwandten freiwillig in ein städtisches Krankenhaus geht und ihn besucht.« Er lachte zynisch.
Katharina fasst ihn am Arm. »Da ist noch was …«
»Noch was?« Julius stöhnte auf und ließ seine Schultern hängen.
»Andrej hat es schon früher rausgekriegt, und seitdem erpresst er Alex.«
»Er erpresst ihn?!« Julius fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
»Ja, seit Monaten zahlt Alex ihm Geld.«
»Geld? Wovon denn? Von seinem kleinen Musikergehalt?«
»Von dem, was wir ihm geliehen haben.«
Julius sah aus, als würde ihm gleich der Kragen platzen. »Dann hat Alex sich gar nicht mit Aktien verspekuliert?«
Katharina schüttelte den Kopf.
»Also, ich … Und du wusstest, dass Alex das Geld an Andrej zahlen muss?«
»Zuerst nicht. Ich hab erst später davon erfahren.«
»Deine Familie ist wirklich … ein Panoptikum der Widerlinge. … Tse. … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Homosexuelle, Erpresser, oh, und wir wollen Nikolaus und deine Mutter nicht vergessen. Im Grunde reiht sich Alex nur perfekt ein.«
Katharina schaute ihn an. Seine Worte trafen sie zutiefst. Sie wusste auch nicht, was sie noch sagen sollte. Eigentlich hatte sie gehofft, er würde sie unterstützen. Wenigstens schien Julius zu bemerken, dass er übers Ziel hinausgeschossen war. »Vielleicht hat Andrej Alex verprügelt«, gab Julius zu bedenken.
»Nein, das glaube ich nicht. Alexander hat gestern noch sprechen können. Aber Andrej hat er nicht erwähnt. Ich habe einen anderen Verdacht.« Sie sah Julius tief in die Augen. »Nikolaus.«
»Nikolaus weiß auch davon?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich kann es dir nicht sagen. Vor ein paar Wochen hatte ich ein ernstes Gespräch mit Andrej. Ich habe ihm befohlen aufzuhören, Alex zu erpressen. Und ich habe ihm gedroht, dass, wenn er es irgendjemandem sagt, wenn er es Nikolaus verrät, dann würde ich ihn und seine Familie auf die Straße setzen. Von heute auf morgen.«
»Wäre ohnehin langsam Zeit dafür. Onkel Pavel wohnt nun schon wie lange mietfrei in der Wohnung? Zehn Jahre?«
Katharina nickte. Aber die Wohnungsnot in Berlin war groß. Derzeit würden ihre Verwandten kaum etwas Gescheites finden. Und schon gar nichts, was sie bezahlen könnten. Sie kamen ja so schon kaum über die Runden.
»So ist es. Deswegen habe ich ihm gedroht. Ich hatte die Hoffnung, dass er sich entschuldigt und Ruhe gibt.«
»Und du glaubst, dass er Nikolaus trotzdem etwas gesagt hat, und der hat ihn verprügelt?«
Ein kurzes Kopfschütteln. »Nikolaus würde sich niemals selbst die Hände schmutzig machen. Vielleicht hat er ihn verprügeln lassen.«
»Vielleicht?«
»Ich weiß nicht, ob ich es glauben will, dass mein einer Bruder meinen anderen Bruder auf so scheußliche Weise versucht umzubringen.« Katharina beugte sich nach hinten und schaute hoch in den Himmel. Die Sonne brach gelegentlich durch den Schneehimmel. Dennoch war es klirrend kalt. Vereinzelte kleine Flocken schwebten hernieder. Eigentlich hätte es ein wunderbarer Moment sein können. Was glaubte sie? Sie traute Nikolaus verdammt viele Gemeinheiten zu. Und doch … Nikolaus’ gelöste Verlobung mit Henriette, die angeblich nicht mehr gepasst hatte. Und dann seine eilige Vermählung mit Malwine. Julius behauptete, es sei eine strategische Entscheidung von Nikolaus, und Katharina hegte keine Zweifel, dass er damit recht hatte. Ihr Bruder würde alles tun, was seiner Karriere förderlich war. Aber würde er nicht einmal davor zurückschrecken, seinen eigenen Bruder umbringen zu lassen?
»Hast du Beweise?«, fragte Julius nun.
»Nein. Nicht einen.«
»Und jetzt?«
»Übermorgen rücken alle hier an, zum großen Essen.«
»Nikolaus und Malwine ja auch.«
»Ja, und Onkel Pavels Familie. Andrej kommt auch«, bestätigte Katharina.
»Wirst du sie beide fragen?«
»Erst mal nur Andrej. Je nach Reaktion werde ich Nikolaus konfrontieren, oder auch nicht.«
»Er würde es ohnehin abstreiten. … Dann erzählst du also allen anderen das Märchen vom Autounfall?«
»Ja. … Und da ist noch etwas.«
Julius verzog genervt sein Gesicht.
»Seine Hände … Sie haben ihm alle Finger gebrochen. Alex kann nicht mehr alleine wohnen, wenigstens nicht für die nächsten paar Wochen. Er braucht jemanden, der ihm hilft. Und danach, nun … Er wird vermutlich nie wieder Klavier spielen können. Zumindest nicht gut genug, um sich damit seinen Lebensunterhalt zu sichern.«
Julius’ Augen wurden riesengroß, als ihm aufging, was sie da andeutete. »Nein. Er wird nicht bei uns wohnen. Auf gar keinen Fall. Das kommt nicht infrage. Wenn du glaubst, ich würde so einen hier wohnen lassen, dann hast du dich geschnitten. So einen … einen … einen Hundertfünfundsiebziger. Wie kannst du nur daran denken, so jemanden wie ihn im Zimmer neben unseren Kindern schlafen zu lassen? Katka, ich versteh dich nicht mehr.«
Katharina runzelte die Stirn. »Es ist doch Alex. Unser Alex. Du kennst ihn doch. Er würde doch nie …«
»Nein … Niemals. Und das ist mein letztes Wort. Denkst du eigentlich je an deine Familie? An uns? An mich? Hast du je gefragt, was ich will?« Wütend kickte Julius den Schnee von sich.
»Ich …« Sie wollte es ihm nicht ausgerechnet jetzt sagen. Jetzt, wo sie so miteinander stritten.
»Du kannst dich auf den Kopf stellen. Alexander wird hier nicht eine einzige Nacht mehr schlafen. Frag Konstantin. Es ist auch sein Bruder.« Julius schaute sie an, aber als sie nichts antwortete, ging er.
Katharina kannte Julius gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht umstimmen lassen würde. Nicht bei diesem Thema. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Als hätte er nicht schon genug für ihre Familie getan.
Und doch: Was er wollte? Er hatte doch alles, was er wollte. Geld, um sich jeden Wunsch zu erfüllen. Er hatte es geschafft, sich den Plänen seines Vaters, eine langweilige Fabrik leiten zu müssen, zu entziehen. Stattdessen handelte er mit Luxusimmobilien. Auch wenn er natürlich irgendwann das Urban’sche Imperium erben würde. Den Umstand, dass sie ihn vor dem sicheren Tod gerettet hatte, ließ er ganz uncharmant unter den Tisch fallen. Manchmal kam er ihr wirklich wie ein verwöhntes Kind vor. Als würde sie nicht ständig an seine Bedürfnisse denken. Als wäre sie nicht mit ihm feiern gegangen, wenn sie eigentlich hätte lernen sollen. Wäre nicht gereist, wenn sie sich eigentlich hätte auf eine Prüfung vorbereiten müssen. Hätte keine Ausflüge mit den Kindern unternommen, wenn sie dringend mal ausschlafen wollte.
Und nun war sie wieder schwanger. Er wusste es noch nicht. Deswegen konnte sie ihm das nicht vorhalten. Aber ja, auch das war etwas, was er wollte. Mehr als sie.
Katharina und Julius kamen von draußen rein und betraten den Salon. Konstantins Schwester stellte sich vor den Kamin und rieb sich die Hände. Die Kinder spielten alle oben. Bertha Polzin brachte einen Rumtopf herein, den sie aufgesetzt hatte.
»Wunderbar. Ich vermisse Ihre kleinen Leckereien so sehr. Es wird Zeit, dass Sie nach Hause kommen«, sagte Konstantin.
Die Köchin lächelte. »Es dauert nicht mehr lange.« Dann verschwand sie.
»Bertha Polzin ist wirklich phänomenal. Sie hat schon in der Woche nach der Geburt wieder in der Küche gearbeitet«, erzählte Katharina. »Die kleine Lieselotte ist sehr aufgeweckt, aber schläft auch viel. Sie ist so unkompliziert.«
»Ja, Mutter wie Tochter scheinen ein Ausbund an Glückseligkeit zu sein«, bestätigte Rebecca den Eindruck.
»Seit Mitte Dezember stillt sie das Baby allmählich ab und gewöhnt es an die Flasche. Ende Januar oder Anfang Februar will sie zu euch zurück. Aber nehmt euch in Acht. Julius hat ihr schon diverse Mal angeboten zu bleiben.«
»Wehe. Das lass ich euch nicht durchgehen«, drohte Konstantin scherzhaft. Aber er meinte es ernst. Er freute sich schon sehr auf ihre Rückkehr. Endlich würde es wieder etwas aufwendigere Gerichte geben. Rebecca hatte ihn in ihren Plan, wie mit der delikaten Situation der ledigen schwangeren Köchin umzugehen sei, eingeweiht. Ihr Vorgehen war sehr ausgefuchst. Und Konstantin hatte nichts dagegen gehabt. Im Gegenteil, so blieb ihnen eine ausgezeichnete Köchin erhalten.
Morgen Abend würden Katharinas Schwiegereltern zum Essen kommen. Und am Tag danach Konstantins Familie. Mama war aus Ostpreußen angereist, wohnte aber zum Glück bei Nikolaus und Malwine. Die drei sowie Onkel Pavel, Tante Raissa und Leonid und Andrej wurden erwartet. Dazu kamen ihre drei Kinder plus Amalie und Ferdinand. Gut, dass Katharina und Julius einen so großen Tisch hatten. Konstantin war so froh wie Katharina, dass Bertha Polzin mit Gustl unten in der Küche stand.
Rebecca hielt ihm ein Glas Rumtopf hin. »Danke.« Er nippte an dem Glas. Das Getränk war süffig, aber auch sehr stark. Er nahm noch einen etwas größeren Schluck.
Julius schien plötzlich in Gedanken versunken. Merkwürdig wortkarg nahm er ein Glas an und setzte sich aufs Sofa. Er trank den letzten Schluck und stocherte mit einem kleinen Stäbchen nach einer Pflaume.
»Den Rumtopf verstecken wir besser, wenn eure Familie einfällt. Sonst kommt es hier noch zu größeren Ausfällen«, sagte Rebecca scherzhaft.
Julius schnaubte sarkastisch auf, sagte aber nichts. Fragend schaute Konstantin Katharina an. Sie hatte Mamas grüne, mandelförmige Augen geerbt, so wie er die eisblauen Augen seines Vaters. Diese grünen Augen suchten nun vergeblich nach dem Blick ihres Mannes. Doch Julius schaute einfach nur ins Glas.
Etwas verloren blickte Katharina nun zu ihm. Mit einer Hand hielt sie sich am Kaminsims fest, als bräuchte sie Unterstützung. »Konstantin, ich muss dir noch etwas sagen. … Alexander, er wird nicht kommen können.«
»Er wird nicht kommen können? Zu Weihnachten? Ja, hat er denn etwas Besseres vor?«, gab er verblüfft von sich.
»Er hatte einen bösen Autounfall.«
Konstantin stand mit einem Mal. »Was? Ist er schwer verletzt?«
»Wann denn? Gerade eben?«, fragte Rebecca irritiert nach.
Katharina wechselte nun einen Blick mit Julius. »Ja, er ist sehr schwer verletzt.«
»Woher weißt du das? Warst du gerade bei ihm?« Jetzt merkte auch Konstantin, dass hier etwas nicht stimmte. »Hast du ihn gerade besucht? Wieso sagst du uns das nicht vorher? Ich wäre mitgekommen.«
Katharina zuckte hilflos mit den Schultern. »Weil ich …« Sie stockte.
»Was ist denn genau passiert?«, fragte Konstantin noch einmal nach.
»Weiß ich nicht genau. Er kann kaum sprechen, aber er sieht übel aus. Wirklich übel.«
»Woher weißt du dann, dass er einen Unfall hatte …?«
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Weil …«
»Katharina, was ist hier los? Irgendwas stimmt doch nicht an der Geschichte«, sagte Konstantin.
Jetzt stand Julius abrupt auf. »Doch. An der Geschichte stimmt alles. Er ist schwer verletzt. Und ich habe mich nur gerade mit deiner Schwester darüber gestritten, dass er nicht bei uns unterkommen kann, bis er wieder genesen ist. Nicht schon wieder. Ich kann nicht ständig für alle eure Verwandten aufkommen.«
Katharina verknotete ihre Hände, so wie sie es immer tat, wenn ihr etwas unangenehm war. »Es tut mir leid.«
Julius schien wütend zu sein. »Ja, dir tut es immer leid. Dass deine Mutter so arrogant ist. Dass Nikolaus sich bei meinem Vater verstecken musste, weil er wegen Vaterlandsverrats gesucht wurde. Dass wir Alexanders Studium bezahlt haben. Glaub nicht, ich wüsste nicht, dass du ihm auch heute noch was zusteckst. Und dann deine russischen Verwandten, die so arm und bemitleidenswert sind. Wie lange nun schon? Seit zehn Jahren. In zehn Jahren haben sie es nicht geschafft, sich ein eigenes Leben aufzubauen, weil sie sich zu gut dafür sind zu arbeiten. Und sie fühlen sich noch immer als etwas Besseres, besser als ich auf jeden Fall. Aber sie haben überhaupt kein Problem damit, mein Geld zu nehmen. Und immer tut es dir leid. Aber soll ich dir was sagen? Ich … ich bin es nun auch leid.«
Fürwahr, Konstantin war bass erstaunt. Das war wirklich mal ein Streit. Tiefe Frustration brach sich da Bahn. Aber konnte er es seinem Schwager verdenken? Nein. Und in dessen Aufzählung fehlte natürlich, dass Konstantins Gut mit Julius’ Geld gerettet werden musste. Julius hatte doch recht, in allem. Seit er ihn kannte, war er immer ihr Retter in der Not.
»Sei nicht so hart«, bat Katharina nun. »Alexander hat nicht darum gebeten. Und … hast du etwa vergessen, wie sehr er uns geholfen hat?«
»Nur habe ich schon lange das Gefühl, dass ich unsere Schuld doppelt und dreifach beglichen habe.«
»Aber er ist in Not. Er wäre fast gestorben.«
Unwirsch drehte Julius sich weg. »Das tut mir ja auch leid. Aber der Gedanke, dass er …« Er holte Luft, wollte etwas sagen, suchte nach den richtigen Worten. »Ewig muss ich irgendwem von deiner Familie aus der Patsche helfen. Es ist nun der Punkt gekommen, an dem ich von den Problemen anderer nichts mehr hören will. Und schon gar nicht werde ich … Alexander hier aufnehmen, hier, bei meinen Kindern.«
Verstört schaute Konstantin Rebecca an. Was war hier los? Was war denn zwischen Alexander und den Kindern? Da schien noch mehr zu sein als das, was die beiden erzählten.
Julius sprach ihn nun an. »Ihr müsst ihn aufnehmen.« Als wäre damit alles gesagt, setzte er laut das Glas auf einem Tisch ab und verließ den Raum. Beklommen schaute Katharina ihm nach.
»Wie geht es ihm? Ich meine Alex«, fragte Rebecca.
»Heftig. Es hat ihn heftig erwischt. Vor allem seine Finger.«
»Wie …? Kann er …?«
»Nein. Er wird vermutlich nie wieder spielen können«, bestätigte Katharina ihren Verdacht. »Er wird ein paar Wochen im Krankenhaus bleiben müssen. Seine Rippen wurden verbunden, und er schafft es nicht mal allein aus dem Bett. Aber dann …«
»Dann kommt er zu uns. Nach Greifenau«, sagte Rebecca entschlossen.
»Eine Apanage werde ich ihm aber nicht zahlen können. Dafür haben wir einfach zu wenig Geld«, schob Konstantin nun schnell hinterher.
»Ich werde sehen, ob ich bei Julius etwas machen kann.«
»Ich kann ihn verstehen. Unsere Familie hat seine Geduld und seinen Geldbeutel wirklich über Gebühr beansprucht«, verteidigte Konstantin seinen Schwager.
»Ja, und gerade jetzt.« Katharina nahm noch einen Schluck und stellte nun auch ihr Glas ab. »Ich bin wieder schwanger. Julius weiß es aber noch nicht. Es soll eine Weihnachtsüberraschung werden.«
»Katharina.« Konstantin war an sie herangetreten.
Auch Rebecca kam und nahm ihre beiden Hände. »Aber das sind ja wundervolle Nachrichten.«
Seine Schwester schluckte. »Ja, ja, das sind sie. Aber bitte sagt ihm nichts. Es ist … Ich wollte ihm das sozusagen als Geschenk unter den Christbaum legen. In Form eines kleinen Stramplers.«
»Eine wunderbare Idee«, bestätigte Rebecca nun.
»Ich werde besser mal nach ihm sehen.« Katharina verließ den Salon.
»Also kommt Alexander wieder zurück nach Greifenau. Das hatte ich nicht kommen sehen«, sagte Konstantin.
»Ach, es passiert so vieles im Leben, was wir nicht haben kommen sehen. Wir werden uns schon an ihn gewöhnen. Die Kinder werden sich freuen. … Irgendwie merkwürdig, was Julius da sagte … wegen der Kinder. Ich dachte immer, Amalie und Ferdinand kommen gut mit Alexander aus.«
»Ja, dachte ich auch.« Konstantin leerte sein Glas. Rebecca hatte recht: Besser, sie versteckten den Rumtopf vor seiner Familie.
Es zog furchtbar kalt in den Flur. Draußen türmte sich der Schnee. Kilian hatte gerade am Hintereingang die Post entgegengenommen. Es war auch ein großes, schweres Paket dabei. Er sortierte die Briefe. »Das Paket ist für dich, Wiebke«, sagte er.
»Wirklich?« Sie hatte schon sehnsüchtig darauf gewartet. Es musste die Nähmaschine sein, die sie sich zu Weihnachten selbst geschenkt hatte. Sie nahm Kilian das schwere Paket ab. Ganz bestimmt war es die Nähmaschine. Etwas anderes hatte sie ja nicht bestellt. Sie trug es in die Leutestube und stellte es in der Ecke ab. Heute Abend würde sie sich darum kümmern. Jetzt hatte sie zu viel zu tun.
Herr Caspers saß dort in einem bequemen Sessel, den man ihm an den Kamin gestellt hatte. Mit der Decke über den Knien sah er schon aus wie ein alter Mann. Noch immer war er fahl im Gesicht. Nachdem er zusammengebrochen war, hatte er wochenlang im Bett gelegen. Diese Zeit hatte ihn einiges an Kilos und Muskeln gekostet. Aber er hustete kaum noch, und auch seine Augen waren nicht mehr glasig. Mittlerweile schaffte er es alleine runter ins Souterrain und abends auch alleine wieder hoch. Und in der Zwischenzeit versuchte er, so viel Wissen an Wiebke weiterzugeben, wie er konnte.
»Ich weiß gar nicht, wann ich jetzt noch Zeit fürs Nähen finden soll«, sagte sie zaghaft in Caspers’ Richtung.
Wiebke fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Seit die Herrschaften ihnen nach ihrer Rückkehr aus Berlin mitgeteilt hatten, dass Herr Caspers aufs wohlverdiente Altenteil geschickt würde, war es merkwürdig zwischen ihnen geworden. Wiebke sollte viele seiner Aufgaben übernehmen. Auch Kilian hatte einiges dazubekommen. Und die Leitung der Dienstboten sollte demnächst nur noch in der Hand der gnädigen Frau liegen. Aber trotzdem wäre es ungewohnt, niemanden mehr zu haben, der hier unten für Ruhe und Ordnung sorgen würde.
Und das war nicht die einzige schlechte Nachricht gewesen, die die Herrschaften mitgebracht hatten. Der jüngste Bruder des gnädigen Herrn, Graf Alexander, hatte wohl einen schlimmen Autounfall gehabt. So schwer, dass er sich über Monate erholen musste. Und das würde er hier tun. Noch war er nicht mal transportfähig und lag in Berlin in einem Krankenhaus. Und damit nicht genug.
Bertha hätte eigentlich nach den Feiertagen zusammen mit den Herrschaften wieder nach Hause kommen sollen. Aber kurz vor dem Fest war eine ihrer Nichten bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben. Und nun war Bertha anscheinend in ein kleines Dorf in die Uckermark gereist, um auszuhelfen.
Die Nachricht hatte in Wiebke direkt wieder an ihrer größten Wunde gekratzt. Bei der Geburt gestorben, wie ihre Schwester Ida damals. Sie hatte für die arme Seele gebetet. Trotzdem fragte sie sich, wann Bertha endlich wieder zurückkehren würde. Alle warteten sehnsüchtig auf ihre Rückkehr. Vor allem Kilian.
»Hier, der ist auch noch für dich. Von Bertha«, sagte Kilian neugierig und hielt ihr einen Brief hin. »Was schreibt sie denn?«, drängte er.
»Nun gedulde dich mal einen Moment.« Wiebke riss den Brief auf.
Liebe Wiebke,
sicher haben dir die Herrschaften bereits von dem überraschenden Todesfall in meiner Familie berichtet. Eine meiner Nichten ist bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben. Direkt nach den Festtagen bin ich dort hingereist, um mich um den Mann und das Kind zu kümmern. Das Baby, ein Mädchen, Lieselotte, ist zuckersüß und doch ein bemitleidenswertes Geschöpf. Ihr Vater ist nicht annähernd so patent wie Albert Sonntag, der sich ja rührend um Siegfried kümmert. Sie haben zwar auch sehr schnell eine Amme besorgt, aber hier im Haushalt geht es drunter und drüber. Lieselottes Vater ist am Boden zerstört und will nichts mit dem Kind zu tun haben. Ich werde wohl noch so lange bleiben müssen, bis wir eine Lösung finden.
Bitte grüß alle anderen lieb von mir
deine Bertha
Anscheinend hatte sie wirklich viel zu tun, denn so kurz und knapp waren ihre Briefe sonst nicht.
»Was? Was schreibt sie?«, fragte Kilian aufgeregt. Er hatte schon bemerkt, dass etwas nicht stimmte.
»Hier, lies selbst.« Wiebke reichte ihm den Brief.
Kilian überflog die wenigen Zeilen. »Also … das ist doch … Wie lange will sie denn noch fortbleiben?!«
Wiebke schaute Kilian an. »Wir sollten froh sein, wenn sie nicht am Ende ganz dortbleibt.«
»Was? Nein. Das kann sie uns doch nicht antun.«
Sibylle, die kurz ihren Kopf durch die Tür gesteckt hatte, nickte beipflichtend. »Himmel, wann kommt sie denn endlich wieder?«
Wiebke musste schmunzeln. So sehr das junge Küchenmädchen es genossen hatte, plötzlich allein das Zepter in der Küche zu schwingen, so schnell war sie auf ihrem Hosenboden gelandet. Zwar hatte man eine junge Frau aus dem Dorf als Hilfe engagiert, und Sibylle war nun diejenige, die die Befehle erteilte. Aber einfacher oder leichter war ihre Arbeit deshalb nicht geworden. Und das Weihnachtsessen für die Dienstboten, nun, es würde in den nächsten Jahren sicher keine lobende Erwähnung finden. So viel stand mal fest.
»Also, was schreibt sie denn?«, mischte sich nun auch Herr Caspers ein. Wiebke fasste die Nachricht kurz zusammen. Caspers nickte nur.
»Herrje, sie wird doch wohl irgendwann wieder heimkommen wollen«, sagte Kilian mit entschlossener und gleichzeitig ängstlicher Stimme.
Heimkommen, was für ein befremdlicher Ausdruck. War Greifenau Berthas Heim? Für sie selbst war das Gut ihr Zuhause. Aber sie war ja schließlich auch im Waisenhaus aufgewachsen. Bertha hatte eine echte Familie, Geschwister, mit denen sie aufgewachsen war und die sich dann mehr oder weniger über ganz Pommern verteilt hatten. Dass eine ihrer Nichten in der Uckermark wohnte, hatte Wiebke gar nicht gewusst. Aber Bertha hatte vier Geschwister, und die hatten einen ganzen Stall voller Kinder.
Wiebke drehte sich zu Herrn Caspers. »Wollen wir?«
»Ja, natürlich.« Umständlich stand er auf und schlurfte ihr hinterher in den Weinkeller. Schon gestern hatten sie eine Stunde hier unten verbracht. Der Stuhl, auf den Caspers sich nun setzte, stand noch immer da.
»Ich möchte mich noch mal bei Ihnen bedanken. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Sie ersetzen soll.« Wiebke knabberte an ihrer Unterlippe.
Caspers versuchte ein Lächeln. »Du wirst es schon schaffen. Wären die Zeiten so wie vor dem Krieg, und wären noch die alten Herrschaften am Zug, glaube ich, würdest du echte Schwierigkeiten bekommen. Aber so … Der gnädige Herr kennt sich selbst nicht annährend so gut mit Wein aus wie sein Vater.«
»Umso größer ist die Hilfe, die Sie ihm sind. Was soll ich ihm denn raten? Ich bin doch schon froh, wenn ich den Wein beim richtigen Händler kaufe.«
»Ach Kind. Du wirst es schon schaffen. Und vor großen Festen kannst du mir gerne schreiben. Und ich stell dir eine Liste zusammen.«
Wiebke schüttelte ihren Kopf. »Ich kann es gar nicht glauben. Ich will nicht glauben, dass Sie uns verlassen.«
»Nun, das Angebot der Hindemiths ist überaus großzügig. Da ich sozusagen ein fester Mieter bei ihnen werde, brauche ich nicht so viel für das Zimmer zahlen.«
»Und … Wenn ich das fragen darf: Wie lange müssen Sie noch den Kredit abbezahlen, bis Sie in Ihr Häuschen können?«
»Noch drei Jahre. Dann gehört es ganz mir.« Derzeit lebte ein nettes älteres Ehepaar in seinem Haus in Pyritz. Sie waren solvent und zahlten pünktlich ihre Miete. Damit stotterte Herr Caspers seinen Kredit ab. Vom Gutsherrn würde er eine kleine Leibrente bekommen, aber es reichte gerade so, um ein Zimmer zu bezahlen und nicht zu verhungern. Und nicht einmal dieses Geld müsste der Gutsherr zahlen. Für ein halbes Jahr würde Caspers sogar Arbeitslosengeld beziehen. Seine kleine gesetzliche Rente würde er erst mit seinem siebzigsten Lebensjahr bekommen. Nun galt es, die dreieinhalb Jahre bis dahin so gut es ging zu überbrücken.
Und da nun sein Ende auf Greifenau nahte, musste er Wiebke und Kilian noch einiges beibringen. So vieles hatte Herr Caspers ihr schon in den Stunden erklärt, die sie zusammen über den Büchern des Weinkellers oder der Kladde, in der das Silberbesteck und anderer wertvoller Hausrat verzeichnet war, gesessen hatten. Durch diese Tätigkeiten war Wiebke ihm in den letzten Wochen nähergekommen als in all den Jahren zuvor.
»Bitte glauben Sie mir, mir wäre es mehr als recht, wenn Sie diese Zeit noch hier verbringen könnten.«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist, wie es ist. Die gnädigen Herrschaften haben recht: Ich habe mir zu viel zugemutet. Und ich bin mir sicher – würde ich bleiben, würde ich es weiter so halten.«
»Aber werden Sie denn auskommen?«
»Mit der Leibrente und dem Arbeitslosengeld wird es schon gehen.«
Wiebke fragte sich, wie viel er vom gnädigen Herrn bekommen würde. Schließlich hatte er hier sehr lange gearbeitet. »Ich kann nur hoffen, dass Bertha zurückkommt, bevor wir Ihren Abschied feiern.«
»Ja, das hoffe ich auch. Aber falls nicht, wird sie mich doch sicher bald bei den Hindemiths besuchen. Und du auch. Es ist wirklich eine hervorragende Idee von Herrn Sonntag gewesen, über ein Zimmer in der Pension nachzudenken. So bin ich wenigstens nicht allein. Und nun komm, wir haben noch viel vor uns.« Er deutete auf ein Regal, in dem die Bordeauxweine lagerten. Die Rhein-, Mosel- und Pfälzer Weine hatten sie bereits besprochen.
Wiebke zog eine Flasche mit roter Flüssigkeit aus dem Regal, als hinter ihr die Tür aufging.
»Paul!? Was machst du denn hier?«
»Ich komme gerade aus Pyritz zurück.« Wiebkes Bruder, der nun schon seit langen Jahren als Dorfschmied in Greifenau arbeitete, blickte Herrn Caspers skeptisch an. Anscheinend handelte es sich um eine private Angelegenheit größter Dringlichkeit. Er konnte wohl nicht warten, bis Wiebke Feierabend hatte. »Ich habe, wenn Sie mich nicht verraten … Ich hab was gekauft.« Er zog ein kleines Päckchen aus der Jackentasche. »Und ich muss es unbedingt jemandem zeigen.« Paul klappte das Kästchen auf. Ein goldener Ring kam zum Vorschein.
Auf Wiebkes Gesicht tauchte ein seliges Lächeln auf. »Du willst sie also fragen?«
Sie, das war Leah. Leah Rosenthal war nach Idas Tod als Amme für Siegfried gekommen. Und geblieben. Alle mochten sie.
Wiebkes Bruder nickte verstohlen. »Glauben Sie, der Ring wird ihr gefallen? Sehr teuer war er nicht.« Paul sah Herrn Caspers unsicher an.
»Fräulein Rosenthal würde dich auch nehmen, wenn du ihr eine Zigarrenbinde an den Finger steckst. Man sieht doch, wie sehr ihr euch liebt.«
Erleichtert atmete Paul aus. »Da bin ich aber froh. Ich hätte natürlich mehr ausgeben können. Aber ich dachte, dass Leah es auch so sieht: Besser, wir sparen etwas für neue Möbel und so.«
»Bestimmt ist ihr das recht«, beruhigte Wiebke ihren Bruder. Leah Rosenthal war überaus nett, etwas schüchtern und hatte wahrlich keine großen Ansprüche. Sie schien glücklich, hier auf Greifenau gelandet zu sein. Über die Monate, in denen die Gutsarbeiterfrauen aufs Feld mussten, war sie im Gutskindergarten beschäftigt. In den anderen Monaten half sie im Haus aus, wo sie gebraucht wurde. Wiebke mochte Leah sehr. Und es würde ihr leidtun, wenn sie ins Dorf zu Paul ziehen würde. Andererseits wünschte sie sich für Paul nichts mehr, als dass er glücklich wurde. Und dass sie nochmals Tante werden konnte. Obwohl es sonst gar nicht ihre Art war, vor anderen Menschen ihre Gefühle zu zeigen, musste sie jetzt doch Paul umarmen. Genau in diesem Moment klopfte es kurz, und die Tür ging auf.
»Wiebke, wie würdest du einen Rußfleck …« Leah Rosenthal stand plötzlich in der Tür, eine dreckige Tischdecke in der Hand. In ihrem Gesicht zeigte sich größte Überraschung. »Paul?!«
Wiebke ließ Paul sofort los.
Leah lächelte nervös. »Was ist denn los? Ist etwas Schlimmes passiert?« Sie blickte unsicher von einem zum anderen.
Herr Caspers seufzte leise, und als Paul sich nicht bewegte, stupste er ihn an. Mit einer wortlosen Geste unterstrich er seinen Zuspruch.
Paul schaute etwas hilflos von Herrn Caspers zu Wiebke, von Wiebke zu Leah, dann zu dem Ringkästchen, das nur mangelhaft in seinen Händen verborgen lag.
»Ich …« Mit einem Mal war er auf den Knien. »Leah, ich wollte dich fragen, eigentlich erst am Wochenende … Aber jetzt hast du schon … Na, ist ja auch egal. … Auf jeden Fall wollte ich dich fragen … ob du meine Frau werden möchtest.« Nun klappte er das Kästchen wieder auf und hielt ihr den Ring entgegen.
Leah schnappte nach Luft. Doch ein glückliches Lächeln legte sich über ihr Gesicht, und ganz leise, aber voller Überzeugung, sagte sie: »Ja. Ja, ich will.«
Paul stand auf und nahm ihre Hand. Aber er steckte ihr den Ring nicht an. »Es ist … Das ist der Ehering. Ich wollte keinen Verlobungsring kaufen. Ich dachte …«
»…wir sparen auf neue Möbel«, ergänzte Leah seinen Gedanken.
Wiebke schlug die Hände vor den Mund. In ihren Augen sammelten sich Freudentränen. Die beiden hatten sich wahrlich gesucht und gefunden. Wie wunderbar. Ganz wunderbar. Und sie war sogar bei dem Antrag dabei. Besser hätte es gar nicht laufen können. Überglücklich schaute sie Herrn Caspers an. Der nestelte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch und schnäuzte sich lautstark. Genau wie Wiebke und alle anderen im Raum schien er von den Gefühlen überwältigt.
Als Leah sie nun anschaute und fragte: »Wiebke, würdest du meine Trauzeugin sein?«, war ihr Glück perfekt.
»Natürlich. Und ich werde dir das schönste Brautkleid nähen, das du dir vorstellen kannst.«
Amalie und Ferdinand rannten die Stufen hoch, direkt in die Arme ihrer Großmutter. Eleonora Urban strahlte übers ganze Gesicht. »Kommt rein. Es ist kalt. Magda hat euch schon heiße Schokolade gemacht.« Die Kinder wollten in den großen Salon rennen. »Ah, ah. Schuhe aus und die Pantoffeln an«, maßregelte ihre Oma sie. Brav blieben sie stehen und ließen sich die Mäntelchen abnehmen.
Katharina musste lächeln. Es duftete schon im ganzen Haus nach leckerem Braten. Ihre Schwiegereltern hatten sie gestern Abend erst eingeladen. Es schien etwas Dringendes zu geben, wenn sie an einem Freitag zum Mittagessen kommen sollten.
»Wo ist Papa?«, fragte Julius, während er sich auch den Mantel auszog. Auf dem kurzen Weg von Grunewald nach Potsdam wurde es nicht so recht warm in dem Automobil. Sein Vater hatte heute Morgen angerufen und ihn quasi hierherzitiert. Es schien etwas Wichtiges vorgefallen zu sein.
Eleonora hob abwehrend die Hände. »Im Arbeitszimmer. Und auf Sturm gebürstet.«
Julius wusste auch nicht, was los war. »Dann hör ich mir mal an, was es so Dringendes gibt.«
»Was will Cornelius denn?«, fragte Katharina nun auch neugierig nach.
»Das kann er dir später gerne selber erklären«, sagte ihre Schwiegermutter ausweichend und folgte eilig den Kindern.
Die saßen schon am Wohnzimmertisch und schlürften an dem Kakao. Eleonora Urban setzte sich zu ihnen. »Und? Habt ihr alles regeln können?«
Katharina nickte. »Julius hat die Flüge Richtung Buenos Aires abgesagt. Und unseren Flug nach London gebucht.«
»Ich wünschte, in deinem Zustand würdest du gar nicht fliegen.«
Im Grunde wollte Katharina das auch nicht. Sie hatte Flugangst. Immerhin würden sie nun nicht tagelang im Flieger nach Argentinien sitzen. Julius hatte seinem ehemaligen Studienkollegen absagen müssen. An Weihnachten, als er den Strampler ausgepackt hatte, war die Freude groß gewesen. Trotzdem bedauerte er es, nun nicht nach Argentinien reisen zu können. Doch selbst Julius sah ein, dass eine so lange Reise mit einer Schwangeren zu riskant war. Stattdessen hatte er alles für London organisiert. Katharina war noch nie dort gewesen. Und der Flug würde auch nur wenige Stunden dauern. Es wäre für Jahre ihre letzte Möglichkeit, eine weite Reise anzutreten. Wenn erst ihr drittes Kind da wäre, waren die nächsten Jahre schon durchgeplant.
Mit dieser freudigen Nachricht waren dann auch die unangenehmen über ihren Bruder Alexander übertüncht gewesen. Natürlich hatten sie niemand weiteres eingeweiht. Und auch bei Julius hatte sich der Ärger über Alexanders wahre Identität schnell gelegt. Was aber nicht bedeutete, dass er seinen Schwager besuchen wollte, oder ihn gar im Haus beherbergen würde. Immerhin hatte Julius sich über die Feiertage zusammengerissen.
Das Weihnachtsfest war schrecklich gewesen. Katharina hatte das Gefühl gehabt, als würde sie alle zehn Minuten eine Lüge erzählen. Wie es Alex gehe? Ob man sich gut um ihn kümmere? Wann er aus dem Krankenhaus entlassen werde? Was danach aus ihm werden würde?
Mama war ganz aus dem Häuschen gewesen, dass ihr Sohn in einen so heftigen Autounfall verwickelt gewesen war. Für einen kurzen Moment hatte sie tatsächlich in Erwägung gezogen, ihn in dem öffentlichen Krankenhaus zu besuchen. Doch dann hatten ihre Bedenken Oberhand gewonnen. Ein öffentliches Krankenhaus war etwas anderes als ein privates Sanatorium. Sie könnte auf den Gängen allerlei schwer kranken, Pestilenzen tragenden oder einfach erbarmungswürdigen Geschöpfen begegnen. Stattdessen nahm sie damit vorlieb, beste Grüße zu bestellen und sich die neuesten Berichte von Katharinas und Konstantins Besuchen anzuhören.
Andrej konfrontierte sie in einem stillen Moment. Wie erwartet gab er sich ahnungslos. Katharina erneuerte ihre Drohung, ihn und seine Familie vor die Tür zu setzen, falls sie jemals herausfände, dass Andrej hinter diesem hinterhältigen Überfall stand. Er schwor Stein und Bein, mit der Sache nichts zu tun zu haben. Und auch kein Sterbenswörtchen an jemand Dritten, also an Nikolaus, weitergegeben zu haben.
Und tatsächlich schien Nikolaus ehrlich überrascht von der Neuigkeit des Autounfalls. Andererseits hielt sich sein Bedauern in Grenzen. Immerhin, als die Familie zum Weihnachtsessen zusammengekommen war, war bereits klar gewesen, dass Alexander nicht mehr in Lebensgefahr schwebte. Katharina wusste nicht, ob sie den beiden glauben sollte. Andererseits gab es nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass sie etwas mit der Sache zu tun hatten.
Noch war ihr Bruder im Krankenhaus. Katharina bezahlte für seinen Aufenthalt. Das wenigstens hatte sie gegen Julius’ Willen durchsetzen können. Direkt noch Ende Dezember hatte sie seine Wohnung gekündigt und Anfang Januar aufgelöst. Die Sachen lagerten nun alle bei ihnen im Keller. In kaum zwei Wochen würde Alexander zurück nach Greifenau ziehen. Er tat ihr so unendlich leid. Aber es war gut, wenn er weit weg in Pommern war. Dann konnte sie endlich aufhören, Lügen erzählen zu müssen.
»Möchtest du auch einen Kakao vor dem Essen?«, fragte Eleonora und hob schon die Kanne mit dem dunklen süßen Gebräu, kaum dass Katharina auf dem Sofa Platz genommen hatte.
»Nur ein Schlückchen. Stell dir vor: Julius hat davon erzählt, dass es jetzt sogar Filmvorführungen im Flugzeug gibt. Ist das nicht aufregend?«
»Tatsächlich? Ich wünschte, ich könnte Cornelius auch zu einer Flugreise überreden. Aber er weigert sich, sich in eine fliegende Zigarrenkiste, wie er es nennt, zu setzen.« Eleonora seufzte leise.
»Julius behauptet immer, Fliegen sei sehr sicher. Und in Deutschland allemal. In Tempelhof starten und landen schon über fünfzig Linienmaschinen jeden Tag. Und dazu kommen noch die Zeitungsflieger. Ich hoffe nur, er kommt nicht auf die Idee, einen Pilotenschein zu machen. Letztens hat er sich so begeistert über die Sportmaschinen geäußert.«
»Bekommt er denn keine Kopfschmerzen mehr beim Fliegen?« Die besorgte Mutter klang in ihrer Stimme durch.
»Doch. Aber er sagt, die Sportflieger würden ja nicht so hoch fliegen. Dann wäre der Luftdruck anders. Er ist sich sicher, dass sie daher kommen.«
»Einen Pilotenschein. Gott behüte. Da wäre es mir ja noch lieber, er würde wieder Rennen fahren.«
»Mama, tatsächlich? Habe ich nun endlich deine Zustimmung?« Julius stand plötzlich im Raum und grinste breit.
Eleonora seufzte auf. »Nein. Ich habe nur gesagt, dass …«
»…es dir lieber wäre, als wenn ich selber fliegen lerne. Ich habe es schon vernommen«, sprang Julius ihr belustigt mit einer Antwort bei.
»Ihr seid schon fertig?«, fragte Katharina eilig. Bloß kein Gespräch über das Thema Rennen fahren. Sie war froh, dass es endlich vom Tisch war.
»Ja, ja«, antwortete er ausweichend.
Cornelius trat in den Raum und begrüßte Katharina. Sorgenfalten standen auf seiner Stirn. Schnell wandte er sich an seine Enkel.
Als sie rübergingen zum Essen, war Katharina nun doch neugierig. Leise fragte sie Julius: »Und? Was gab es zu bereden?«
»Nichts Wichtiges. Erzähl ich dir zu Hause.«
Katharina hob ihre Augenbraue. »Nichts Wichtiges? Das klang aber heute früh anders.«
Sie setzten sich, und Magda brachte das Essen. Als alle ihre Suppe gegessen hatten und auf die Hauptspeise warteten, ergriff Katharina das Wort. »Habt ihr auch von dem Bankraub gelesen? Spektakulär, nicht wahr? Die haben wochenlang an dem Tunnel gegraben. Eins muss man den Kerlen lassen: Sie haben wirklich Durchhaltevermögen.«
Am 30. Januar hatte man in der Disconto-Gesellschaft am Wittenbergplatz bemerkt, dass jemand in den Tresorraum eingebrochen war. Erst drei oder vier Tage nach dem Ereignis. Was an sich schon ein Skandal war. Fast alle Schließfächer waren aufgebrochen und ausgeraubt worden. Die Zeitungen schrieben von einer Millionenbeute. Es war der spektakulärste Bankraub, von dem Berlin je gehört hatte. Und sicher auch der dreisteste.
Cornelius starrte sie plötzlich an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. Und auch Eleonora rutschte ungemütlich auf dem Stuhl herum.
»Was denn?«, fragte Katharina unbedarft nach. Sie schaute zu Julius rüber, der ein zerknirschtes Gesicht machte. »Oh!« Nun hatte sie endlich begriffen.
Das war es, was Cornelius unbedingt mit Julius hatte bereden müssen. Anscheinend hatte auch er ein Bankschließfach bei der Discontobank unterhalten. »Ich wusste ja nicht …«
Cornelius brummte verärgert.
Mit Blick auf die Kinder fragte Katharina nach: »Und war denn viel im Schließfach?«
Eleonora nickte nur. »Drei Barren. Außerdem der Schmuck meiner Mutter.«
Barren? Barren Gold, konnte das doch nur bedeuten. »Oh, das tut mir sehr leid.«
»Aktien, und weitere wichtige Papiere«, ergänzte nun auch Cornelius das Unausgesprochene. Amalie war nun schon acht Jahre alt, Ferdinand sechs. Alt genug, um Geheimnisse nachzuplappern.
»Aber die Polizei hat doch die Gebrüder Sass schon festgenommen.«
»Wer sonst wäre zu so etwas fähig? Doch die leugnen alles. Und noch hat die Polizei kein Diebesgut gefunden.«
Katharina tat es plötzlich sehr leid, dass sie mit dem Thema angefangen hatte. Sie legte Eleonora mitfühlend eine Hand auf den Arm. »Ich hoffe wirklich, dass du deine Erbstücke zurückbekommst.«
Cornelius schnaufte laut. Das Schnaufen ging in einen rasselnden Atem über. »Der Schmuck ist wahrlich zu verkraften. Von dem Geld und den Aktien und dem … den Barren könnten wir uns hundertmal den Schmuck leisten.«
Katharina presste die Lippen aufeinander. Sie warf Eleonora einen mitleidigen Blick zu. Für ihre Schwiegermutter besaß der Schmuck sicher einen Wert, der mit Geld nicht aufzuwiegen war. Trotzdem sagte sie nun. »Du hast sicher recht, Cornelius. Es tut mir sehr leid. Ich wusste ja nicht …«
»Ich wünsche mir für dich, dass die Polizei die geraubte Beute noch findet«, sagte Eleonora mit Blick auf ihren Mann. »Nicht nur wegen des Schmucks.«
Cornelius hustete. Er schien sich eine Erkältung eingefangen zu haben. Oder Schlimmeres. »Also, ich mach dann einen Termin beim Notar. Direkt nächste Woche«, sagte Katharinas Schwiegervater mit Nachdruck Richtung Julius. Der nickte nur gelassen.
Mit Blick auf die Kinder wechselten sie das Thema. Nach dem Nachtisch verabschiedete Cornelius sich wieder. Er müsse noch mal in die Stadt. Auch Julius und Katharina fuhren nach Hause. Dort angekommen, ließ Katharina die Kinder aussteigen, die sofort anfingen, Schneebälle zu werfen. Katharina jedoch blieb im Auto sitzen. Julius wollte auch noch mal los. In Dahlem gab es eine Villa, die zum Verkauf stand. Doch zuvor wollte sie ihm etwas sagen.
»Tut mir leid, dass ich so ins Fettnäpfchen getreten bin. Ich wusste ja nicht, dass dein Vater dort auch ein Bankschließfach hat.«
Julius nickte. »Was genau dort lagerte, wusste ich auch nicht.«
»Und weswegen trefft ihr euch beim Notar?«
»Ach, nichts Großes. Du weißt doch, dass Papa uns einen Teil der Immobilien nur der Form halber überschrieben hat. Wegen der Steuern. Andere Immobilien wiederum laufen auf meine Firma. Und für den Fall, dass mir etwas passiert, hat er sich abgesichert. Ein Schrieb, der die Besitzverhältnisse für jede einzelne Immobilie klärt.«
Katharina lachte auf. »Natürlich.« So kannte sie ihren Schwiegervater.
»Und dieser Schrieb lag im Bankschließfach. Er lässt ihn erneut aufsetzen, und ich muss ins Notariat und was unterschreiben. Mehr nicht.«
Ja, so kannte Katharina Cornelius. Er hielt seinen Sohn gerne an der langen Leine. Julius durfte sich viel erlauben, aber so richtig frei würde er nie sein. Nicht, solange sein Vater lebte.
Alexander starrte zum Fenster hinaus. Die Gegend war ihm allzu vertraut. Was schmerzte. Er war zurück. Zurück am Ort seiner Kindheit. Ungeplant. Ungewollt. Unnütz. Ja, das war er jetzt – vollkommen unnütz.
Heute Vormittag war er auf der Toilette des Zuges gewesen. Es hatte ewig gedauert. Er konnte sich nicht einmal gescheit allein anziehen. Die Narben von den Platzwunden im Gesicht blühten noch rötlich. Aber das würde blasser werden, hatte der Arzt gesagt. Die Prellungen und schwarzgrünen Stellen im Gesicht waren erst gelblich geworden und endlich ganz verschwunden. Sein Genitalbereich … nun, dort tat es immer noch weh. Aber auch hier waren die blutigen Male unter der Haut kaum mehr zu sehen. Doch was ihn immer noch an den Überfall erinnerte, was ihn für immer an den Überfall erinnern würde, für immer gezeichnet hatte, waren seine Hände. Sie waren noch dick verbunden. Alle Finger hatte man ihm gebrochen. Einen nach dem anderen.
Sie mussten gewusst haben, wer er war. Sodomit, Hundertfünfundsiebziger – so hatten sie ihn beschimpft, während sie ihn malträtiert hatten. Und sie mussten gewusst haben, dass er Klavier spielte. Dass es sein Lebensinhalt war. Er hatte die drei Männer kaum gesehen, da hatten sie ihn bereits überwältigt und auf dem Boden gehabt. Die ersten Schläge gingen ins Gesicht, und schon bald hatte er nichts mehr erkennen können. Doch der kurze Moment hatte gereicht, um zu wissen, dass er die Männer nicht kannte. Weder Andrej war dabei gewesen noch Nikolaus. Und doch hatte er die beiden in Verdacht dahinterzustecken.
Allerdings, er konnte nicht sicher sein. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, nicht einen einzigen. Natürlich stand die Möglichkeit im Raum, dass Andrej ihn doch an Nikolaus verraten hatte. Würde Katharina das herausbekommen, wären die Folgen für Andrej und seine Familie massiv. Andererseits hatte Andrej kaum das Geld, ein paar Schläger zu engagieren. Zu Weihnachten hatte Andrej jedes Wissen darüber geleugnet. Und Nikolaus? Laut Katharinas Aussagen hatte er die Geschichte von dem Autounfall geschluckt wie alle anderen. Er konnte Nikolaus nicht bezichtigen, ohne sich selbst zu verraten.
Also, vielleicht war es ja doch einfach ein blöder Zufall gewesen. Er konnte nicht ausschließen, dass ihm jemand am Tag zuvor vom Topp-Keller gefolgt war. Vielleicht hatte ihn jemand dort erkannt, als den Klavierspieler aus dem Alhambra-Kino. Vielleicht hatten dieser Jemand und zwei seiner Kumpane Spaß daran, Leute wie ihn zu verprügeln. Solche Übergriffe waren ja nichts Ungewöhnliches. Sie kamen praktisch jede Woche vor. Männer wie er wussten alle um die Gefahr.
Wochen lagen zwischen dem Gespräch von Katharina und seinem russischen Cousin. Andrej, der feige Hund, hatte sich danach nicht mehr gemeldet. Als Katharina Alexander von ihrem Streitgespräch im Romanischen Café erzählt hatte, hatte Alexander gedacht, dass Andrej, wenn er sich schon nicht entschuldigen würde, so doch ein Wort über das Geld verlieren würde. Dass er nichts mehr weiter haben wollte. Dass er etwas zurückzahlen würde, glaubte Alexander ohnehin nicht. Aber er hatte nichts mehr von ihm gehört. Keinen einzigen Ton. Einmal noch, Wochen später, hatte Alexander Onkel Pavel und Tante Raissa besucht. Doch sie waren nur zu dritt gewesen. Leonid war etwas später dazugekommen, Andrej hatte sich gar nicht blicken lassen.
Und so waren sie seit Monaten nicht mehr aufeinandergetroffen. Eigentlich hatte Alexander gedacht, er würde Andrej in einer stillen Minute zu Weihnachten in ein ruhiges Eckchen bitten können. Es wäre ihm lieb gewesen, dieses unselige Thema in Ruhe abschließen zu können. Doch Weihnachten und auch den Beginn des neuen Jahres hatte er im Krankenhaus verbracht. Wie auch die ganzen nächsten Wochen.
Katharina hatte ihn regelmäßig besucht. Aber sie war immer alleine gekommen. Julius wolle ihn nicht sehen, sagte sie. Er hatte auch verboten, dass sie die Kinder mitbrachte. So von seinem Schwager zurückgestoßen zu werden, schmerzte ihn sehr. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er nichts anderes erwartet hatte. Solange die Leute nichts mit Männern wie ihm zu tun hatten, blieben sie einigermaßen tolerant. Es war ihnen mehr oder minder egal. Aber wehe, diese mondäne Wirklichkeit rückte ihnen auf den Pelz. Trotzdem bekümmerte ihn Julius’ Verhalten.
Konstantin und Rebecca hatten ihn zweimal im Krankenhaus besucht, bevor sie wieder zurück nach Greifenau hatten fahren müssen. Auch sie hatten die Kinder nicht mitgebracht, aber aus einem anderen Grund: Sie mussten mit Alexander besprechen, wie es für ihn weitergehen konnte. Es schmerzte ihn, sie belügen zu müssen. Sie wollten sogar zur Polizei gehen wegen des Autounfalls. Der Kerl müsse doch bestraft werden. Nur die Tatsache, dass Alexander keinerlei Angaben zu dem Automobil und dem Fahrer machen konnte und damit jeder Autofahrer Berlins in Verdacht war, brachte sie von ihrem Vorhaben ab.
Sie hatten ihm angeboten, auf Greifenau zu wohnen. Bis es ihm wieder besser ging und er für sich eine Alternative gefunden hatte. Alexander sah sich nicht in der Lage, ihr Angebot auszuschlagen. Er wäre noch für Wochen, vielleicht sogar Monate nicht zu den kleinsten Handgriffen in der Lage. Irgendwo unterzukommen, wo für ihn gekocht, gespült und geputzt wurde, wo seine Sachen gewaschen wurden und er weder verhungern noch erfrieren würde, war schon das Maximum an Hilfe, das er erwarten konnte.
Beinahe regungslos hatte er im Bett gelegen und sie angestarrt. Ab und an hatte er genickt, wenn sie etwas vorgeschlagen hatten. Doch innerlich hatte er geschrien. Innerlich tobte er die Wände hoch. Dieser Überfall hatte ihm alles genommen, das Wenige, das er sein Leben genannt hatte. Er konnte nicht mehr arbeiten. Er konnte nicht mehr für sich selber sorgen. Seine kleine Welt war in sich zusammengestürzt. Er hatte nicht viel gehabt, aber er war frei gewesen und hatte sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten können. Doch das war nun vorbei.
Noch etwas, das seine Freiheit einschränkte, war erst jüngst zutage getreten: Als er die Klinik verlassen hatte und die wenigen Meter auf der Straße zur Droschke gegangen war, hatte er Atemnot bekommen. Sein ganzer Körper zitterte, und ihm wurde schwarz vor Augen. Er flüchtete geradezu ins Innere des Wagens. Katharina brauchte nicht lange, um herauszufinden, was das war – Panikattacken. Er hatte Angst. Unbändige Angst. Angst auf der Straße. Dort, wo man ihn überfallen hatte. Sie fuhren zu dem Hotel in Grunewald, wo Katharina ihn für zwei Tage unterbrachte. Er wollte spazieren gehen. Aber er schaffte es kaum, den Bürgersteig entlangzulaufen, geschweige denn eine Straße zu überqueren. Nicht allein. Katharina musste ihn abholen und begleiten. Am ersten Abend, als es dunkel wurde, versteckte er sich in seinem Bett. Im Krankenhaus war die Dunkelheit nicht so schlimm gewesen. Da hatte immer jemand in seinem Zimmer gelegen. Ständig kamen die Schwestern hereingelaufen. Und man hatte ihm Schlafmittel gegeben. Aber jetzt, so ganz allein im Hotel … In der ersten Nacht hatte er geschlottert wie ein Vierjähriger, der sich im finsteren Wald verlaufen hatte, bevor das Schlafmittel gewirkt hatte. Nun war er also nicht nur finanziell abhängig von anderen. Er konnte sich auch nicht einmal mehr benehmen wie ein erwachsener Mann.
Hätte nicht eine glückliche Fügung dafür gesorgt, dass die Köchin von Greifenau, Bertha Polzin, ihn nach Greifenau zurückbegleitete, er hätte nicht gewusst, wie er die Zugfahrt alleine hätte bewältigen sollen.
Und so war er nun auf dem Weg zurück an den Ort seiner Kindheit, wo ihn ein ähnliches Leben erwartete, das er schon als Zwölfjähriger geführt hatte. Keine Arbeit, kein eigenes Geld, keine Möglichkeiten auszugehen. Nicht, dass es in seinem Zustand zur Debatte stünde. Aber Katharina hatte ihm versprochen, dass es mit der Zeit besser würde. Dass er sich an die Dunkelheit gewöhnen würde und sich in ein paar Monaten auch wieder alleine vor die Tür traute. Vermutlich, so hatte sie gesagt.
Immerhin waren die Verlockungen hier ohnehin nicht so süß und verführerisch. In Stargard oder Pyritz gab es natürlich Theater. Aber sie waren nicht besonders nennenswert. Und dort waren auch die nächsten Lichtspielhäuser. Doch wollte er wirklich Filmmusik hören, die von anderen Musikern gespielt wurde? Überhaupt, selbst wenn er es psychisch geschafft hätte. Ohne eigenes Geld konnte er sich nicht mal die Fahrt in die Stadt leisten.
Im Grunde genommen hatte er sich aufgegeben. Wenn er ehrlich zu sich war, wartete er nur darauf, dass seine Hände wieder ausreichend funktionstüchtig waren, damit er sich wenigstens auf eine gescheite Art und Weise umbringen konnte. Bis dahin würde er sein mickriges Leben auf Greifenau fristen.
Sein restliches Gepäck und einige Pakete mit den wenigen Habseligkeiten waren im Gepäckwagen verstaut. Sein Klavier, einstmals von Greifenau nach Berlin transportiert, stand nun bei Katharina und Julius im Keller. Er sollte irgendwann darüber befinden, ob er es in Greifenau haben wollte, oder ob er irgendeine Lösung fand, wieder zurück nach Berlin zu ziehen. Doch das würde dauern. Derweil hatte Katharina seine Wohnung aufgelöst. Es war quasi über seinen Kopf hinweg entschieden worden. Nun gut. Wozu Einspruch erheben? Tatsächlich redete er kaum noch. Als hätte er mit seinem Lebensmut auch seine Stimme verloren.
Die ersten Häuser von Stargard kamen in Sicht, und unmerklich verlangsamte sich der Zug. Bertha Polzin saß ihm gegenüber. Sie waren ein ungewöhnliches Gespann. Katharina hatte ihm erzählt, dass Frau Polzin für ein paar Monate bei ihnen ausgeholfen habe. Dass just kurz vor Weihnachten eine Cousine von ihr im Kindbett gestorben sei. Und da der Mann das Neugeborene deswegen anscheinend hasste, hatte man entschieden, dass Frau Polzin sich nun weiter darum kümmern sollte. In seinen Ohren hörte sich das sehr nach einer Ausrede an. Doch ihm war es völlig egal. Wer war er, dass er moralische Urteile über andere Leute fällen durfte?
Es war eine merkwürdige Zugfahrt gewesen, so, als wären sie höfliche Fremde. Er kannte Fräulein Polzin schon lange. Aber da sie nur sehr selten den Weg in die Räumlichkeiten der Herrschaften fand, hatte er nie mit ihr zu tun gehabt. Einmal nur, als die Kommunisten Greifenau überfallen hatten, da hatte sie ihn gerettet. Hatte ihn als Dienstboten verkleidet und dafür gesorgt, dass er nicht mehr wie ein Grafensohn ausgesehen hatte. Ihre Aktion hatte ihm vermutlich Kopf und Kragen gerettet. Sie war eine mutige Frau, diese Bertha Polzin. Er mochte sie.
Trotzdem hatten sie beide stundenlang stumm dagesessen, zum Fenster hinausgestarrt und ihren Gedanken nachgehangen. So wie er nicht über den vermeintlichen Autounfall reden wollte, wollte sie nicht über ihre erfundene Cousine und deren Mann reden. Immerhin schien die Kleine relativ unkompliziert zu sein. In den Stunden von Berlin nach Stettin und auch nach dem Umsteigen in den jetzigen Zug hatte sie kaum geweint. Und sobald sie die Flasche bekam, war sie ruhig.
Das Umsteigen in Stettin war das reine Chaos gewesen. Mit dem Baby im Korb hatte Frau Polzin kaum etwas tragen können. Mit seinen verbundenen Fingern war er keine große Hilfe. Er war beinahe verängstigt gewesen, als sie ihn gefragt hatte, ob er die Kleine kurz übernehmen könne. Sie hängte ihm den Korb mit dem Baby in die Ellbogen, dann suchte sie sofort nach einem Kofferträger und kontrollierte genauestens, dass kein Gepäckstück zurückgelassen wurde. Gemeinsam hatten sie es rechtzeitig rüber auf den anderen Bahnsteig geschafft.
In Berlin hatte sie noch Hilfe gehabt, mit all ihren Sachen, der kleinen Lieselotte und praktisch seinem kompletten Hausstand. Katharina und das Kindermädchen Wilma hatten die drei zum Stettiner Bahnhof in Berlin gebracht. Katharina hatte auch für Bertha ein Billett für die erste Klasse gekauft, damit sie ihn unterstützen konnte. Mit den dick verbundenen Händen, einzelne Finger sogar noch geschient, war er ja kaum imstande, dem Schaffner seinen Fahrschein zu zeigen.
Als sie nun in den Bahnhof in Stargard einliefen, sah er Albert Sonntag sofort. Der Mann überragte alle anderen auf dem Bahnsteig. Sobald der Zug zum Stehen gekommen war, stand Alexander auf. Die Köchin hielt ihm den Mantel hin, sodass er leicht hineinschlüpfen konnte. Dann zog sie sich schnell ihren Mantel an und warf sich ein großes wollenes Tuch über.