Ivar der Knochenlose - Sabine Lippert - E-Book

Ivar der Knochenlose E-Book

Sabine Lippert

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Beschreibung

Ivar der Knochenlose, laut Sagentradition Sohn des legendären Wikingers Ragnar Lodbrok, war ein bedeutender Wikingerkönig des 9. Jahrhunderts, der eine skandinavisch-irische Dynastie begründete sowie an der Spitze des sog. Großen Heidenheeres englische Gebiete dauerhaft in Beschlag nahm. Diese Biografie zeichnet Ivars spannenden Werdegang anhand vielfältiger Quellen nach und legt dabei den Schwerpunkt auf die Bedeutung der Wikingerzeit in der Geschichte Englands und Irlands.

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Seitenzahl: 255

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wer war Ragnar Lodbrok?

Ragnar und seine Frauen

Björn Eisenseite, Sigurd Schlangenauge u. Ivar der Knochenlose

Der Fluch

Familienfehde

Zug zur Weißen Stadt

Die Kuh Sibilja

Das Wikinger-Syndikat

Vifilsborg

Ragnald von Orkney

Ragnars mysteriöses Ende

Olaf der Weiße

Die wikingischen Gründerväter

Invasion Englands, 1. Akt: York

Invasion Englands, 2. Akt: Nottingham

Invasion Englands, 3. Akt: Ostangeln

Rückkehr nach Dublin

Invasion Englands, 4. Akt: Wessex

Die skandinavische Landnahme

Ivars Erben

Ivars Grusel-Grab

Der mysteriöse Ivar „Weitgreifer“

Epilog

Zeittafel

Quellenwerke

Personenübersicht

Verwendete Literatur

Karten

„Sie bescherten den angestammten Einwohnern

mancherlei Ungemach, da sie – gemäß der Sitte ihres

Landes – die Angewohnheit hatten, ihr Haar täglich

zu kämmen, jeden Samstag zu baden, ihre Kleidung

häufig zu wechseln, und mit noch vielen solch frivolen

Tricks die Aufmerksamkeit auf sich richteten. Auf

diese Weise führten sie die Tugend verheirateter

Frauen in Versuchung und kriegten die Töchter jedes

vornehmen Mannes rum, ihre Geliebte zu werden.“

(John of Wallingford über die dänischen

Einwanderer Englands)

Vorwort

Er gilt als einer der Söhne des berüchtigten Ragnar Lodbrok!

Aber wer war überhaupt dieser legendäre Seekönig Lodbrok?

Und was ist dran an Ivars Beinamen „der Knochenlose“?

Viele Fragen...

Über die sich Generationen von Historikern die Köpfe zerbrachen. Ivar der Wikinger, den seine Nachkommen aus dem skandinavisch-irischen Geschlecht der Ui Imair „Ivar den Großen mit der weisen Urteilskraft“ nannten, hat seit seinem Ableben Phantasie und Gemüter der Nachwelt beschäftigt. Er zählt zu den profiliertesten Vertretern der Wikingerepoche, ohne allerdings dem gängigen Klischee des 'beilschwingenden Recken' so recht zu entsprechen.

In dieser Biografie wird dazu ein breites Spektrum von Quellenmaterial kritisch befragt. Da wären einmal die „trockenen“, jedoch so wichtigen zeitgenössischen Annalenwerke sowie spätere Chroniken, die uns sozusagen das Faktengerüst liefern zu Ivars Taten. Ein ganz anders geartetes Sortiment von Überlieferung bieten die nordischen Sagas, die hier reichlich Material zur Verfügung stellen. Sagen und Legenden vermitteln mehr einen Eindruck von Charakter und Naturell einer prominenten historischen Persönlichkeit – so wird es darum gehen, die Aussagen von Annalen und Sagen miteinander abzugleichen.

Die nordischen Sagas erlebten vor allem vom 12. - 14. Jahrhundert eine Blüte, ebenso wie zur selben Zeit auf dem europäischen Festland die sogenannten Ritterromane. Ein Großteil dieser Sagas wurde im skandinavischen Island verfasst, um die Menschen auf jener unwirtlichen Insel mit spannenden Abenteuern ihrer wikingischen Vorfahren zu unterhalten; vor allem aber auch, um Genealogien zu berühmten Ahnen herzustellen.

Hierbei taucht nun freilich ein kleines Problem auf: Man sieht die Wikinger des 9. und 10. Jahrhunderts quasi durch die Brille hochmittelalterlicher (verklärendromantisierender) Vorstellungen. Waren sie wirklich so todesverachtende Recken, ihr einziger Lebensinhalt, so schnell wie möglich nach Walhall zu gelangen? Hierzu ein Blick auf die von nordischen Sagas episch beschriebene „Schlacht von Bravalla“: Bis heute bereitet es den Historikern Schwierigkeiten, diese Riesenschlacht historisch zu verankern. Zu ihrem Anlass aber äußern sich die Sagas, dass ein alternder König die skandinavische Kriegerelite zu solch blutigem Event eingeladen hätte, weil er nicht unmartialisch im Bett sterben wollte! Also drosch man aufeinander ein, bis der König seinen Heldentod kriegte.

Nähme man das für bare Münze, dann bekäme man von den Wikingern ein absolut schiefes Bild. Sie mähten weder andere noch sich gegenseitig „just for fun“ nieder. Krisen wie der dänische Bürgerkrieg im Verlauf des 9. Jahrhunderts konnten zu solch desaströsen Treffen führen; es gab auch erbitterte Seegefechte zwischen verschiedenen Wikingerclans um Territorialansprüche. Die Wikinger des 9. Jahrhunderts agierten als kühne Räuber in ganz Europa, gleichzeitig jedoch als zupackende innovative Kolonisatoren und Großkaufleute, hervorragend miteinander vernetzt.

Man darf nicht vergessen: Die Sagas wurden 300 – 400 Jahre nach den Ereignissen der „klassischen“ Wikingerzeit verfasst, von längst christlich geprägten Gelehrten, die ihren eigenen Blickwinkel auf die Geschichte ihrer heidnischen Vorväter hatten. Die Wikinger zu verstehen durch die Brille der Sagas wäre dasselbe, als würde man hauptsächlich Karl Mays Romane zum Verständnis der nordamerikanischen Indianer heranziehen (wobei Karl May immerhin Zeitgenosse der Indianerkämpfe war!).

Alle von Sagas erzählte Dinge über bestimmte Wikinger bzw. deren Taten müssen daher von zeitgenössischen Geschichtswerken (wie Annalen) oder ggfs. archäologischen Zeugnissen beglaubigt werden. Viele der in den Sagas genannten Personen z. B. lassen sich historisch nicht oder unter ganz anderem Namen nachweisen. Wenn mündlich erzählte Ereignisse erst Jahrhunderte später schriftlich festgehalten werden, scheint das normal; allerdings läßt sich ebenso feststellen, dass Vertauschungen, Weglassungen oder falsche Zuordnungen durchaus bewusst vorgenommen wurden, aus den unterschiedlichsten Gründen...

So mager und bescheiden zeitgenössische Quellen auch sein mögen für die Wikingerzeit (9. - 11. Jh.), so hat man dennoch zunächst von ihnen auszugehen, auch wenn Annalen und Chroniken weitaus weniger Unterhaltungswert bieten als eine Saga. Die nüchternen fränkischen, angelsächsischen und irischen Annalen erweisen sich in der Regel als einigermaßen zuverlässig, was Namen oder Abläufe anbetrifft.

Hauptsächlich zwei isländische Sagawerke werden für diese Biografie eine Rolle spielen: Nämlich „Ragnars Saga“ sowie die „Saga von Ragnars Söhnen“ (Letztere eine Art Kurzfassung von Ersterer); zudem eine Dichtung namens „Krakumal“. Sagenmaterial bildet auch die Grundlage für Saxo Grammaticus' Werk „Die Taten der Dänen“.1

Schließlich wären da noch Lokaltraditionen und „Gruselmären“, die man sich über Wikinger Jahrhunderte später noch dort erzählte, wo sie „gewütet“ hatten. Und nicht zuletzt: Die reichhaltig vorhandenen archäologischen Zeugnisse, als überaus wertvolle Ergänzung, die manche Überraschung bereithalten...

Begeben wir uns also auf eine spannende Reise durch das bewegte 9. Jahrhundert, auf den Spuren eines gar nicht so typischen Wikingers...

Sofern nicht gekennzeichnet, wurden Übersetzungen (aus dem Englischen oder Lateinischen) von der Autorin vorgenommen.

Alle zitierten Passagen der „Ragnars Saga“ bis einschließlich Kapitel „Vifilsborg“ sind der deutschen Übersetzung von F.H. Von der Hagen (1828) entnommen und ein wenig ans moderne Deutsch angepasst. Sonstige Zitate aus dieser Saga sowie anderen sind der Publikation von Ben Waggoner („The Sagas of Ragnar Lodbrok“) entnommen.

In dieser überarbeiteten Auflage finden vor allem zwei Themen intensivere Betrachtung: Der sagenhafte Ragnar Lodbrok und sein mögliches Vorbild Ragnald von Orkney sowie der Werdegang von Ivars Nachfahren, den Ui Imair. Weitere Themen werden ergänzt und vertieft.

Für Fragen, Anregungen und Kritik zum Thema:

[email protected]

1 Diese Werke werden im Quellenverzeichnis kurz vorgestellt

Wer war Ragnar Lodbrok?

Dieser berüchtigte Wikinger wird gemeinhin als Ivars Vater ausgegeben. Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus präsentiert ihn in seinen „Taten der Dänen“ als legitimen König von Dänemark! Macht sich gut – allerdings war Dänemark im 9. Jahrhundert noch weit davon entfernt, ein geeintes Königreich zu sein. Gewiss, es gab Dynastien, die sich bereits eine Vorrangstellung erstritten hatten: Wichtigste dänische Herrschergestalt war der im frühen 9. Jahrhundert regierende Godfrid bzw. Göttrik, berühmt geworden dadurch, dass er seinem mächtigen Nachbarn Karl dem Großen ebenso beherzt Paroli bot wie David dem Goliath. Er beherrschte damals bereits ein respektables Gebiet, das sich von Jütland über die dänischen Inseln wohl bis ins südliche Norwegen (Vestfold) sowie bis nach Schonen (Südschweden) erstreckte.

König Godfrid lebte, wie gesagt, in einer Umbruchzeit. Ende des 8. Jahrhunderts waren die Dänen darangegangen, längs der Südgrenze ihres Gebietes das Danewerk als prophylaktische Maßnahme gegen das karolingische Vordringen weiter auszubauen. Beeindruckende Reste dieses sogar über die Wikingerzeit hinaus immer wieder erneuerten und erweiterten „dänischen Limes“ zwischen Schlei und Treene kann man heute noch besichtigen. Vor allem die rücksichtslos-gewaltsame Bekehrung ihrer südlichen Nachbarn, der Sachsen, und ihre Eingliederung ins Frankenreich war für die Dänen ein Alarmsignal. Einen 30jährigen Krieg hatte man gegen die heidnischen Sachsen geführt2, deren zeitweiliger Anführer Widukind für ein Jahr gar Asyl bei König Siegfrid, Godfrids Vater, gesucht hatte! Kaum waren die Sachsen unterjocht, hatte Godfrid daher mit einer beeindruckenden Flottenparade klargemacht: Bis hierhin und nicht weiter!

Die fränkischen Hofschreiber haben ihn dafür prompt einen „hochmütigen Wahnsinnigen“ genannt – offenbar eine gängige Formulierung, um prominente und renitente Heiden zu diffamieren! König Godfrid war beileibe kein Mann leerer Worte – der Flottenparade folgte ein effektiver Schutz seiner Südgrenze. In diese Zeit (808) fällt die Gründung des berühmten wikingischen Marktzentrums Haithabu, die König Godfrid selbst energisch vorantrieb – eigentlich eine Verlegung des bisherigen Handelstreffpunktes Reric (bei Wismar) ins Dänenland. Dem sollte eine beeindruckende wirtschaftliche Erfolgsgeschichte folgen. Haithabu wurde zu einer jener „Metropolen“, über die die gesamte Wikingerzeit hindurch ein florierender Handel lief.

Um 810 wurde König Godfrid ermordet, unter bis heute ungeklärten Umständen. Da wurden familiäre Händel als Anlass angegeben; ein Ehedrama. Behauptet wurde solches freilich von parteiischer Seite – nämlich von fränkischen Quellen. Saxo hingegen spricht immerhin von einem Verräter aus Godfrids engem Umfeld. Der Zeitpunkt von König Godfrids unfreiwilligem Verscheiden war für die Franken überaus günstig: Godfrid stand auf dem Höhepunkt seiner Macht (wenn es auch kaum glaubwürdig scheint, dass er dem mächtigen Karolingerreich ernstlich Ärger machen wollte). Wie auch immer: Nach seinem Tod wurden die Dinge in Sachen Nachfolge sofort unübersichtlich. Erstmal schloss sein Neffe und Nachfolger Hemming mit den Franken in der größten Eile Frieden. Das scheint man ihm unter den Dänen verübelt zu haben, da er im bald ausbrechenden Bürgerkrieg verjagt wurde.

Hemming und später König Harald, der sich 826 in der Pfalz Ingelheim taufen ließ, waren Vertreter der prochristlich und profränkisch eingestellten Partei, die auch die ersten Missionare (wie den Heiligen Ansgar) ins Land lassen wollte. Die heidnische Opposition boykottierte derlei Bestrebungen hartnäckig, da einerseits nicht jeder leichtfertig von seinen Göttern lassen wollte, andererseits das Beispiel der Sachsen lehrte, dass Bekehrung und Unterwerfung unter fränkische Macht Hand in Hand gingen. Seit spätestens dem frühen 8. Jahrhundert wurden die Dänen nachweislich mit penetranten Missionierungsversuchen traktiert! Somit sollte man die Ende des 8. Jahrhunderts während der Herrschaft Karls des Großen einsetzenden Wikingeraktivitäten in Zusammenhang setzen mit dem Aufbegehren gegen christlich-karolingische Dominanz. Natürlich spielten auch Faktoren wie Bevölkerungswachstum in Skandinavien eine Rolle, aber der jahrhundertelange Widerstand der Dänen gegen den Zugriff von (erst fränkischen, dann deutschen) Missionaren auf ihr Land (mit einer neuen Wikingerkrise nach Harald Blauzahns Tod Ende des 10. Jahrhunderts) verrät die wesentlichen Impulse hinter dem „Wikinger-Phänomen“.

Nach der Regierungszeit des großen Königs Godfrid brachen also schwere innerdänische Konflikte aus. Adam von Bremen bemerkt zutreffend: „Es gab auch andere Könige der Dänen oder Nordmannen, die zu dieser Zeit das Frankenreich mit Pirateneinfällen nervten...“ In ganz Skandinavien sah es damals so aus, dass nicht ein König, sondern daneben eine Vielzahl über kleinere Territorien herrschten – und wer verdrängt wurde, ging auf Wikingerfahrt!

So ein Kandidat könnte auch Ragnar Lodbrok gewesen sein. Saxo macht ihn zu einem Mitglied der weitverzweigten Königssippe, was natürlich nicht ausgeschlossen ist, in Hinblick auf seinen Status als Anführer respektabler Gefolgschaften. Bei Saxo ist Ragnar erbitterter Gegenspieler des profränkischen Harald „Klak“ (= Schmutzfleck), den Saxo seinerseits „Tyrann“ schmäht – auch das nicht unwahrscheinlich. Selbst Angehörige von Dynastien bildeten damals untereinander oppositionelle Lager.

Die nordischen Sagen veranschaulichen, dass Ragnar als ein zunächst im Kattegat operierender Seekönig seinen Einfluss immer mehr ausgebaut hat, mit Hilfe von Verwandten und Gefolgsleuten aus dem dänischnorwegischen Umfeld. Rings um Skagerrak und Kattegat schien er gut vernetzt, ganz typisch nach Wikingerart: „Er zog Truppen und Kriegsschiffe zusammen und wurde ein so großer Krieger, dass man seinesgleichen kaum fand.“, schwärmt „Ragnars Saga“. Somit war er in den Gebieten verankert, die auch in König Godfrids Einflussbereich gelegen hatten. Die „Rebellen“, die Harald Klak in Vestfold laut fränkischen Quellen bekämpfte, könnten durchaus Ragnars Anhänger gewesen sein.

Was sagen zeitgenössische Quellen zu jenem so charismatischen Wikingerfürsten? Da wäre ein in fränkischen Jahrbüchern erwähnter Regner bzw. Raginerius, berüchtigt durch seinen kühnen Überfall auf Paris im Jahre 845. Mit 120 Schiffen soll er seineaufwärts gesegelt sein und dabei gleich noch Rouen (künftige Hauptstadt der Normandie) heimgesucht haben! Außerdem hat er die Franken damit traumatisiert, dass er öffentlich über 100 gefangene Krieger dem Gott Odin weihte! Solche Unternehmungen setzten ein beachtliches Gefolge sowie Ansehen dieses Seekönigs voraus. Und erst der Tribut, den er frech vom fränkischen Kaiser für seinen Abzug einkassierte – 7000 Pfund in Gold und Silber! Die Überlieferung des von Ragnars Wikingern bei der Gelegenheit geplünderten Klosters St. Germain erinnert sich empört, wie Barbarenführer Ragnar mit seiner Beute in der Heimat Dänemark prahlte:

„Ragenarius, Anführer und alleiniger Urheber all dieses Übels, das er dem christlichen Volk angetan hatte, trat mit maßlosem Stolz vor König Horik und zeigte ihm viel Gold und Silber, das er geraubt hatte... und erzählte ihm, dass er die Stadt Paris eingenommen hätte und ins Kloster St. Germain eingedrungen wäre... und sich das gesamte Reich König Karls unterworfen hätte. Da aber der König solchen Berichten nicht glaubte, ließ besagter Ragenarius einen Balken aus dem Kloster sowie einen Riegel vom Pariser Stadttor als Beweis herbeibringen.“

Dreistigkeit pur, zumal gerade fränkische Gesandte anwesend waren! Gerade darum war König Horik3 dieser Vorfall wohl äußerst peinlich, da er sich neuerdings um gute Beziehungen zum Frankenreich bemühte. Allerdings ereilte zur großen Genugtuung des schreibenden Mönchs diesen Ragenarius umgehend das göttliche Strafgericht, denn noch während seines Geprahles brach er (angeblich) zusammen:

„Zitternd und angstvoll fiel er zu Boden und begann mit unnatürlicher Stimme zu schreien, dass Germain persönlich vor ihm stand... Derselbe Ragenarius, Lästerer Gottes und aller Heiligen, der mit aufgeblähtem und stolzem Herzen vor den König getreten war, wurde von anderen zu seinem eigenen Haus getragen, erniedrigt, verwirrt und gezüchtigt vom allerheiligsten Germain. Drei Tage lang erlitt er die größten Qualen und ordnete an, eine goldene Statue zu errichten und sie zu Germain bringen zu lassen... Außerdem schwor er, Christ zu werden... Weil er aber nicht Christus' Herde angehörte und auch nicht zum Weiterleben bestimmt war,... blieb er aufgeschwollen..., so dass weder Hörsinn noch Sehsinn noch Geruchssinn noch Geschmackssinn in seinem Leib vorhanden waren. … Er brach entzwei, und all seine Gedärme quollen auf den Boden.“

Zu solch aufgeputzter klerikaler Propaganda erübrigt sich wirklich jeder Kommentar – derlei Ergüsse über „gerechte göttliche Bestrafung“ finden sich in der mittelalterlichen Literatur zuhauf – man lese beispielsweise vom göttlichen Strafgericht, das umgehend über den heidnischen Slawenfürsten Mistoi kam nach der Plünderung von Hamburg: Dem Wahnsinn verfallen, „vom Heiligen Laurentius verbrannt“, hauchte er verdientermaßen sein Leben aus (laut Thietmar von Merseburg). Ein Standardmotiv also.

Sollte Ragnar wirklich am dänischen Königshof so schlecht geworden sein, dass er zusammenbrach und eventuell verstarb, könnte er sich auf seiner Reise einfach etwas eingefangen haben. Denn wie andernorts berichtet wurde, war in seinem Heer die Ruhr ausgebrochen. Oder hatte man ihm am Hof etwas ins Trinkhorn gemischt? Man bedenke: Sein fulminanter Auftritt passte nicht zu Horiks augenblicklicher Politik – und Letzterer soll Ragnars Anhänger danach prompt verfolgen und hinrichten haben lassen. Vergessen wir nicht: Auch der wehrhafte König Godfrid war seinerzeit „im passenden Augenblick“ beseitigt worden. König Horiks Sippe wurde ihrerseits um 854 in einem Blutbad nahezu ausgerottet – möglicherweise ein Nachspiel der Ereignisse um 845. Solch jahrzehntelange politische Wirren unter den Dänen, angefacht auch noch durch fränkische Intrigen, gingen einher mit ausgedehnten Wikingerzügen. Durchaus kein Wunder...

Jener Eroberer von Paris, Regner/Raginerius in der fränkischen Namensform, wäre wahrhaftig ein passender Kandidat als historisch greifbares Vorbild für den charismatischen Ragnar Lodbrok! Es würde auch in den zeitlichen Rahmen passen. Die Wikingeraktivität an den europäischen Küsten hatte ja seit den 30er Jahren des 9. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt erreicht. Ab den 50er und 60er Jahren tauchen dann solche Personen, die als Lodbrok-Söhne gelten, in den Quellen auf.

Ob aber der historische Ragnar ein solch beeindruckendes Panorama von Abenteuerfahrten absolviert hat, wie es ihm Saxo Grammaticus zuschreibt? Nachdem er den Schweden ordentlich eingeheizt hat, zieht er erstmal bis zum Hellespont (!) und besiegt danach den russischen König. Auf seinem Zug gegen „Permland“ ergeht es ihm allerdings beinahe so wie Napoleon auf seinem desaströsen Rückmarsch durch den russischen Winter, da die Feinde gegen ihn „Wettermagie“ einsetzen. Auch die Finnen erweisen sich als unangenehm zäh. Selbstverständlich aber zeigt sich der unverwüstliche Ragnar Lodenhose als Stehaufmännchen.

Ganz ohne Zweifel sind da die Fahrten diverser Wikinger vermixt. Zum Beispiel die spektakulären Unternehmungen der späteren sog. Waräger unter Rurik ins östliche Baltikum und bis nach Nordwestrussland sowie belegte Züge der Dänen ostwärts, an denen möglicherweise „Lodbrok-Söhne“ beteiligt waren.

Den Sagen zufolge bildeten Ragnar und seine stolze Sohnesschar ein regelrechtes Wikinger-Syndikat, das sich Europa untereinander aufteilte. Das Problem ist aber: Ein Vater namens Ragnar Lodbrok ist erst ab dem 12. Jahrhundert für den Piraten-Clan überliefert! Eine deutsche Quelle, nämlich Adam von Bremen, ist mit die früheste, die Ivar als „Sohn von Lodparch“ (so geschrieben) identifiziert (Ende des 11. Jahrhunderts)! Zur selben Zeit nennt ein normannischer Geschichtsschreiber den legendären Björn-Eisenseite „Sohn von König Lothbrok“. In England sprach man überall ohnehin nur von Lothbrok. Eine irische Chronik4 des 11. Jahrhunderts hingegen kennt die berüchtigten Wikinger als „Söhne des Ragnall“ (= irische Form für Ragnald). Das verkompliziert die Sache ungemein. Verbergen sich hinter „Lodbrok“, „Ragnar“ oder „Ragnall“ gar zwei oder mehr historische Urbilder rastlos durch Europa räubernder Wikingeranführer?

Selbst der Beiname „Lodbrok“ ist nur auf den ersten Blick eindeutig: Indem er laut Sagas auf Ragnars derbe „Lodenhosen“ verweist5. Nun wurden allerdings alternative Deutungen ins Spiel gebracht: Beispielsweise eine Ableitung von altenglisch „leodbroga“ (= Leuteschreck). Somit hätten Ragnar & Söhne den Beinamen „Leuteschreck“ getragen, den ihnen die (von ihnen gepeinigten) Angelsachsen gegeben hätten. Etwas für sich hat die ähnliche Theorie, „Lothbrok“ lasse sich herleiten von mittelenglisch „loth“ (= verhasst) plus „broga“ (= Schreck), so dass die „Lodbrok-Söhne“ als „Söhne des verhassten Schreckens“ galten. Das würde erklären, warum „Lothbrok“ zunächst in England verbreitet war. Es könnte sich also um eine Bezeichnung, sozusagen ein Label für einen berüchtigten Wikingerverband handeln - nämlich jenes „Syndikat“, welches England zwischen 865 und 878 zu erobern suchte.

Hinter dem „Lodbrok-Syndikat“ dürften Großfamilienverbände gesteckt haben, vielleicht sogar Bruderschaften, die ihre Wikingerfahrten gemeinsam organisierten und über beträchtliche Gefolgschaften verfügten. Die historisch greifbaren „Lodbrok-Söhne“ Ivar, Ubbe, Sigurd und Björn sind mit Zügen nach Irland, England, Flandern, ins Frankenreich und von Spanien angeblich bis Nordafrika nachgewiesen. Das deckt sich mit dem, was historisch seriöse Quellen berichten. Sie hätten somit zur „Crème de la Crème“ der Wikinger gehört und wären von späterer Sage aufgeblasen worden zu „den Lodbroks“. Wie es die „Annalen von Lund“ für das Jahr 856 trefflich formulieren: „Die äußerst wilden und grausamen Lodbrok-Söhne quälten Gallien mit Piratenangriffen.“ Man beachte: Auch hier wieder nur: „Lodbrok-Söhne“!

Dass diese Schwerenöter in irgendeiner verwandtschaftlichen Beziehung zum Paris-Eroberer Raginerius (Ragnar) standen, wäre durchaus nicht unwahrscheinlich. Leider gibt es keinen historischen Beleg. Einen anderen so berühmten Ragnar aus jener Zeit kennt man nicht! Nun gab es aber noch den ähnlichen (und viel häufigeren) Namen Ragnald - und hier kommen wir auf jene bereits erwähnte irische Quelle zurück, die von „Söhnen des Ragnall (Ragnald)“ spricht. Sie ist immerhin „nur“ ca. 200 Jahre nach den hier relevanten Ereignissen verfasst und dann auch noch in Irland, wo Ivars Lebensschwerpunkt lag. Ihre Angaben verdienen also klar den Vorzug vor der nordischen Ragnar-Tradition. Beide Namen konnte man ohnehin leicht verwechseln...

Besagte irische Annalen nennen Ragnald Sohn eines skandinavischen Königs namens Halfdan, und geben an, dass er infolge von Nachfolgestreitigkeiten aus seiner Heimat vertrieben worden wäre. Bestätigt wird dies von einer anderen (wenn auch späten) irischen Quelle, der zufolge einer von Ivars Brüdern, Halfdan, Sohn eines Ragnald war. Dessen Vertreibung würde gut passen zum zeitlichen Umfeld (Stichwort: dänischer Bürgerkrieg).

Vater des bereits erwähnten Königs Harald Klak war ein Halfdan. Die irischen Angaben lassen sich sogar vereinbaren mit Saxos Behauptung, Ragnar wäre Sohn von König Ring – Letzterer war unter dem Namen Anulo6 nämlich ebenfalls Sohn des oben genannten Halfdan! Ragnald könnte somit ein Bruder oder Neffe Harald Klaks sein, und es scheint gut vorstellbar, dass er sich vor dessen frankenfreundlicher Politik ins „Exil“ bzw. auf Wikingertour abgesetzt hat.

Weiterhin informieren die irischen Annalen, dass jener Ragnald mit drei bzw. vier Söhnen auf den Orkney-Inseln ein Piratennest aufbaute. Und hier kommt eine weitere interessante Quelle ins Spiel: Nämlich „Krákumál“7 - das sogenannte Sterbelied Ragnars. Es ist zwar auch eine hochmittelalterliche Schöpfung, beeinflusst von den Sagas. Vor allem wurde es wahrscheinlich auf den skandinavisch beherrschten Orkneys verfasst. Im „Krákumál“ zählt der seinen Hinrichtungstod erwartende Held8 noch einmal all seine Taten auf, die Highlights seiner Wikingerfahrten sozusagen. Bei aller dichterischer Ausschmückung und martialischem Pathos – ein wenig liest sich das wie ein Reisetagebuch, und vor allem in der zweiten Hälfte jener Ballade finden sich Schauplätze, die eine sinnvoll angelegte Reiseroute ergeben und sich zum Teil sogar mit Angaben von Saxo decken sowie mit historischen Fakten abgeglichen werden können.9

Außer dem „Krákumál“ existiert auf den Orkneys eine ganze Reihe von Traditionen zu „den Lodbroks“: Im 12. Jahrhundert verfasste der Earl von Orkney, Nachkomme wikingischer Herrscher, eine andere Dichtung, Hattalykill, die auch auf Ragnar & Söhne Bezug nimmt. Etwas ganz Besonderes ist ein Runengraffiti in einem uralten Megalithgrab, das das Treiben „der Lodbroks“ auf den Orkneys bezeugt (auch wenn es ebenfalls im hohen Mittelalter geritzt wurde).

Um 850 waren die Orkneys längst von Wikingern frequentiert. Eine Kolonie des norwegischen Königtums waren sie damals jedoch noch nicht – auch wenn Islandsagas es so sehen. Eine feste administrative Führung bekamen sie wohl frühestens um 900, nachmals das sog. „Earldom of Orkney“. Immerhin kennen die Sagas als Begründer der Orkney-Herrschaft einen gewissen Rögnvald – also Ragnald. Die Tradition weist diesem Ragnald gar Vorfahren und Söhne namens Ivar zu!

Sogar Saxo bestätigt Ragnars Ambition, seinen Söhnen auf den Orkneys feste Herrschaftsbereiche zu verschaffen. Außerdem wäre da noch jene recht realistische Schilderung in der „Historia Norvegiae“10 (Geschichte Norwegens):

„In den Tagen von Harald Schönhaar... zogen gewisse Piraten aus der Familie des äußerst kraftvollen Fürsten Ronald (= Ragnald) mit einer großen Flotte aus, überquerten die See und unterwarfen sich die Inseln (d.h. Orkneys/Hebriden). Und weil sie dort mit sicheren Winterquartieren ausgestattet waren, machten sie sich im Sommer daran, Tyrannei auszuüben über Engländer, Schotten, manchmal auch über die Iren...“

Demnach ließe sich rekonstruieren: Ein Seekönig namens Ragnald hat infolge von dynastischen Streitigkeiten in seiner Heimat (Dänemark-Norwegen) seine wikingischen Aktivitäten auf das nordwestliche Europa verlagert. Für räubernde Wikinger waren die Orkneys natürlich ein Top-Standquartier; und genauso operierten Wikinger – indem sie sich Inseln als Winterquartier auserkoren, um von da aus ihre Züge zu starten (in Frankreich war z. B. die Insel Noirmoutier so ein Winterlager, in England etwa die Themse-Insel Sheppey).

Die Familienchroniken nicht weniger schottischer Clans verweisen auf ihre wikingischen Wurzeln und ihre Verbindung zu den Herrschern der Orkneys. Dort weiß man, dass „Ivar von König Ronald abstammte“ („Clan-Iver“). Die Bedeutung der Orkney-Wikinger scheint gar in der hochmittelalterlichen Artus-Sage weiterzuleben. Artus' Schwiegervater Loth, König der Orkneys, hat Verbindungen zu Norwegen! Sein Sohn Gawain wird als König von Galloway vorgestellt, was von Ragnalds Nachfahren beherrscht wurde. Sie alle, auch Artus' Schwiegersohn Urien, haben Raben im Wappen – das „Totemtier“ der Lodbrok-Söhne!11 Die Vermischung gälisch-walisischschottischer sowie nordischer Elemente rührt von den engen Kontakten zwischen Wikingern und Einheimischen her.

Fassen wir zusammen: Der Paris-Eroberer Ragnar sowie wahrscheinlich ein vertriebener Königssohn Ragnald bilden die „Bausteine“ für den sagenhaften Ragnar Lodbrok. Bezogen auf die Sagas verwende ich künftig Ragnar, bezogen auf die Geschichte Ragnald.

In irischer Überlieferung werden Ragnalds Nachfahren und Gefolgsleute als „Auniten“ bezeichnet. Das klingt nach einem exotischen Volksstamm, nimmt aber wohl Bezug auf den sagenhaften König Aun von Uppsala, den die spätere „Ynglinga-Saga“ kennt. Hier werden also ebenso enge (Verwandtschafts-)Beziehungen zu schwedischen Dynastien erkennbar. Es gab ja zu Ivars Zeit noch keine Nationen Dänemark, Schweden und Norwegen. Der große Einfluss der „Lodbrok-Söhne“ wurzelt auch in ihrer Abstammung von hochkarätigen Geschlechtern in ganz Skandinavien, mit der sie (wenn sogar die Iren davon wussten) kräftig Propaganda trieben. Die Nachwelt gliederte ihnen, wie wir gleich sehen werden, schließlich noch den „Supermann“ des mittelalterlichen Sagenhimmels an.

2 Von 772 (Zerstörung der Irminsul) bis 804

3 Horik war ein Sohn von König Godfrid

4 Fragmentary Annals

5 Siehe Kapitel „Ragnar und seine Frauen“

7 „das Lied des Raben“ (bzw. der Krähe)

8 Der Name Ragnar fällt hier nicht, aber es ist klar, dass er gemeint ist!

9 Dazu Kapitel „Ragnald von Orkney“ und „Ragnars mysteriöses Ende“

10 Aus dem 12. Jh.

11 Siehe dazu „Der lange Kampf gegen Wessex“ und „Ivars Erben“

Ragnar und seine Frauen

In den Sagas ist Ragnar Lodbrok nicht nur Wikingerheld, sondern ebenso ein leidenschaftlicher Frauenfreund: Mindestens drei Ehen ging er ein, aus denen dann reichlich Nachkommenschaft floss. Übrigens kam er auch über ein Liebesabenteuer zu seinem Beinamen „Lodenhose“:

Es war einmal ein König oder Jarl Herraud in Schweden, der seine Tochter mit Geschenken verwöhnte. Als er ihr eines Tages von einem Ausflug zwei Lindwurmbabys mitbrachte, übernahm Tochter Thora begeistert die Aufzucht des (noch) niedlichen Gewürms. Da dieses sich freilich immer mehr auswuchs, geriet das Königreich eines Tages ernsthaft in Gefahr. Gesucht wurde daher ein professioneller Kammerjäger, um diese nunmehr außer Kontrolle geratenen Haustiere furchtlos zu entsorgen. Als Ragnar davon hörte, nahm er natürlich die Gelegenheit freudig wahr, seine Kühnheit unter Beweis zu stellen, und reiste umgehend zum schwedischen jurassic parc. Nicht ohne sich gut vorzubereiten (laut Saxo):

„Er bat seine Zofe um einen Wollmantel sowie um Beinkleider, die sehr haarig waren, mit denen er die Schlangenbisse abwehren konnte. Er dachte, er sollte mit Haar gepolsterte Kleidung benutzen, um sich zu schützen, und wählte darüber hinaus solche Kleidung, die ihn nicht in der Bewegung einschränkte....

In Schweden gelandet, tauchte er wohlweislich seinen Körper ins Wasser, als es dort gerade einen Frost gab; indem er seine Kleidung näßte, um sie weniger durchlässig zu machen, ließ er die Kälte sie steif frieren. … Auf die Härte seiner gefrorenen Kleidung vertrauend, vereitelte Ragnar die giftigen Angriffe mittels seiner Montur. … Die Drachenzähne wehrte er nämlich mit seinem Schild ab, ihr Gift aber mit seiner Kleidung...“

Solchermaßen über die Biester triumphierend wurde er vom erleichterten Regenten beglückwünscht: „Der König betrachtete seine Kleidung näher und sah, dass sie rau und haarig war. … Vor allem amüsierte er sich über den zottigen unteren Teil seiner Tracht, insbesondere über den groben Anblick seiner Hosen, so dass er ihm spaßeshalber den Spitznamen „Lodenhose“ gab.“

Obwohl so unfein gewandet wurde der tapfere Drachenbezwinger hernach als Schwiegersohn akzeptiert und führte die hübsche Thora heim. Die Befreiung von Königstöchtern aus der Gewalt unbändiger Lindwürmer ist übrigens ein beliebtes Sagenmotiv. Hinter solchen Ungetümen dürften sich nicht selten lästige Nebenbuhler verborgen haben.

Und Ragnars berühmte „haarige Beinkleider“? Müssen gar nicht so fabulös sein. Eine Gruppe von wikingischen „Spezialkämpfern“, die berüchtigten berserkar, sollen fellige, zottige Kleidung getragen haben. Es wäre nicht überraschend, wenn ein Exemplar wie Ragnar zu solch einem „Kriegerbund“ gezählt hätte.

Die schwedische Thora war nicht Ragnars erste Eroberung: Zuvor hatte er sich mit der norwegischen Schildmaid Lagertha verbunden, die ihm in einer Schlacht aufgefallen war! Frauen als aktive Kämpferinnen – nur fantastische Zutat einer hochmittelalterlichen Saga oder Realität der Wikingerzeit? Man hat in Skandinavien nicht wenige skandinavische Frauengräber mit Waffen als Beigaben (Axt, Speer) gefunden; möglicherweise also zogen Frauen mit martialischen Neigungen mit in den Kampf, ebenso wie energische Königinnen ohne Mann an ihrer Seite herrschten.

Die Amazone Lagertha musste allerdings ihren Platz bald der anmutigen Thora räumen, nicht ohne ihm angeblich einen strammen Sohn sowie zwei Töchter geschenkt zu haben. Thora gebar ihm zwei weitere Söhne, bevor sie starb, von Ragnar tief betrauert. Nichtsdestoweniger hatte jener bald darauf an norwegischen Gestaden ein neues weibliches Wesen erspäht, um das zu werben sich lohnte: Die hübsche Bauerntochter Kraka (der er später auch sein Totenlied, „Krákumál“, widmete)!

„Unterdessen hatte Kraka am Morgen das Vieh auf die Weide getrieben und sah, dass mehrere große Schiffe an Land gekommen waren.“, hebt „Ragnars Saga“ romantisch an. Mehrere Bedienstete aus Ragnars Gefolge werden zu einem Bauernhof geschickt, um dort Brot zu backen; stattdessen können sie sich an Krakas Schönheit nicht sattsehen. Als sich Ragnar über ihr derart missraten gebackenes Brot ärgert, reden sich seine Leute damit raus, „sie hätten dort eine so schöne Jungfrau gesehen, ...dass es keine schönere auf der Welt gäbe. … Ragnar sagte, er wisse doch, dass sie nicht so schön sein könne, wie Thora gewesen wäre.“

Um sich selbst zu überzeugen, lädt Ragnar Kraka kurzerhand auf sein Schiff ein. Als er sie bei der Gelegenheit stürmisch verführen will, antwortet das Mädchen selbstbewusst, „das könne nicht geschehen, sondern ich will, dass du erst den Brautkauf mit mir trinkst... das dünkt mir meiner würdig, so wie deiner und auch unserer Erben...“

Bauernmädchen Kraka sollte sich nämlich als Aslaug, leibliche Tochter des Drachenbezwingers Sigurd und der Walküre Brynhild entpuppen! Da hatte Seekönig Ragnar wirklich standesgemäß geheiratet! Dann gebar sie ihm auch noch eine ganze Schar nachmals berühmter Söhne – darunter den Protagonisten dieser Biografie!

Ivars des Knochenlosen Großeltern mütterlicherseits waren also, noch einmal tief durchatmen: Drachentöter Sigurd und Brynhild – eben die aus dem Nibelungen-Familiendrama wohlbekannten Siegfried und Brunhild!

Jetzt wird es wirklich verzwickt: Unsere andere wichtige Quelle für Ragnars Belange, Saxo Grammaticus, kennt nämlich gar keine Aslaug als Gattin! Bei ihm ist offenbar Jarlstochter Thora die leibliche Mutter Ivars sowie der anderen Söhne. Haben also die isländischen Poeten da „aus dem Blauen gesponnen“?

Zunächst einmal: Sigurd und Brynhild waren in skandinavischen Landen durchs Mittelalter hindurch die Top-Stars unter den Sagenhelden! Im 13. Jahrhundert wurden beide in der „Völsunga Saga“ gefeiert, doch schon aus der klassischen Wikingerzeit existieren archäologische Zeugnisse mit Darstellungen von Sigurds Drachenkampf als beliebtes Motiv, beispielsweise in England.

Schön und gut, nur kannte die ursprüngliche Fassung der „Völsunga Saga“ keine der Verbindung Sigurd-Brynhild entsprungene Kinder, also auch keine Tochter Aslaug! Die Forschung hat nun herausgefunden, dass jene Aslaug erst nachträglich hinzugedichtet wurde, und zwar eigens für die isländische „Ragnars Saga“, die ihrerseits als Fortsetzung der „Völsunga Saga“ verfasst wurde!

Wozu nun eine solche Mauschelei, und das glatte 400 Jahre nach dem historischen Ragnar Lodbrok? Der Grund dürfte auf der Hand liegen: Aslaug bzw. Kraka war „Tochter des Bauern Aki und der Bäuerin Grima“, laut „Ragnars Saga“ Aslaugs Zieheltern! Und wenn sie in Wahrheit die leiblichen Eltern waren? Man versteht nun vielleicht auch, warum Aslaug bei Saxo Grammaticus gar nicht existiert – die Dame war einfach nicht standesgemäß genug! Eventuell war die fantastische Version von Aslaug als Sigurdstochter zu Saxos Zeit noch nicht in Umlauf, so dass er nur die Bauerntochter kannte, die man besser verschwieg.

Hätte sich denn ein bereits erfolgreicher Seekönig wie Ragnar überhaupt zu einer Bauerntochter herabgelassen, um diese gar zu ehelichen? Immerhin legten die Skandinavier Wert auf gesellschaftliche Hierarchien. Drei Stände gab es: Thraell – die Unterschicht (Sklaven, Knechte); Karl – der Mittelstand (Bauern und Handwerker) sowie Jarl - der Adel. Aslaugs Vater Aki wird als „Karl“ angegeben, hätte demnach dem Mittelstand angehört.