Die Akte Edward Low - Sabine Lippert - E-Book

Die Akte Edward Low E-Book

Sabine Lippert

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Beschreibung

Im Zentrum dieser Biografie steht einer der erfolgreichsten, aber auch berüchtigtesten Piraten des 18. Jahrhunderts: Der gebürtige Londoner Edward "Ned" Low. Wie viel ist wirklich dran an der gängigen Ansicht, der letzte bedeutende Seeräuber des sog. "Golden Age of Pirates" sei ein Sadist und Psychopath gewesen? Welche Ursachen überhaupt führten im frühen 18. Jahrhundert zum Phänomen massenhafter Piraterie?

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung:

a.

Das Goldene Zeitalter der Piraten

b.

Einheit, Freiheit, Brüderlichkeit

c.

Die „Allgemeine Piratengeschichte“

Dem Sturm ausgesetzt

Der Schrecken von Westminster

Eine Fahrt nach Tyburn

Boston

Blutholz

Der Meister und sein Lehrling

Philip Ashtons „schwarzer Tag“

„Rose“ und „Fancy“ auf Beutezug

Captain Roberts' Erlebnisbericht

Captain Lows Satzung

Der Sturm

Das traurige Ende der „Rose“

Der Streich von Grenada

Gejagt

Das Blutbad

Das Seegefecht

Der Rächer

Der Admiral

Die Meuterei

Piratendämmerung

Der Schatz

Porto Bello

Das Märchen vom „bösen Edward“

Schlusswort

Zeittafel

Literaturverzeichnis

“Ein größeres Ungeheuer hat niemals die Meere verseucht”

(John Hart, Gouverneur der Leeward-Inseln, 1724 über Captain Low)

„Ich hatte sehr guten Grund, ihm meinen herzlichen Dank abzustatten...“

(Captain Roberts über Edward Low 1726)

Vorwort

Beide Zitate veranschaulichen, wie umstritten der letzte bedeutende Pirat der „großen Seeräuber-Ära“ bereits zu Lebzeiten war! Noch 300 Jahre danach würden sich die meisten dem Urteil von Gouverneur Hart anschließen. Von zahlreichen Zeitgenossen sowie (noch mehr!) der Nachwelt wurde „Ned“ Low zu einem blutrünstigen Monster stilisiert, oder zutreffender: dämonisiert. Nun wurden Piraten, die Gesetzlosen der Meere, von der Geschichtsschreibung selten gnädig behandelt. Geschichte schrieben eben immer die Mächtigen!

Aber wo Schatten ist, ist auch Licht!

In diesem Sinne soll das durchgängig finstere Bild in der vorliegenden Biografie hinterfragt und durchleuchtet werden. Denn jede historische Gestalt verdient eine faire Beurteilung!

Soweit nicht anders gekennzeichnet, wurden die zitierten englischen Texte von der Autorin übersetzt.

Datumsangaben richten sich nach dem Julianischen Kalender, der bis Mitte des 18. Jh. in Großbritannien und seinen Kolonien noch in Gebrauch war; zur Umrechnung in den Gregorianischen Kalender muss man einfach ca. 12 Tage hinzuzählen.

Einführung

a) Das „Goldene Zeitalter“ der Piraten

Ein recht euphemistischer (und übrigens nicht zeitgenössischer) Begriff! Er umfasst den Höhepunkt der Piratenaktivität auf den Weltmeeren: in ungefähr die Zeit zwischen 1690 und 1730. Natürlich hat es Piraterie seit ehedem gegeben (bekanntlich hatten ja schon die Piraten der Adria den Römern das Leben schwer gemacht).

Später betrieb man vor allem die Freibeuterei, im Auftrag von Regierungen – also sozusagen als „legitimierte“ Piraten mit Kaperbrief oder stillschweigender Duldung; ein berühmtes Beispiel hierfür ist Sir Francis Drake, der zum Schrecken der spanischen Seefahrt wurde (was Ihrer Majestät Elisabeth I recht gelegen kam). Im 17. Jahrhundert trieben die sogenannten Bukaniere in der Karibik ihr Unwesen, auch diese im Auftrag gewisser Regierungen, Gouverneure oder Handelsgesellschaften (die mit Hilfe jener wilden Gesellen der Konkurrenz ein wenig einheizen wollten). Privateers (also Freibeuter) waren auch noch während des Spanischen Erbfolgekrieges (1701 – 1714) gefragt, wo sie für ihr jeweiliges Land dem Kriegsgegner zusetzten.

Die Beendigung dieses sich hinziehenden Krieges (in den die großen Seefahrernationen England, Frankreich und die Niederlande involviert waren) bedeutete eine Zäsur für das Freibeuterwesen – danach bestand nämlich für diese (zunächst) keine Verwendung mehr (in späteren kriegerischen Auseinandersetzungen wie dem sog. „Ohrenkrieg“ 1739 – 1742 griff man gern wieder auf Privateers zurück!). Da stand nun eine große Menge von Männern; sie hatten natürlich die Option, sich künftig als ehrliche Seeleute zu verdingen. Allerdings besaßen die damaligen Arbeitsbedingungen auf einem Schiff eine eher abschreckende Wirkung. Helge Meves schreibt in seinem Kommentar zu Libertalia:

„In der Handelsmarine verfügten die Seeleute noch über weit weniger rechtliche Schutzmöglichkeiten als beim Militär. ... Zwischen der Heuer einfacher Mannschaftsmitglieder oder Schiffsjungen und des Kapitäns bestanden gigantische Unterschiede fast feudalen Ausmaßes, Betrug bei der Auszahlung der kärglichen Entlohnung war dazu an der Tagesordnung. Aus der gut dokumentierten englischen Handelsmarine sind aus der ersten Hälfte des 18. Jh. sechzig Meutereien überliefert, von denen die Hälfte erfolgreich war und ein Drittel zur Folge hatte, dass aus Seeleuten Piraten wurden. (!) Roher und rigoroser als an Land wurden in der Kriegsmarine geringste Vergehen durch Auspeitschen mit der neunschwänzigen Katze bestraft. ... 25 der 39 Paragraphen der Kriegsartikel von 1652 sahen die Todesstrafe vor. Zitiert wird auch noch ein Zeitgenosse, Samuel Johnson: „Kein Mensch, der genug Geschick besitzt, um sich ins Gefängnis zu bringen, wird Seemann; denn ein Schiff ist wie ein Gefängnis, in dem man auch noch Gefahr läuft zu ertrinken.“

Wer da nicht an die „Meuterei auf der Bounty“ denkt, die Ende des 18. Jh. stattfand, also 60 - 70 Jahre nach der hier behandelten Zeit! Noch Captain Bligh soll ein autokratisches, nahezu unmenschliches Regiment über seine Crew geführt haben, ohne dafür seines Postens enthoben zu werden.

Da wechselte man lieber in die Piraterie, wurde somit freilich zum echten „Outcast“, weil fortan weder Regierungen noch Handelsgesellschaften (zumindest offiziell) daran interessiert waren, Freibeuter zu beschäftigen.

Der berühmte Piratenkapitän Bartholomew Roberts („Black Barty“) bringt es auf den Punkt:

„Er (Roberts) konnte nicht Arbeitslosigkeit oder die Unmöglichkeit, sein Brot auf ehrliche Weise zu verdienen, ins Feld führen, um einen so nichtswürdigen Wechsel zu rechtfertigen... er gab vielmehr freimütig zu, er habe es getan, um dem unerträglichen Hochmut einiger Kapitäne zu entgehen… In ehrlichen Diensten…gibt’s schmale Kost, niedrige Heuer und harte Arbeit…“ (Captain Johnson; Übersetzung: Stingl).

Roberts war, bevor seine Piratenkarriere begann, Zweiter Maat, also in ehrlicher Anstellung. Aber selbst in seiner Position als Maat hatte er wohl die Behandlung seitens der Vorgesetzten sowie die Bezahlung zu bemängeln.

Und von Captain Evans heißt es:

„… da die Löhne nicht so gut waren wie früher und gute Stellen wegen der großen Zahl an Seeleuten knapp, kamen sie überein, sich auf die Suche nach Abenteuern zu machen…“

Ein gefangener Pirat äußerte:

„Ich könnte wünschen, dass Schiffskapitäne ihre Leute nicht mit derartiger Strenge behandeln würden, wie es so viele tun, was (die Seeleute) großen Versuchungen aussetzt.“ (ebenda: Captain Phillips)

Mit „Versuchungen“ war natürlich gemeint: das Hinüberwechseln vom ehrlichen Broterwerb zur Piraterie. Freilich – einen wichtigen Aspekt stellten auch Abenteuer- und Raublust dar, wie Bartholomew Roberts ganz freimütig zugibt: „...Vergnügen und Wohlsein, Freiheit und Macht” (Captain Johnson; Übersetzung: Stingl). Seine Ansicht wurde von zahlreichen Piraten geteilt, deren Freiheitsdrang eine Existenz als gesellschaftlich Geächtete vorzog.

Abgesehen vom wichtigen Aspekt der Unzufriedenheit ihrer materiellen Situation oder purer Abenteuerlust gab es noch einen weiteren, nämlich politischen Beweggrund: Gewisse Piratenführer (wie z.B. Charles Vane oder Captain England u.a.) unterstützten die sogenannte jakobitische Rebellion – d.h. die Ansprüche des königlichen Hauses Stuart. Dieses war durch die Thronfolge Georgs I von Hannover1 seines Herrschaftsanspruchs auf den britischen Thron dauerhaft verlustig gegangen. Wie in vorliegender Biografie deutlich werden wird, hatte jene „jakobitische Komponente“ innerhalb der Piratenbewegung, die in der „Kernphase“ des Goldenen Piratenzeitalters (zwischen 1716 und 1726) agierte, einige Bedeutung. Man muss allerdings dazu sagen, dass für den „einfachen“ Piraten solch politische Belange weniger ausschlaggebend waren. Für ihn zählte der Beuteaspekt.

Eine überdurchschnittlich große Anzahl von Piratenkapitänen hatte vor ihrem Start in die „Outlawkarriere“ die ordentliche Stellung eines Maates innegehabt, die offenbar keine guten materiellen Aussichten eröffnete.

Ein Kapitän hingegen konnte (wie ein zeitgenössischer Bericht enthüllt) das 60fache eines einfachen Matrosen verdienen!

Laut den erhaltenen Piratensatzungen hatte hingegen ein Piratenkapitän Anspruch auf höchstens den doppelten Anteil der Beute!

Zorn über solch materielle Ungerechtigkeiten sowie schlechte Behandlung vonseiten der Vorgesetzten führten zu einer provokativ-feindseligen Haltung jener „echten“ Piraten gegenüber Autoritäten im Allgemeinen. Hatte der aus gutsituierten Verhältnissen stammende Blackbeard noch mit gewissen Gouverneuren „zusammengearbeitet“, indem er seine Kapererträge mit ihnen teilte, so behandelten spätere Piraten die Obrigkeit und deren Vertreter mit steigender Verachtung und Brutalität, zahlten also mit gleicher Münze zurück…

Hierzu passt, was Lynn Dumenil anmerkt:

„Die neuen Companys (die des ausklingenden Goldenen Zeitalters) waren gewalttätiger und dem Terror mehr zugeneigt als frühere Räuber. … Sie drückten, was zuvor unter Piraten selten war, Feindseligkeit gegenüber Englands Kaufleuten und Politikern aus.“

Sie waren ja auch keine Kaperer von staatlichen Gnaden mehr – ihre Feindseligkeit war die radikale Antwort auf durch die Autoritäten erlittenes Unrecht und Ausbeutung!

b) Einheit, Freiheit, Brüderlichkeit?

Das „Goldene Zeitalter“ der Piraten fällt in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts und somit in die Zeit der frühen Aufklärung. Inwieweit jener Zeitgeist Einfluss auf die Motivation der Piraten hatte, ist schwer zu beantworten, aber mit Sicherheit haben zumindest aufklärerische Gedankenströmungen ihren Weg zu dem einen oder anderen Piraten gefunden.

Die meisten, vor allem gewöhnlichen Besatzungsmitglieder, waren nur dürftig gebildet, und die Mehrzahl ihrer Kapitäne entstammte ebenfalls der Seefahrt, hatte also sicher keine „hochkarätige“ zeitkritische Literatur studiert. Eine Ausnahme bildete Major Stede Bonnet, der vermögenden Verhältnissen entstammte. Von ihm sagt Captain Johnson, dass er „eine liberale Erziehung“ genossen hatte. Was genau war darunter zu verstehen? Bonnet musste sich bei seiner Aburteilung 1718, als einstiger Gentleman von Rang, von seinem Richter eine ausführliche Moralpredigt anhören, und dabei bemerkte Letzterer :

„… wenn ich nicht... gute Gründe gefunden hätte, zu fürchten, dass die religiösen Prinzipien, die man Euch während Eurer Erziehung vermittelt hat, durch den Skeptizismus und den Unglauben dieses bösen Zeitalters zumindest verdorben, wenn nicht vollkommen entstellt worden sind. Und dass die Zeit, die Ihr dem Studium gestattetet, eher… der eitlen Philosophie der Zeit … gewidmet war…“ (Übersetzung: Jörg Rademacher)

Der konservativen Werten verpflichtete Richter (der sein Leben gemäß „dem Willen und Gesetz der Heiligen Schrift“ ausrichtet) erkennt also in Bonnets liberalem „Lifestyle“ die Ursachen für sein gesellschaftliches Abgleiten; seine Kritik an „Skeptizismus und Unglauben dieses bösen Zeitalters“ sowie der derzeitigen „eitlen Philosophie“ kann durchaus als Seitenhieb gegen aufklärerische Einflüsse zu verstehen sein.

Die Aufklärer hinterfragten natürlich bereits damals massiv die Autorität von Kirche sowie absolutistischer Monarchie. Auch wenn sie in der Mehrheit keine großen „Bücherleser“ waren, hatten Piraten ihrerseits sicher das eine oder andere im Umgang mit ihrer Umwelt aufgeschnappt. Sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, war für sie mit diesem Rückenwind Ehrensache. Der Piratenkapitän Samuel Bellamy (er erlitt 1717 an der amerikanischen Küste Schiffbruch) drückte seine Einstellung gegenüber den staatlichen Autoritäten drastisch aus:

„… Sie berauben die Armen unter dem Deckmantel des Gesetzes… und wir plündern die Reichen unter dem Schutz unseres eigenen Mutes…Ich bin ein freier Prinz, und ich habe genauso viel Autorität, mit der ganzen Welt Krieg zu führen…“ (Captain Johnson, „Life of Captain Bellamy“)

Ganz schönes Selbstbewusstsein – da war nicht mehr viel Respekt vor einer „gottgegebenen Autorität“. Auch als ein Mann „aus dem Volk“ wollte man die Dinge selbst in die Hand nehmen, sich anlegen mit „denen da oben“.

Das Bedürfnis, die Obrigkeit verächtlich zu behandeln, zieht sich auch wie ein roter Faden durch Ned Lows Piratenleben. So zwingt er laut einer Anekdote an der amerikanischen Küste gefangene Fischer, DIE religiöse Autorität Bostons, Puritaner Cotton Mather dreimal zu verfluchen. Mather hatte in seinen Predigten viel zu viel gegen die „Gottesgeißel“ Piraten und ihren „Lifestyle“ gewettert…

Indem sie ihren Verband gern hochtrabend als „Commonwealth“ bezeichneten, grenzten sich Piraten vom etablierten Commonwealth ab. „Was haben wir mit den Rechten von Königen oder Prinzen zu schaffen? Unser Anliegen hier ist es, einen König für unser eigenes Commonwealth zu wählen.“ wird einer von Lows „Offizieren“ zitiert.2

Piratencrews sahen sich als selbstverwaltete Gemeinschaften an, und sie gaben sich eigene „Verfassungen“, die ihr Zusammenleben regelten (sozusagen eine konstitutionelle Anarchie). Neben den von Captain Johnson vorgestellten Satzungen der Kapitäne Black Barty, Phillips und Lowther sind noch einige mehr der Nachwelt erhalten. Es waren regelrechte Sozialordnungen mit vielen demokratischen Elementen. Helge Meves erläutert:

„Die Satzungen geben Hinweise auf die Herkunft ihrer politischen Ideen. … Piratensatzungen wurden gemeinsam vereinbart und hatten für alle Unterzeichnenden oder Zustimmenden gleichermaßen Gültigkeit. … Noch bemerkenswerter waren allerdings die Festschreibung der Rechte der gewählten Anführer und die Begrenzung ihrer Machtbefugnisse. Das höchste Entscheidungsorgan der Piraten war eine Vollversammlung, in der jeder gleiches Stimm- und Wahlrecht besaß.“ (!)

Eine solche Satzung hat auch Captain Edward Low mit seiner Crew festgelegt; wir werden sie später kennenlernen.

1726 hat Captain Johnson in eine Neuedition seiner „Piratengeschichte“ die „Libertalia-Legende“ aufgenommen. Sie schildert die Gründung einer regelrechten Piratenrepublik namens Libertalia (was übersetzt aus dem Lateinischen so viel wie „Freistaat“ bedeutet); diese soll sich auf der Pirateninsel Madagaskar befunden haben. Da es außer bei Johnson sonst keine Hinweise gibt, nimmt man an, dass es sich um eine Fiktion, vielleicht sogar eine Art Utopie handelt. Unter den historisch nachweisbaren Piraten dürfte kaum jemand so edelidealistisch gewesen sein wie der als fiktiv geltende Libertalia-Gründer – ein französischer Adliger namens Misson. Es mochte einige Piraten gegeben haben, die damit liebäugelten, so etwas wie eine autonome Regierung auf fernen Inselparadiesen aufzubauen oder andere, die märchenhafte Geschichten darüber zum Besten gaben. Die Spur mancher prominenter Piraten verlor sich einfach, ohne dass sie geschnappt wurden (ein Schicksal, das übrigens auch Edward Low ereilte), und solches hat wohl die Phantasie der Zeitgenossen mächtig angeregt.

Auch wenn Libertalia ins Reich der Legenden gehört: Die Piraten des Goldenen Zeitalters waren zweifellos (wenngleich nur indirekt) vom frühaufklärerischen Zeitgeist infiziert. Sie hatten durchaus Respekt vor der Einrichtung des britischen Parlaments, und sie waren stolz auf ihre „Articles of Agreement“, laut derer die Macht ihrer Führung sowie der Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft kontrolliert wurde. Ihre Aufmüpfigkeit und ihre Erfolge inspirierten ihrerseits die Zeitgenossen, sich mit ihnen vielfältig auseinanderzusetzen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – das wurde bereits 60 Jahre vor der Französischen Revolution in Piratenverbänden zumindest anvisiert!

c)„Die Allgemeine Geschichte der Piraten“ von Captain Johnson

Aus diesem Werk wurde bereits in den beiden vorangegangenen Kapiteln zitiert. Eine wahrhafte Piraten-Enzyklopädie, wichtigste Quelle für Personen, Taten und Geschichte des sog. „Golden Age“. Ihre erste Ausgabe erschien 1724 (also noch während der „Piraten-Krise“) in London.3 Das Buch erregte, natürlich durch seine Aktualität, sogleich größte Aufmerksamkeit mit seinen spannenden Kurzbeschreibungen der Karrieren namhafter Piratenkapitäne. Die meisten derer waren da freilich schon dem Arm des Gesetzes zugeführt und seiner Strenge anheimgefallen, nicht aber Kapitän Edward Low!

Die Schreckensmeldungen erfolgreicher Kaperungen waren allein durch die Presse weltweit ständig präsent. Immer wieder fanden auch Hinrichtungen berüchtigter Piraten statt, die das Volk anlockten – so wurde in London am Execution Dock beispielsweise ein Captain Kennedy 1721 gehängt.

Zudem stammten nicht wenige prominente Piraten aus England und sogar London selbst (wie eben Edward Low). Allein deshalb erlebte Captain Johnsons Buch in kurzer Zeit mehrere Auflagen, avancierte also zu einem echten Bestseller.

Für jeden, den dieses Thema interessiert, bietet es auch 300 Jahre später noch eine unschätzbar reichhaltige Quelle. Es schildert nämlich nicht nur die Taten, sondern auch alltägliche Begebenheiten des Piratendaseins, teils in anekdotischer Form. So ist zum Beispiel als wahrhaft skurrile Freizeitgestaltung einer Piratencrew, die sich an Land die Zeit totschlug, das Spiel eines Scheingerichts in erbaulicher Dialogform veranschaulicht (was mich selbst schon ein wenig an das zu meiner Kinderzeit populäre „Mörderspiel“ erinnert hat). Hier bekommt man einen Eindruck von der Art des „Galgenhumors“, wie ihn die Piraten vor sich her trugen. Denn man bedenke: Sie mussten ja allzeit damit rechnen, früher oder später tatsächlich am Galgen zu landen.

Der Autor ergänzt einige der Biografien sogar um Prozessakten und -abläufe, mitsamt den Listen von Verurteilten und Begnadigten. Sehr aufschlussreich, da man hier einen Eindruck bekommt, wie der Altersdurchschnitt in einer Piratencrew so lag, oder aus welchen Nationalitäten sie sich zusammensetzte.

Captain Johnson streut zwar immer wieder, im Stile seiner Zeit, moralisierende Äußerungen ein; dennoch ist er hier und da nicht ohne Anteilnahme. So zeigt er sich etwa vom Schicksal der Piratin Mary Read bewegt und lobt ihren Edelmut, als sie einen Gefangenen, in den sie sich verliebt hat, unter Einsatz ihres Lebens, gegen einen Piratenkameraden verteidigt. Überhaupt: Ohne Captain Johnsons Werk wären uns die beiden Piratinnen Mary Read und Anne Bonney wohl kaum bekannt geworden (und man hätte das vielleicht für ein Hollywood-Märchen gehalten)!

Die Untersuchung speziell der Edward-Low-Biografie wird allerdings zeigen, dass Captain Johnson als Hauptquelle nicht ohne Vorbehalte heranzuziehen ist. Beim Vergleich mit sonstigen zeitgenössischen Dokumenten, sofern welche als Ergänzung vorliegen, stellen sich zahlreiche Hergänge als schlicht chronologisch falsch zugeordnet oder ungenau recherchiert heraus. Dies liegt gewiss am Umfang der Thematik, der sich Johnson gewidmet hat: Eben nicht nur einem einzelnen, sondern etlichen Piratenschicksalen. Da konnte man schnell mal den Überblick verlieren, einzelne Kapitäne und Kaperungen verwechseln. Außer auf Augenzeugenschilderungen hat sich Johnson vornehmlich auf die zahlreichen britischen und neu-englischen (= amerikanischen) Presseberichte gestützt. Aussagen von Zeitzeugen sowie Zeitungsartikel waren ebenso wie heute nicht immer präzise und objektiv, und Johnson scheint, um seine Leserschaft zu fesseln, manches „sensationsgeladen aufgepeppt“ zu haben – ähnlich wie man es heute bei gewissen Boulevardmedien macht.

Zum Autor selbst, Captain Johnson, gibt es einige Fragen: Man konnte dazu bislang keine historische Person dieses Namens eindeutig ermitteln. Also nimmt man nach wie vor an, dass es sich um ein Pseudonym handelt. Hinter diesem wird von nicht wenigen Daniel Defoe vermutet, der sich ja zur selben Zeit in London als Journalist und erfolgreicher Schriftsteller etabliert hatte (1719 war sein Bestseller „Robinson Crusoe“ erschienen, der auf einem wahren Tatsachenbericht beruhte).

Ins Gespräch gebracht wurde allerdings auch der regierungskritische Journalist Nathaniel Mist. Er brachte bis in die 30er Jahre „Mist’s Weekly Journal“ heraus. Allerdings kann es sich nicht um Mist gehandelt haben, da sein „Weekly Journal“ Meldungen zu Low bringt, die nicht in der Piratengeschichte auftauchen.

Wer auch immer hinter Captain Johnson steckt – es war ein in maritimen Dingen versierter Schreiber, der immer wieder auch geographische Exkurse einstreute, also entweder selbst weitgereist oder sehr belesen war.

Jener Captain Johnson ergänzte übrigens 1734 seine Piratengeschichte um eine Sammlung berüchtigter Räuber und Verbrecher Englands. Letztere war allerdings bereits von anderen Autoren Jahrzehnte früher zusammengestellt worden. Eine wahre Fundgrube mit wertvollen Beiträgen zur Kriminal- und auch Sozialgeschichte, ohne die man weniger gut unterrichtet wäre über Lebensbedingungen und Nöte der Schichten am gesellschaftlichen Rand im 17./18. Jahrhundert. Auch Edward Lows Biografie wird uns damit konfrontieren.

1Er bestieg 1714 den britischen Thron

2 Kapitel „Captain Roberts’ Erlebnisbericht“

3Johnsons Buch erschien bereits 1728 ins Deutsche übersetzt (in Goslar) unter dem Titel „Schauplatz der englischen Seeräuber“.

Dem Sturm ausgesetzt

Ein Mann steht in einem heftigen Sturm, an einer schroffen Steilküste, gestützt auf einen Gehstock, die andere Hand schützt Hut und Kopf.

Im Hintergrund droht ein Segelschiff von den aufgewühlten Fluten des Meeres verschlungen zu werden. Quer über den wolkenschweren Himmel zuckt ein Blitz. Die männliche Gestalt stemmt sich wacker, mit stoischer Gefasstheit, gegen die heulenden Böen. Ihre im Wind flatternde Kleidung ist abgewetzt. Hat sie sich durch die tobende Brandung soeben erst vom Schiff an Land retten können?

Ihre Bewaffnung bilden zwei Pistolen sowie ein Entermesser. In dieser Wehrhaftigkeit bietet sie dem Toben ringsum Paroli, ohne dabei übermäßig martialisch zu wirken. Liegt es an dem „zivilen“ Gehstock, der so einen merkwürdigen Kontrast zur Bewaffnung bildet?

Um 1730 wurde diese Illustration „Edward Low im Hurrikan“ geschaffen von dem englischen Maler Joseph Nicholls (1692 – 1760) und ist damit zeitgenössisch. Sie schmückte die 1734er Auflage von Captain Johnsons Piratengeschichte.

Dargestellt ist eine packende Szene aus Edward Lows Leben: Der heftige Sturm, in den er und seine Crew bei ihrer Atlantiküberquerung im Winter 1722 gerieten (der allerdings, wie noch gezeigt wird, kein Hurrikan war). Sicher aber wollte der Künstler mit dieser Thematik noch mehr ausdrücken – die außerordentliche Dramatik, der Edward Lows Leben permanent ausgesetzt war, die Lebensstürme sozusagen.

Nun war ja das Leben eines Piraten gemeinhin von spezieller Dramatik; beständig blickte man Gefahren ins Auge: unberechenbaren Naturgewalten auf den Weltmeeren sowie dem unablässigen Risiko, vom Arm des Gesetzes gestellt und an den Galgen befördert zu werden.

Captain Johnsons Ausgaben seiner „Piratengeschichte“ waren zunächst mit recht stilisiert anmutenden Darstellungen der berühmtesten Piratenchefs illustriert. Mit Entermesser, Degen oder Kurzschwert in der Faust wirken diese ein wenig wie mittelalterliche Herrscher. Auf einem höheren künstlerischen Niveau bewegen sich die Werke von Joseph Nicholls, der außer Edward Low u. a. noch seinen Compagnon George Lowther, den berüchtigten Blackbeard sowie Captain Avery darstellte. Hier kann man wesentlich besser individuelle Typen erkennen, und Nicholls fügte etwas hinzu, was für den jeweiligen Protagonisten charakteristisch war (bei Blackbeard etwa dessen umtriebige Handelstätigkeit).

Nicht unwahrscheinlich, dass Nicholls Aussehen und Gestalt von Low anhand zeitgenössischer Beschreibungen gestaltet hat. Um 1730 lebte durchaus noch so mancher, der vieles über ihn gehört oder ihn von Angesicht kennengelernt hatte. Außerdem liefert Captain Johnson in seiner ersten Edition der „Piratengeschichte“ einen kurzen Steckbrief:

„Er war 38 Jahre alt, ein starker, gut gebauter Mann, nicht groß, aber breitknochig.“

Klein soll er auch nach anderen Beschreibungen gewesen sein; und Nicholls lässt ihn ein wenig „barock“ rundlich erscheinen – sein Temperament allerdings war geballte Kraft und wusste die Umwelt zu dominieren sowie sein Piratengefolge zu tollkühnen Aktionen (etwa dem Kampf gegen ein Kriegsschiff) zu animieren.

Kommen wir nochmal zu einigen bemerkenswerten Details: Da wäre der bereits erwähnte Gehstock. Wirklich kein typisches „Assessoire“ für einen Piratenkäpt'n! Wenn sich Piraten bildlich auf was stützten, dann doch auf eine martialische Muskete (Blackbeard, Lowther)! Ausgerechnet den berüchtigten Low mit einem zivilen Gehstock auszustatten, dabei hatte sich der Künstler doch sicher was gedacht. Möglicherweise war ihm zugetragen worden, dass Ned Low einen Gehstock benutzte – weil er (aufgrund einer Verletzung oder eines Unfalls) Gehprobleme hatte?

Als nächstes die lange Hose. Für uns Heutige kein auffälliges Kleidungsstück – im 18. Jahrhundert hingegen noch reine Arbeitskleidung! Ein Gentleman zog sich da noch Kniehosen an. Bis auf Ned Low sowie Captain Blackbeard (in der Version von J. Nicholls!) sind daher auch sämtliche Piratenkapitäne mit Kniehose und Strümpfen gentlemanlike abgebildet (manche sogar mit Perücke).

Lange Hosen setzten sich erst im Verlauf der Französischen Revolution, also Ende des 18. Jahrhunderts, durch – die Sansculottes (= Angehörige des sog. Dritten Standes) trugen sie, um sich von den Sympathisanten des „Ancien Regime“ abzusetzen. Das konnte natürlich hier noch keinen Einfluss haben. Vielleicht aber wollte der Künstler einen ähnlichen Kontrast zwischen Ned dem Outlaw sowie der „etablierten“ Gesellschaft (mit Perücke und Kniehose) veranschaulichen. Piraten hatten ohnehin ihren ganz individuellen Kleidungsstil: Manche schmückten sich wie ein Monarch (etwa Barty Roberts), andere wollten vielleicht lieber praktisch erscheinen, und so mag es sein, dass Ned Low tatsächlich eine lange „Arbeitshose“ bevorzugte...

Der Schrecken von Westminster

„Edward Low wurde in Westminster geboren und hatte seine Ausbildung dort, wie auch immer, denn er konnte weder schreiben noch lesen.“, erzählt uns Captain Johnson in seiner „Piraten-Bibel“. In späteren Überarbeitungen wird eingeräumt: „(Low) erhielt eine Ausbildung, wie sie der des einfachen Volkes in England ähnelte.“4

War Ned Low, wie damit angedeutet wird, ein „Commoner“, also ein Angehöriger des einfachen Volkes? Die schillernde Diebeskarriere seines älteren Bruders Richard scheint das nahezulegen – und so kombinierte die Sekundärliteratur eine Herkunft aus „mittellosen Verhältnissen“.

Westminster war allerdings Ende des 17. Jh. durchaus kein ausgesprochenes „Armenviertel“; dort wohnten, bedingt durch das nahe Parlament, auch Gutsituierte. Daneben mochten freilich gewisse „Problembezirke“ existiert haben, wie beispielsweise der themsenahe berüchtigte Millbank-Bezirk.

Bereits zu jener Zeit gab es in Westminster, außer der neben der Kathedrale gelegenen Lateinschule für die Söhne betuchter Eltern, nachweislich eine sog. „Charity School“ – nämlich eine Bildungseinrichtung für bedürftige Kinder. Sie war 1688, also um die Zeit von Neds Geburt, gegründet worden und bot Platz für zunächst 50 Jungen (wenig später auch Mädchen!), die dort auch eingekleidet wurden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Ned und seine Geschwister dort hingeschickt wurden, um zumindest eine rudimentäre Ausbildung zu erhalten (eine solche, „wie sie der des einfachen Volkes in England ähnelte“).

Das „Tyburn Chronicle“ gibt als Geburtsort für Neds älteren Bruder Richard „nahe der Horseferry“ an – also wohl in eben jenem „Millbank-Bezirk“, wo noch Anfang des 20. Jh. ärmliche Wohnquartiere existierten. Neds und Dicks Wohnstatt dürfte sich somit nahe der heutigen Lambeth-Bridge befunden haben; dort verkehrte damals noch eine Fähre über die Themse.

Edward Low kam quasi nur einen Steinwurf vom englischen Parlament entfernt zur Welt! Wo sich heutzutage die großen Touristenmeilen erstrecken, rings um die Houses of Parliament, das hatte um 1700 (lange vor Errichtung der Westminster Bridge, 1736) noch ein völlig anderes Gesicht. Fast unmittelbar an die repräsentativen Parlamentsbauten schlossen sich Dockanlagen mitsamt Wohn- und Wirtschaftsgebäuden an, die Anfang des 20. Jh. den Victoria Tower Gardens Platz machten. Einstige „Slum-Ecken“ lassen sich heute nicht einmal mehr erahnen.

Neds und seines Bruders jugendliche Aktivitäten sprechen durchaus für prekäre finanzielle Verhältnisse. Was es bedeutete, zu jener Zeit zum unteren Rand der Gesellschaft zu gehören, veranschaulicht recht drastisch der 1751 geschaffene Stich „Gin Lane“ von William Hogarth. Der 1697, also nur wenige Jahre nach Low ebenfalls in London geborene Künstler sah es als sein Anliegen, auf Elend und Armut der städtischen Unterschichten aufmerksam zu machen. Hogarth hatte es selbst nicht ganz leicht gehabt: Sein eigener Vater saß, obwohl selbst Lehrer, eine Zeitlang im Schuldgefängnis, derweil William als Kind seiner Mutter bei der Beschaffung des Lebensunterhalts unter die Arme greifen musste. Diese Erfahrungen hatten ihn wiederum sensibilisiert für die eklatanten Notlagen, wie er sie in seiner Umwelt erlebte.

„Gin Lane“ präsentiert uns Straßen, vollgestopft mit Menschen in lumpiger dürftiger Kleidung, an den Ecken ausgemergelte Bettler. Alles sucht seinen Trost in Alkoholexzessen. Schmutzige Plätze, Siechtum, baufällige Häuser. Und dazwischen noch einer, der mit seinem Hund am selben Knochen nagt! Ein Kleinkind, das über ein Treppengeländer in die Tiefe stürzt, weil seine Mutter zu sehr mit ihrem eigenen Elend beschäftigt ist. Hogarth trägt hier bewusst dick auf, aber in der Nachbarschaft von Ned Lows Domizil dürfte es die eine oder andere Gasse gegeben haben, in der es im späten 17. Jahrhundert nicht wesentlich gesitteter zuging. Captain Johnson führt nämlich aus:

„Die Natur schien ihn von Anfang an als Piraten entworfen zu haben; er stieg nämlich sehr früh ins „Plündergewerbe“ ein und pflegte Tribut zu erheben unter all den (!) Jungen von Westminster; und sofern welche kühn genug waren, sich dem zu widersetzen, folgte ein Kampf. Low aber war so verwegen, ebenso wie dreist – keiner (!) war ihm gewachsen, so dass er die Jugendlichen ihrer Viertelpennys beraubte, und zwar ungestraft.“ (Übersetzung: Stingl)

Es gab sie natürlich auch damals schon: Die jugendlichen Rabauken! Und als so einer übte sich Ned, laut Captain Johnson, schon mal für seine spätere Rolle als „Schrecken des Atlantik“. Nun brauchte man auf den Straßen und in den Gassen der damaligen Zeit auch Ellbogen und Durchsetzungsfähigkeit – Ned dürfte beileibe nicht der einzige Wolf unter lauter Lämmchen gewesen sein! Da war bestimmt genug Konkurrenz von rauflustigen Buben, und unter denen schien sich Ned eine Vorrangstellung erkämpft zu haben.

Offenbar wurde er in dieser Rolle auch respektiert. Denn Johnson räumt ja ein, dass jung Edward sein „Plündergewerbe“ ganz und gar „ungestraft