Gwen und Runolf - Sabine Lippert - E-Book

Gwen und Runolf E-Book

Sabine Lippert

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Beschreibung

England im späten 9. Jahrhundert: Auf schicksalhafte Weise wird die gehbehinderte Gwen, Tochter eines northumbrischen Fischers, in die heftigen Umwälzungen hineingezogen, die der Einfall eines großen Wikingerheeres in ihre Heimat mit sich bringt. Denn diesmal sind die heidnischen Feinde nicht nur zu einem räuberischen Besuch, sondern als Eroberer gekommen.

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„Schicksalsfügungen der Nornen sind unleugbar noch unbestimmbarer als der Würfel.“

(aus den Gesta Danorum, den „Taten der Dänen“, verfasst von Saxo Grammaticus im 12. Jahrhundert)

Der beschwerliche Anstieg lag hinter mir; ich befand mich an dem seit frühesten Kindheitstagen geliebten Platz, der freien Blick über die so grenzenlose Weite des Meeres bot.

Tief unter mir toste die Brandung an den Strand; Möwen zogen lebhafte Kreise, mit dem ihnen eigenen spöttischen Gelächter. Meinen älteren Bruder hatte das früher so aufgebracht, dass er Steine auflas und nach ihnen warf, ohne sie jemals zu erwischen. Meinen Ohren erschienen ihre Laute eher erheiternd, als würden sie mich unterhalten. Eine jener großen grau-weißen Möwen kam jetzt in meine Nähe gesegelt und ließ sich auf einem Stück verstürzter Mauer nieder, um mich, die ich mich auch gerade auf den verwitterten Steinquadern hinsetzte, neugierig zu beäugen. Ich summte eine Melodie, zu der sie den Kopf schief legte. Hier oben, auf der stets windigen Hochfläche, hatte man meist nur die Gesellschaft von Möwen.

Die alten Leute erzählten, dass vor sehr, sehr langer Zeit all diese Steinmauern einmal zu einem hohen Wachturm gehört hatten, der die Küste weithin im Blick hatte. „Alles in Stein ist von den Römern.“, hatte unser Priester – einer der Wenigen in Falsgrave, der des Lesens und Schreibens kundig war – uns belehrt. Die Römer, ein Volk aus dem fernen Italien, hatten hier gelebt, bevor wir Sachsen einwanderten. Seit langem waren sie fort, aber ihre festen Mauern hatten sie überall hinterlassen: Etwa die eine oder andere alte Brücke hier in der Gegend, deren kunstvolle Steinbögen Flüsse überspannten und noch immer befahren wurden. Weitere alte Gemäuer befanden sich in Eoforwic, der Hauptstadt unseres Königreiches Northumbria. Die Stadt wurde vom Ring der alten Steinumwehrung nach wie vor geschützt, wofür man den Römern dankbar sein musste.

In meinem Rücken, weit jenseits der Hügel, lag unser Eoforwic. Dorthin war vor einem Jahr mein älterer Bruder gegangen, um eine Lehre als Wagenbauer zu beginnen. Seitdem hatten wir ihn einmal besucht und gesehen, dass es ihm gutging. Ich beneidete Osred, dass er an diesem Platz so bunten Lebens wohnte, wo man täglich Aufregendes sehen konnte! Viele Händler von der ganzen Insel, einige sogar aus Europa, verkehrten dort, und manch fremde Sprache konnte man hören. Gebildete Leute, Studenten der berühmten Klosterschule, schwirrten da umher. Hauptanziehungspunkt aber war – vor allem für diejenigen, die so abseits wohnten wie wir - der Markt rund ums minster mit seinem vielfältigen Angebot an Waren!

Wie klein war dagegen meine Welt; sie bestand aus Falsgrave, dem Ort, wo ich geboren war, den Wiesen und Hügeln ringsum sowie dieser Klippe, die ich 'mein kleines Königreich' nannte. Noch war ich ja sehr jung und dennoch sicher: Ich würde fernere Orte nie kennenlernen...

Ich schaute hinab zum Saum meines Kleides, das meinen verwachsenen linken Fuß verdeckte. Mit ihm war ich geboren und würde daher nicht das Leben einer gewöhnlichen Frau führen. Freilich, ein unglückliches Dasein hatte ich nicht. Meine Eltern, Fischer aus Falsgrave, liebten mich nicht weniger als ihren robusten Sohn. Viele Kindergefährten hatte ich nicht gehabt, aber zumindest ein, zwei, die sich nicht schämten, einem Mädchen mit missgestaltetem Fuß Gesellschaft zu leisten. Herumtollen und fröhlich sein wollte ich wie alle anderen, so ungelenk es auch aussehen mochte. Unternehmungslust hatte ich immer verspürt, da ich nicht das Leben einer traurigen Einsiedlerin innerhalb des Hauses führen wollte.

Die Möwe saß nach wie vor in meiner Nähe, und ich fuhr fort, ihr etwas vorzusummen. Die Lyra aus Eibenholz, mein einziges kostbares Besitzstück, konnte ich leider hier oben hin nicht mitnehmen, da eine Hand sich immer auf die Krücke stützen musste. Das Lyraspiel beherrschte ich mittlerweile recht gut, und beinahe jedermann in Falsgrave lauschte gerne meinem Spiel, bei Einladungen oder Festlichkeiten. Zweifellos, so ging es mir durch den Kopf, waren Menschen mit missgestalteten Händen schlimmer dran als ich, denn für wie viele wichtige sowie schöne Dinge – einschließlich der Musik – brauchte man seine Hände!

Als ich mich schließlich erhob, flog auch die Möwe mit Abschiedsgelächter auf; ich lächelte ihr nach, während ich meinen wollenen Umhang ordnete und fester über dem Kleid schloß. Lebhaft brauste nämlich der Wind vom Meer her über die kleine Hochfläche. Jetzt, im Frühsommer, stand das Gras so hoch, dass mancher Mauerrest darin verschwand und man sehr achtgeben musste, nicht darüber zu stolpern. Solches war mir passiert, wenn ich als Kind hier oben wild herumjagte, gemeinsam mit meinem Bruder, der ja eigentlich auf mich achtgeben sollte und dann seine Schwester doch mit aufgeschlagenem Knie heimbrachte. Tränen hatte ich nie vergossen dabei – galt es doch, den verborgenen Goldschatz der Römer zu finden...

Hundegebell drang an mein Ohr, und ich wandte mich wieder zur Kante, um die Fischerboote draußen auf dem Meer zu beobachten. Eines davon mochte mein Vater sein. Manchmal nahm er mich mit, an ruhigen Schönwettertagen. Vom Wasser aus konnte ich dann auf mein kleines Königreich schauen, den markanten Felsen bewundern, wie er sich über dem Strand mächtig erhob. Dennoch gab ich dem Felsen den Vorzug vor dem Boot. Von hier oben betrachtet lag alles weit unter mir – auch sämtliche Sorgen, Bekümmernisse.

Der Wind bauschte mein langes, haselnussbraunes Haar, und ich genoss es. „Was für eine hübsche Frau du geworden bist, Lynne!“, hatte mich Coelred auf seinem letzten Besuch begrüßt. Mit mir gleichaltrig, sogar fast am gleichen Tag geboren, war Coelred in der nächsten Nachbarschaft aufgewachsen. Wie oft hatte er, in Vertretung meines Bruders, mir beim steilen Aufstieg hier herauf, geholfen und mich fest bei der Hand gehalten! Auf den alten Mauern lagernd hatten wir Zukunftspläne gemacht; er hatte geschworen, nie eine andere Frau heimzuführen als mich. Ich konnte, durfte nicht erwarten, dass er dieses Versprechen hielt. Außerordentlich klug und gewinnend, war er aus Falsgrave weggegangen, um in die Dienste eines ealderman zu treten. Bei seinen seltenen Besuchen in der Heimat hatte er sich immerhin stets Zeit genommen, bei seiner einstmals liebsten Gefährtin vorbeizuschauen. Aus ihm würde ohne Zweifel ein tüchtiger Mann, der einflussreiche Leute und viele entfernte Orte kennenlernte und eines Tages eine Frau aus vornehmem Hause ehelichte. In meinem Innern mochte ich jedoch nicht Abschied nehmen von meinem Seelenbruder.

Ich zog ein kleines, aus Haselnussholz geschnitztes Kreuz hervor, das ich in einem Lederbeutelchen an meinem Gürtel trug. Ceolred hatte es, bevor er fortging, selbst gefertigt und mir als Andenken geschenkt. Mit beiden Händen umfasste ich es, bis es von meiner Körperwärme erfüllt war...

Wie oft ich Gottvater gezürnt hatte – dafür, dass ich das Leben eines missgestalteten Mädchens leben musste, das ich andernfalls mit Coelred an meiner Seite hätte glücklich leben können. Es war nicht immer leicht, vor allem nicht, wenn ich Zeuge einer Hochzeit in Falsgrave wurde und mir der Anblick der Braut in vollem Schmuck einen Stich versetzte. Hier oben, in meinem Königreich, umgeben von meinen zahllosen Untertanen, den Möwen, empfand ich Frieden mit allem. Mein Blut war vielleicht stolzer, als es der Tochter eines einfachen Fischers zugestanden hätte. Selbstmitleid sollte mich nicht zermürben.

*

Seit nunmehr über einem Jahr litt unser England unter der Heimsuchung des großen Heidenheeres. Nun hatte es sich auch Eoforwic einverleibt!

Der stolze Mittelpunkt unseres Königreichs Northumbria war ihnen so leicht zugefallen wie eine reife Frucht! Hinterlistig hatten sie den Tag ausgewählt, an dem das Fest von Allerheiligen begangen wurde, jedermann also mit anderem beschäftigt war, als sich auf einen Überfall vorzubereiten. Dabei hatte es einige Zeit vorher bereits Warnungen gegeben, zumal die Feinde mit einem großen Teil ihrer Flotte den Humber hinauf gesegelt waren, um sich dann die restliche Strecke bis Eoforwic auf dem Pferderücken weiterzubewegen.

Händler und vereinzelte Flüchtlinge hatten die schlimme Kunde in unsere – noch friedvolle – Abgeschiedenheit gebracht.

„Es sind wilde Teufel, tollwütige Wölfe!“, schilderte man erregt, und wie Eoforwics minster von den Siegern als Banketthalle für ihre wüste Siegesfeier missbraucht worden war, nachdem man alles von Wert zu Beute gemacht hatte; auch die altehrwürdige Klosterschule wurde bis auf die nackten Mauern geplündert, um den Heiden danach als Pferdestall zu dienen. Das Händlerviertel am Ouse hingegen kam erstaunlich glimpflich davon. Ich sollte erst viel später begreifen, weshalb...

Einige Einwohner waren in die Sklaverei verschleppt worden; ansonsten schien wenig Blut geflossen zu sein – eine für uns beruhigende Nachricht. Wie mochte es meinem Bruder Osred ergangen sein? Vielleicht befand er sich unter jenen, die aus Eoforwic geflohen waren, und wir sahen ihn bald wieder hier...

Und was hatte ich noch erfahren müssen? Ceolred hatte sich gemeinsam mit seinem Gefolgsherrn dem Heer König Osberts angeschlossen, das irgendwo im Landesinnern seine Kräfte sammelte. Seitdem wachten meine Gedanken bei ihm; ich hielt das geschnitzte Kreuz in meinen Händen, zu Gott betend, er möge mir nicht eines Tages die Kunde schicken, dass mein Ceolred von den Schwertern dieser Barbaren auf irgendeinem Schlachtfeld zerstückelt wurde, wie so mancher aufrechte Kämpfer bisher. Dabei hätte ich von Stolz erfüllt sein müssen, dass er unserem König zur Seite getreten war!

Über den Niederungen waberten die Novembernebel. Ich verbrachte jetzt, im Herbst, mehr Zeit im Haus, an der Seite meiner Mutter, als ihre unermüdliche Helferin am Webstuhl, um warme Wollkleidung für die kalte Jahreszeit zu fertigen. Verschlissene Kleidung wurde ausgebessert. Es gab so viel zu tun, dass die Stunden rasch verstrichen; zwischendurch schauten immer wieder Besucher vorbei, die neue Nachrichten brachten – darunter endlich auch einen Gruß meines Bruders!

Da sich in Eorforvic alles zu beruhigen schien, wollte er tatsächlich weiter ausharren! Offenbar gedachten sich die neuen Herren in der Stadt dauerhaft einzurichten. Wie wir erfuhren, hatte unser kluger Erzbischof Wulfhere mit den Siegern erträgliche Vereinbarungen getroffen, die ein Zusammenleben der einheimischen Bevölkerung mit den Heiden regeln sollte. Es konnten ja nicht alle weglaufen aus einer so wichtigen Stadt, so dass alles zusammenbrach! Mein Bruder hatte also letztendlich richtig gehandelt, indem er sich nicht mit der anfänglichen Panik mitreißen ließ. Wie er uns übermittelte, blickte er der Zukunft einigermaßen gelassen entgegen: Den Barbaren müsse man möglichst aus dem Wege gehen; sie wären ohnehin momentan damit beschäftigt, um das eroberte Eoforwic neue Erdschanzen zu errichten. Das wohl umsonst, denn spätestens im folgenden Frühjahr würden unsere northumbrischen Streitkräfte sie wieder rauswerfen. Jetzt, im Winter, wäre Zeit, erst einmal die Wunden zu lecken und Kräfte zu sammeln...

All das hätte ja gar nicht so weit kommen müssen, wenn unsere seit Jahren um die Macht streitenden Oberhäupter, König Osbert und sein Bruder Aella, die wilden Horden mit ihren Zwistigkeiten nicht regelrecht zu diesem Überfall eingeladen hätten – so ereiferte sich mein Vater am Tisch, und er hatte sicher recht. Teilweise schien nicht ganz klar, wer den Thron im Besitz hatte: Osbert oder Aella. Warum nahmen sie sich eigentlich kein Vorbild an den Herrschern von Wessex, deren Stärke in Einigkeit bestand? Mein Vater und wir alle hofften natürlich, dass Osbert und Aella, durch die Niederlage klüger geworden, zu einer dauerhaften Allianz gegen die Gefahr fanden. Dann war die Hoffnung berechtigt, dass Northumbria bald wieder von dieser Plage befreit war.

Wenn mein Vater früh morgens zum Fischen aufbrach, mahnte er uns, die Ohren offenzuhalten. Hier in Falsgrave sowie in den benachbarten Gemeinden ging seit längerem die Befürchtung um, die Barbaren könnten einzelne Scharen bis zur Küste schicken, um die Verhältnisse auszukundschaften und natürlich zu plündern, wo sich's lohnte. Vor allem für uns Frauen verhieß das nichts Gutes – man hatte gehört, dass bereits einige unverheiratete Mädchen geschändet oder gar verschleppt worden waren. Natürlich gab es hier und da auch solche Weiber, die derlei Gesellen als Liebchen durchaus freiwillig folgten, vor allem in einer Stadt wie Eoforwic...

Meine Mutter wies mich darum an, vorerst keine ausgedehnten Streifzüge in die Natur zu machen, sondern in Sichtweite der Siedlung zu bleiben – für den Fall, dass unverhofft berittene Heiden auftauchten. Die abgeschiedene Ruhe, die wir so gewöhnt waren, schien dahin. Eine Lage, der ich mich erst anpassen musste. Ich war keine ängstliche Natur.

Mutter und Vater sahen als gutherzige Eltern freilich darauf, mich wohl zu behüten; um ihr Dasein nicht noch mehr zu erschweren, fügte ich mich einigermaßen. Es fiel mir leicht, zumal die Winterzeit meine Streifzüge in die Natur ohnehin einschränkte. Wenn Regen gegen die dicken Lehmwände unseres Hauses peitschte, war es sogar richtig behaglich. Und wie schnell nahte das Christfest, die ersten Schneefälle, die die traurig kahle Landschaft weiß einkleideten. Nur in den Januarwochen konnte der Schnee länger liegenbleiben; meist spülten reichlich Regenfälle ihn rasch wieder fort, und dann watete man in Falsgrave durch knöchelhohen Schlamm, wo sonst Wege und Plätze waren.

Vor allem zähmte der Winter alles. In Eoforwic schien alles seinen gewohnten Gang zu nehmen. Im Frühjahr, so prophezeite mein Vater, würden wieder die Schwerter rasseln. Mit gedämpfter Stimme deutete er an, dass sich allerorts Widerstandsnester bildeten, selbst in unserer nächsten Nachbarschaft. Darüber musste freilich Stillschweigen gewahrt bleiben.

Demnach hatte sich wohl auch in unserem Falsgrave der eine oder andere wehrfähige Mann entschlossen, dem Widerstand beizutreten. Wenn nur unsere Könige Osbert und Aella eine gleiche Entschlossenheit an den Tag legten und es ihnen glückte, alle Kräfte zu bündeln – dann konnte es gelingen, den Heidenkönig Ivar von seinem Thron zu stoßen und aus unserem Eoforwic hinauszuwerfen.

Wir Frauen hatten uns mit derlei Männerangelegenheiten eigentlich nicht zu befassen, sondern unserem Tagwerk nachzugehen, das uns ja auch ausfüllte. Aber am Webstuhl zu sitzen und mit einem Ohr den Ereignissen zu lauschen, konnte doch nicht schaden. Manchmal rutschte mir gar etwas Ungebührliches raus. Einmal war ich so weit gegangen, König Osbert eine 'alte Eule' zu nennen. Da nahm sich ein Krüppel heraus, über den König von Northumbria zu lästern!

„Du bist noch mehr eine widerspenstige Natur als dein Bruder!“, hatte Vater gepoltert. „Wie gut, dass Falsgrave so abseits gelegen ist!“

Schuld daran war eigentlich mein Ceolred, der König Osbert öfter mal einen alten Zauderer genannt hatte, und da Ceolred so klug war, hatte ich das unbesehen übernommen. Von Osberts Bruder Aella wurde auch nicht besser gesprochen – vielleicht aber nahmen unsere Könige in diesem Jahr des Herrn 867 die Gelegenheit wahr, ihre Schmach zu tilgen.

Im Februar traten erst einmal unsere Flüsse kräftig über die Ufer und machten sich dreist über Weiden und Felder breit. Dazu brachte der Wind schon jetzt laue Lüfte aus dem Süden, was in mir den allzu lang bezähmten Freiheitsdrang erwachen ließ. Der Spaziergang zu meinem Lieblingsplatz auf der Klippe blieb mir allerdings während der Hochwasserzeit verwehrt, so dass ich mit kürzeren Rundgängen vorlieb nehmen musste. Winter und Hochwasser hatten unserer Gegend bisher keine unerwünschten Besucher beschert. Dennoch waren die Ängste in der Bevölkerung nicht abgeebbt. Mancher ging so weit, uns jungen Frauen zu raten, uns Asche ins Gesicht zu schmieren und unansehnliche Sackkleider anzulegen, für den Fall, dass ein Barbar unseren Weg kreuzte. Aber wer von uns hübschen jungen Mädchen wollte schon absichtlich häßlich wie eine Vogelscheuche draußen rumlaufen? Im vergangenen Winter hatten wir Frauen viel Mühe darauf verwandt, uns neue Kleider und Umhänge zu nähen, auf die wir uns freuten, und die wir bei den ersten warmen Sonnenstrahlen auch anzulegen gedachten! Gerade eine mit äußerem Makel behaftete Frau wie ich machte sich gern hübsch zurecht – auch wenn kaum jemals ein wohlgestalter junger Mann den Weg zu mir finden sollte...

Und ob selbst einer jener Barbaren Hand an mich legen würde? Deren Götzen rieten ihnen doch gewiss ab, Verkehr mit missgestalteten Frauen zu haben. Kreuzte einer von denen meinen Weg, ich brauchte nur mein Kleid ein wenig zu schürzen, und er würde sich ein anderes Opfer suchen.

Es gab im Übrigen kaum eine Abscheulichkeit, die man den Heiden nicht nachsagte: Sie stanken wie Tiere, brüllten wie Tiere, fraßen wie Tiere. Ihre Haare standen widerlich zottig in die Luft, wie die Stacheln eines Igels. In ihren Bärten nistete Ungeziefer. Groß wie Eichen waren sie angeblich, stark wie Riesen – aber gewiss nicht so stark wie unser alter Held Beowulf!

Mit Vorliebe hauten sie christliche Priester mitten entzwei – angeblich mit einem einzigen Schwerthieb! Mönche verbrannten sie in ihren Klöstern bei lebendigem Leib, Nonnen missbrauchten sie, um ihnen dann die Gedärme rauszuholen. Man pflegte über sie zu sagen: „Selbst der zahmste Nordmann bleibt immer noch ein Wolf! Und der grimmigste Nordmann ist die schrecklichste Bestie!“

Gern wäre ich nach Eoforwic gereist, um mir selbst ein Bild zu machen von jenen angeblichen Untieren. Irgendwie hatte Erzbischof Wulfhere mit ihnen ein Auskommen gefunden und lebte erstaunlicherweise selbst noch. Zweifellos hatte er hohe Zugeständnisse machen müssen, durch Zahlung von sogenanntem Danegeld, um in Frieden weiterleben zu dürfen – so, wie es auch die Könige halten mussten, allen voran König Edmund von East Anglia, diese Memme! Freundlich hereingelassen hatte er die Heiden und dann gar noch mit Pferden ausgestattet, damit sie schön in den restlichen Königreichen herumstampfen konnten, mit Ausnahme seines eigenen, an dessen Küste ihre gräßlichen Drachenschiffe gelandet waren. Somit hatte König Edmund den Grundstein gelegt für die furchtbare Heimsuchung, die über unsere Insel hereingebrochen war! Ihm selbst kam es doch gelegen, dass nun die anderen Könige mit dieser Pest zu kämpfen hatten, während er selbst Ruhe und Frieden genoss in seinem East Anglia! Der Zorn auf ihn war berechtigtermaßen groß!

Ich machte mir auch Gedanken über den merkwürdigen Beinamen, den der Heidenkönig, Ivar mit Namen, der zur Zeit in Eoforwic residierte, hatte: Seine eigenen Leute nannten ihn nämlich – angeblich - 'den Knochenlosen'! Ein Mensch ohne Knochen? Eigentlich hätte er dann nicht aufrecht gehen können, sondern wäre ein formloser Klumpen. Was befand sich dann unter seinem Fleisch und den Muskeln? Der Fluch Satans, glaubte sich unser Priester überzeugt. Anstelle von Knochen wurde er von Satan bewegt!

Bischof Wulfhere hätte unseren frommen Klerikus vielleicht belächelt. Er, der mit den Eroberern erfolgreich verhandelt hatte, wusste aus eigener Anschauung gewiss, wie König Ivar beschaffen war. Ich meinerseits harrte gespannt, was mein Bruder hierzu zu berichten hatte...

Der Februar bescherte uns bereits die ersten Frühlingstage! Das Hochwasser ging zurück, viele Wege und Straßen wurden wieder gangbar, und der kleine Markt von Falsgrave war lebhaft besucht.

Und dieser heutige Markttag war von einiger Aufregung beherrscht: Heiden hatte man gesichtet, einen kleinen Trupp, der angeblich nicht weit von hier sein Lager aufgeschlagen hatte!

„Müssen wir uns jetzt unsere Gesichter mit Asche beschmieren?“ rief ich, von der lauen Südluft übermütig gemacht aus. „Uns bei den Maulwürfen in der Erde verstecken?“

„Gwen!“, stieß mich meine Mutter an, da so mancher sich nach uns umdrehte.

„Die jungen Leute spaßen immer.“, schüttelte eine betagte Einwohnerin, die schon sehr gekrümmt ging, den Kopf. „Es ging uns ja auch lange genug gut hier, so weitab von allem...“

„Das ist nicht zum Spaßen.“, mischte sich einer der Marktbeschicker unwirsch ein. „Wenn die Heiden hier bleiben wollen, brauchen sie Weiber, natürlicherweise - und falls ihnen brauchbare über den Weg laufen, verschleppen sie die. Ich lasse meine Töchter unbeaufsichtigt keinen Schritt mehr gehen.“

So weit wird es mit mir keiner bringen, dachte ich trotzig. Und da sich meine Gedanken mit solcherlei nicht länger grämen wollten, stahl ich mich bald darauf davon, zu einem wenigstens kleinen Rundgang durch die wärmende Sonne.

Eine der Weiden stieg ich gemächlich hinauf bis zur Höhe, um von dort ein wenig Späher zu spielen. Vielleicht machte ja ich den Feind als Erste aus und konnte dann Falsgrave mit lauten Geschrei warnen. Angestrengt spähte ich in Richtung Nordwest, denn da sollte der Heidentrupp ja irgendwo lagern.

Dort war ein langgezogenes Waldstück, das die Sicht ein wenig versperrte. Ich mochte diesen Wald seit jeher nicht. Genauer gesagt, mied ihn fast jedermann aus Falsgrave, mit Ausnahme der Holzfäller. Es lag zweifellos daran, dass vor vielen Jahren dort einmal ein Junge aus unserer Gemeinde von einem Wolf angefallen und vor allem im Gesicht gräßlich entstellt worden war. Was er damals dort allein getrieben hatte, zumal zur winterlichen Dämmerstunde, war nie herausgekommen. Jedenfalls war Myrcan – so hieß der Junge – seitdem von Hass auf Wölfe sowie Tiere überhaupt zerfressen und legte überall Wolfsgruben und sonstige gemeine Tierfallen an – hauptsächlich in jenem unheilvollen Waldstück da vorne, das er offenbar ständig aufsuchte, als mittlerweile erwachsener Mann.

In Falsgrave ging man ihm aus dem Weg; selbst seine noch lebende alte Mutter hatte Furcht vor ihm. Er galt als vom Finsteren besessen. Einige mitleidige Fischer hatten ihm einst angeboten, ihnen bei der Arbeit zu helfen, doch mied Myrcan selbst ihre Gesellschaft. Oft schien er tagelang wie vom Erdboden verschluckt; wenn er dann wieder einmal durch den Ort schlich, warf er auf Mädchen und junge Frauen, selbst auf mich, lüsterne Blicke. Ich war gewiss nicht die einzige, die den Tag ersehnte, an dem er ganz aus Falsgrave verschwand. Doch immer wieder tauchte er auf...

Über Myrcan gingen ähnliche Schauergeschichten um wie über die Heiden: Man erzählte sich, dass er Tiere fing, um sich an ihnen zu vergehen und sie dann abzuschlachten. Das wollte man anhand von Spuren an Tierkadavern festgestellt haben. Wie auch immer – in ihm wohnte ein kranker Geist, so dass man besser für ihn beten sollte...

Ich starrte unverwandt zu dem Waldstück hinüber. Ob er gerade dort war? Tatsächlich nahm ich am Waldsaum eine Bewegung wahr – mehrere menschliche Gestalten, die eben zwischen den Bäumen hervorgekommen waren! Also nicht Myrcan. Die Augen mit der Hand beschirmend erkannte ich mehrere Kinder, die eilig in meine Richtung liefen. Kinder aus Falsgrave! Was hatten die so weit draußen getrieben?

Langsam ging ich der Kinderschar entgegen. Mit irgendwelchen Sachen waren die beladen, und als sie meiner gewahr wurden, stießen sie ein triumphierendes Geheul aus!

„Gwen! Gwen! Wir haben einen Heiden gefangen!“

Nun waren sie heran, versammelten sich um mich, um mir ihre Beute stolz zu präsentieren: Einen grünen Wollmantel, eine lederne Brünne, Unterkleidung, Hosen...

Wie ohnmächtig starrte ich die dreckverschmierten Jungen, von denen keiner über zehn Jahre alt war, an.

„Wir haben den Heiden da nackt und gefesselt im Wald gelassen, damit ihn die Wölfe fressen!“, strahlten die Kleinen. „Sind wir nicht Helden?“

Ich fand immer noch keine Worte. All diese Kleidungsstücke in den Armen der Kinder – es konnte also kein Traum sein!

„Geh lieber nicht hin – vielleicht sind schon Wölfe da!“, wisperte einer der Jungen, um dann verschwörerisch den Zeigefinger auf den Mund zu legen. „Nichts verraten, Gwen!“ Dann trabten sie johlend weiter in Richtung Ort.

Aus meiner Erstarrung endlich erwachend setzte ich mit zielstrebigen Schritten meinen Weg fort. Ein Heide, da in diesem Wald, in den ich meinen Fuß nie freiwillig setzen wollte, jetzt aber musste. Falls da wirklich ein Mann nackt und wehrlos... Ich konnte dem nicht einfach den Rücken kehren!

Schon war ich am Waldsaum angelangt, an genau der Stelle, wo vorhin die Kinder herausgelaufen waren. Obwohl noch nicht belaubt, war der Wald so dicht, dass man sich kaum einen Weg hineinbahnen konnte. Zwischen uralten knorrigen Eichen sperriges Unterholz, Dornbüsche, Schlehen. Eine beklemmende Stille – abgesehen vom Knacken der Zweige unter meinen Füßen.

Mein Schuh stieß an etwas Weiches. Halb unter dem Gestrüpp schaute der Kadaver eines Hasen hervor. Wieder eine von Myrcans gelegten Fallen? Meine Knie bebten; den Schauder bezwingend kämpfte ich mich weiter vor. Wie gut, dass meine Mutter nicht ahnte, auf welchen Abwegen ich mich befand!

Nach einer ziemlichen Strecke lichtete sich der Bewuchs ein wenig. Vor mir erblickte ich ein Stück Seil, geknüpft in Mannshöhe an einen Ast.

Ich hielt den Atem an; mein Herz hämmerte bis zum Hals! Und schon sah ich ihn – am Seil zwischen zwei Bäume gespannt, nackt auf dem Boden kauernd, das strohblonde Haar auf dem hinabhängenden Kopf blutverschmiert!

Wieder zertraten meine Schuhe Zweige, und da ruckte sein Kopf hoch. Erleichterung durchfuhr mich. Er war am Leben. Ein dünnes Rinnsal Blut rann ihm über Stirn und Wange. Ich starrte auf die Fesseln. Nein – das konnten nicht die Kinder getan haben, schoss es mir durch den Kopf.

Unverwandt und erwartungsvoll schaute er zu mir auf, während ich noch unbeholfen nachgrübelte, wie ich mit dem Lösen der Stricke beginnen sollte. Er machte jetzt eine Kopfbewegung nach hinten, die ich irgendwie richtig deutete. Nachdem ich meine Krücke an den nächsten Baumstamm gelehnt hatte, ging ich daran, mit den Handfesseln in seinem Rücken zu beginnen. Wie nützlich erwies sich jetzt mein kleines scharfes Messer, das ich im Gürtelbeutel immer dabei hatte, meist zum Obstschneiden. Keuchend sägte ich an den Stricken herum, wobei seine völlige Nacktheit mir momentan völlig entging. Er unterstützte meine Bemühungen mit kräftigen Bewegungen, so dass seine Hände rasch frei waren. Bevor ich noch mit meiner Hilfe fortfahren konnte, hatte er sich schon der restlichen Fesseln entledigt und richtete sich vollends auf.

Verwirrt schaute ich zu Boden, dann wieder auf. Über seinen Mund huschte der Anflug eines dankbaren Lächelns. Als er dann beiseite trat, um sich halb hinter einem Buchenstamm zu erleichtern, blickte ich wieder weg. Ich konnte momentelang keinen klaren Gedanken fassen.

Eine Berührung an meiner Schulter ließ mich heftig zusammenzucken. Er stand wieder neben mir. Einen halben Kopf größer als ich, war er sehr kräftig und sehnig, mit einem länglichen Gesicht, das von schulterlangem, leicht gewelltem Haar eingerahmt wurde. In das Haar waren vorn zwei dünne Zöpfe geflochten.

Bevor ich mir noch mehr Einzelheiten einprägen konnte, machte er abermals eine Geste, über deren Sinn ich kurz nachgrübelte. Natürlich – er wollte meinen Umhang! Er musste ja seine Nacktheit wenigstens halbwegs verdecken. Also streifte ich den Umhang ab, den er sich mit raschen Bewegungen um die Lenden schlang. Dabei lächelte er mir abermals kurz zu. Meine Besinnung schien zurückzukehren.

Ich deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war und setzte mich in Bewegung. Schweigend folgte er mir. Endlich hatten wir den grausigen Wald hinter uns und standen auf dem sonnigen Feld. Ich wies zu den strohgedeckten Dächern von Falsgrave. Nach kurzem Zögern nickte er. Ob Feind oder nicht – er war verletzt und brauchte vor allem seine Kleidung wieder! Oh, diese kleinen Schlingel sollten etwas erleben...

Unterwegs hielt ich kurz inne, um wieder in meinem Beutel zu fingern. Da war ein Stück sauberes Leinentuch, das ich immer dabei hatte – für den Fall einer Verletzung. Dieses reichte ich ihm, und er presste es auf seine Kopfwunde. Dabei versuchte ich, in seinen schmalen grau-blauen Augen zu lesen. Übrigens besaß er statt eines ungezieferbesetzten Wusts einen gepflegten, kurz geschnittenen Bart, mit einigen längeren Haaren unter dem Kinn. Noch bemerkenswerter erschien mir ein auffälliger dunkelroter Fleck, der sich auf der linken Seite seines Halses bis in den Nacken ausbreitete – und ich starrte da erschrocken eine ganze Weile drauf. Keine offene Wunde, kein Blut; eher ähnelte es einem Brandmal...

Was mochte ihm alles zugestoßen sein – diesem Fremden, der so dicht neben mir ging, als wäre er ein alter Freund?

Nun lag nur noch der Marsch durch Falsgrave bis zu meinem Elternhaus vor uns. Ich bin mir sicher, dass unser kleiner Ort solch ein Spektakel lange nicht erlebt hatte: Den Einzug einer hinkenden Einwohnerin mit einem nur notdürftig bekleideten unbekannten Mann an ihrer Seite! Der Weg kam mir endlos vor, während ich möglichst gleichmütig in so manch sprachloses Gesicht lächelte. Aufgrund des Wochenmarktes sowie des herrlichen Wetters hielten sich ja mehr Menschen als sonst im Freien auf. Gackernde Hühner kreuzten unseren Weg, kichernde kleine Kinder, tuschelnde Weiber. Was ich mit meiner Aktion überhaupt angerichtet hatte, war mir im Moment ja nicht klar: Dass ich einen Feind hier herein schleppte, mitten unter friedliches Volk!

Meine Mutter befand sich gerade beim Mahlen von Mehl. Ihr Blick bei unserem Eintreten wird mir unvergesslich bleiben. Zumindest erfasste sie sogleich den Ernst der Lage und übernahm die Versorgung der Kopfwunde, nachdem wir auf der fellbedeckten Holzbank nahe der Feuerstelle Platz genommen hatten. Geduldig ließ unser Gast das über sich ergehen, derweil ich einen Tonkrug Wasser mit zwei Bechern bereitstellte. Dann brachte ich, auf Geheiß meiner Mutter, noch eine tiefe Schale Wasser, in das er kurzerhand Gesicht und Stirn tauchte. Als er sich trockenrieb, blitzten wieder seine Zähne. Er schien sich bereits erholt zu haben.

Dafür brach nun aus mir alles heraus. Mum nahm mich in den Arm, und ich begann atemlos zu berichten: Von den Jungen und ihrer Beute, dem Erlebnis im Wald des Grauens. Gefasst nickte sie, als ich geendet hatte.

„Ich werde Aethelfrid holen. Sein Rat wird uns jetzt hilfreich sein.“, entschied sie nach kurzem Überlegen. „Richte unserem Gast etwas Essen; ich werde bald wieder zurück sein.“ Damit legte sie ihren Umhang um und war schon aus der Tür.

Da saßen wir nun allein – der fremde Mann und ich, in unserer Stube. Neben uns knisterte das Herdfeuer.

„Aethelfrid ist ein kluger Mann.“, sprach ich halb in Gedanken. „Er wird sicher Hilfe wissen.“

„Du brauchst für euch nichts zu fürchten.“ Er entblößte seine lückenhaften Zähne zu einem verwegenen Lächeln. „Wenn sie in Waffen kommen und man mich in Eisen legt, nun, dann geschieht es einem Mann recht, der sich wie ein Tölpel in einen Wald locken und überwältigen ließ...“

Ich war verwundert, wie gut seine Sprache zu verstehen war. Für die Verständigung war also kein Dolmetscher nötig.

„Aethelfrid wird nicht in Waffen kommen.“, versicherte ich nachdrücklich. „Du bist es ja, dem Unrecht getan wurde. Du musst deine Kleider und Waffen zurück haben...“

„Und mein Pferd.“, nickte er ernst.

Ich machte mich daran, ein wenig Speisen herzurichten: Geräucherten Fisch, frisches Brot, getrocknete Früchte und Nüsse. Mir war all die Aufregung derart auf den Magen geschlagen, dass ich selbst nur ein paar Bissen tat, aber mit Befriedigung seinem Appetit beiwohnte.

„Dein Pferd wirst du auch zurückerhalten.“ Ich nestelte an meinem Gürtel. „Ich heiße Gwen...“

„Mein Name ist Runolf.“ Seine Stimme war heiser und rau; gerade dachte ich daran, was man den Heiden so alles nachsagte: Reißende Wölfe... die Regeln der Gastfreundschaft schienen ihm jedenfalls nicht fremd. Es wäre doch ein Leichtes für ihn gewesen, sich eines der Messer, die um unsere Kochstelle herum lagen, zu schnappen und mich als Geisel zu nehmen – doch er saß ruhig und friedlich da.

Ich füllte ihm den Becher nach. „Wenn du dich satt gegessen hast, dann erzähle doch... wie ist dir das alles geschehen?“

Er schob sich ein großes Stück Roggenbrot in den Mund. Dicht bedeckten blonde Haar seine Unterarme.

„Ich werde ein wenig Suppe kochen.“ bot ich an, doch er legte seine Finger auf mein Handgelenk.

„Du sollst heute nichts Anstrengendes mehr tun.“, lächelte er. „Es war viel Aufregung für dich. Bleib einfach bei mir sitzen, ich werde erzählen...“

Dazu kam er nicht, da Mutter zurückkehrte – mit Aethelfrid in ihrem Gefolge. Als Ratgeber und Streitschlichter besaß er in unserer Gemeinschaft hohes Ansehen, doch ich spürte hinter seiner ruhigen Ausstrahlung die Anspannung. Das war eine ganz und gar nicht alltägliche Situation: Einen Gefolgsmann König Ivars hier sitzen zu haben, dessen Gefährten jeden Augenblick hier auftauchen konnten, um mit Waffengewalt den Überfall und Raub zu ahnden!

Hinter Aethelfrid war noch jemand eingetreten – ich erkannte einen seiner Bediensteten, der schwer beladen war: Mit einem grünen Wollmantel, Wollhosen, Leinenunterkleidung, ledernen Riemen sowie Schuhwerk, und über der Schulter hatte er noch die Lederbrünne hängen. Der gute Mann war ganz rot vor Anstrengung!

Runolf hatte sich bei ihrem Eintreten höflich erhoben; er neigte seinen Kopf, als man die Kleidungsstücke säuberlich vor ihm aufschichtete. Mum führte ihn nun in eine Ecke unserer Stube, wo sich die Lager befanden; dort kleidete er sich in aller Gemütsruhe an. Als er dann wieder zu uns trat, runzelte ich die Stirn.

„Er besitzt doch sicher einen Gürtel...“

„Und was fehlt sonst noch?“, fragte Aethelfrid ernst. „Nennt mir alles, was Ihr noch vermisst.“

Runolf reckte sich stolz. „Ein Helm, ein Schwert, eine silberne Halskette – und ein gutes Pferd!“

Aethelfrid nickte möglichst gefasst. „Wir werden die Kinder nochmal genauer ins Verhör nehmen.“ Eine Geste zum Diener, und dieser entfernte sich mit kurzem Gruß.

„Es waren keine Kinder, die mich überfielen und niederschlugen.“, erklärte Runolf mit Bestimmtheit.

„Nein, die Jungen können das nicht gemacht haben!“, pflichtete ich bei. „Ja, sie sind mir begegnet, dort vor dem Wald, mit all diesen Sachen, die Runolf nun trägt. Aber derart gefesselt und mit dieser Verletzung, das muss ein anderer durchgeführt haben...“

Ich hielt inne. Nur einer konnte dahinterstecken! Einer, der sich in diesem Wald bestens auskannte. Ich tat meinen Verdacht umgehend kund.

„Gut möglich. Ich werde umgehend einen Suchtrupp veranlassen.“, entschied Aethelfrid. „Und die Kinder werden alle auch noch mal befragt.“

„Wahrscheinlich hält sich Myrcan noch im Wald versteckt und auch das Pferd und Runolfs andere Besitzstücke.“, mutmaßte ich. „Dort muss man zuerst suchen.“

Mutter hatte die Hand auf meine Schulter gelegt, da sie spürte, wie ich vor Erregung bebte.

„Esst noch etwas.“ bot sie Runolf an. „Nehmt von dem Fisch, den Früchten.“

„Es wird sich alles wieder anfinden.“, sprach Aethelfrid mit sonorer Stimme. Er war ja bekannt dafür, ein Fels in der Brandung zu sein. „Wenn Myrcan das getan hat, wird er streng bestraft und aus unserer Gemeinschaft verstoßen werden.“

„Er ist ein bösartiger Mensch mit krankem Geist.“ erklärte ich, zu Runolf gewandt. „Er quält Tiere, weil er als Kind von einem Wolf fast zerfleischt worden wäre.“

„Und ist nun selbst ein Wolf.“, entgegnete Runolf düster, wobei er wieder seine Finger auf mein Handgelenk legte, mit sanftem Druck. „Der mich hinterrücks überfiel, war ein starker Mann, wild wie ein Wolf, aber feige wie eine Krähe. Bei Thor, es ist besser, ich gehe ihn suchen und töten...“

„Was hast du mitten in diesem Wald getan?“, fragte ich. „Gejagt?“

Seine Finger blieben auf meinem Handgelenk ruhen. „Ich hatte mein Pferd am Waldrand auf der westlichen Seite gezügelt, weil ich Geräusche aus dem Innern des Waldes vernahm. Keine Geräusche von Tieren. Also ging ich hinein. Als ich wieder zu mir kam, lagen meine Kleider bereits alle neben mir, und jemand war dabei, mich zu fesseln. Ich sah lachende Kinder vor mir. Sein Gesicht zeigte er mir nicht; nur sein Atem wehte mir in den Nacken...“

Mir krampfte sich alles zusammen – denn erst jetzt wurde mir bewusst, welcher Gefahr ich selbst bei Runolfs Befreiung ausgesetzt war! Womöglich hatte Myrcan in der Nähe gelauert und alles aus dem Dickicht beobachtet...

„Er muss gefunden werden, bevor er noch mehr Unheil anrichtet.“, murmelte ich. „Hoffentlich tritt er irgendwann in eine seiner eigenen abscheulichen Tierfallen!“