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Im Jahr 1910 sah sich in München der Verleger und Eigentümer einer Buchhandlung Karl Schüler genötigt, auf den Angriff einiger konservativ-kirchlicher Berufsgenossen mit einer Verleumdungsklage zu antworten. Der Vorwurf an ihn: Er habe in seinem Weihnachtskatalog pornographische Literatur angeboten. So war, neben anderen klassischen Werken der Weltliteratur, zum Beispiel Boccaccios ›Dekameron‹ den Sittenwächtern ein Dorn im Auge. Zur Unterstützung Schülers verfasste eine Reihe namhafter und renommierter Künstler, Kunsthistoriker und Schriftsteller entsprechende Stellungnahmen, unter ihnen Thomas Mann. Wie aus zahlreichen seiner Schriften hervorgeht (›Bilse und ich‹ ist eines der bedeutendsten Beispiele), vertrat Mann – auch in seiner Tätigkeit als Mitglied des Münchner Zensurbeirats – stets eine eindeutige Position zugunsten der Kunstfreiheit mit all ihren Konsequenzen und stand einer allzu strengen Zensur folglich entschieden entgegen. Die Schützenhilfe konnte zwar nicht verhindern, dass die Klage Karl Schülers in letzter Instanz abgewiesen wurde, Thomas Manns ›Gutachten‹ wurde hingegen auch nach der Erstveröffentlichung im Mai 1911 an unterschiedlicher Stelle wieder abgedruckt.
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Seitenzahl: 14
Thomas Mann
Gutachten [über Pornographie und Erotik]
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
[ÜBER PORNOGRAPHIE UND EROTIK]
Ich habe das Gutachten des Herrn Dr. Fürstenwerth gelesen und würde aufrichtig bedauern, wenn das Gericht dieses Gutachten seinem Spruche zu Grunde legen sollte. Herr Fürstenwerth ist mit dem Beklagten zwar nicht persönlich, wohl aber in geistiger Beziehung »verwandt und verschwägert«, und seine Parteilichkeit, seine Neigung, der Sache des Beklagten zu dienen und der des Klägers zu schaden, tritt selbst dort – und gerade dort –, wo er sich einer gewissen schielenden Objektivität befleißigt, klar zu Tage. Mit schöner Loyalität stellt er zum Beispiel fest, daß der Gesamteindruck des Schülerschen Katalogs vorzüglich ist, flicht aber ein, daß in der Abteilung »Kunst« wesentlich modernster Anschauung Rechnung getragen sei (was nicht einmal wahr ist) und fügt hinzu: Ein Anhang »hervorragende Werke Münchener Schriftsteller« enthalte freilich eine Anzahl Schriften, »die in verhüllter Form das Recht der freien Erotik verteidigen«. Was in aller Welt soll das heißen? Welches sind diese verhüllten Schriften? Was ist das überhaupt für ein »Recht der freien Erotik«, das Herr Fürstenwerth beständig in Anführungsstrichen zitiert und dessen Behauptung er uns – den kulturell Interessierten – zuschreibt? Man hat den Eindruck, daß er von den Dingen, die er bekämpft, nur so entfernt hat läuten hören, und eigentlich als ein Unkundiger davon redet: So, wenn er mit ahnungsvoller Wut von »diesen freien Erotikern, jenseits von Gut und Böse, oder wie sie sich sonst nennen« spricht.
Die Firma Ackermanns Nachfolger hat, aus einem gewissen Lokalpatriotismus und in der Annahme, daß das Münchner {293}