György Ligeti - Manfred Stahnke - E-Book

György Ligeti E-Book

Manfred Stahnke

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Beschreibung

Wir müssen mit zwei Missverständnissen aufräumen, die vielfach über György Ligeti kursieren: Ligeti war kein Nostalgiker. Und er war nie ein Avantgardist, er konnte "Avantgarde" folglich nicht "verraten". Brahms war bei Ligeti eine Computeradresse in einem hybriden Konzept "Horntrio", nicht mehr, wie auch die Adresse "...und Steve Reich ist auch dabei" in den Drei Stücken für zwei Klaviere nur ein Hinweis auf einen modifizierten Minimalismus bietet, nicht mehr. Wir können vielerlei Adressen ähnlicher Art bei Ligeti finden, aber keine davon weist auf den Kern eines Werks oder gar Ligetis. Der "Kern" ist das verschmitzte Spiel der Wandlungen, denen wir uns in diesem Buch zuwenden.

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Mein Dank geht an Susanne Stahnke mit ihrer aufopfernden Art, sich meiner krausen Texte anzunehmen und sie mit ihren Vorschlägen in eine lesbare Form zu bringen, und an Dr. Louise Duchesneau, die außerordentlich sorgfältig die Daten durchgesehen und den Text durch wertvolle zusätzliche Hinweise ergänzt hat.

Das Titelbild zeigt die enorme Musikrolle im Belfried in Brügge, der Stadt von Senleches und wohl auch Rodericus (14. Jh.). Sie treibt das Glockenspiel aus dem 16. Jahrhundert an. Die 47 Glocken können auch von einem Spieltisch aus gespielt werden. Seit November 2014 wird die belgische Carillonkultur von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Foto des Autors.

Inhaltsverzeichnis

Anstelle eines Vorworts

1.

Erste entfernte Umkreisung

Vom vibrierenden Kleinsten zum statischen Größten

2.

Zweite, schon engere Umkreisung

2.1 Im Kölner Studio

2.2 Die Suche nach einer neuen "Tonalität"

2.3 Das Aufbrechen der 12 Töne

2.4 Neue rhythmische Formen

2.5 Das Triplett aus mikrotonal verschobener Meloharmonik, pulsativer Rhythmik und eingewobenen visuellen Assoziationen

2.6 Die Gegenwelt

3.

Dritte Umkreisung in Hochauflösung

György Ligeti,

Klavieretüde Nr. 7

:

Galamb borong

(1988/89)

Die Taube und der Bär -

Galamb borong

und die Beziehungen zur "ars subtilior"

4.

Vierte Umkreisung, schon schwindelerregend

György Ligeti,

Klavieretüde Nr. 9

:

Vertige

(1990)

Lamento, Bomben, Mönche: Ligetis Bilderwelt

5.

Fünfte Umkreisung einer engst-geführten Welt

György Ligeti, die letzten beiden

Klavieretüden

6.

Sechste Umkreisung in einem verzerrten Raum

Zum

Hamburgischen Konzert für Horn und Kammerorchester mit vier obligaten Naturhörnern

: Aspekte der Mikrotonalität

6.1 Skizzen als Computer-Adressen

6.2 Das Horn, das Waldische, die Naturtöne

6.3 Harry Partch und die Überwindung der Temperierung

6.4 Ligeti und die Verschrägung des Naturreinen

6.5 „Tonality flux“ als Verflüssigung von Akkorden

6.6 „Spectra“, eine verschmitzte Auseinandersetzung mit dem Tonspektrum

6.7 Allusionen: Von der Renaissance bis zur Romantik

6.8 Gérard Grisey und sein verschrägtes Spektrum

6.9 Die „couleurs“ von Claude Vivier

6.10 Zusammenfassung: Zerbrochene Spektren

6.11 Eine nicht verwendete Skizze Ligetis

6.12 Anhang 1: Soundfiles von nicht-zentraleuropäischen Musiken aus dem Umfeld von Ligetis Skizzen

6.13 Anhang 2: Ausschnitt aus einem Gespräch mit György Ligeti am 5. März 2001

6.14 Anhang 3: Ligeti zu Vivier

6.15 Anhang 4: Differenztöne und Vivier

Gesamt-Bibliografie

nach Themen geordnet

1.

György Ligeti, Eigene Schriften

2.

Interviews mit György Ligeti

3.

Monographien und thematisch auf Ligeti fixierte Veröffentlichungen

4.

Sammeldarstellungen mit anderen Komponisten

5.

Einzelwerk-Analysen und Analysen von Werkgruppen

6.

Weitere für dieses Buch verwendete Bücher, Artikel, Musikaufnahmen

Namensverzeichnis

Anstelle eines Vorworts

Die komplexe Formel des Chlorophylls und die nicht gesehene, nur vorgestellte, noch komplexere Formel des Hämoglobins haben mich schließlich zu komplexen musikalischen Formen geführt.1György Ligeti 2003

Ich habe es noch im Ohr, wie Ligeti bei einem unserer nächtlichen Telefonate sagte: "Manfred, das würde mich langweilen." Wir hatten über mögliche Wege gesprochen, Musik neu zu denken, und ich hatte vorgeschlagen, doch auf den Einzelton mit seinem Reichtum zu schauen. Und danach sagte er: "Das habe ich schon gemacht." Was für neue Gedankenspiele konnte ich ihm schon bieten. Schließlich kamen wir immer wieder auf Mikrotonalität, mein Spezialgebiet. Ligeti schlief sehr schlecht, und gern rief er Menschen aus seinem Umkreis spät abends an. Für mich als sein gewesener, eigentlich stets bleibender Schüler, waren diese Gespräche höchst prägend.

Ligeti hatte ein Faible für alte Kulturen und deren oft sehr besondere Sichtweise auf das, was wir "Musik" nennen, was sehr häufig gar nicht von Tanz, Sprache, einer ganzheitlichen Kultur zu trennen war, vor allem nicht von komplexen Riten. Einmal sprachen wir über die zeitliche Grenzenlosigkeit dessen, was wir mit "Kultur" meinen könnten. Gerade war eine Bärenknochenflöte ausgegraben worden, die wohl noch von dem Neandertaler gebohrt worden war, jedenfalls war sie mehr als 50 000 Jahre alt.2 Ligeti wollte in hypothetische früheste Zustände hinabtauchen. Ich glaube, er sah eine Grenzenlosigkeit für die Entstehung von "Bewusstsein". Er liebte die reine Spekulation, aber noch mehr das Konkretisierbare. Dem möchte ich mich in diesem Buch nähern und nie dabei vergessen, dass er in seinen Suchbewegungen immer vor allem ein Erstentdecker sein wollte, ein Andersmacher auch, ein Erstaunenerwecker. Das bloße Rückwärtsschauen hat ihn nie interessiert.

Ligeti ist extrem missverstanden worden, indem ihm nostalgische Tendenzen unterstellt wurden, vor allem ab dem Horntrio 1982. Johannes Brahms, der im Hintergrund einiger Aspekte des Horntrios steht, war für Ligeti eine Spielfigur unter vielen anderen in diesem Werk. Genauso ist der Anwurf des "Verrats" an der Avantgarde absurd insofern, als Ligeti die "Avantgarde" mit ihren ideologischen Verwebungen stets kalt ließ und er sich selbst nur als fernen Satelliten empfand und gern auch so benannte. Den Chefideologen Theodor W. Adorno titulierte Ligeti als den "gescheitesten dummen Menschen, den ich je getroffen habe."3

Dieses doppelte Missverständnis zur Position Ligetis wird im Folgenden immer wieder angesprochen. Insgesamt könnte in diesem Buch eine Art Protokoll gesehen werden über verschiedene Testläufe Ligetis, spannende neue Erkenntnisse über Musikmöglichkeiten zu gewinnen. Die Qualität seines Werks aber liegt darin, dass diese Testläufe nicht rein-technischer Natur sind, sondern Abstraktion und Figuration hybridisieren. Mit Figuration ist hier eine in der Kunst durch Jahrhunderte gewachsene, sprachhafte "Inhaltlichkeit" gemeint, die teils rein-musikalisch ist, damit in Worten schwer zu beschreiben. Jedoch existiert Musik außerdem nie losgelöst von externen Denkschichten. Eben diesen weiteren Schichten werden wir uns hier auch widmen, die Ligeti in seine Musik hineintrug.

Eine ganz wesentliche Definition des Ligeti'schen Denkens können wir hier nur kurz anreißen. Sie würde eine eigene Studie erfordern: Es geht um die absolute Freiheit, die Ligeti erstrebte gegenüber allen vorab hingestellten politischen oder künstlerischen Ausrichtungen. Denn diese bedeuteten immer einen Tunnelblick. Sie bedeuteten das Streben nach Macht und das Nicht-Sehen-Wollen anderer Positionen. Ligeti zog sich aus diesen Gründen aus Ungarn zurück, das ihn künstlerisch gern einbinden wollte. Er aber sah schon Ende der 90er Jahre dort einen wachsenden Chauvinismus. Was hätte er zu der jetzigen Welt der sich extrem verschärfenden politischen Spannungen gesagt, die bis zum Staatsterrorismus führen? Sein Sohn Lukas meinte am 5. Mai 2022 bei einem ZOOM-Gespräch, er selbst sei froh, dass sein Vater den heutigen Krieg nicht mehr erleben müsse.

Hamburg, im Sommer 2022

1 LIGETI / ROELCKE (2003), 27

2Ivan TURK et al. (1995), 287–293 siehe auf MDPI, Januar 2020:https://www.mdpi.com/2076-3417/10/4/1226/htm (besucht am 20.4.2022)

3 LIGETI / ROELCKE (2003), 97

1 Erste entfernte Umkreisung

Vom vibrierenden Kleinsten zum statischen Größten

Ligeti hatte einen Blick für das Feinste-Kleinste, für das Reduzierte bis hinunter zum Einzelton, aus dem ein Fastchaosfeld werden konnte. Schon in seiner ungarischen Zeit vor 1956 explodierte die Spanne vom Einzelton in seinem Klaviersolo Musica ricercata zum scharfgeschnittenen Blockfeld in dem Orchesterwerk Víziók. Diese Partitur ist verlorengegangen. Ideen daraus hat Ligeti dann in den ersten Teil von Apparitions eingeschmolzen. Klangblöcke stehen dort zueinander scharf gereiht, in der Summe zielungerichtet, statisch in der Menge der ganz unterschiedlich texturierten Einzelereignisse, bis schließlich in Atmosphères ein ganzes Orchesterwerk quasi-statisch wird, ein Quasi-Rauschband. Im Cellokonzert taucht die Idee Einzelton wieder auf, diesmal langgezogen, anders als in den Anfangs-Tonpunkten der Musica ricercata. Die Ruhe des Anfangs im Cellokonzert steht gegen dann folgende Überschnelligkeiten im zweiten Satz, als wäre an beiden Enden der Spanne Einzelton versus Überschnelligkeit die Bewegungslosigkeit ein Urgrund/Ungrund von Zeit.

Immer wieder erfahren wir bei Ligeti diese Spanne zwischen zweierlei Arten von Stillstand. Und doch explodieren inhärent diese Stillstände stetig in Möglichkeiten von Figuren, texturiert in Kleider für individuell gezeichnete Wesen in Musik. Gestaltmuster aus seiner Partitur herauszulesen, war in Atmosphères noch der gestalterischen Kraft der Dirigenten und der Interpreten überlassen. Ligeti suchte dann immer weiter reichende, ins Detail herabtauchende, akribische Beschreibungen seiner gewünschten Klänge. Er wird der Meister seiner Lebewesen, die vibrieren im Fluss der Zeit, sie werden angehalten oder ins Chaos gestürzt ... Aber den Gebrauch dieser Wörter müssen wir hinterfragen. Noch nicht einmal in der Physik wissen wir, was "Zeit" sei, oder "Chaos". Und doch verlangt dieser umfassende Geist Ligeti Worte und Bilder, auch weil er sich selbst daraus nährte. Das ist eine gute Begründung für all das Schrifttum, welches sich rund um ihn wuchernd ausbreitet, und hier in diesem Band nun fröhlich weiterwuchert, aus der Sicht eines Schülers, eines fern-nahen Begleiters in seiner Hamburger Zeit von 1974 an.

Es sei ein Bogen gespannt von Ligetis Kölner Zeit ab 1957 bis Hamburg 2003. Wohlweislich soll Ligetis frühe ungarische Zeit nicht verfolgt werden, die er als Umkreisung des von ihm geliebten ungarischen Dichters Sándor Weöres im Lauf seines kompositorischen Lebens immer wieder aufleben ließ, wie in seinen Magyar Etüdök für Chor 1983, dann in seinem letzten Werk Síppal, doppal, nadihegeduvel. Ligeti sagte, dass für jemanden, der nicht Ungarisch spreche, Weöres nicht wirklich durch Übersetzungen zu verstehen sei. Diese tiefgründige, vordergründig kindhafte Sprache Weöres' auf Ligetis Musik zu beziehen, wäre eine immense Aufgabe für eine doppelt begabte Sprach- und Musikwissenschaftler/in. Sehr konkrete Hinweise auf einen Forschungsweg finden sich bei Ildikó Mándi-Fazekas und Tiborc Fazekas.4 Es könnte sein, dass hierdurch etliche Gewissheiten verloren gehen über ein verbreitetes Bild von György Ligeti, nämlich dass er vornehmlich in einem zwiespältigen Verhältnis, ab den 60er Jahren in einer gar wachsenden Gegenposition zur "Avantgarde" stand. Eher war er im Sinne von Weöres ein steter Kritiker etablierter Musikformen und eines offiziellen Musiklebens, ein Suchender nach nicht-ausgetretenen Pfaden.

Einige Protagonisten der 50er Jahre wie Boulez oder Stockhausen waren ihm wertvoll allein wegen ihrer innovativen musiksprachlichen Kraft, nicht wegen ihrer Kämpfe gegen ältere Denkweisen. Ligeti suchte genau dies: andere Erscheinungsformen von Klang, um zu überraschen und dies dann voll zu genießen, eher wie ein Kind, aber durchaus nicht zur Durchsetzung einer "Neuen Musik" gegen vermeintlich rückständige Musiken.

Bei Weöres (1913-89) finden wir immer wieder die Vorstellung, zu etwas sehr Einfachem zurückzukehren, das Beladene der 3000jährigen europäischen Kultur zu verlassen, damit aber durchaus nicht diese Kultur zu verlassen. Erstaunlicherweise trifft er sich hier mit Harry Partch (1901-74), auf den wir intensiv zu sprechen kommen werden. Ligeti suchte ihn 1972 in Kalifornien auf. Partch war ein ganz anderer Charakter als Weöres, ein Instrumenten- und Harmoniebastler, der Erfinder einer neu-alten naturreinen Tonhöhenwelt, darin halb-ideologisch. Er suchte letztlich, darin Weöres ähnlich, auch das Reine, Einfache.

Ligeti hat Partch, diesen amerikanischen Maverick, mit seiner Naturstimmung kontempliert bis hin zum Hornkonzert, aber nichts von seinem Stimmungssystem übernommen. Doch in der Haltung von Weöres spiegelt Ligeti sich sehr tief wieder, herauszulesen aus Ligetis Bemerkungen zu Síppal, dobbal, nadihegeduvel, seinem letzten Werk, woraus ich einen Auszug zitiere:5

Síppal, dobbal, nádihegeduvel (Mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen) ist ein siebenteiliger Zyklus von ungarischen Liedern für tiefen Mezzosopran und vier Schlagzeugspieler, die ein vielfältiges Instrumentarium verwenden, darunter auch Nicht-Schlaginstrumente wie Lotosflöten und chromatische Mundharmonikas. Komponiert habe ich die Lieder im Jahr 2000.

Wie schon oft in meinem Leben vertonte ich Gedichte von Sándor Weöres, dem großen ungarischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Weöres war — wie niemand vor ihm — ein Virtuose der ungarischen Sprache, seine poetischen Inhalte reichen vom Trivialen, ja Unflätigen über Sarkasmus und Humor bis zu Tragik und Verzweiflung, und sie umfassen auch artifizielle Mythen und Legenden. Einige seiner Werke sind großangelegte Fresken, ja Welten für sich. Daneben hat er unzählige kleine Gedichte geschrieben, ernste und spielerische gleichermaßen. Vertont habe ich stets solche kleinen Gedichte...

Der Titel des Zyklus stammt nicht von Weöres, sondern ist eine Zeile aus einem ungarischen Kindervers, einer Art Abzählreim, aus der Zeit der türkischen Besatzung Ungarns.

In Ligetis Oper Le Grand Macabre (ab 1974 komponiert), in seinen Chorwerken, auf transponierte Weise in seinen Instrumentalwerken findet sich letztlich als Konstante stets diese Weöres-Welt. Und wenn Ligeti in seinem letzten Werk darauf zurückkommt, ist das durchaus nicht Nostalgie, sondern die letzte Erscheinung eines Passacaglia-Themas in Ligetis Schaffen.

Bibliografie

György LIGETI / Eckhard ROELCKE: "Träumen Sie in Farbe?" György Ligeti im Gespräch mit Eckhard Roelcke, Zsolnay, Wien 2003

György LIGETI: Gesammelte Schriften, Monika Lichtenfeld (Hrsg.), Bd. 2, Schott, Mainz 2007

Ildikó MÁNDI-FAZEKAS / Tiborc FAZEKAS: Magicians of Sound - Seeking Ligeti’s Inspiration in the Poetry of Sándor Weöres, in: Louise DUCHESNEAU/ Wolfgang MARX (Hrsg.): György Ligeti: of foreign lands and strange sounds. Boydell Press, Woodbridge 2011

Ivan TURK et al.: The oldest musical instrument in Europe discovered in Slovenia? In: Razprave 4. Razreda Sazu 36, 1995

4 Ildikó MÁNDI-FAZEKAS / Tiborc FAZEKAS (2011), 53ff

5 LIGETI (2007), 313-314, Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Teldec Classics (The Ligeti Project I, 8573-8763 1-2), Hamburg 2002

2 Zweite, schon engere Umkreisung

2.1Im Kölner Studio

Herbert Eimert lud Ligeti sehr bald nach dessen Flucht mit seiner Frau Vera Ligeti 1956 aus dem Bürgerkriegs-Ungarn nach Köln ein in das von ihm geleitete Elektronische Studio. Einige Wochen wohnte Ligeti bei Karlheinz Stockhausen, der damals der wesentliche Ideentreiber der Neuen Musik in Köln war.

Ligeti erinnert sich in einem Gespräch mit Peter Niklas Wilson:6

Als ich nach Köln kam - das war der 1. Februar 1957 -, da war der erste Mensch, den ich kennenlernte, Bruno Maderna. Ich ging zu Stockhausen, und Maderna war da und öffnete mir die Tür. Wir wurden dann später allerbeste Freunde.

Dort bei Stockhausen erfuhr Ligeti aus erster Hand die neuesten Entwicklungen und internen Diskussionen und Kämpfe der seriellen Schule, traf im Kölner und dann Darmstädter Umkreis wesentliche Protagonisten und konnte deren Partituren einsehen. Bruno Maderna wurde für ihn der ruhende Pol einer komplizierten Community, ein von Ligeti hochgeschätzter Dirigent und Komponist. Ligeti erzählte immer wieder von ihm als dem menschlichen Zentrum in einem wuselnden Haufen von widerstreitenden Serialisten. Auch mit Mauricio Kagel verstand er sich sehr gut und empfand diesen durchsetzungsfähigen Mann als seinen wesentlichen Förderer.7 Im Kölner Studio des WDR wurden Eimert und Gottfried Michael Koenig Ligetis Lehrmeister.8

Rausch-, Impuls- und vor allem Sinusgeneratoren waren im Studio die Klanggeber, anders als in der musique concrète in Paris, wo mit Klangaufnahmen gearbeitet wurde. Diesen Gedanken übernahm dann aber Stockhausen in Gesang der Jünglinge (1955 begonnen, 1956 uraufgeführt) mit Knabenstimmen-Samples. Die ursprüngliche Kölner Arbeitsweise, etwa die Fokussierung auf rein elektronische Klänge und deren Tonbandmanipulation, verinnerlichte Ligeti so sehr, dass sein mit der Tonbandkomposition Artikulation (1958) fast zeitgleich entstehendes Orchesterwerk Apparitions (erste Version 1958) im ersten Teil wie ein Abbild der Tonbandarbeit erscheint, geschnitten in Blöcke unterschiedlich langer Ereignisse: Apparitions überführt das Aneinanderkleben von akustischen Kleinstschnipseln und Großblöcken in das Instrumentale. Oft sind bei der Arbeit an dem elektronischen Parallelwerk Artikulation die Tonbandschnipsel im Studio kaum mehr als einen Zentimeter lang.9 Für Apparitions berechnet Ligeti Segmente in 32stel-Längen. Benjamin Levy analysiert dazu Ligetis Skizzen und fügt in der folgenden Aufstellung die 3. Kolumne als "Product" aus Kolumne 1 (Segmente in 32stel-Längen) und Kolumne 2 (Anzahl) hinzu. Diese Multiplikation unternahm Ligeti, um ein zeitliches Übergewicht der großen Längen zu vermeiden:10

Ligeti will den Fehler der frühen Serialisten vermeiden, alle Dauern gleich zu behandeln. In einem Aufsatz in "die reihe 7" schreibt Ligeti:11

Im ersten Teil des Orchesterstücks Apparitions zum Beispiel wandte ich ein Repertoire der Dauern (Einsatzabstände) an, dessen Elemente solche Werte zugesprochen erhielten, daß das Produkt aus jedem einzelnen Dauernwert und der Anzahl seines Vorkommens in der Gesamtstruktur eine Konstante ergab. Dadurch wurde ein Gleichgewicht der Einsatzabstände erreicht. Je kürzer ein Dauernintervall ist, um so häufiger erscheint es im Kontext: Auf die längsten Dauern entfallen so viele der kürzesten, daß die Summe der kürzesten der der längsten gleicht. Dieses Repertoire konnte hernach durch eine adäquat gewählte - serielle - Dosierung ohne übergeordnete Tempi oder Schichtverquickung und ohne daraus resultierende Automatismen direkt zum Auskomponieren der horizontalen Dichteverhältnisse verwendet werden.

Nur ist zuzugeben, daß durch solche Manipulationen zwar ein hierarchisches Rudiment in den Strukturen ausgeschaltet werden konnte, das serielle Prinzip aber in seinem eigensten Wesen in Frage gestellt wird. Das jedoch war es, wie erörtert, ohnehin schon. Die »serielle Musik« wird von demselben Schicksal ereilt wie alle bisherige: Ihrem Entstehen wohnen die Keime der späteren Auflösung bereits inne.

Ligeti vergleicht dazu in einer Anmerkung entsprechende Verfahren für Artikulation:

Im elektronischen Stück Artikulation nutzte ich ein ähnliches Verteilungsprinzip, mit dem Unterschied jedoch, daß dort das Produkt aus den einzelnen Dauernwerten und deren Häufigkeit keine Konstante war, sondern je nach Verwebungsart der verschiedenen im Stück vorkommenden Texturen variierte. Damit veränderte sich die spezifische Durchschnittsdichte von Textur zu Textur. Selbstverständlich lassen sich zahlreiche andere Verteilungsstatistiken aufstellen, je nach der Werkidee des zu komponierenden Stückes.

Ligeti reagiert hier auf die anfänglichen Naivitäten im Umgang mit Tondauern, die die frühen Serialisten begingen, Boulez und Stockhausen gleichermaßen, indem Reihen oder Matrixen von völlig gleichbehandelten Tondauern aufgestellt wurden, von den kürzesten bis zu den längsten Ereignissen.12 Hierzu äußerte sich Ligeti auch in seiner berühmt gewordenen Auseinandersetzung mit Boulez' Structure Ia (1952).13

Levy weist außerdem auf die quasi-seriell gedachte Verteilung der Segmente hin. Zum Beispiel benutzt Ligeti im ersten Formabschnitt A folgende Anzahl von Segmenten, ohne hier ihre Reihenfolge zu bestimmen:14

Beispiel 2.2: Apparitions, Sektion A, Auftreten von Segmenten, 32stel-Längen, nach Levy.

Levy fügt noch eine interessante Beobachtung hinzu, was die Formproportionen in Apparitions betrifft:15 Sie gehorchen einem Proportionsschema 3:2:1:3, in 32steln:

Beispiel 2.3: Apparitions, Summe der 32stel pro Formabschnitt, nach Levy. In V vermutet er eine ungefähre Anzahl von 585 32stel-Längen, indem er am Ende die Pausen nicht zählt.

Derartige Formproportionen sind auch bis ins viel spätere Etüdenwerk hinein zu beobachten. Levy kann für Apparitions zeigen, dass Ligeti des Öfteren Ausnahmen von seinen Schemata macht:16 Er lässt Segmente aus, oder er passt Längen an. Diese Flexibilität im Umgang mit seinem Material durchzieht Ligetis ganzes OEuvre. Es ist ein freier Blick auf Schemata, die er zwar immer wieder aufstellt, aber oft nur, um sie lächelnd zu umgehen. In Apparitions zeigt sich Ligetis Nähe zu serialistischen Denkweisen, aber schon hier verbrämt mit alten Formproportionen. Ligeti selbst sprach von der Verwendung des Goldenen Schnitts, was Levy allerdings nicht nachvollziehen kann.17

Für das auf Apparitions folgende Orchesterwerk Atmosphères (1961) nutzt Ligeti seine Erfahrungen aus speziellen, damals in Köln allgemein gebräuchlichen Techniken aus dem Studio: Er überträgt den Rauschgenerator und die Möglichkeiten der Rauschfilterung auf Instrumentalklänge, nicht nur zu beobachten in den extrem aufgefächerten Streichern mit ihren wandernden "Rauschbändern". Ligeti symbolisiert Rauschvorgänge auch ganz einfach durch Flöten-Luftgeräusche oder durch das Traktieren des Klavierinnenraumes mit Bürsten und Tüchern am Ende der Partitur.18

Ein weiteres Studioverfahren ist die Überschnelligkeit, im Studio durch Manipulation der Tonbandgeschwindigkeit leicht möglich. Sie wurde letztlich über die Jahre seines Schaffens eines seiner Markenzeichen. Koenig vor allem hatte ihm das Umschlagen von Tonhöhen- in Klangfarbwahrnehmung gezeigt durch die Grenzüberschreitung von 16-20 Ereignissen pro Sekunde, denn ab hier kann das Ohr nicht mehr in Einzelereignisse auflösen. Ligeti erfand dafür das Wort "Bewegungsfarbe".

Ligeti baut Überschnelligkeit instrumental durch Überlagerung. In Apparitions ist sie durch Kanontechnik genau notiert, wenn auch nur teil-improvisierend in der rhythmischen Folge auf dem Papier realisierbar. Ligeti schreibt in Großbuchstaben, die partielle Unspielbarkeit einkalkulierend, für den Abschnitt "Wild" im 2. Satz:19

EX ABRUPTO ANFANGEN. MIT ÄUSSERSTER KRAFT. JEDER STREICHER SPIELT SO INTENSIV, ALS WÄRE ER SOLIST. VIEL BOGEN. SCHWUNG WICHTIGER, ALS VOLLKOMMEN SAUBERE INTONATION.

Beispiel 2.4: Apparitions, 2. Satz Takt 25 "Wild", Vierteltempo=90 "oder schneller", rhythmische Struktur.

Der Kanonbeginn in den 1. Violinen ist eine einfache chromatische Notenfolge mit der Ausnahme beim 3. Ton, g statt f:

Beispiel 2.5: Apparitions, 2. Satz "Wild". Die fast befolgte Chromatik im Kanon der ersten Violinen.

Die Kanonschichten der Violinen 1 werden verdichtet bzw. chaotisiert durch die Violinen 2 mit derselben Kanonlinie. Die Viola- und Violoncello/Kontrabassgruppe bekommt andere Kanons mit weiteren Irregularitäten der Chromatik.

Im Konzert für Violoncello und Orchester (1966) benutzt Ligeti die Überlagerung proportional zueinander stehender Rhythmen für ein echtes Moiré-Muster:20

Beispiel 2.6: Konzert für Violoncello und Orchester, Streicher, 2. Satz, Takt 25, Moirémuster.

Ligetis Tonabstände sind hier im Mittel hart an der Auflösungsgrenze für das menschliche Ohr, wo ein Nacheinander der Töne nicht mehr wahrnehmbar ist, sondern eine neue Summeninformation entsteht, gewissermaßen eine "Klangfarbe", ähnlich einem Einschwingvorgang. Die ersten 8 Töne von es2 bis klein-a bilden eine quasi-diatonische Linie mit dem übermäßigen Schritt h1-as1.

Bei Ligeti lassen sich all diese Verfahren auf seine Kölner Studioerfahrungen beziehen. Aber er verließ das Studio, und zwar so endgültig, dass es einen wieder erschauern lässt. Kein synthetischer Ton kam ab den 60er Jahren mehr aus seiner Feder. Selbst als er für seine Studierenden Anfang der 80er Jahre vier digitale, mikrotonale DX7-II Synthesizer vermittelte, konnte ihn niemand von uns dazu bewegen, etwas für diese Maschinen zu konzipieren. Ligetis Freund, der Computerspezialist und -Komponist John Chowning aus Stanford, Kalifornien, hatte kurz vorher diese Maschinen durch seine geniale FM-Technik kommerziell möglich gemacht und einen Deal mit Yamaha abgeschlossen. Der DX7 als erster digitaler Synthesizer wurde ein Kultinstrument vor allem in der Popmusik. Ligeti selbst soll die Mikrotonalisierung des Nachfolgermodells DX7-II angeregt haben, von dem YAMAHA EUROPA der Ligetiklasse vier Exemplare zur Verfügung stellte. Ligeti förderte unsere Arbeit damit massiv, indem er die Verbindung zum Hamburger Musikmanager Rolf Sudbrack herstellte, oder über Jürgen Drews zum Goethe-Institut, das uns weltweite Konzertreisen ermöglichte mit unserem neugegründeten mikrotonalen und multimedialen Ensemble "Chaosma". Wir diskutierten mit Ligeti viele neue Skalenmöglichkeiten, von verzerrten Oktaven bis zu übereinander geschichteten ganzzahligen 5/4 oder 6/5 Terzen, oder 7/4 Septimen und 11/8 Naturtritoni. Es gelang uns zwar, Ligeti zum Einsatz von rein gestimmten Intervallen zu animieren. Aber die ließ er dann von natürlichen Instrumenten in seinem Klavierkonzert, dann auch im Violinkonzert erzeugen. Er sagte, sein "Computer" sei aus Holz.

2.2Die Suche nach einer neuen "Tonalität"

Die Schneidetechniken aus der Studioarbeit, die Ligeti auch zu sprachhaften elektronischen Klangschnipseln führten wie in Artikulation, reichen weit in die 60er Jahre hinein, siehe etwa Aventures et Nouvelles Aventures (1962-65). Seine Musik bewegt sich zwischen einer momenthaften und flächenhaften Muster-Welt. Sie weitet sich allerdings inhärent in Atmosphères zu angedeuteten Vexierspielen zwischen Chromatik und Diatonik. Schon hier finden wir eine untergründige Verbindung Ligetis zu seiner vor-Kölner Kompositionswelt.21 Das herauszuarbeiten ist Sache der Interpreten und besonders des Dirigats. Der Komponist und Musikwissenschaftler Maximilian Ebert entwirft dazu folgendes Bild:22

Beispiel 2.7: Tondauern in Atmosphères, Buchstaben N-O. Herausfiltern von "Diatonik". 1. Stehenbleiben der vier Klarinetten auf dis e fis gis aus einem Bläser-Quasicluster. 2. Die Streicher bleiben auf A H c d e g a h c1 d1 e1 f1 g1 a1 h1 c2 (etc.) stehen, am längsten f1 g1 a1 h1 . Nach Ebert.

Der Dirigent Hans Rosbaud war für Ligeti der unerreichte Meister der klanglichen Ausarbeitung solcher Vorgänge in Atmosphères.23 Ligeti entwickelt seit den 60er Jahren bewusst die Hörmöglichkeit in Richtung Diatonik. Seine Intervalle können sie enthalten oder auf sie hinweisen, anders als bei seinem Antipoden Boulez, der von dem "Zufall" der präformierten Bedeutung schreibt, der er nicht entkommen könne, die er aber als Grundprinzip seiner Konstruktion (in der III. Klaviersonate: in zirkulären Tonblocks) "absorbieren" möchte.24

In einen Vordergrund gekehrt wird diese filtrierte quasi-diatonische Welt dann in Lux aeterna (1966), im Umfeld des Requiem (1965) entstanden, mit einer klaren Hinwendung zur Gregorianik, eigentlich in einer Verquickung mit Bartóks motivischen Kleinstdrehungen, siehe dessen Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936). Ligetis spätere 60er Jahre ab Lontano (1967) bis hin zu Melodien (1971) sind dann voller möglicher oder manifester Diatonik.

Die zeitlich parallel entstehende wieder-tonale "Minimal Music" eines Steve Reich beschäftigt ihn auch wegen ihrer Puls-Implikationen, etwa in Violin Phase (1967). Terry Rileys In C (1964, von Ligeti wahrgenommen 1972),25 war im Rahmen einer Tonalitäts-Diskussion zeitweise ein wichtiges Thema in Ligetis Kompositionsklasse der 70er Jahre. Wir hörten die 1968er LP. Oder Ligeti brachte LaMonte Youngs The Well-Tuned Piano (ab 1964 konzipiert, eigentlich eine Installation in Just Intonation über die Jahre bis heute ohne Ende).

Tonalität war für Ligeti ein komplexes, in der Tiefe der Zeit geborenes Muster. Sie beschränkt sich nicht auf die Welt der Tonhöhen, sondern verquickt sie mit einem riesigen Bau von Rhythmen und Formen. Er sagte, wir könnten, indem wir eine neue Tonalität bauten, solch eine Tiefe nicht erreichen. Denn die alte Tonalität stecke, wie Sprache, voller Mehrdeutigkeiten und Hinweisen auf ganz unterschiedliche Entwicklungszustände, auf eine riesige Zahl von Benutzern dieser Sprache durch die Jahrhunderte. Ligeti suchte fast verzweifelt nach Auswegen aus einer Webern-orientierten, anonymitätsgefährdeten Tonhöhen- und Rhythmuswelt. Da stellt sich mir die Frage, ob wir, wenn wir gedanklich das Tonalitätsrädchen in Mikrotönen und -rhythmen nochmals weiterdrehten, diese alte Tiefe nicht wiederum mittransportieren könnten, um eine neue Schale bereichert? Hat Ligeti letztlich genau daran gedacht, als er die Anonymisierung der Töne und Pulse im Serialismus und dessen Folgen komplett aufhob, und nicht-tonale (nicht innerhalb des tonalen Denkens geborene) komplexe Pulse und verschobene Töne suchte, jenseits der alten "Takte" und der alten 12 Töne?

2.3Das Aufbrechen der 12 Töne

In Apparitions erscheinen bei Ligeti die ersten notierten Mikrotöne als schwebungsorientierte Tonhöhenfärbungen: Visionen für eine weitere, noch zu entdeckende Welt, in Takt 55 im Violoncello 8, und in Takt 68 im Kontrabass 2:26

Beispiel 2.8: Apparitions 1. Satz, Kontrabass-Sektion ab Takt 68, C-tief/Des Mikroton-Schwebung.

Auch 7. Naturtöne in den Hörnern bezeichnet Ligeti in Apparitions, siehe das folgende Beispiel:

Beispiel 2.9: Apparitions, 1. Satz Takt 64. Ligetis Anmerkung: "Ohne Änderung der Ventil-Stellung. Teilton 7 nicht korrigieren." Die Grundtöne der Hörner sind von mir in Klammern hinzugefügt.

Die Formulierung "Ohne Änderung der Ventilstellung – Teilton 7 nicht korrigieren" steht schon identisch an einer Stelle der Sechs Bagatellen für Bläserquintett (1953), Allegro grazioso ab Takt 102.27

Mikrotonalität entfaltet sich angenähert vierteltönig in Ramifications (1968-69), weiter dann jenseits aller festen Tonvorräte wie eine zusätzliche Farbe im Zweiten Streichquartett (1968) und im Doppelkonzert (1972).

Passacaglia ungherese (1978) benutzt ein 1/4-komma-mitteltönig gestimmtes Cembalo, basiert also auf naturreinen 5/4 Terzen und 8/5 Sexten. Das Werk verläuft zu Beginn sehr ruhig, so dass die reinen Intervalle gut hörend nachzuvollziehen sind:

Beispiel 2.10: Passacaglia ungherese, Anfang.

Einen grafischen Hinweis auf den Unterschied zwischen 12ton-Temperierung und der von Ligeti benutzten 1/4-Komma-Mitteltontemperatur gebe ich im Folgenden, denn genau diese "Irregularitäten" werden für Ligeti in schnellen Läufen interessant:

Beispiel 2.11: Passacaglia ungherese, Abweichungen zu der von Ligeti benutzten 1/4-Komma-Mitteltontemperatur.

Mitunter gibt es in Passacaglia ungherese freche, plötzlich hereinbrechende 16tel-Stellen, wobei die ganz asymmetrischen Intervallgrößen der Mitteltönigkeit auffällig werden. Das Tempo in 16teln ist 552.28

Beispiel 2.12: Passacaglia ungherese, Detail aus Takt 67 mit Cent-Angaben.

Es ist, als mache sich Ligeti auch ein wenig lustig über die Naturreinheitsgedanken, die er zu Beginn im Cembalowerk entfaltete. Er hatte sechs Jahre vorher Harry Partch besucht, den Komponisten und Instrumentenerfinder. Dessen 43-Ton-System aus ganzzahligen Intervallen bis zum 11. Ton der Partialtonreihe wurde in der Kompositionsklasse ein großes Thema, zumal die Schüler Wolfgang von Schweinitz und ich schon mit Mikrotönen experimentiert hatten. Wir hörten die von Ligeti mitgebrachten Partch-LPs voller Staunen.

Im Horntrio (1982) wird der 11. Naturton auf dem Horn Ligetis Mittel, um präzise Vierteltöne zu erreichen. Wie auf Neuland beackert Ligeti an verschiedenen Stellen im Werk auch Naturtonmelodien im Horn. Er schreibt im Vorwort:29

Das Horn (Doppelhorn F/hoch B, ad lib. Tripelhorn) spielt stellenweise in natürlicher Stimmung. Die Naturhorn-Stellen sind besonders gekennzeichnet... Außer bei den angegebenen Stellen kann anderswo auch ad lib. Naturhorn gespielt werden, so im ganzen Verlauf des ersten Satzes.

Allerdings ist Ligetis Naturhorn-Bezug im "ganzen Verlauf des ersten Satzes" unklar, da er, außer bei den schnellen Figuren, den Grundton nicht notiert. Die Figuren notiert er eindeutig, das erste Mal Takt 41 mit dem zu greifenden Horn-Grundton. Klar ist Ligeti in den anderen Sätzen. Ich gebe als Beispiel den Anfang einer langgezogenen, virtuosen Hornmelodie aus dem 3. Satz "Alla Marcia", ab dem Takt 111. Immer wieder erleben wir in seinem Schlossbau eine neue Tür für später folgende Abenteuer, diesmal für seine letzten drei Solokonzerte:

Beispiel 2.13: Horntrio "Alla Marcia" ab Takt 111, Hornstimme. Die Grundton-Angaben Ligetis oberhalb der Noten beziehen sich auf den Klang, die erste Phrase steht also auf klingend-F (die Töne müssen damit eine Quinte tiefer gelesen werden). Die Pfeilakzidentien abwärts bei Ligeti meinen den 7. Teilton, außer, wenn er den 13. Ton angibt. Die Pfeilakzidentien aufwärts meinen immer den 11. Ton.

Im Horntrio werden die Naturtöne erstmals hybrid gegen Violine und Klavier gestellt, dann eher punktuell im Klavierkonzert immer wieder in Trompete, Posaune und Horn gegen das übrige Orchester. Im Violinkonzert (1990-92) zeigt sich immer deutlicher Ligetis Denkansatz der Hybridisierung von Stimmungssystemen. Hier stimmt Ligeti zwei Satellitenstreicher, Violine und Viola als Solisten aus dem Orchester, speziell in Naturtonabständen: Die Violine nimmt dafür den 7. Partialton der G-Saite vom Kontrabass ab, (Natursept, -31 Cent, Ligeti übertreibt die Abweichung und benennt im Vorwort einen Wert von "-45 Cent"). Die Viola nimmt hingegen den 5. Partialton der Kontrabass-A-Saite ab (Naturterz, -14 Cent).30 Im Weiteren entwickelt Ligeti die Idee der übereinandergeschichteten Naturtonreihen, die sich mit temperierten Tönen mischen. Eine auffällige Harmonik mit Schwebungen ergibt sich zu Beginn des 3. Satzes "Intermezzo",