Im Takt der Freiheit - Hanna Caspian - E-Book

Im Takt der Freiheit E-Book

Hanna Caspian

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Beschreibung

Als die Frauen das Radfahren entdeckten: Hanna Caspians historischer Roman »Im Takt der Freiheit« entführt ins Deutsche Kaiserreich zu einer jungen Frau, der das Fahrrad den Weg in ein selbstbestimmtes Leben weist – und zu ihrer großen Liebe. Berlin, im Dreikaiserjahr 1888: Als Tochter eines Eisenbahn-Tycoons hat Felicitas Louisburg scheinbar unendliche Möglichkeiten und kann sich leisten, was immer ihr Herz begehrt. Nur eines ist in ihrem Leben nicht vorgesehen: persönliche Freiheit. Das erkennt die junge Frau schmerzlich. Auf einem opulenten Sommerball soll sie anders als gedacht keineswegs nach einem geeigneten Heiratskandidaten Ausschau halten – den hat ihr Vater längst für sie ausgesucht. Nach seinem Willen wird Felicitas den Sohn eines Grafen heiraten, um seinem Unternehmen einen gigantischen Großauftrag zu sichern. Doch dann lernt sie Lorenz kennen, der sich für Zweiräder begeistert und mit seiner Unbeschwertheit alles infrage stellt, was Felicitas bislang für unausweichlich hielt … Mehr als eine Liebesgeschichte: ein gefühlvoller historischer Roman, der eine hochspannende Zeit der Emanzipation von Frauen lebendig werden lässt Als das Zweirad Ende des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug antritt, ermöglicht es nicht nur eine ganz neue Form der Mobilität: In einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs wird es für Frauen zu einem Symbol der Freiheit. Dieses Lebensgefühl und das wachsende Selbstbewusstsein der Frauen lässt uns Bestseller-Autorin Hanna Caspian hautnah miterleben. Entdecken Sie auch Hanna Caspians historische Familiensaga-Bestseller »Die Gut-Greifenau-Reihe« (1913 bis 1933) und »Schloss Liebenberg« (1906 bis 1909).

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Seitenzahl: 629

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Hanna Caspian

Im Takt der Freiheit

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Berlin, 1888 – Felicitas Louisburg, Tochter eines Eisenbahn-Tycoons, hat unendliche Möglichkeiten, doch persönliche Freiheit hat sie keine. Sie darf sich alles nur leisten, wenn es ihrem Vater gefällt. Selbst entscheiden darf sie höchstens die Farbe ihres nächsten Ballkleides. Auf einem Sommerball soll sie sich angeblich einen Heiratskandidaten suchen. Doch um einen Großauftrag zu besiegeln, und um die Zukunft seines Imperiums zu sichern, hat ihr Vater sie insgeheim bereits versprochen.

Ausgerechnet jetzt lernt sie Lorenz kennen – Student, Erfinder und alles andere als standesgemäß. Als er ihr heimlich das Radfahren beibringt und die Unbeschwertheit des Lebens zeigt, will sie weder diese Freiheit noch diesen faszinierenden Mann je wieder hergeben. Ihr bleibt nur noch wenig Zeit, um zu rebellieren. Sonst sind ihre Träume und Pläne für immer begraben.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Figurenübersicht

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

Nachwort

»Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frauen aus höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammen.«

Rosa Mayreder, österreichische Frauenrechtlerin, 1905

Figurenübersicht

Felicitas Louisburg – reiche höhere Tochter

Egidius Louisburg – Felicitas’ Vater, Eisenbahn-Magnat

Tessa Louisburg – Felicitas’ jüngere Schwester

Minna – Felicitas’ Zofe, junge Afrikanerin aus einer deutschen Kolonie

Fräulein Korbinian – Felicitas’ Chaperon (Gouvernante und Aufpasserin)

Herr Nipperdey – Zeremonienmeister

Lorenz Schwerdtfeger – Sohn eines mittelständischen Kutschenfabrikanten

Hannes Blum – Portier im Palais Louisburg

Herr Krumbach – Kutscher im Palais Louisburg

Fräulein Jarausch – Mamsell im Palais

Freifräulein Elsa von Zerpitz-Maltzahn – Felicitas’ Freundin

Graf Alphons von Brück-Bürgen – hochrangiger Beamter im Reichseisenbahnamt

Grafensohn Rudolph von Brück-Bürgen – ältester Sohn von Alphons von Brück-Bürgen

Apollonia Melzer – Felicitas’ Tante, Schwester der verstorbenen Mutter, verwitwet

KAPITEL 1

9. März 1888

Sobald man zu alt war, um mit Puppen zu spielen, wurde man selber zu einer. Adrett geschmückt mit netten Kleidchen und Hütchen wartete man auf einem Polstermöbel, erwählt zu werden. Unterdessen verkümmerte der Verstand wie eine Pflanze in der Wüste. Felicitas wusste nicht, ob ihr diese Erkenntnis so sauer aufstieß oder ob es doch eher aufgestiegene Galle war, weil das Korsett wieder zu eng geschnürt war. Sie bemerkte einen bitteren Geschmack im Mund, während sie steif auf dem gepolsterten Sitz im geschlossenen Landauer saß.

Ihr gegenüber thronte Fräulein Korbinian, ihr Chaperon, ihr Kettenhund, der über Anstand, Benimm und Ehre zu wachen hatte. Jederzeit, immer und überall – sobald Felicitas das Palais verließ. Wie so oft seufzte die ältere Frau, wohl um zu beweisen, wie anstrengend auch heute ihre Arbeit war.

Sie kamen gerade von der Modistin. In wenigen Wochen würde sich die Frühlingsluft über die Reichshauptstadt legen. Frühjahr bedeutete, ein neuer Frühlingshut musste her. In ihren Kreisen trug man nichts aus dem letzten Jahr. Le dernier cri – der letzte Schrei musste es sein, ein neuer Florentinerhut mit breiten Seidenbändern und künstlichen Blüten. Felicitas wurde herausgeputzt wie eine Puppe, saß wie eine Puppe und hatte gelernt, immerzu zu lächeln wie eine Puppe. Und bald bekäme sie einen neuen Puppenhut. Man könnte meinen, in ihrem Leben gäbe es nichts Wichtigeres.

Gelangweilt schaute Felicitas durch das Seitenfenster nach draußen. Mitte Januar hatte es angefangen zu schneien, und es sah nicht so aus, als wollte es irgendwann einmal aufhören. Eine dicke, schmutzige Schneeschicht bedeckte die Straßen, die Bürgersteige, die Bäume und die Häuser. Ein paar Meter weiter bearbeitete ein Asphaltbursche einen der Abertausend Pferdeäpfel, die Berlins Straßen verschandelten. Er war wohl gefroren, denn der Junge hatte Mühe, den Unrat vom Schnee abzulösen. Wenigstens rochen sie im Winter nicht. Im Sommer war der Gestank manchmal kaum auszuhalten. Und der Verkehr auf Berlins Straßen nahm von Jahr zu Jahr zu. Irgendwann würde die ganze Stadt in Pferdeäpfeln versinken.

Bei diesem trostlosen Anblick musste Felicitas ebenfalls seufzen. Die Straßen in der Mitte Berlins waren immer verstopft, heute aber schien die ganze Stadt wie in einem Fieber. Irgendetwas ging vor sich. Die Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen aneinander vorbei, als gäbe es irgendwo umsonst Brot und Suppe. Auch waren ungewöhnlich viele Privatkutschen unterwegs. Sie konkurrierten um jeden Zentimeter Platz – mit den mit Pferdekraft bewegten Straßenbahnen und Omnibussen, mit den langen Leiterwagen und den Handkarren, von denen einige von Männern und Frauen, andere von Hunden gezogen wurden.

Rechts neben ihrer Kutsche zwängte sich eine ausgemergelte Gestalt mit einem Milchkarren zwischen den größeren Fahrzeugen hindurch. Dahinter tauchte der geduckte Kopf eines Pferdes auf. Ein Brabanter, ein belgisches Kaltblut – typische Arbeitspferde, massig und schön anzusehen, wenn sie gepflegt waren. Das hier wirkte klapprig. Das schwere Zuggeschirr schnitt in das schmutzig braune Fell.

Diese armen Geschöpfe, dachte Felicitas. Jeden Tag starben allein auf Berlins Straßen mehrere Pferde. Regelmäßig sah man Kadaver am Straßenrand. Ein gewohnter Anblick und doch nicht zu ertragen. Die Tiere schufteten sich zu Tode, im wahrsten Sinne des Wortes. Den ganzen Tag auf den schmutzigen und lauten Straßen, im Winter die vom Kohlenstaub geschwängerte Luft atmend, im Sommer in der Hitze schwitzend, selten ausreichend Futter, gab es für sie keinen Ausweg aus dieser erbärmlichen Situation.

Der Braune hob den Kopf, als würde er Felicitas’ Aufmerksamkeit spüren. Sein müder Blick war so bar jeder Hoffnung, dass ihr Herz schmerzte. Dieses bedauernswerte Geschöpf. Es wusste, es durfte sich keine Hoffnung machen. Es würde sein Schicksal tragen müssen, bis ans Ende seiner Tage. Eingeschirrt in ein Leben, aus dem es kein Entrinnen gab. In dem es nur Wege gehen durfte, die von anderen bestimmt wurden. Tief in Felicitas’ Herz rührte sich etwas. Ob es sich je nach Freiheit sehnte? Ob es überhaupt jemals der Freiheit begegnet war?

Kurz ruckte der Braune mit dem Kopf und ließ ihn mutlos sinken. Gemeinsam mit seinem Schicksalsgenossen zog er langsam weiter. Ein grobschlächtiger Kutscher saß auf dem Bock und schnalzte laut, als läge es an den Pferden, dass sie nicht schneller vorankamen. Er fuhr einen Pritschenwagen mit großen Fässern. Bierfässer, die ausgeliefert wurden.

»Wir sind ja gleich da«, sagte Fräulein Korbinian mitleidig, als würde sie Felicitas’ Unmut spüren. Ihre Aufpasserin wollte einfach nur nach Hause, wo sie sich ihrer Aufgabe, mit Argusaugen über Felicitas zu wachen, entledigen konnte.

Ächzend drückte Felicitas ihren Rücken durch. Die Stäbe ihres Korsetts stachen ihr beim Sitzen ins Fleisch. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und nach Hause gelaufen. Etwas Bewegung würde ihr guttun. Was ausgeschlossen war. Als wohlhabendes Fräulein flanierte man allerhöchstens an den Auslagen luxuriöser Geschäfte vorbei, aber ganz sicher ging man nicht zu Fuß nach Hause. Bewegung war all den armen Schluckern vorbehalten, die den ganzen Tag und auch in der Nacht arbeiten mussten. Was ebenfalls nicht recht war. Und doch, nur allzu gerne hätte Felicitas gelegentlich mit ihnen getauscht. Aus dieser erstarrten Vornehmheit auszubrechen, was wäre das für eine Wonne.

Eine gelbliche Dunstwolke hing tief über der Stadt. Oft genug hatte Felicitas in ihrem Korsett und den engen Kleidern das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Doch heute war ihr der schlechte Atem der Stadt unerträglich. Ungeduldig zupfte Felicitas an ihren Handschuhen aus feinem Hirschleder. Wann ging es denn endlich weiter? Nun standen sie schon minutenlang auf der Stelle. Vorne wurden Rufe lauter. Ein Mann brüllte wütend.

»Steh auf, du faule Mähre!«, schrie er. Sofort hörte man eine Peitsche knallen. Felicitas drückte ihr Gesicht an das Fenster. Der Kerl von der Bierkutsche war abgestiegen und fuchtelte wild in der Luft herum.

Fräulein Korbinian war sofort alarmiert. »Fräulein Felicitas, es ist für uns nicht von Belang!«, sagte sie vorsichtshalber.

Als ahnte sie, was ihr Schützling vorhatte. Wobei, so ganz genau wusste Felicitas das selbst noch nicht. Aber es war nicht das erste Mal. Schon schickte Felicitas sich an, ihre Kleidung zu sortieren, um auszusteigen. Wut stieg in ihr hoch. Als könnten die Tiere etwas dafür.

»Fräulein Felicitas!«, stieß ihre Aufpasserin schrill aus. Panik stieg in ihrer Miene auf. Niemals, aber wirklich niemals mischte man sich unter das gewöhnliche Volk. Die Kutsche war eine rollende Trutzburg. Sie schirmte die Insassen von allem da draußen ab – von dem Lärm, dem Unrat, den meisten Gerüchen, vor allem aber von den gemeinen Menschen. Verließ Felicitas das Palais, dann nur, um im Schutz der Kutsche von einem Ort zum anderen gebracht zu werden. Die Kutsche freiwillig zu verlassen, ohne sofort eine Treppe zu einem sicheren Ort hinaufeilen zu können, war, als wollte man sich freiwillig mit einer schweren Krankheit infizieren. Felicitas riskierte, mit dem menschlichen Eiter und Auswurf der gewöhnlichen Welt in Berührung zu kommen. Was sie für wagemutig hielt, war in den Augen ihrer Aufpasserin eine Katastrophe. Das Schlimmste könnte ihr passieren. Wobei Felicitas nicht der genaue Umfang von ›das Schlimmste‹ bewusst war. Dort draußen lauerten anscheinend viele schreckliche Dinge, und vor allem lauerten sie auf junge Frauen. Aber sie hatte nicht vor, sich weit weg zu bewegen. Höchstens zwei oder drei Meter. Ohne auf jemanden zu warten, der ihr die Tür öffnete, schob Felicitas den Riegel zurück.

»Fräulein Felicitas, Sie wissen genau, was Ihr Herr Vater von solchen Unternehmungen hält.« Verzweifelt schob die Korbinian ein schnelles »Bitte steigen Sie nicht aus« hinterher.

Schon stand Felicitas im schmutzigen Schnee. Der Lärm war lauter. Trotz der frostigen Temperaturen stank die Luft nach Pferdepisse, verbranntem Holz und unvermeidlich nach verbrannter Braunkohle. Noch bevor Fräulein Korbinian sie aufhalten konnte, war sie vorne bei dem Geschrei. Ganz wie sie vermutet hatte, drosch der Kutscher mit der Peitsche auf den armen Braunen ein.

Der war in die Knie gegangen. Mühselig versuchte er, die Vorderbeine aufzustellen, was ihm nicht gelang. Immer wieder rutschte er weg. Zu schwach, um seinen Dienst weiter zu verrichten, hing er schief im Geschirr. Sein mächtiger Körper zitterte. Das andere Pferd stand neben ihm und sah teilnahmslos zu. Wusste es, dass ihm in Zukunft ein ähnliches Schicksal drohte?

Schon sauste die Peitsche wieder auf den Braunen nieder. »Willst du wohl!«, drohte der Bierkutscher. Und noch ein Schlag. »Wenn du nicht sofort aufstehst, kommst du morgen zum Abdecker«, schrie er, als müsste dem Pferd die Bedeutung klar sein.

Wieder hob der Bierkutscher seinen Arm, doch dieses Mal stellte sich Felicitas dazwischen.

»Hören Sie auf, Mann! Sehen Sie nicht, dass das arme Tier nicht mehr kann?«

Verdutzt starrte der grobschlächtige Kerl sie an. »Frollein, bei aller Ehrerbietung, aber davon verstehen Sie nichts«, entgegnete er, ließ aber dennoch seinen Arm sinken.

»Fräulein Felicitas!«, kam es mahnend von der Korbinian, die mittlerweile aus der Kutsche herausgefunden hatte und mit gerafften Rockschößen näher kam.

»Lassen Sie das arme Tier in Ruhe. Es kann nicht mehr.«

»Und wie liefere ich dann mein Bier aus?«

»Sie müssen doch noch andere Tiere haben!«

Der Kerl, bekleidet mit einem speckigen Lederschurz über einem ausgeblichenen Drillich-Anzug, sah sie wütend an. Er schüttelte den Kopf, als könnte er gar nicht glauben, wie dumm jemand sein konnte. Schwankend zwischen dem Gebot, zu einem wohlhabenden Fräulein höflich sein zu müssen, und dem Unwillen, sich mit ihren naiven Forderungen auseinanderzusetzen, trat er näher.

»Gehen Sie zurück in Ihre Kutsche. Sie können sich vielleicht erlauben, viele Tiere zu halten, aber unsereins kann das nicht.«

Felicitas hörte den Groll in seiner Stimme. In seinen Augen blitzte es wütend, als würde er sich nur schwer zurückhalten können, ihr ebenso wie dem Pferd die Peitsche überzuziehen.

»Das Tier kann nicht mehr!«, stellte sie wiederholt fest, als läge es nur an der Ignoranz des Bierkutschers, der es nicht begriff.

»Die alte Mähre muss aber«, sagte er knapp und versuchte, sich an ihr vorbeizuschieben. Offensichtlich war er es leid, mit ihr zu reden. Schon hob er wieder seinen Arm, um seine Peitsche zu schwingen.

Dann sagte Felicitas etwas, was sowohl bei Fräulein Korbinian als auch später bei ihrem Vater lautes Jammern und Schimpfen hervorrufen würde. »Ich kaufe Ihnen das Pferd ab!«

Der Mann verharrte in der Bewegung und sah sie ungläubig an. »Diese alte Mähre? Die taugt nicht mal mehr für ’nen Sauerbraten.«

»Das kann Ihnen doch egal sein. Ich kaufe Ihnen den Braunen ab«, sagte sie nun mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die sie stolz werden ließ. »Und Sie holen ein frisches Pferd dazu, damit Sie Ihre Fässer weiter ausliefern können. Ein einzelnes Pferd kann das nicht schaffen.«

»Mit Verlaub, Sie sind verrückt.«

»Wie viel wollen Sie für das Tier?«

Der Mann schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. Er schien vollkommen überfordert mit ihrem Angebot.

»Wie viel?«, schob Felicitas mit fester Stimme hinterher.

»Fräulein Felicitas!«, zischte Fräulein Korbinian leise mahnend. »Sie wissen, Ihr Vater hat es mir verboten, Ihnen noch einmal Geld zu geben, um ein Pferd von der Straße wegzukaufen.«

Der Bierkutscher drehte sich zu Fräulein Korbinian. Ihre Aufpasserin reckte ihr Kinn in die Höhe, zum Zeichen, dass sie dieses Mal nicht mit sich reden ließ. Doch das beeindruckte Felicitas wenig.

»Nennen Sie mir eine Summe!«, forderte sie den Mann auf.

Der Bierkutscher suchte Hilfe erheischend den Blick ihres Kutschers, um sich nicht mit diesen anscheinend verrückt gewordenen Frauen abgeben zu müssen. Doch Herr Krumbach starrte stumm zurück, als ginge ihn das alles nichts an. Fräulein Korbinian war die ranghöhere Dienstbotin und hatte derlei Dinge zu regeln.

»Ich gebe Ihnen acht Mark für das arme Tier«, bot Felicitas an.

»Acht Mark? Das ist viel zu wenig.« Seine Pranken zuckten.

»Das Tier ist halb tot. Sie haben doch selbst gesagt, morgen bringen Sie es zum Abdecker. Nehmen Sie lieber heute die acht Mark als morgen ein paar Groschen für das schlechte Fleisch.«

»Zwölf. Ich will zwölf Mark.« Ihm wurde gerade klar, dass er hier ein gutes Geschäft machen konnte.

»Na gut, zwölf. Fräulein Korbinian, geben Sie dem Herrn zwölf Mark.«

»Nein. Das darf ich nicht. Ihr Herr Vater hat es mir verboten.«

»Sie geben dem Mann jetzt das Geld«, sagte Felicitas mit einer Stimme, in der ein leichter Zweifel nachhallte. Was sollte sie tun, wenn Fräulein Korbinian sich weigerte?

Der Blick des Bierkutschers wechselte zwischen den beiden Frauen. Kurz richtete er seine Schiebermütze, dann drehte er sich zu dem Pferd, um es zum Aufstehen zu zwingen.

»Fräulein Korbinian!«

»Nein.«

»Ich befehle es Ihnen!«

»Und Ihr Herr Vater hat mir etwas anderes befohlen.«

Vater würde wieder fuchsteufelswütend werden, wenn er davon erfuhr. Und dafür würde Fräulein Korbinian schon sorgen. Trotzdem, Felicitas sah auf das arme Tier hinunter, das sich am liebsten auf die Seite gelegt hätte, es aber nicht konnte, weil das eng gezurrte Geschirr es nicht zuließ. Ihre Blicke fanden einander. Diese Hoffnungslosigkeit, aber auch ein Flehen, dieses harte Los endlich zu beenden. Sie musste dem Tier helfen.

»Warten Sie!« Sie zog ihre Handschuhe aus und steckte sie in die Manteltasche. Sie öffnete den hochgeschlossenen Kragen ihres pelzbesetzten Paletots. Als sie nun anfing, an ihrer Goldkette herumzunesteln, stieß Fräulein Korbinian einen spitzen Schrei aus.

»Felicitas Louisburg, das dürfen Sie nicht! Das werde ich Ihnen unter keinen Umständen erlauben!«

»Dann geben Sie dem Mann das Geld.«

Der Blick des Bierkutschers schätzte den Wert der Goldkette mit dem filigran eingefassten Smaragd. War sie mehr wert als zwölf Mark? Felicitas wusste, dass sie deutlich mehr wert war.

»Nehmen Sie auch diese Kette?«

Mit einem kaum unterdrückten Grinsen nickte der Bierkutscher zustimmend.

»Um Himmels willen, lassen Sie die Kette an. Ich zahle dem Mann ja das Geld«, kapitulierte Fräulein Korbinian.

Der Bierkutscher machte ein enttäuschtes Gesicht, hielt aber trotzdem seine Hand auf. Fräulein Korbinian zählte aus ihrem Geldbeutel mehrere Ein- und Zwei-Mark-Stücke in seine Hand. Unablässig schüttelte sie währenddessen den Kopf. »Das wird Ihrem Herrn Vater gar nicht gefallen. Gar nicht!«, prophezeite sie.

»Wo ist Ihr Futtersack?«, fragte Felicitas den Bierkutscher.

Er wies nur nach hinten.

Sie holte den unter dem Pritschenwagen hängenden Leinensack und hielt ihn dem Braunen vor. Fast ungläubig steckte er sein weiches Maul tief in den Leinensack. Sie ließ ihn gierig fressen, dann nahm sie eine Handvoll Heu und bot sie auch dem anderen Pferd an.

Von hinten schimpften die Ersten, weil die Kutsche neben der Bierdroschke zum Stehen gekommen war und alle anderen einen großen Bogen um sie machen mussten. Sie sollten den Platz frei machen. Herr Krumbach schnalzte, und ihre Kutschpferde bewegten sich. Er stellte das Gespann vor dem gestrauchelten Pferd ab und stieg herab. Sogleich machte er sich daran, das bemitleidenswerte Tier abzuschirren.

»Wir nehmen es mit zu uns und päppeln es ein paar Tage auf, bevor Sie es nach Tattersall bringen«, wies Felicitas den Kutscher an.

Tattersall war einer der großen Pferdeställe in der Stadt. Es war eine Art Pension für die Pferde der reicheren Bürger, die keinen Platz für einen Stall hatten oder sich nicht selbst um die Pferde kümmern wollten. Auch die Pferde, die zum Palais Louisburg gehörten, waren dort untergestellt. Der unschlagbare Vorteil war, dass sich im Sommer weniger Fliegen in der Nähe des Wohnhauses aufhielten. In der hinter dem Palais gelegenen Remise wurden die Pferde tagsüber nur stundenweise untergestellt. Herr Krumbach nickte stumm.

Jetzt, vom Geschirr befreit, mit etwas Heu zwischen den gelben Zähnen, schaffte der Braune es endlich, mühsam aufzustehen.

»Und denken Sie daran«, drehte sich Felicitas nun zum Bierkutscher um, »holen Sie erst noch ein zweites Pferd, bevor Sie weiterfahren.«

Als Antwort hob er lediglich eine Augenbraue, zählte noch einmal das Geld und ließ es zufrieden in seiner Hosentasche verschwinden. Nun zog er das andere Pferd zur Seite, um auf der Straße Platz zu machen.

Mit einem Strick band Herr Krumbach den Braunen hinten an die Kutsche.

Felicitas streichelte ihm über die stumpfe Mähne. »Bald wird es dir besser gehen. Nun musst du nicht mehr schuften und kannst deine letzten Tage in Ruhe verbringen. Mit reichlich Futter.«

Der Braune schaute sie an, als könnte er sein Glück noch gar nicht fassen. Leichten Herzens stieg sie in die Kutsche.

»Hysterische Weibsbilder!«, hörte sie draußen den Bierkutscher spotten.

Hinter ihr stieg Fräulein Korbinian ein und ließ den Wagenschlag laut knallen. Schnaufend ließ sie sich ihr gegenüber nieder, wollte sich echauffieren und wusste doch, dass es nichts nutzte. Felicitas hatte ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Willen. Aber natürlich würde Fräulein Korbinian sich nachher bei ihrem Vater beschweren. Gestern war er den ganzen Tag draußen vor den Toren Berlins in seinen Fabriken gewesen. Heute arbeitete er mit Sicherheit zu Hause.

»Ich weiß wirklich nicht, ob er ein besseres Leben haben wird. Er wird doch in Tattersall einfach nur im Stall rumstehen und selten genug die Sonne zu sehen bekommen.«

Als wüsste sie das nicht selbst. Und hatte sie Vater nicht schon ein Dutzend Mal die Lösung dafür vorgeschlagen?

»Aber einfach nur im Stall rumstehen, ist für ihn bestimmt, als hätte er jeden Tag Weihnachten. Nicht mehr die schweren Wagen ziehen müssen, nicht mehr die Peitsche spüren, genug zu essen und zu trinken.«

»Wenn Sie meinen«, entgegnete Fräulein Korbinian schnippisch und schaute hinaus. Felicitas hatte in letzter Zeit zu oft ihre Anweisungen übergangen. Obwohl sie offensichtlich störrisches Schweigen demonstrieren wollte, fiel ihrer Aufpasserin doch noch etwas ein. Mit großer Genugtuung sagte sie: »Sie glauben doch nicht etwa, dass der Kutscher wirklich nach Hause geht und sich ein zweites Pferd holt? Das andere Pferd muss das jetzt alles alleine ziehen. Und dafür sind Sie verantwortlich!«

Felicitas’ Glücksgefühl wurde getrübt. Vermutlich hatte Fräulein Korbinian recht. Vermutlich würde es genauso kommen. Die Welt war einfach ungerecht.

9. März 1888

Unter den Linden war die Straße freier. Auf dem breiten Boulevard kam ihre Kutsche gut voran. Keine zehn Minuten später waren sie zu Hause. Direkt an der Ecke Wilhelmstraße und Voßstraße stand das Palais Louisburg. Die Kutsche hielt vor dem prächtigen Portikus. Hannes Blum, der weißhaarige Portier, eilte die Stufen herunter und öffnete ihnen.

»Fräulein Louisburg, ich hoffe, Sie hatten einen wunderbaren Vormittag.« Unter seinen Worten lag eine Spur Neugierde, hatte er doch schon das überzählige Pferd entdeckt.

»Oh, ja, der Vormittag war sehr ereignisreich«, antwortete sie spitzbübisch.

Sogleich eilte Blum die Stufen wieder hoch und öffnete die mächtige Eingangstür. Im Vestibül kam Minna herbei und nahm Felicitas Mantel, Handschuhe und Hut ab.

»Soll ich Ihnen eine heiße Schokolade bringen lassen?«, fragte die Frau, die nur wenige Jahre älter war als Felicitas.

»Später. Ich werde erst eine Unterredung mit meinem Vater haben.«

Mit federnden Schritten lief sie die marmorne Prachttreppe hinauf. Sie würde sich frisch machen und sich dann von ihrem Vater schelten lassen. Sicher war es das Erste, was Fräulein Korbinian tat – ihrem Vater von ihrem neuesten Einfall zu erzählen.

Kaum hatte sie ihr Boudoir, ihr Privatzimmer, betreten, war Tessa zur Stelle. »Es gibt eine Überraschung«, rief sie aufgeregt. So aufgeregt, dass ihr beinahe der Atem versagte. Dabei drehte ihre jüngere Schwester eine ihrer Pirouetten. Die Vierzehnjährige war selten zu bändigen. Was Fräulein Korbinian bei ihr mühelos geschafft hatte, sie zumindest äußerlich ruhig zu stellen, war bei ihrer Schwester vergebene Liebesmüh. Tessa war ein Wildfang. Es gelang ihr einfach nicht, still zu sitzen. Sie musste sich bewegen. Rannte eher, als dass sie ging. Stürmte eher die Treppe hinauf, als dass sie schritt. Und ihre morgens wohlfrisierten Haare sahen immer schon am Vormittag aus, als wäre sie durch einen Sturm geritten.

Felicitas knöpfte sich die winzigen Manschettenknöpfe an den Ärmeln selber auf. »Und welcher Art ist die Überraschung?«

Tessa ließ sich neben ihr auf eine Chaiselongue gleiten. »Das darf ich dir nicht verraten.«

»Wieso sagst du mir dann überhaupt, dass es eine Überraschung gibt?«

»Weil ich es nicht aushalten kann, bis du es erfährst.« Theatralisch biss sie sich in die Hand, als ob sie sich so ihre Worte verbieten könnte.

Sie musste über ihre Schwester lachen. Tessa war so ungestüm in ihrem Wesen. Felicitas ging ins angrenzende Badezimmer. Das Palais war sehr modern mit seiner Warmwasserheizung und seinen Badezimmern mit fließendem Wasser. Es war sogar schon an die neue Kanalisation angeschlossen, die nun in ganz Berlin verlegt wurde. Vor dem Spiegel strich sie sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie immer, wenn sie sich ansah, fand sie, dass sie eine zu schmale Nase und einen zu vollen Mund hatte. Diese Makel wurden immerhin wettgemacht durch ihre außergewöhnlich grünen Augen.

Sie drehte den goldenen Wasserhahn auf und wusch sich den Dreck der Außenwelt ab.

Tessa stand im Türrahmen. »Papa hat mir verboten, darüber zu sprechen.«

»Na, dann sprich auch nicht darüber«, maßregelte Felicitas ihre Schwester.

»Aber es ist so aufregend! Ich muss gleich dabei sein, wenn Papa es dir sagt. Ich muss«, forderte Tessa.

»Von mir aus gerne. Ist es eine angenehme Überraschung?«

»Fräulein Felicitas, ich bin schon da.« Minna drückte sich an Tessa vorbei und reichte ihr ein vorgewärmtes Handtuch.

»O ja. Eine außerordentlich angenehme, würde ich meinen. Nur betrüblich ist, dass ich …« Im letzten Moment biss Tessa sich auf ihre Lippen. Irgendetwas durfte sie offensichtlich nicht verraten.

»Minna, könntest du wohl schnell die Frisur von Tessa neu stecken?« Schon lief sie zurück in ihr Ankleidezimmer.

»Aber nein, ich komme mit. Sonst sagt Papa es dir, und ich bin nicht dabei.« Tessa folgte ihr wie ein aufgescheuchtes Huhn.

»Na gut. Dann aber später. So zerzaust tauchst du mir nicht an der Mittagstafel auf.« Felicitas verdrehte die Augen. »Minna, das nächste Mal sollte ich lieber dich mit zur Modistin nehmen. Fräulein Korbinians Geschmack lässt von Jahr zu Jahr mehr zu wünschen übrig. Wenn es nach ihr ginge, würde ich mich kleiden wie die Damenwelt von 1862. Da müsste selbst Fräulein Korbinian noch jung gewesen sein. Obwohl ich es mir nicht so recht vorstellen kann, dass sie jemals jung und unbeschwert war.«

Ihre Aufpasserin war Mitte fünfzig, schwerfällig, sowohl geistig als auch körperlich, und würde, wenn es nach ihr ginge, nur zu Hause sitzen, sticken und dabei ein wenig Konversation betreiben. Die Frau war wie ein verstaubtes Möbelstück.

»Es ist nicht jedem gegeben, unbeschwert sein zu können«, sagte Minna etwas doppeldeutig.

Kurz war Felicitas irritiert, doch schnell eilten ihre Gedanken zurück zu dem armen Pferd. Sicherlich würde sie nun eine ganz und gar unerquickliche Unterredung mit dem Vater haben.

Tessa folgte ihr die Treppe hinunter, bis Felicitas vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters stehen blieb. Mit durchgedrücktem Rücken wappnete sie sich gegen den Sturm, der da kommen würde. Durch die Tür drangen Stimmen. Vaters, aber die zweite Stimme war nicht die von Fräulein Korbinian. Plötzlich wurde die Tür von innen aufgerissen. Einer von Vaters Ingenieuren trat heraus. Er machte ein sorgenvolles Gesicht. »Fräulein Felicitas«, sagte er und nickte knapp. »Wenigstens ein erfreulicher Anblick in diesen dunklen Stunden.« Dann lief er auch schon an ihr vorbei Richtung Vestibül.

Vater ließ seine zahlreichen Ingenieure gerne ins Haus kommen. Gestern noch hatte er zwei seiner Fabriken außerhalb von Berlin besucht, aber er ging dort nicht gerne hin. Es war ihm dort zu laut und vor allem zu schmutzig, weshalb er sich häufig hier in sein Arbeitszimmer zurückzog. Sie trat ein.

Wie immer thronte der Vater hinter seinem mächtigen Schreibtisch aus dunklem Nussholz. Sein mit Handschnitzereien verzierter Stuhl, das Polster leicht erhöht, ließ ihn größer erscheinen, als er war. Sein hellgrauer Haarkranz war wohlfrisiert, sein breiter Schnurrbart frisch gestutzt. Der Anblick eines vermögenden Mannes. Eines mächtigen Mannes. Dieser Eindruck wurde von einem enormen Regal voller Bücher und Aktenordner und Kladden unterstützt. Ein wichtiger Mann, der gewichtigen Geschäften nachging. Sie wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als Tessa hineinschlüpfte und sich in den Hintergrund drückte, als würde der Vater sie dann nicht sehen.

Der schaute auf und legte wütend seinen Füllfederhalter beiseite. »Felicitas!« Er verschränkte seine Hände vor dem Bauch und wurde laut. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Vermutlich hast du gar nicht gedacht. Kindskopf! Du kannst doch nicht ständig irgendwelche Klappergäule kaufen. Was sollen wir mit all diesen Schindmähren?«

Sie wusste, das Geld war ihm gleichgültig. Ihr Ungehorsam war es, der ihn erzürnte. »Ich hatte Mitleid. Und sollen wir nicht Mitleid haben mit allen Lebewesen auf Gottes Erde?«

Der Vater schnaufte laut auf, als wäre das eine unsinnige Diskussion. Sie hatten bereits mehrere Male über ihren Wunsch, endlich auf einem Landgut zu wohnen, auf dem arme geschundene Pferde unterkamen, gesprochen. Eine Idee, die ihr Vater jedes Mal rundherum abgelehnt hatte. Er hielt das für Fantasterei.

»Es war das letzte Tier, das du gekauft hast. Ich habe es dir bereits einmal verboten. Beim nächsten Mal wird dein Ungehorsam ernsthafte Konsequenzen haben.« Mehr sagte er nicht. Anscheinend war ihm gerade überhaupt nicht nach reden zumute.

Felicitas wusste, eigentlich war das gerade nicht der richtige Zeitpunkt. Doch Vater war ohnehin schon wütend auf sie. »Papa, ich möchte endlich eigenes Geld haben.«

»Eigenes Geld? Du kannst dir doch kaufen, was immer du willst.«

»Nein, ich meine ein Nadelgeld. Geld, über das ich frei verfügen kann.«

»Wofür brauchst du schmutzige Münzen?« Vater hatte eine große Abneigung gegen alles, was man mit dem gemeinen Volk teilen musste. Er fürchtete sich vor Dreck und Schmutz jeglicher Art und sah sich ständig in Gefahr, sich mit tödlichen Krankheiten infizieren zu können. Natürlich hatte er dafür gute Gründe. Die besten.

»Damit ich Dinge bezahlen kann.« Lag das nicht auf der Hand?

»Du hast Leute, die das für dich erledigen.«

»Ich will es aber selber tun.«

»Sei nicht so gewöhnlich. Du bist ein vornehmes Fräulein. Andere wären froh, wenn sie Leute hätten, die für sie bezahlen und den Einkauf tragen.«

»Ich wäre froh, wenn ich ein einziges Mal alleine einkaufen dürfte.«

»Felicitas …« Vater sprach ihren Namen so tadelnd aus, als wäre sie eine naive Zwölfjährige. Als hätten sie diese Diskussion nicht schon Dutzende Male geführt und wären nicht jedes Mal zum gleichen Ergebnis gekommen. Niemals, nie im Leben würde sie, solange sie unter seiner Obhut stand, etwas vollkommen alleine und eigenständig tun dürfen. Zumindest nichts, was außerhalb dieses Palais geschah.

»Ich muss doch lernen, mit Geld umzugehen.«

»Tja, wenn du glaubst, sterbenskranke Pferde zu kaufen, sei ein gutes Geschäft, dann muss ich dich leider darüber in Kenntnis setzen, junges Fräulein: Das ist das genaue Gegenteil davon, gut mit Geld umgehen zu können.«

»Für alles und jedes, was ich mache und was ich tun will, brauche ich jemand anderen.«

»Sei doch froh, dass du jeden Handgriff abgenommen bekommst. Die meisten Menschen würden sich darüber freuen.«

»Tse …«, stieß sie aus und wusste genau, dass Vater recht hatte. Dass die meisten Menschen hart arbeiten mussten, war ihr bewusst. Sehr hart sogar. Aber das genaue Gegenteil davon, gar nichts tun zu dürfen und nichts tun zu müssen, war ebenso unerträglich. Doch davon verstand Vater nichts, denn er war ja ein Mann.

»Du bist grad neunzehn. Du bist nicht einmal großjährig. Schlag dir deine Phantasmen aus dem Kopf. Alle, wenn’s beliebt!« Wütend ließ er seine Hand aufs Holz krachen. Sie war entlassen.

Felicitas zögerte. Im Hintergrund zappelte Tessa aufgeregt, hielt aber ihren Mund. Felicitas würde wohl doch noch nichts von der Überraschung erfahren. Was nicht schlimm war. Überraschungen von Vater stellten sich oft als etwas heraus, auf das Felicitas auch hätte verzichten können.

Wenig damenhaft stützte sie sich auf den Schreibtisch und blickte auf die oberste Zeichnung. »Sind das die Pläne für die neuen Schlafcoupés?«, fragte sie interessiert.

Vater schüttelte unwillig den Kopf. Felicitas versuchte beständig, mit ihm über seine Geschäfte und die neuesten technischen Errungenschaften zu reden. Er baute Eisenbahnen – Schienennetze, Lokomotiven und Waggons. Damit war er groß geworden. Und reich. Eisenbahn-Magnat – so nannte man ihn gelegentlich. Magnat – ein Mann von unermesslichem Reichtum und Macht, der seinesgleichen suchte. Egidius Louisburg war ein Eisenbahn-König des Deutschen Reiches, einer von wenigen. Was ihren unfassbaren Reichtum erklärte. Und was trotzdem nicht bedeutete, dass sie sich als Tochter alles erlauben durfte. Zwar hätte sie sich den teuersten Schmuck leisten können, aber interessante Fragen zu komplexen Maschinen zu stellen, war ihr verboten. Vater zog den Plan zu sich heran und rollte ihn zusammen.

»Die Überraschung, Papa!«, rief Tessa nun doch von hinten. Sie wirbelte von links nach rechts, dass man fast Angst bekommen musste, sie würde gleich etwas umwerfen.

Vater seufzte und blickte Felicitas traurig an. »Ich weiß wirklich nicht, ob heute ein guter Tag ist, dich von meinem Plan zu unterrichten. Müssten unsere Gedanken doch vollständig auf etwas Trauriges gerichtet sein.«

»Was meinst du damit, Papa?«

Er machte eine bedeutsame Pause, bevor er sagte: »Kinder, wir haben just vor wenigen Minuten Kenntnis darüber erhalten, dass unser Kaiser gestorben ist.«

Felicitas zuckte zusammen. Kaiser Wilhelm, König von Preußen seit 1861, Kaiser des Deutschen Reiches seit der Reichsgründung 1871, erfolgreicher Feldherr der drei Einigungskriege, oberster Diener des Herrn und Monarch von Gottes Gnaden, war tot? Das war wahrlich eine traurige Nachricht. Wenn auch nicht überraschend, war der Kaiser doch schon neunzig Jahre alt und hatte in letzter Zeit gekränkelt.

»Oh, das ist wahrlich sehr betrüblich«, sagte Felicitas, hoffentlich angemessen schwermütig. Jetzt erklärte sich auch, warum eine solch große Unruhe auf den Straßen geherrscht hatte.

Tessa hielt für einen Moment in ihrer Bewegung inne. »Was passiert denn nun, Papa? Wird es etwa keinen Ball geben?«, fragte sie erschrocken.

»Einen Ball? Bei uns? Etwa hier im Haus?«, fragte Felicitas überrascht.

Ihr Vater nickte. »Das habe ich geplant. Für Mitte Juni. Du bist bereits in die Gesellschaft eingeführt. Es wird allmählich Zeit, dass du in Richtung deines dir vorgezeichneten Weges gehst.«

Vorgezeichneter Weg bedeutete in ihrem Fall ein passender Ehemann. Dann war es nun also so weit. Sie schluckte. Einige ihrer Freundinnen hatten bereits den Myrtenkranz getragen, andere waren verlobt oder hatten wenigstens Verehrer. Felicitas hatte nichts davon. Sie interessierte sich eher für preußische Schienenprofile als für einen Ehemann. Vater hatte ihr lange viele Freiheiten gelassen, aber nun war seine Geduld wohl aufgezehrt.

Ihr Herz sank in die Knie. Sie wollte das noch nicht. Trotzdem sagte sie schicksalsergeben: »Sehr wohl, Papa. Dann mache ich mir Gedanken darüber, welche Familien wir einladen.«

»Nun, ich habe da schon so einige im Auge. Aber natürlich, wenn du besondere Wünsche hast, du weißt, was standesgemäß ist. Nur die besten Familien.« Nun lächelte er kurz. »Der Ball wird unvergesslich, mein Kind. Das verspreche ich dir. Wir werden an nichts sparen. An gar nichts. Man wird noch Jahre davon sprechen.«

Das war dann ja wohl das Wichtigste, dass er einen bleibenden Eindruck machen konnte auf die Menschen, die er so unbedingt beeindrucken wollte. »Ich werde eine Liste mit Fräuleins erstellen.«

»Und mit Komtessen. Die darfst du nicht vergessen.«

»Natürlich nicht, Papa«, sagte sie schal. Als wüsste sie nicht, worum es ihm wirklich ging. Felicitas sollte sich möglichst in adeligen Kreisen bewegen. Der Aufstieg in den ersten Zirkel der Gesellschaft war Vaters größter Wunsch.

»Ich will auch kommen dürfen«, quengelte Tessa.

»Du bist noch zu jung. Du bist noch nicht eingeführt in die Gesellschaft«, beschied Vater streng.

»Dann führt mich doch einfach auf dem Ball ein.«

Vater seufzte, als wäre ihm das alles lästig. »Und nun geht und zieht euch um. Bis zur Beerdigung unseres Kaisers werden wir Schwarz tragen.«

Als könnte er sie gar nicht schnell genug loswerden, so klang es für Felicitas. Zwei Töchter großziehen zu müssen, ohne die helfende Hand einer Mutter zu haben, wäre wohl für jeden Mann schwierig gewesen. Aber ganz besonders für Vater, der nur auf zwei Feldern ein geschicktes Händchen bewies – im Technischen und im Geschäftlichen. Trotzdem, Felicitas’ Augen blinzelten feucht. Ein Hausball, in ihrem Palais. Ein Sommerball. Sie würde eine Entscheidung treffen müssen, die sie noch lange nicht treffen wollte.

»Nun müsst ihr mich entschuldigen. Ich habe noch zu arbeiten.«

Tessa und Felicitas verließen Vaters Arbeitszimmer. Kaum draußen, klammerte sich ihre jüngere Schwester an ihren Arm. »Du musst Papa überreden, dass ich auf den Ball darf. Du musst, du musst, du musst!«

Felicitas lächelte ihre Schwester gequält an. »Wenn es nach mir ginge, wäre es mir egal. Aber du weißt, wie viel Wert Papa auf Etikette legt. Und du bist einfach noch drei Jahre zu jung dafür. Mindestens.«

Tessa ließ sie los und schaute sie erbost an. »Ich komme so oder so, ob er es mir erlaubt oder nicht.« Trotzig drehte sie sich um und rannte die Treppe hoch.

Vermutlich würde ihre kleine Schwester genau das wahr machen. Felicitas schaute ihr sorgenvoll hinterher. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass Tessa ihren Worten Taten folgen lassen würde. Also war es an ihr, diesen unentschuldbaren Fauxpas zu verhindern.

Minna passte sie vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters ab. »Soll ich nun die Schokolade servieren?«

»Nein, bring mir schnell mein Cape. Ich will noch in die Remise, nach dem neuen Pferd schauen.«

Zwei Minuten später lief sie hinunter in den Keller, durchquerte die Dienstbotenräumlichkeiten, klaute sich eine Mohrrübe und ging weiter. Herr Krumbach hatte den Braunen in einer Ecke des kleinen Stalls locker angebunden. Ohne Zaumzeug ließ er sich das Heu schmecken. Daneben stand ein fast leerer Eimer mit Wasser. Wahrscheinlich hatte es schon alles weggesoffen.

Felicitas näherte sich dem Brabanter. »Na, mein Hübscher. Wie geht es dir?«

Als hätte er die Stimme seiner Retterin wiedererkannt, hob er den Kopf und ließ sich streicheln, während er genüsslich weiterkaute. Das hölzerne Kumt, Teil des Zuggeschirrs der Arbeitspferde, hatte Spuren auf dem Fell hinterlassen. In einem großen Oval rund um den Hals des Tieres war das Fell plattgedrückt. An einigen Stellen war die Haut wundgescheuert. Sie hielt ihm die Mohrrübe hin. Er schnappte gierig danach.

»Nun päppeln wir dich ein wenig auf, und dann hast du vielleicht noch ein paar schöne Jahre. Ab jetzt musst du nicht mehr schuften.« Gar nicht mehr, dachte Felicitas. Ihm würde es so gehen wie ihr. Er würde rein gar nichts mehr tun müssen, aber im Gegensatz zu ihr würde ihm das bestimmt gefallen. Sie griff zu einem Striegel und strich vorsichtig über das Fell. Auch etwas, was sie als vornehme junge Dame eigentlich nicht tun sollte. Dafür waren die Stalljungen da. Aber sie liebte es. Sie liebte die Pferde, den Geruch des Stalls, des Heus, der Pferdekörper.

»Es wird einen Ball geben, damit ich mich nach einem Ehemann umschauen kann. Weißt du, die meisten Männer sind nicht sehr gescheit, denn sie glauben alle, dass ich nicht gescheit bin. Da täuschen sie sich. Soll ich denn mit jemandem Tag für Tag zusammen sein, der mich für dumm hält, nur weil ich eine Frau bin?« Sie musste an den Bierkutscher denken, wie abfällig sein ›hysterische Weibsbilder‹ geklungen hatte. Und an Vater, der ihr nicht zutraute, technische Zeichnungen verstehen zu können.

Sie zuckte mit den Schultern, während sie ihn weiter striegelte. »Ich werde mich nach einem umschauen, der ein Landgut hat. Dann können wir dich und die beiden anderen mitnehmen. Dort kannst du auf einer richtigen Wiese in der Sonne grasen. Na, wie würde dir das gefallen?«

Das Tier blies durch die Nüstern, als würde es seine Gönnerin verstehen. Er schien ihre Berührungen zu genießen, denn nun verharrte er ganz still.

In der Pferdepension Tattersall standen schon seine Schicksalsgenossen. »Wie nennen wir dich? Hm, Hübscher? Welchen Namen würdest du gerne tragen? … Hope wie Hoffnung und Happiness wie Glück haben wir schon. Du wirst sie bald kennenlernen. Aber du? Wie nennen wir dich? … Wie wäre es mit Freiheit? Ab jetzt bist du frei.«

Das Tier ruckte mit dem Kopf, als würde es zustimmen.

»Also, Freedom. Jetzt heißt du Freedom. Ein schöner Name, findest du nicht auch?«

Der mächtige Kopf des Ackergauls drehte sich zu ihr und stupste nach ihrer Hand. Sie sollte weiterstriegeln. Mit einem Lächeln im Gesicht strich sie über seinen Widerrist die Flanke runter zum Fesselbein. Noch war das Fell stumpf. Aber es würde nicht so bleiben. Nicht bei guter Haltung, ausreichend Futter, frischem Wasser und mäßiger Bewegung. Ihm dabei zusehen zu dürfen, fühlte sich überragend an. Sie hatte etwas bewegt. Mit eigenen Händen. Aus eigener Kraft. Es war ein fantastisches Gefühl, außerordentlich befriedigend. Als wäre gerade etwas in ihr erwacht.

Freedom – ja, sie wollte auch mehr Freiheit, genau wie ihre Tiere. Luft zum Atmen. Ein Leben, in dem sie selbst etwas bestimmen durfte. Wie sie lebte, mit wem sie lebte. Natürlich waren das ungehörige Gedanken für eine Frau. Und doch … Sie musste sie einfach denken. Dieses Eingesperrt-Sein und Gegängelt-Werden konnte sie immer weniger ertragen. Lange würde sich dieser erwachende Wunsch nach Freiheit nicht halten, mit einem Mann an ihrer Seite, der ihr alles befehlen konnte, ja sogar die Pflicht hatte, ihr alles zu befehlen.

Sie verabschiedete sich von dem Tier und trat aus dem Stall heraus. Ihr Blick schweifte über den Himmel, der wolkenverhangen war. Wolkenverhangen wie ihre Zukunft. Natürlich könnte sie sich weiter zu Tode langweilen und dem Schnee beim Schmelzen zuhören. Oder sie nahm nicht nur das Schicksal von alten Pferden in die Hand, sondern auch ihr eigenes. Und das Erste, was sie tun sollte, war, sich mehr Informationen zu holen. Informationen, die ihr Schicksal ändern konnten. Und das würde sie direkt heute Nacht tun.

9. März 1888

Vater hatte bei verschiedenen Gelegenheiten erwähnt, dass er sowohl für sie als auch für Tessa eigene Konten angelegt habe. Er habe eine größere Summe zurückgelegt. Ausreichend Geld, um den Rest ihres Lebens in Wohlstand zu verbringen. So hieß es. Allerdings hatte er nun schon länger nicht mehr darüber gesprochen. Doch wenn Felicitas ihr Leben in die eigene Hand nehmen wollte, war der erste Schritt, eigenes Geld zu besitzen. Das war ihr bewusst. Ihr Vater besaß so viel Geld, sie waren so reich, und doch konnte Felicitas ihn nicht dazu überreden, ein Landgut zu kaufen. Es musste noch nicht einmal ein großes sein. Es musste nicht einmal wirklich einen wirtschaftlichen Betrieb haben. Ein schönes Haus im Grünen, wo sie im Garten die frische Landluft genießen konnte, dazu ein Stall mit ausreichend großen Pferdeboxen und weitläufigen Koppeln, auf denen sowohl ihre Reit- und Kutschpferde als auch ihre aufgekauften Zöglinge eine gute Zeit verbringen konnten.

Doch weigerte Vater sich beharrlich. Es sei ihm zu aufwendig, sich nach etwas Geeignetem umzusehen. Und würde er wirklich etwas kaufen, hätte er nicht die Zeit dazu, sich darum zu kümmern. Sie würde sich kümmern, sogar liebend gerne würde sie sich kümmern, versicherte Felicitas. Abermals Nein. Sicherlich würde er seine Tochter nicht wochen- oder gar monatelang alleine auf einem Landgut lassen. Und sein Platz sei schließlich hier in Berlin, in der Mitte des Geschehens. Überhaupt, wenn sie erst einmal verheiratet wäre, dann wäre sie froh, noch über ihr Geld verfügen zu können, hatte er argumentiert. Ihr Geld, über das sie selbst verfügen dürfte, es klang geradezu utopisch. Das Gesetz sah nicht vor, dass Frauen über Geld verfügen durften. Für diesen Zustand musste man schon verwitwet sein.

Trotzdem, Felicitas musste mehr über dieses Konto erfahren, über ihr Konto. Es war doch lächerlich, dass sie nicht einmal wusste, wie reich sie war. Und noch lächerlicher war es, dass sie keinen Zugriff auf dieses Geld hatte. Sie war es so leid, dass andere ständig über ihr Leben, ihre Wege, ihre Kleidung, ihre Tagesgestaltung, eben über alles bestimmten. Was durfte sie schon selbst entscheiden? Höchstens, was sie morgens auf ihr Frühstücksbrötchen tat.

Es war mitten in der Nacht, und alle schliefen. Da sie ausschließlich nachts Vaters Fachbücher aus seiner Studienzeit lesen konnte, weil man sie keinesfalls damit erwischen durfte, war es für sie kein Problem, nicht einzuschlafen. Natürlich waren seine Bücher über Mathematik, Physik und Mechanik hoffnungslos veraltet. Aktuellere Bücher bestellen durfte sie sich nicht. Einmal hatte sie einen fürchterlichen Streit mit Vater gehabt, der sie der fehlgeleiteten Weiblichkeit beschuldigt hatte. Sie habe den Kopf eines Mannes, hatte er ihr vorgeworfen. Und sie solle sich doch mit weiblichen Themen beschäftigen. So würde sie ja nie einen Mann finden. Als wäre es das, was Felicitas interessierte. Aber offenbar wollte Vater mit dem Ball nun die Sache selbst in die Hand nehmen.

In der tiefen Nacht schlich sie in völliger Dunkelheit die Treppe hinunter, nur bekleidet mit Nachthemd, Pantoffeln und Morgenmantel. Blind fand sie im Erdgeschoss den Weg in den rückwärtigen Bereich, wo das Arbeitszimmer lag. Leise drückte sie die Klinke hinunter und schlüpfte hinein.

Der Raum lag vollkommen im Dunkeln. Damit sie sich nicht durch einen hellen Schein unter der Tür oder aus dem Fenster verriet, zündete sie mit Schwedenhölzern die mitgebrachte Petroleumlampe an. Ein seltenes Stück in einem Haus, in dem es in jedem Raum Gaslampen gab. Hoffentlich würde Vater morgen früh nichts riechen.

Sie trat an den Schreibtisch, auf dem Unterlagen, Karten und Kladden lagen. Vorsichtig setzte sie die Lampe ab und zog eine Schreibtischschublade auf. Weit nach hinten geschoben stand eine Pappschachtel. In der lag ein kleiner Schlüsselbund, eingewickelt in ein Stück Stoff. Sie holte ihn hervor.

Die Wand hinter Vaters Schreibtisch war vollständig bedeckt durch ein Regal, das sich hoch bis zur Decke zog. Meterweise standen dort Kladden und Bücher und einige wenige Akten. Aber alles, was vertraulich war, befand sich hinter den verschließbaren Türen im unteren Fach. Hier lagerten die Aktenordner über das Königsberger Walzwerk. Links davon die zu den Kohlebergwerken, an denen Vater Aktienanteile hielt. Im nächsten Schrankabteil standen Akten zur Eisenbahnreparaturwerkstatt, daneben ein ganzes Abteil nur zum Maschinenbau von Lokomotiven, weiter rechts zu seinen Eisenwerken. In fast allen Dokumenten hatte sie bereits geblättert und geschaut, ob sich dort etwas Interessantes fand. Bauzeichnungen, Konstruktionspläne, Skizzen von alten und neuen Maschinen. Informationen zu Spurweite oder Achslast oder Druckluftbremsen.

Die Bankunterlagen mussten weiter links stehen. Als sie das Regal aufschloss, entdeckte sie sofort mehrere Aktenordner mit der Aufschrift Deutsche Bank. Ganz unten rechts sprang ihr sofort ein Ordner ins Auge. Felicitas & Tessa stand vorne drauf. Sie zog ihn vorsichtig heraus. Oben auf lagen Informationen zur Gestaltung von Eheverträgen sowie zu steuerlichen Erwägungen in der Gestaltung der Mitgift. Typisch Vater, dachte sie. Er machte aus allem ein Geschäft.

Dann folgte ein Zwischenblatt mit einer eidesstattlichen Versicherung, dass Vater über das Konto, das tatsächlich auf Felicitas’ Namen lief, das Nießbrauchrecht innehatte. Was nichts anderes bedeutete, als dass sie keinen direkten Zugriff hatte. Sie blätterte um, und sofort fiel ihr die Summe von 66354 Mark und 23 Pfennigen ins Auge. Sie blätterte weiter nach hinten und konnte sehen, dass Vater im Jahr 1875 für sie 50000 Mark angelegt hatte. Die Differenz ergab sich aus den Zinsen, die sie in den dreizehn Jahren bisher dafür bekommen hatte. Eilig blätterte sie weiter. Bei Tessa stand genau das Gleiche. 50000 Mark, die angelegt worden waren und die bisher das Gleiche erwirtschaftet hatten. Jede der beiden Töchter verfügte theoretisch über ein Vermögen von über 66000 Mark.

Der Schweiß brach ihr aus. 66000 Mark – Felicitas ließ sich die Summe auf der Zunge zergehen. Sie war reich, sogar steinreich. Sie wusste, dass viele Grafen mit ihren Landgütern zwanzig- bis dreißigtausend Mark im Jahr erwirtschafteten. Wenn es denn gut lief. Wenn es nicht so gut lief, deutlich weniger. Mit dieser Summe könnte sie ein riesiges Landgut kaufen und noch viel mehr alte Pferde unterbringen.

Auf Vaters Schreibtisch suchte sie nach einem Zettel und einem Bleistift und notierte sich die Summe, und auch die Kontonummern von ihrem und von Tessas Konto. Nun wusste sie, wie viel Geld ihr irgendwann zur Verfügung stehen würde. Und wo es zu finden war.

Ob sie an das Geld kommen würde, wenn sie großjährig wurde? Sie war neunzehn und musste im Grunde nur noch achtzehn Monate durchhalten. Dass Vater ihr erlauben würde, alleine über dieses Geld zu verfügen, war eher unwahrscheinlich. Dennoch, die Vorstellung, in anderthalb Jahren ein eigenes Landgut zu besitzen, war genau das, wovon sie immer geträumt hatte.

Den Aktenordner noch in den Händen setzte sie sich auf den Boden. Wer eigentlich würde Vaters Vermögen erben? Würde er es seinen verheirateten Töchtern vermachen, dann gehörte es den Schwiegersöhnen. Ein Grund, warum in der Regel die Väter die Männer ihrer Töchter auswählten. Sie suchten nicht nach passenden Männern für ihre Töchter. Sie suchten nach kompetenten Geschäftsmännern, die dem Erbe gewachsen waren. Wen würde Vater als kompetent genug ansehen?

Aber was, wenn er früher starb? Bevor eine oder beide seiner Töchter vermählt waren? Ob Vater hier irgendwo ein Testament hatte? Sie stellte den Ordner zurück und suchte in einem Stapel Papiere. Ein Pappordner fiel ihr entgegen. Felicitas konnte den Inhalt, der gerade Blatt für Blatt herausrutschte, gerade noch schnappen, bevor er gegen das Glas der Petroleumlampe stieß.

Sie stellte die Lampe weiter weg und sortierte die herausgerutschten Unterlagen zurück. Bei einem Brief stutzte sie. Es war wohl die zweite Seite, denn der Brief fing mitten im Text an.

… besorgniserregende Defizite auf all Ihren Konten. Die aufgezählten Defizite bilden nur die Schuldnerschaft in unserem Kreditinstitut ab.

Ihre Schulden belaufen sich auf eine derartige Größenordnung, dass Sie sich bitte am 20. Februar dieses Jahres in unseren Räumen bei der Deutschen Bank in der Hauptfiliale einfinden mögen. Wir werden über die Möglichkeit der Tilgung oder auch gegebenenfalls der Pfändung von Teilen Ihres Vermögens sprechen müssen.

Felicitas starrte schockiert auf die Zeilen. Vater – hoch verschuldet? Das hätte sie ihm nicht zugetraut. Sie hatte ihn immer für einen ausgezeichneten Geschäftsmann gehalten. 20. Februar – was war da gewesen? War Vater ausgegangen? War er eher glücklich oder eher niedergeschlagen zurückgekehrt? Sie erinnerte sich nicht. Sie las den Absatz weiter.

Gegebenenfalls bringen Sie bitte auch weitere Unterlagen zu Krediten und Schulden aus anderen Bankhäusern mit.

Hochachtungsvoll

Darunter stand eine Unterschrift, die sie nicht entziffern konnte. Vater war so gut wie bankrott? War das der Grund dafür, dass er ihr stets verweigerte, ein Landgut zu kaufen? Aber dann wiederum plante er einen großen, sündhaft teuren Ball. Das passte nicht zusammen.

Sie wollte gerade die erste Seite des Briefes suchen, als sie ein Geräusch hörte. In aller Eile löschte sie die Lampe. Und verharrte. Ihr Herz raste. Kam jemand? Hörte sie Schritte? Um Himmels willen, wenn sie entdeckt wurde! Hier im Dunkeln, auf dem Boden, in Vaters Heiligtum, in seinen Unterlagen stöbernd. War es nur ein Dienstbote, könnte sie ihn vielleicht noch bestechen. Aber wehe, es war Vater. Sie würde sich eine gehörige Tracht Prügel einhandeln. Und vermutlich weitere Sanktionen.

Als sie nach einem ewig langen Moment nichts mehr hörte, stand sie vorsichtig auf und öffnete die Tür. Nichts war zu hören. Sie schlich durch den Flur in Richtung Vestibül. Irgendjemand war dort. Sie lief zur Hintertreppe, auf der sich die Dienstboten ungesehen durchs Haus bewegten. Ein sanfter Lichtschein drang von unten herauf. Vermutlich ein Dienstbote, der sich in der Küche einen Becher Wasser holte. Nun hörte sie Schritte.

Vorsichtig zog sie sich zurück. Als sie rückwärts um die Ecke ging, hörte sie ein leises Schrammen. Und spürte etwas an ihrer Hüfte, das sich bewegte. Ein spitzer Schrei entfleuchte ihrem Mund. Geistesgegenwärtig griff sie ins Dunkle. Und erwischte die Vase, die dort gerade von einer Ziersäule rutschte. Hitze flutete durch ihren Körper. Was tat sie da nur? Wenn die Vase runtergefallen wäre, wäre das gesamte Haus wach geworden. Zitternd stellte sie die Vase zurück an ihren Platz. Ihr Morgenmantel hatte etwas von dem Blumenwasser abbekommen, was verschmerzbar war. Viel wichtiger war: Hatte, wer immer im Keller war, sie gehört?

Sie wartete hinter der Ecke, bis die leisen Schritte auf der Hintertreppe lauter wurden. »Hallo? … Ist da jemand?«

Vaters Dienstbote. Ihr Herz blieb stehen. Sie regte sich nicht. Atmete nicht einmal.

»Hallo?« Nun klang es unsicher, als wäre der Mann sich nicht mehr gewiss, ob er wirklich etwas gehört hatte. Einen kurzen Moment noch dauerte es, dann hörte sie Schritte auf der Hintertreppe, die leise verklangen.

Endlich traute sie sich wieder zu atmen. Sie musste zurück ins Arbeitszimmer. Die Schränke waren noch offen. Im Dunkeln tastete sie sich zurück. Hinter dem Schreibtisch entzündete sie kurz die Petroleumlampe, packte mit zitternden Händen alles wieder in den Pappordner, auf den Vater handschriftlich Anatolische Eisenbahn geschrieben hatte. Sie hatte noch nie etwas von dem Projekt gehört. Und gerade war es ihr auch egal. Ihr Herz klopfte noch immer so wild, dass es ihr fast zum Hals herausprang. Nur um Haaresbreite war sie einer Katastrophe entgangen. Umsichtig legte sie den Pappordner zurück, sperrte die Regaltür zu und stand auf. Sie wollte nur noch ungesehen zurück in ihr Zimmer.

März 1888

»Die Hohe Pforte wird dem Projekt doch bestimmt zustimmen. Anders kann ich es mir gar nicht denken. Ich meine, die Strecke des Orient-Expresses ist beinahe durchgängig fertiggestellt. Aber sie endet in Konstantinopel. Wenn die Türken auch nur den Hauch einer Modernisierung ihres Landes planen, dann bleibt ihnen nichts anderes übrig«, sagte Herr Hanemann, einer von Egidius’ besten Ingenieuren.

Mit der Hohen Pforte war die Zentralregierung des Osmanischen Reiches gemeint. Egidius’ Blick lag auf den Zahlenkolonnen, die Hanemann ihm gebracht hatte. Sie rechneten verschiedene Planspiele durch, nur um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. »Ja, er ist sehr krank, der kranke Mann am Bosporus«, sagte er fast zu sich selbst.

Wie sollte es auch anders sein? Alle europäischen Staaten waren ihnen davongaloppiert, mit gigantischen Stahlkutschen, die unter Dampf standen. Und die osmanische Wirtschaft betrieb ihren Warenhandel weiterhin mit Kutschen, Kamelen und Eseln.

Es war eine anerkannte Wahrheit, dass der Aufschwung Deutschlands beziehungsweise der Länder, die seit siebzehn Jahren das Deutsche Kaiserreich bildeten, erst wirklich mit dem Ausbau der Eisenbahn begonnen hatte. Bis dahin waren alle Wege zu weit gewesen, um profitabel zu sein. Landwirtschaftliche wie industrielle Produkte waren in großen Mengen kaum zu transportieren gewesen. Womit auch, mit Kutschen? Per Schiff ins Ausland verschiffen war auch dann nur rentabel, wenn man die Waren zuvor kostengünstig und schnell bis zum Hafen gebracht hatte.

Der wirtschaftliche Aufschwung des Kaiserreiches hing an der Eisenbahn – damals wie heute. Er selbst hatte davon profitiert und gutes Geld gemacht. Wollte man sich nicht mit dem Bau von Neben- und Kleinbahnstrecken abgeben, dann musste man ins Ausland. Gerade wurden die letzten Lücken der Orient-Express-Linie zwischen Serbien und dem osmanischen Saloniki geschlossen. Ab diesem Sommer sollte der Luxuszug endlich von Paris bis Konstantinopel durchfahren. Niemand würde noch in andere Züge oder auf Schiffe umsteigen müssen. Ein Großprojekt mit mehr als dreitausend Kilometern Schienennetz, quer durch Europa, an dem er leider nicht beteiligt gewesen war.

Jetzt flüsterte man es an allen Ecken in Berlin: Das nächste große Projekt war die Anatolische Eisenbahn. Dieses Mal sollte es anders laufen. Dieses Mal wollte er einen Teil der Aufträge bekommen. Es war ein riesiges Projekt, so umfangreich, dass nur die ganz Großen mitspielen durften. Und er gehörte zu den ganz Großen.

Fünfhundert Kilometer Bahnstrecke von Konstantinopel nach Ankara. Weitere fünfhundert Kilometer von dort nach Konya, und noch mal tausend Kilometer Schienen, wenn man sich anschließend zum Ausbau der Strecke über Damaskus bis nach Bagdad entschloss. Und ein Ende war nicht in Sicht. Es könnte immer weitergehen, durch die Landschaften um Euphrat und Tigris, weiter bis zum Persischen Golf und auf dem Landweg nach Indien. Indien! Eine solche Bahnlinie würde die Vorherrschaft der Briten in Indien beenden. Die Karten der wirtschaftlichen Oberhand über diesen Teil der Welt würden vollkommen neu gemischt. Das musste den Deutschen und der deutschen Regierung doch recht sein.

Aber bisher stand ja noch nicht mal fest, ob die Hohe Pforte überhaupt neben der Planung auch den Bau an eine ausländische Firma übergeben würde. Ja, ob sie überhaupt so weitsichtig war, dieses Projekt durchführen zu wollen. Bisher hatte er kaum mehr als ein Gerücht gehört. Er war dringend auf mehr Informationen angewiesen, wenn er die Chance bekommen wollte, bei dem Projekt mitzuspielen. Was er unbedingt wollte. Dabei gab es tausend Fragen, die alle noch nicht geklärt waren. Umso schwieriger war es, eine Kalkulation zu erstellen. Aber Egidius war nicht der Mann, der vor Schwierigkeiten zurückschreckte. Er war ein Mann, der in die Zukunft blickte und Chancen sah. Und hier sah er die Chance, einen Bauauftrag gigantischen Umfangs zu ergattern.

»Gibt es denn schon eine Aussage der deutschen Regierung?«

Egidius schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nichts gehört. Nach dem Tod des Kaisers rechne ich auch nicht mit einer zügigen Äußerung. Bismarck hat gerade anderes zu tun.«

»Ob der neue Kaiser der technischen Modernisierung gegenüber aufgeschlossener sein wird, wer weiß«, gab Hanemann zu bedenken.

Egidius schnaufte laut auf. Das war in der Tat zu bezweifeln. Kaiser Friedrich III. galt zwar als liberal und aufgeschlossen, aber nur in gesellschaftlicher und sozialer Hinsicht. »Bisher habe ich noch kein Sterbenswörtchen aus der Wilhelmstraße erfahren.«

Die Wilhelmstraße war die Schaltzentrale der deutschen Regierung. Hier saßen alle Ministerien, hier arbeiteten die wichtigsten Beamten des Kaisers. Und obwohl sein eigenes Wohnhaus, Palais Louisburg, an die Wilhelmstraße angrenzte, benutzte er dieses Wort, weil es gleichwertig war mit der deutschen Regierung. Wohnte man nicht in Berlin, dachte man vermutlich, dass alle wichtigen Entscheidungen im königlichen Schloss gefällt würden. Aber dem war nicht so. Außerdem traf ohnehin Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck, der wahre Gründervater des Deutschen Kaiserreichs, die meisten Entscheidungen. Zu gegebener Zeit würde er zur Anatolischen Eisenbahn ein Machtwort sprechen.

So groß Egidius’ Imperium war und so gut seine Verbindungen hinter die Kulissen der Berliner Regierung waren, es gab andere, die noch größere Imperien besaßen und weitaus bessere Verbindungen hatten. Krupp, Siemens, die Borsigwerke – seine größten Konkurrenten in diesem Spiel. Er musste sicherstellen, dass er alles erfuhr, was sie wussten. Dass er wusste, was sie planten. Und dass er wusste, wie ihre Angebote aussehen würden.

Es klopfte an der massiven Holztür. Sie ging auf, und ein Diener steckte seinen Kopf herein. »Herr Louisburg, ein Herr Nipperdey hat sich angekündigt.«

Egidius nickte. »Er soll kurz warten. Wir sind so gut wie fertig.«

Eilfertig packte Hanemann seine Unterlagen zusammen. »Wie gesagt, nähere Berechnungen über die Kosten von Schienen und Eisenverbrauch kann ich sofort liefern, sobald wir eine festgelegte Spurweite haben.«

»Rechnen Sie es schon mal alles durch auf unsere Normalspur. Die Osmanen werden ja wohl hoffentlich dem Argument zugängig sein, dass alle Bahnen direkt weiterfahren könnten. Und vor allem, dass sie die ausgemusterten Lokomotiven und Waggons von uns Europäern kaufen können.«

»Damit habe ich bereits begonnen. Nächste Woche werde ich Ihnen eine erste Kalkulation liefern können.«

»Sehr gut. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden.«

Hanemann packte seine Kladde in eine Ledertasche, klemmte sich diese unter den Arm, verbeugte sich knapp und verließ in seinem dunkelgrauen Anzug den Raum.

Egidius ließ seinen Blick über seinen mächtigen Schreibtisch gleiten. Nichts deutete mehr auf das Projekt Anatolische Eisenbahn hin. Sein Interesse daran lief unter größtem Stillschweigen.

So nüchtern Herr Hanemann in seinem schlichten Anzug ausgesehen hatte, so verspielt und farbig sah der Mann aus, der nun im Türrahmen erschien. Dicke, glänzende Goldknöpfe zierten den wohlgenährten Bauch, der unter einer unangemessen hellblauen Anzugjacke ruhte. Er war um die fünfzig, hatte einen aschblonden Haarkranz, aus dem er längere Strähnen über eine Halbglatze gekämmt hatte, und trug einen ausladend gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Bart. Sein Anzug wirkte eher wie die Livree eines Zirkusdirektors. Dass ein Mann wie dieser aus dem ehrwürdigen Königsberg stammen könnte, so wie Egidius selbst, hätte er nicht für möglich gehalten. Aber nun denn, vielleicht musste man so aussehen, wenn man ein Zeremonienmeister war, ein Künstler. Wobei er sich sicher war, dass der Zeremonienmeister des Kaisers sicherlich keine so schillernde Erscheinung war. Aber was wusste er schon? Bürgerliche wie er wurden nicht zu Hofe eingeladen.

»Herr Nipperdey, guten Tag.«

»Einen wunderschönen guten Tag wünsche ich auch Ihnen.« Er machte eine schwungvolle Handbewegung und verneigte sich ausführlich. Was Egidius’ Eindruck eines Zirkusdirektors noch verstärkte. »Was für ein prächtiges Gebäude. Ausgesprochen günstig, um einen Hausball abzuhalten, wenn ich das schon vorwegschicken darf.«

Die Tür ging auf, und der Diener trat wieder ein. »Darf ich den Herren Kaffee oder Tee bringen?«

Noch bevor Egidius etwas sagen konnte, nickte der Zeremonienmeister eifrig. »Kaffee, und dazu gerne einen Portwein.« Er drehte sich zu Egidius um. »Einen guten Kaffee sollte man nicht vereinsamen lassen.«

Egidius zog die Augenbraue hoch, wandte sich dann aber an seinen Diener. »Für mich dann bitte das Übliche.« Er wies Herrn Nipperdey vor den Kamin, wo mehrere bequeme Sessel standen. Beide setzten sich. Herr Nipperdey sah sich aufgeregt um, schien aber mit dem Ergebnis zufrieden zu sein.

»Ist das eine der Räumlichkeiten, die ich in den Ablauf des Balls miteinbeziehen darf?«

»Keinesfalls«, sagte Egidius leicht irritiert.

»Ich habe letztens einen Ball organisiert, da wurde das Arbeitszimmer als Rauchsalon für die Herren benutzt.«

»Ähm … Also, das wäre mir nicht recht. Nein. Wir haben genügend andere Räume.« Er sah sich den Mann näher an. Seine Referenzen waren vorzüglich. Er hatte mehr als eine große Veranstaltung organisiert, für Grafen, Freiherren und reiche Industrielle.

Herr Nipperdey ließ sich in den Sessel zurücksinken. »Fangen wir doch sofort an. Das Wichtigste vielleicht zuerst: der Anlass und die Personenzahl, die Sie einzuladen gedenken.«

Nipperdey kam direkt zur Sache. Das gefiel Egidius. »Wie gesagt, es soll ein großer Hausball werden.« Der konkrete Anlass, ja, das allerdings war eine Sache, die Egidius noch möglichst lange geheim halten wollte. »Meine älteste Tochter, Felicitas, nun, sie ist jetzt in dem Alter, da sie sich nach einem passenden Ehemann umschauen sollte. Und ich will auch für mich die Gelegenheit nutzen, meine Stellung in dieser Stadt zu untermauern. Ich plane, die Honoritäten Berlins einzuladen. Der Ball soll unvergesslich werden.«

»Denken Sie an so etwas wie vor fünf Jahren in New York?«

Egidius stutzte. Was war denn 1883 in New York gewesen?

Nipperdey sprach direkt weiter. »Der Maskenball von Madame Vanderbilt. Mrs. Vanderbilt konnte damit schlussendlich ihre hohe Stellung in der Gesellschaft zementieren, gegenüber Mrs. Aston. Vierhundert Gäste waren geladen. Und man spricht noch heute von dem Ereignis.«

Ach, das meinte er. Davon wusste Egidius natürlich. Vanderbilt war selbst ein Eisenbahn-Magnat. »Nun, vierhundert Gäste werden es wohl nicht, aber an die dreihundert könnten es werden. Ich bin mir nicht sicher, was die Platzmöglichkeiten angeht. Vor allem beim Essen.«

»Dreihundert Gäste hört sich allerdings sehr nach einem Büfett an. Ein Essen bei Tisch ist sehr viel aufwendiger. Ein Büfett ist enorm platzsparend.«

»Ein Büfett? Essen im Stehen? Ist das nicht sehr unbequem?«

»Die Herrschaften sind es gewohnt. Die Damen sitzen, die Herren essen im Stehen. Ganz wie bei Hofe.«

»Tatsächlich. Wie bei Hofe? Ja dann.«

»Natürlich müsste ich mir als Erstes einen Überblick über die Räumlichkeiten verschaffen. Dann kann ich Ihnen Genaueres sagen. Aber was haben Sie grundsätzlich im Sinn – einen Hausball, einen Maskenball?«

»Nein, kein Maskenball, bitte.« Was für eine grässliche Vorstellung. Egidius verzog seine Miene.

»Und eher in einem konventionellen Rahmen, oder auch ein wenig Chichi?«

»Chichi?«

»Also, sollen wir ungewöhnliche Dinge einplanen, oder bleiben wir beim normalen Ablauf?«

»Wie wäre denn ein normaler Ablauf?«

»Der Empfang der Gäste, die Eröffnung des Balls und anschließend das Essen. Zu Beginn tanzen alle, aber sehr bald werden sich die Mütter der jungen Damen an den Rand setzen und zuschauen, während sich die Herren meist in den Rauchersalon zurückziehen. Um Mitternacht gibt es noch mal ein leichtes Souper. Eventuell einige kleine Aufführungen. Und man wird sehen, wann die Gäste gehen.«

»Das klingt doch vernünftig.«

»Das bedeutet, ich bestelle Bestuhlung, Essen und Diener, die servieren. Ich werde mich um ein Orchester kümmern. Um entsprechende Dekoration und die Umgestaltung der einbezogenen Räumlichkeiten. Wir sollten extra Tanzkarten für die jungen Damen herstellen lassen. Und für die gedruckten Einladungen bräuchte ich zeitnah die Gästeliste.«

»Wie zeitnah? Ich bin ein viel beschäftigter Mann.«

»Aber natürlich. Je eher ich weiß, wer kommt, desto eher kann ich mir ein Bild darüber machen, welcher Rahmen für den Ball infrage kommt.«