Die Abenteuer des Löwen Oscar - Sabine Lippert - E-Book

Die Abenteuer des Löwen Oscar E-Book

Sabine Lippert

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Beschreibung

Zirkuslöwe Oscar leidet am Burnout. Da kommt die unverhoffte Chance, in die ersehnte Freiheit auszubrechen, gerade recht. Der junge Löwe lernt, dass diese Freiheit zuweilen einen hohen Preis hat. Unbeirrbar folgt er dennoch seiner Bestimmung. Und macht sich dabei so seine Gedanken über die Spezies der Zweibeiner. Kuriose Begegnungen würzen sein Abenteuer. Am Ende wartet seiner der Lohn einer großen Freundschaft...

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Es war einmal ein Zirkuslöwe namens Oscar. Seit Jahren trat er mit seinem Dompteur Cesare vor begeistertem Publikum auf. In der ganzen Welt waren Cesare und Oscar mittlerweile berühmt. Für Jung und Alt bildete ihr Auftritt stets den Höhepunkt (von den Clowns-Nummern mal abgesehen)...

Wie es zu solchem Ruhm gekommen war? Nun, Oscar beherrschte weitaus mehr als das übliche Repertoire der Raubtier-Dressur: Durch brennende Reifen springen oder auf dem Postament artig Männchen machen – etwas für Anfänger! Inzwischen tanzte er eine Gig zu Cesares Fiddle, klopfte mit seinen breiten Pratzen die Trommel zu rockiger Beschallung, drehte auf einem Tretroller Runden oder stolzierte auf den Vordertatzen durch die Manege. Ganz aktuell auf dem Lehrplan: Die Meerkatze Bibo auf seinem Rücken herumturnen lassen. Für all so was und Tolles mehr erntete er standing ovations.

Nach jeder erfolgreichen Tournee konfrontierte sein ambitionierter Maestro ihn mit neuen ausgefallenen Ideen, auf die man gespannt sein durfte. Dann hieß es, den Winter über, von morgens bis abends trainieren. Das Wort Winterpause war ein Witz: Jeder war mit hartem Training befasst im Ensemble – Jongleure, Kunstreiter, Artisten, Clowns und Vierbeiner.

Wie das aber auch bei Menschen irgendwann passiert, wenn sie sich beständig überlasten und dann urplötzlich von einem Burnout überwältigt werden – so stürzte schließlich Oscar in ein Stimmungstief! Obwohl Cesare seine Höchstleistungen stets mit großzügigen Fleischportionen belohnte, was natürlich einen enormen Ansporn darstellte, realisierte der Dompteur schockiert, dass sein Star neuerdings mit Appetitlosigkeit reagierte! Frische Riesenkeulen, die er bisher gierig verschlungen hatte, blieben liegen – und landeten dann bei der Löwin Emma, die sich so was nicht entgehen ließ.

Anstatt darauf zu kommen, dass Oscar eine ernste Berufskrise hatte, reagierte Cesare ungehalten: Wie die Raubkatze mit solchen Launen sich ihm gegenüber derart undankbar zeigen konnte! Seine Assistentin Gina war da feinfühliger und wies ihn darauf hin, den Löwen zumindest mal ärztlich untersuchen zu lassen. Der Dompteur winkte ab. Erstens war Oscar noch jung. Zweitens war kaum wer so robust wie Raubtiere. Die reinsten Kraftpakete!

Wie er sich da täuschte! Die Könige der Tierwelt waren nicht minder sensibel und anfällig für Befindlichkeiten als Menschen. Und da Cesare Oscars Zustand ignorierte, ihn weiterhin zur Fron trieb, steigerte sich des Löwen Aversion gegen dessen knallende Peitsche derart, dass er während einer Übungslektion dem Maestro plötzlich die Peitsche entriss, mit einem derartigen Ruck, der Cesare zu Boden gehen ließ. Zu seinem Glück nutzte Oscars grundsätzlich gutmütige Natur diesen Augenblick der Schwäche nicht aus, sondern schüttelte nur die elende Peitsche wie eine Beute mit seinem kräftigen Kiefer.

Immerhin – das entnervende Trainingsprogramm war erstmal unterbrochen, da Cesare sich beim Sturz gar den Knöchel angeknackst hatte. Zurück in seinem Käfig haderte Oscar mit sich – und dann setzte ihm auch noch Löwin Emma mit Vorwürfen zu:

„Was hast du da bloß angestellt? Überhaupt muss man sich in letzter Zeit über dich wundern! Es geht nicht an, dass ich deine Futterration immer mitfressen muss und irgendwann so fett bin, dass ich nicht mal aufs Postament mehr komme...“

Oscar blinzelte zu seiner Trainingspartnerin rüber. Es stimmte, sie hatte ganz schön zugelegt. Man konnte sie beinahe für schwanger halten.

„Wer weiß, wann Cesare wieder mit uns üben kann! Vielleicht vertritt ihn ja Gina.“, fuhr Emma fort. „Wenn sie dich nur nicht hier rausschmeißen oder gar bestrafen – nicht auszudenken!“

Emma regte sich immer furchtbar leicht auf. Sie war ja auch noch nicht so lange dabei wie Oscar.

Etwas später am selben Tag schaute Gina bei ihnen vorbei. Sie betrat sogar Oscars Käfig und hockte sich neben ihn.

„Wenn ihr nur sprechen könntet. Dann würde ich jetzt erfahren, was in dir vorgeht, Oscar.“, sprach sie mütterlich. „Ob dir etwas weh tut oder du vielleicht etwas nicht verträgst.“

Das war eben das Dilemma: Die Verständigung zwischen Mensch und Löwe ließ zu viel Raum für Missverständnisse. Zumindest Gina hatte aber einen gewissen Zugang, und sie beschloss, nochmal in Cesare zu dringen, dass er Oscar gründlich vom Tierarzt untersuchen ließ.

„Können wir uns sparen!“, winkte der unwirsch ab. „Ich fürchte, Oscar ist ausgepowert. Wie ein Auto, das immer Maximalgeschwindigkeit fährt. Bleibt nur noch, ihn auszurangieren und Emma als seine Nachfolgerin aufzubauen. Die hat ebenso vielversprechendes Talent...“

Gina unterließ es lieber, zu zeigen, wie sehr sie diese Aussage schockierte. Oscar war erst vier Jahre alt. Schon allein der Vergleich mit einem Superklasse-Wagen! Ausrangieren – das bedeutete, der noch junge Löwe würde auf einen Gnadenhof kommen, wo er nur noch stumpfsinnig unter lauter ausgemusterten Vierbeinern dahinvegetierte!

„Zirkus ist knallhartes Business!“, äußerte Cesare, der seiner Assistentin die Skrupel ansah. „Wo die Zeiten ohnehin schwer genug sind für unsere Branche! Da kann man sich Sentimentalität wirklich nicht leisten! Unser Erfolg hängt nun mal von der Leistungsfähigkeit der Kätzchen ab!“

Gina zog sich zurück. Ja, die Zeiten waren alles andere als rosig. Weltweit hatten Zirkusbetriebe ums Überleben zu kämpfen. Jede Saison musste optimal laufen, sonst saß man draußen! Ebenfalls ausgemustert. Der bloße Gedanke daran konnte Magengeschwüre erzeugen! Weder Cesare noch sie hätten sich ein Leben außerhalb der Zirkuswelt vorstellen können. Die lag ihnen nun mal im Blut...

Dann setzten ihnen noch die Tierschutzorganisationen zu – die „Spinner“, wie Cesare über sie schimpfte. Deswegen hatten manch andere Zirkusunternehmen ihre Raubtiernummern bereits abgeschafft. Wie man als Insider erfuhr, waren danach aber die Einnahmen ganz schön eingebrochen – da eben nun mal viele Zuschauer auf Raubtierspektakel standen und vor allem die Tierschau für junges Publikum ein Magnet war.

„Raubtiere in der Manege – das ist nun mal der Ur-Zirkus!“, hatte Cesare geschwärmt. „Schon die Römer haben sich damit goldene Nasen verdient. Immerhin hat sich die Menschheit so weit entwickelt, dass blutige Tierhetzen abgeschafft wurden. Obwohl man manchen Politiker den Löwen vorwerfen möchte...“

Das war typisch Cesares Humor. Gina verstand aber auch die Argumente der Tierschützer. Das Leben von Zirkustieren entsprach nun mal weitgehend nicht dem Dasein in ihrem natürlichen Lebensraum. Obwohl sich die meisten Zirkusbetriebe Mühe gaben mit der Behandlung ihrer Wildtiere und die immer strengeren Auflagen zu erfüllen bemüht waren: Dressur bedeutete für die Vierbeiner einen enormen Stress! Für den Zuschauer war alles ein herrliches Vergnügen – etwa Elefanten Männchen machen zu sehen! Wie betrachteten die Dickhäuter das aus ihrer Perspektive? Womöglich als ziemlich würdelos. An Höfen wurden ja früher auch Kleinwüchsige gehalten und vorgeführt, um die Leute zum Lachen zu bringen. Wie die sich dabei fühlten, interessierte nicht...

Gina befand sich also in einem quälenden Zwiespalt. Dennoch war ihr letztendlich klar, für welche Seite sie Position bezog: Für ihresgleichen, die Zirkuswelt. Nun musste man aber erstmal sehen, wie man Oscar half, damit er wieder einigermaßen zu altem Elan fand.

Im Käfig suchte derweil die Löwin Emma auf ihre Weise, Oscar wieder aufzumöbeln. Wenn ihm das Malheur, das Cesare seinetwegen erlitten hatte, auch peinlich war – an seiner Entschlossenheit, auszusteigen, ließ sich nicht mehr rütteln.

„Was stellst du dir eigentlich Besseres vor, hm?“, mahnte Emma. „Treibt dich etwa der Traum von der Freiheit um? Welche Ahnung hat einer, der wie wir unter Menschen geboren und aufgewachsen ist, davon? In Freiheit unter deinesgleichen bestehen – das veranschauliche dir mal!“

Oscar hatte es sich bequem gemacht, um seine strapazierten Pranken zu lecken. „Soll ich dir sagen, was mir Angst macht? Als idiotischer Krüppel zu enden!“

Emma ging ebenfalls an die Pediküre. „Bedenke, dass unsereins sich nie um die Futterbeschaffung kümmern muss. An den Fleischrationen ist echt nichts auszusetzen! Warte nur, bis bei dir der Appetit wieder zurück kommt...“

Ihre Einwände waren natürlich berechtigt. Anfangs hatte ihn alles ja auch begeistert, und er hatte sich begierig auf jede neue Lektion sowie die Belohnungshäppchen danach gestürzt. Sein Ehrgeiz und der Genuss von Ruhm hatten ihn zu Höchstleistungen angetrieben. Obwohl erst vier Jahre, fühlte er sich doppelt so alt, da seine Sprung- und sonstigen Gelenke seit einiger Zeit lästige Schmerzen erdulden mussten. Vor allem die Tanz-Nummern setzten ihm zu. Man war nun mal kein Zweibeiner! Dass Menschen es derart amüsant fanden, Vierbeiner tanzen zu sehen!

„Stell dir mal einen Rollentausch vor: Löwen, Elefanten, Pferde und so weiter amüsieren sich als Zuschauer, wenn Menschen auf einem runden Platz auf allen Vieren herum krabbeln!“, überlegte er. „Und das jahrelang Tag für Tag. Das würden die nicht halb so lang wie wir durchhalten.“

„Menschen sind uns Vierbeinern eben überlegen. Wir dienen ihnen zur Unterhaltung.“, sprach Emma resigniert. „Welchen Ausweg siehst du da? Wenn wir fliehen, bestrafen sie uns. Im schlimmsten Fall töten sie uns.“

„Vielleicht sogar eine Erlösung.“, seufzte Oscar. Ihm war momentan absolut nicht klar, wie es weitergehen sollte. Und der Appetit hatte sich auch noch nicht zurückgemeldet. Kein gutes Zeichen. Allein Gina mit ihrer einfühlsamen Art hatte ihnen gut getan. Kein Zweifel: Sie war traurig, weil es ihm nicht gut ging. Um sie nicht zu enttäuschen, musste man sich eigentlich zusammenreißen und wieder aufraffen.

Alles wäre ihm noch leichter gefallen, wenn Emma seine Avancen nicht wiederholt zurückgewiesen hätte! Da beide immer zusammen übten und auftraten, lag es doch nahe, dass man sich mal näher kam – so wie Cesare und Gina sich bei der Arbeit näher gekommen und nun ein Paar waren. Das erträumte er sich mit Emma. Die blieb aber spröde.

Nun ja – der Schönste war er nicht unter seinesgleichen. Eher klein geraten, ein dunkles und ein helles Ohr, die Mähne ausgefranst, die Pranken im Verhältnis zum Körper etwas zu groß. Dafür hatte ihn die Natur mit außerordentlicher Intelligenz versehen, die vor allem seinen Meister begeisterte. Cesare prahlte immer mit seinem „Wunder-Löwen“...

Vielleicht war Emma seine Intelligenz unheimlich. Ihre Auffassungsgabe reichte an seine eindeutig nicht heran. Dafür war sie sehr grazil, in all ihren Bewegungen. Als Löwin war sie so hübsch wie Gina als Menschenfrau. Und selbstbewusst.

Ob er sich nochmal um sie bemühte, um dadurch neue Motivation zu kriegen? Allerdings hatte sie ihm beizeiten unmissverständlich klar gemacht, auf welchen Typ sie stand: Mächtig und wohlgestalt musste er sein, mit seidenglänzender üppiger Mähne, mit einem Wort: ein wahrer Alpha-Mann!

„Wart nur – das bin ich in ein zwei Jahren auch. Und überhaupt kommt der Appetit beim Essen!“, hatte er trotzig gekontert.

„Irren ist männlich!“, behielt sie das letzte Wort.

Womöglich hätte des Zirkuslöwen Krise sich gelegt, und alles wäre im alten Trott weiter gegangen, hätte nicht ein völlig unerwartetes Ereignis ihn geradezu in die Verwirklichung seiner Träume geschubst...

In einer finsteren Neumond-Nacht erwachten Oscar und Emma zugleich, aufgeschreckt durch ungewohnte Geräusche in der Nähe ihrer Käfige. Und gleich darauf nahmen ihre Augen umher tappende Gestalten wahr, die sich doch tatsächlich auf sie zu bewegten! Keiner der Zirkusleute, deren Geruch sie genau kannten.

Unwillkürlich unterdrückten beide den Impuls, loszubrüllen. Schon standen die Gestalten vor ihrem Käfig, an deren schlössergesicherten Türen sie herum hantierten. Jede Muskelfaser in ihrem Löwenkörper war aufs Äußerste gespannt. Ein mehrmaliges Knacken und Knirschen, bevor die Unbekannten sich hastig zwischen den Wagen zurückzogen.

„Jetzt haut schon ab!“, hörten sie einen mit erregten Gesten zischen, bereits halb hinter den Zirkusstellagen. „Ab in die Freiheit!“

Beide Löwen verstanden zwar nicht den Wortlaut, ahnten aber aufgrund des Klangs der Stimme den Sinn. Zunächst vorsichtig schob Oscar mit der Nase die Käfigtür weiter auf. Geschmeidig schob er sich nach draußen. Emma zögerte kurz, ehe sie folgte. Argwöhnisch ließen die beiden ihre Blicke umher schweifen. Musste nicht jeden Moment Cesare oder einer der Wärter auftauchen? Nein, es herrschte wieder völlige Ruhe. Und sie fanden sich unverhofft in Freiheit. Über ihnen wölbte sich die unermessliche Kuppel des Nachthimmels, geschmückt von einem blinkenden Sternenmeer. Nur das Licht des Mondes fehlte.

Schließlich folgte Oscar dem Drang, das Zirkusgelände möglichst rasch hinter sich zu lassen. Emma blieb nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun. Ihre Samtpranken verursachten nicht den geringsten Laut. Hintereinander überquerten sie in federndem Gang ein Wiesengelände. Dahinter tauchten sie in einen weitläufigen Park ein. Geschützt von Büschen hielten sie kurz inne, um sich zu orientieren.

Welche Vielzahl von Geräuschen an ihre Ohren drang! Als sie am anderen Ende des Parks das Gelärme einer menschlichen Umgebung mitsamt grellen Lichtern stärker wahrnahmen, zögerten sie. Im Schutz der Bäume und Büsche bleiben? Sich ein Versteck suchen? Doch noch waren sie zu nah am Zirkus. Bei Tagesanbruch spätestens würde man nach ihnen suchen. Und sie bald gefunden haben, sofern sie hier blieben.

Also folgten sie einem den Park durchfließenden Gewässer. Am Ende der Grünanlage verschwand es unter einer Brücke, die sie als Durchschlupf nutzten. Die dicht bewachsenen Ufer des Flüsschens dienten ihnen als Fluchtroute, auf der sie bis in den neuen Tag hinein unterwegs waren. Bis die Geräusche einer von Menschen frequentierten Umgebung immer dünner wurden und die klarere Luft ihnen verriet, dass sie dem Gefahrenbereich entronnen waren.

Entlang dem Wasser erreichten sie bald einen großen Wald, wo sie es wagten, die Ufer zu verlassen, gelockt von Tierspuren und spannenden Gerüchen. Um sie herum flatterten Vögel mit erregtem Gezwitscher auf, Kaninchen und Marder retteten sich flugs in die Deckung.

Ein bestimmter Gedanke durchblitzte zugleich beider Köpfe: Zeit für eine Mahlzeit, nach all den Aufregungen!

Eine Maus flitzte durchs Unterholz. Selbst als Vorspeise zu mager. In Lauerstellung, die Sinne gespannt, begannen sie nach lohnenderer Beute Ausschau zu halten. Hier leitete sie der Instinkt hilfreich, bei ihrer Jagdpremiere. Tief im Innern wusste man, was zu tun war, und wie es zu tun war. Nach kurzer Beratung per Blick beschloss man, sich zu trennen, indem der eine rechts, der andre links vom Flussufer sein Glück versuchen wollte.

Kurz darauf schon kreuzte ein Reh Emmas Weg. Geduckt pirschte sich die Löwin an die Beute an. Da es aber an Professionalität noch haperte, knackte ein Zweig unter ihrer Pranke, und schon floh das Reh aufgescheucht. Mit kraftvollen Sätzen durchbrach Emma nun das Dickicht. Schon war sie dem Flüchtling gefährlich nah auf den Fersen.

So ging die Hatz eine ziemliche Strecke – bis sich der Wald auf einmal lichtete! Über eine feste graue Bahn suchte sich das Reh ins gegenüberliegende Gesträuch zu retten. Als Emma zu einem gewaltigen Sprung ansetzte, über die graue Fläche hinweg, wurde sie von einem fürchterlichen Stoß erfasst und durch die Luft geschleudert!

Nur kurz nahm sie den Schmerz wahr. Dann schwebte sie plötzlich über ihrem mitten auf der grauen Fläche ausgestreckten Körper, noch völlig verwirrt. Ein Mann war da, einem großen Gefährt entstiegen. Erst untersuchte er dieses, dann verharrte er kopfschüttelnd über ihrem Leib. Schließlich packte er ihre Hinterläufe, um sie nebenan ins Gestrüpp zu schleifen. Danach stieg er rasch wieder ein, und der Wagen entfernte sich brummend.

Inzwischen war in Emma völlige Klarheit eingekehrt. In ihrem schwebenden Zustand begab sie sich umgehend auf die Suche nach ihrem Gefährten, der ja am anderen Flussufer unterwegs war.

Irritiert verhielt Oscar. Ganz in der Nähe spürte er Emma, doch wieso sah er sie nicht? Grollend drehte er sich im Kreis, die Nase witternd in die Höhe gestreckt. Bis er so etwas wie einen Schatten wahrnahm, ihre Umrisse! Sofort befiel ihn eine erschütternde Ahnung.

Diese wurde Gewissheit, als er ihrem Schatten folgend zu jener Stelle gelangte, wo ihr lebloser Körper im Gestrüpp lag. Neben diesem kauerte er sich hin. Überwältigt von Trauer begann er wie betäubt ihren Leib abzulecken.

Emmas Schatten waberte um ihn. „Nichts mehr als eine leere Hülle. Schau her, ich bin und bleibe dir nahe. Höre mir nun gut zu; ich will dir erzählen, was mir geschah, damit du aus meiner Unachtsamkeit lernst.“

Und so erfuhr Oscar, was sich erst vor wenigen Augenblicken hier abgespielt hatte: Ein Zweibeiner mit seinem Wagen hatte Emma erfasst und getötet. Von Jagdfieber gepackt hatte sie die Gefahr nicht beachtet.

„Wann immer du auf deinem Weg zu so einer grauen Bahn kommst, darfst du nicht einfach blindlings darüber laufen!“, hörte er Emmas Schatten eindringlich mahnen. „Bleibe stehen, ganz gleich, was oder wer sich hinter dir befindet, und schaue erst nach beiden Seiten, bevor du die Stelle passierst! Die Fahrzeuge der Menschen lärmen zwar, wenn sie sich nähern, aber sie sind schneller heran als ein Gepard. Der stärkste Löwe kann einen Zusammenprall mit ihnen nicht überleben!“

Alle Abenteuerlust schien ihn verlassen zu haben. Wozu noch weiterziehen, nach solchem Unglück?

„Du darfst hier nicht verweilen!“, mahnte Emmas Schatten. „Ich werde an deiner Seite bleiben, wenn auch fortan nicht mehr körperlich. Als Schutzgeist will ich dir dienen!“

Müde schaute Oscar auf. „Willst du denn nicht ins Lichtreich, wo die Mutter und der Vater aller Löwen sind, die Lichtlöwen, und wo vielleicht ein prächtiger Alpha-Mann auf dich wartet?“

„Ach, Oscar! Das waren doch nur dumme Phantasien! Wie unreif ich war! Was ich erträumte, befand sich neben mir! Der lustige Kerl mit dem hellen und dunklen Ohr!“

Langsam richtete sich Oscar nun auf, voller Widerwillen, Emmas Körper zu verlassen, der nun die Aasfresser anlockte.

Er spürte ein sanftes Streichen über seinen Kopfhaaren. „Wohlan, mein Gefährte! Lass mich deine Führerin sein! Freue dich auf viele Abenteuer, und was du von ihnen lernen wirst!“

Mit diesen Ermutigungen bewirkte sie, dass er sich tatsächlich aufraffte. Doch wohin sollte es nun gehen? Ratlos spähte er zu ihrem Schatten.

„Ich werde mich ein wenig umschauen. Bleib einstweilen im Schutz des Waldes, bis ich die Umgebung erkundet habe und dir einen Weg weisen kann!“

Während Oscar, noch immer halb gelähmt durch das tragische Ereignis, auf dem Waldboden kauerte, schnürte ein braunes Eichhörnchen übermütig am Stamm einer Lärche hoch.

„So einen wie dich hab ich in unserem Wald noch nie gesehen! Kommst dir wohl ganz schön verloren vor. Verlaufen?“

Trübsinnig blinzelte Oscar in die Höhe. „Wenn ich besser drauf wäre, müsstest du ganz schön um dein Leben rennen, Freundchen!“

„Da hab ich heute wohl Glück!“, lachte der Wicht. „Sonst prahlt nur Gevatter Vielfraß hier so rum! Versuch dich doch mal an dem! Von ihm wirst du eher satt, denk ich.“

Stattdessen fiel Oscar ein, dass man im Zirkus längst ihre Abwesenheit bemerkt hatte, und er stellte sich die Aufregung vor. Cesare tobte sicher außer sich herum; Gina brach vielleicht in Tränen aus. Dennoch beschlich ihn kein schlechtes Gewissen.

Mittlerweile war Emmas Schatten wieder heran geschwebt.

„Mein lieber Gefährte – ich bringe gute Nachrichten! Gar nicht weit von hier hab ich für dich einen reich gedeckten Tisch ausgemacht, wo du deinen Hunger recht mühelos stillen kannst.“

Diese Aussicht verlieh ihm tatsächlich die Kraft, jenen schicksalhaften Platz hinter sich zu lassen. Geführt von Emmas Schatten gelangte er auf offenes Land, wo er alsbald einen von Menschen bewohnten Ort wahrnahm.

„Siehst du die kleine Siedlung dort? Ihre Bewohner sind draußen versammelt. Weshalb auch immer – sie haben Speisen ins Freie geschafft. Mit ein bisschen Geschick kannst du dir Fleisch beiseite schaffen.“

Es klang machbar. Die seine Nase kitzelnden Gerüche genügten als Wegweiser. Dennoch erklomm er im Schutz von Büschen und Gras zunächst einen kleinen Hügel, um sich genauer zu orientieren. Dabei beobachtete er, wie die Leute ihre Nahrung und Sonstiges auf einem Platz am Dorfrand zusammentrugen. Dieser war von einigen alten Bäumen umsäumt, die eine gute Deckung abgeben würden.

Als Oscar den Überblick hatte, schlich er sich entlang der an die Felder grenzenden Gärten an. Mehr als einmal begegnete ihm eine Katze, die äußerst verwundert guckte. Irgendetwas in ihm ahnte, dass hier eine wie auch immer geartete verwandtschaftliche Beziehung bestand, diese Wesen folglich als Beute tabu waren.

Endlich lag der Platz in Reichweite. Unmittelbar dahinter befand sich ein von Schilf umsäumter Teich. Dorthin würde er sein Diebesgut schaffen, um es in Ruhe zu verschlingen.

Geduldig lauerte Oscar hinter einer der alten Linden, bis die Menschen, die die Speisen auf langen Tischen abstellten, sich wieder entfernten; schnell wie der Blitz hatte er sich ein Brathuhn geschnappt, an dem er sich im Schutz des Schilfes gütlich tat.

Als nur noch Knochen übrig waren, lockte es ihn zu einem weiteren Streifzug, da das, was er im Magen hatte, noch lange nicht an die Rationen heran reichte, die er gewöhnt war. Diesmal griff er sich ein Schnitzel. Allerdings schaffte er es nicht zurück zum Teich, da gerade Leute um die Ecke bogen. Kurzerhand verkroch er sich unter einem Tisch. Die lang herab hängenden Tischtücher schützten ihn vor Blicken, so dass er das Schnitzel in Ruhe verdrücken konnte.

In einem günstigen Moment setzte er seinen Plünderzug fort. Die Platte mit Schnitzeln leerte sich. Oscar hatte Feuer gefangen. Als nächstes musste ein Parmaschinken dran glauben. Im Schilf sich zur Mahlzeit verbergen, sparte er sich, da er unter dem Tisch ja nicht entdeckt wurde und der Weg zur Beute praktischerweise nur kurz war.

Allerdings trat bald eine Veränderung ein. Wieder befanden sich Menschen an den Tischen, doch klangen ihre Stimmen aufgeregt. Ob sie auf das Verschwinden ihrer Fleischnahrung aufmerksam geworden waren?. Mucksmäuschenstill verharrte er unter dem Tisch. Dabei sah er einen kleinen Hund schnüffelnd umher streifen. Das konnte brenzlig werden.

Plötzlich ein ärgerlicher Laut. Mehrere Beine rannten auf den Hund zu, so dass er Reißaus nahm. Oscars helles Köpfchen deutete das so: Man verdächtigte den armen Hund, diese Fleischmengen verschlungen zu haben. Bloß wie hätte der mit seinen Stummelbeinen an die Speisen ran kommen sollen? Nun ja, eventuell über die angestellten Stühle. Dem Dieb konnte es jedenfalls nur recht sein, wenn man von ihm abgelenkt war.

Das verleitete ihn zum Leichtsinn. Als er nämlich zum nächsten Coup hervorkroch, stürzte plötzlich eben jener stummelbeinige Hund hinter einem Gartenzaun hervor, direkt auf ihn los. Oscar konnte sich gerade noch eine Lammkeule packen, als der kleine Kläffer ihm schon den Weg verlegte! Mit einem Sprung setzte der Löwe über ihn drüber, zum Schilfteich sich wendend.

Doch oh weh – dieser Fluchtweg war abgeschnitten, durch eine dort spielende Gruppe Kinder. Als die in Panik aufschrien, geriet er aus dem Konzept. Auf einmal waren da überall Menschen! Oscar rettete sich in einen Gartenweg, den er unangefochten bis zum Ende wetzte, die Lammkeule im Maul. Vor ihm wieder hohe alte Bäume, um ein großes Gebäude herum.

In seiner Verwirrung tat der Fliehende, worauf kein Löwe normalerweise verfallen würde: Weil da die Tür weit offen stand, stürmte er in das geräumige Haus. Zum Glück war es offenbar leer.

Erst einmal schaute er sich um. Er stand in einem hohen Raum, wo es nicht sehr hell war – zumindest ein günstiger Umstand. In der Mitte befanden sich Holzbänke, von hinten bis fast vorne. An beiden Seiten war ein Gang, durch Steinpfeiler von den Bänken getrennt.

Oscar brauchte dringend einen Unterschlupf. Als er so seine Runden drehte, völlig ungestört, und sich dabei halbwegs beruhigt hatte, fiel ihm an einem der Steinpfeiler ein runder Vorbau auf, zu dem eine Treppe führte. Um dies zu erkunden, stieg er hoch und machte tatsächlich einen winzigen Verschlag aus. Ein vorzügliches Versteck, in das er nicht ohne Mühe gelangte. Ihm kam zugute, nicht ganz so massig geraten zu sein wie seinesgleichen normalerweise.

Nun hieß es erst einmal die Mahlzeit beenden. Etwas Herrliches, so eine Lammkeule! Danach fühlte er sich so recht gesättigt. Nebenbei schaute er, ob Emmas Schatten irgendwo in der Nähe war. Allerdings wurde seine Beschaulichkeit alsbald wieder gestört.

Tappende Schritte näherten sich, begleitet von einem Knurren. In seinem beengten Unterschlupf machte sich Oscar so klein wie möglich. Doch es sollte nichts nutzen. Näher und näher kam das Grollen, bis Krallen am Holz seines Verstecks scharrten. Das Knurren mündete in wütendes Gebell.

Solches konnte ein Löwe natürlich nicht auf sich sitzen lassen; er erhob ein nachdrückliches Gebrüll. Die Hoffnung, den lästigen Verfolger damit einzuschüchtern, erfüllte sich allerdings nicht. Also stieg Oscar mit den Vorderläufen auf den Rand des runden Baus, um bedrohlich herab zu funkeln.

Unbeeindruckt reckte sich Gevatter Stummelbein seinerseits kläffend an dem Holz hoch. Eine Weile gifteten sich beide an.

„Dir werd ich's zeigen!“, drohte der Dackel. „Mit Sergeant Pepper kannst du das nicht machen! Mein Herrchen ist Gendarm und wird dich gleich einstecken, wenn mein Radau das ganze Dorf hierher lockt!“

Oscar staunte, dass sich eine Ebene ergab, mit dem frechen Wicht zu kommunizieren.

„Ich will hier nur in Ruhe auffressen! Dann bin ich schon weg!“

„Und mich trifft der Verdacht, alles leergeräumt zu haben!“, polterte Sergeant Pepper! Herrchen lässt mich stramm stehen! Und du als Schuldiger sollst davon kommen?“

„Jedermann ist doch klar, dass du dir die Wampe nicht vollgestopft hast!“, grollte Oscar genervt. Ihm kam eine Idee. „Als Wiedergutmachung überlasse ich dir die Knochen. Einverstanden? Dir die Knochen, und ich ziehe meines Wegs, ohne hier jemals wieder aufzukreuzen.“

Der Dackel verstummte. Schließlich willigte er in den Deal ein. Als Oscar ihm die Lammreste rüber schob, war der Frieden besiegelt.

„Vierfüßler müssen zusammenhalten.“, schmatzte Sergeant Pepper. „Allein die Frechheit, mich wegen so was zu verdächtigen! Wo ich mir noch nie was unerlaubt rein geschoben hab, als wohlerzogener Hund! Menschen erlauben sich manchmal uns gegenüber zu viel, nicht wahr?“

„Weshalb ich abgehauen bin.“, nickte Oscar. „Ich hatte es satt, herumkommandiert zu werden. Meine Freundin kam mit, doch ist sie heute früh leider tragisch verunglückt. Durch menschliche Schuld!“

„Das tut mir leid.“, bedauerte der Dackel. „Ich verpfeif dich auch nicht. An Ort und Stelle kannst du aber nicht bleiben. Weil...“

In dem Moment knarrte irgendwo eine Tür; Schritte wurden hörbar.

„Sergeant Pepper! Was machst denn du auf der Kanzeltreppe?“, sprach da eine verwunderte männliche Stimme. „Und was ist das für ein strenger Geruch?“

„Ich habe eine Katze gefleddert.“, schwindelte der Dackel, während er die Treppe eilig herunter trabte. „Die hat sich hier unbefugterweise rum getrieben...“

Da der Mann die Hundesprache nicht verstand, schimpfte er Sergeant Pepper aus, in der Kirche seine Mahlzeit abgehalten und einen fürchterlichen Mief hinterlassen zu haben. Dann jagte er ihn heraus. Armer Kerl – kriegte wahrhaftig alles ab!

Oscar duckte sich wieder in seinem Versteck, da nun mehr und mehr Stimmen vernehmbar wurden. Ohne es zu sehen, ahnte er, dass das Gebäude sich mit Menschen bedrohlich füllte, die sich unter ihm auf die Sitzbänke verteilten. Da steckte er ja ganz schön in der Falle! Blieb nur die Hoffnung, dass ihn hier oben keiner entdeckte.

Plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm! Oscar konnte nicht anders, als in die Höhe fahren! An Orgeln war sein Ohr nun mal nicht gewöhnt! Dagegen musste angebrüllt werden! Und da sein Maul nahe dem an der Kanzel montierten Mikrophon war, erschrak er regelrecht über sein Stimmvolumen!

Die Kirchgänger, zum größten Teil auf den Bänken, waren regelrecht paralysiert. Nach dem ersten Schock sprangen einige kreischend auf. Oscar fand es ziemlich amüsant, dass eine solche Menge Menschen mehr Respekt vor seiner Erscheinung hatte als der kleine Sergeant Pepper! Es gab doch immer wieder Überraschungen! So ein bisschen war das wie in der Manege, wenn er seine Star-Auftritte hatte! Hoffentlich kriegte seine Emma alles mit...

„Da hat sich das Monster verbarrikadiert!“, schrie ein Mann. „Los, alle mit Knüppeln bewaffnen und da rauf!“

Solcher Lynch-Justiz gebot der Pastor rasch Einhalt. „Das Haus Gottes ist auch für den wildesten Löwen ein Asyl. Wer sich hierher flüchtet...“

„Ach, von dem kommt der Gestank hier.“, kommentierte ein Junge lässig.

Nach der ersten Aufregung und beschwichtigenden Worten des Pastors herrschte einen Augenblick Totenstille. Unzählige Augenpaare starrten zu Oscar hoch, der nach wie vor auf den Holzrand der Kanzel gestützt genoss, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Doch nicht nur das – seine Blicke spähten dabei nach einer Fluchtmöglichkeit.

„Deshalb also trieb sich Sergeant Pepper da oben rum.“, murmelte der Küster. „Ganz schön tollkühn von dem...“

Besagter Dackel verfolgte alles vom Eingang der Kirche aus. Wie sich das wohl weiter entwickelte? Er drückte Oscar jedenfalls die Daumen.

Inzwischen hatte der Pastor angeordnet, in aller Ruhe, unter Vermeidung von Panik, die Kirche zu evakuieren und hinter dem Letzten abzuschließen. Als das vonstatten gegangen war, debattierte man draußen erregt, wie mit dem Problem zu verfahren war. Die Polizei wurde verständigt.

„Heute morgen wurde im Radio doch gemeldet, dass aus einem in unserer Bezirksstadt gastierenden Zirkus zwei Löwen ausgebrochen sind.“, äußerte eine Frau.

„Dann muss das einer von den Ausreißern sein! Ausgerechnet zu uns zu fliehen und unsere Kirmes stören...“

„Die Polizei wird Leute vom Zirkus und Raubtierexperten mit Betäubungsgewehr mitbringen.“, wurde beruhigt. „Sie müssten in Kürze eintreffen.“