Struktur und Ästhetik bei Boulez - Manfred Stahnke - E-Book

Struktur und Ästhetik bei Boulez E-Book

Manfred Stahnke

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Beschreibung

2016 verstarb Pierre Boulez, einer der zentralen Komponisten des 20. Jahrhunderts und des sogenannten "Serialismus". Er selbst prägte diesen Denkstil entscheidend mit durch seine Werke und seine Schriften. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre unterwarf er den Serialismus selbst einer Analyse, ganz besonders durch die Komposition seiner "Dritten Klaviersonate", hier noch tiefgründiger als in seinen Schriften. Dieses fulminante Fragment einer Sonate, von dem er große Teile wieder zurückzog, setzt sich tief auseinander mit Literatur, insbesondere mit Mallarmé und Joyce. Beide Dichter verbindet Boulez im Rahmen seiner komplex formulierten Musiksprache mit dem damals auch in die Kompositionswelt gelangenden Gedanken der "offenen Form". Einen der veröffentlichten Teile der Sonate, "Trope" ("Einfügung" im mittelalterlichen Sinn) werden wir hier eingehend untersuchen, nicht nur in seinen rein-musikalischen Strukturelementen, sondern ganz besonders in seiner ästhetischen Haltung. Wir werden sehen, dass dieses Werk weitgespannt künstlerische und nebenbei auch naturwissenschaftliche Positionen des 20. Jahrhunderts mit einbezieht und beschreibt. Diese Sonate wird sich herausstellen als eine Klang gewordene Philosophie.

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Der Hamburger Komponist und Musikologe Manfred Stahnke

wurde 1951 in Kiel geboren und studierte ab 1966 in Lübeck

Violine, Klavier und Komposition, ab 1970 in Freiburg,

Hamburg und in den USA Komposition, Musikwissenschaft

und Computermusik. Er legte das Examen in "Musiktheorie

und Komposition" 1973 in Freiburg bei Wolfgang Fortner ab.

1979 promovierte er in Hamburg bei Constantin Floros über

Pierre Boulez. Seine Lehrer in Komposition waren nach

Wolfgang Fortner: Klaus Huber und Brian Ferneyhough

(Freiburg), Ben Johnston (Urbana, USA) und György Ligeti (Hamburg).

Zu seinen Kompositionen zählen Bühnenwerke: "DER

UNTERGANG DES HAUSES USHER" 1981, "HEINRICH DER

VIERTE" 1987, "WAHNSINN, DAS IST DIE SEELE DER

HANDLUNG", Neufassung Berlin Staatsoper 2012,

"ORPHEUS KRISTALL" 2002, Biennale München. Ferner

Orchesterwerke und Konzerte, u.a. aufgeführt vom

Radiosinfonieorchester Hilversum, den Kieler

Philharmonikern und dem SWR-Sinfonieorchester, darunter

"DANZBODNLOCK", Violinsinfonie mit Barbara Lüneburg

(Violine) und Hans Zender; "SCALES OF AGES",

Saxophonsinfonie mit John-Edward Kelly (Saxophon) und

Thomas Kalb. Außerdem schrieb Stahnke viele

Kammermusiken für Ensembles wie das ensemble modern,

das Nieuw Ensemble Amsterdam, das ensemble decoder etc.

Er reiste mit dem Ensemble CHAOSMA als Komponist und

Keyboarder in viele Erdteile; war in Neuseeland, Südafrika

oder in den USA Vortragender über aktuelle Musik; spielt

derzeit mit dem Improvisationsensemble "TonArt" Viola.

Seit 1989 ist er an der "Hochschule für Musik und Theater

Hamburg" Professor für Komposition, seit 1999 Mitglied der

"Freien Akademie der Künste in Hamburg", wo er derzeit

(2017) die Sektion Musik leitet. Er wirkte viele Jahre im

Musikbeirat des Goethe-Instituts München.

Inhalt

Einleitung

Abschließende Bemerkungen

Anmerkungen

Literatur

Nachwort

hören hören und nochmal hören!

Einleitung

2016 verstarb Pierre Boulez, einer der zentralen Komponisten des 20. Jahrhunderts und des sogenannten "Serialismus". Er selbst prägte diesen Denkstil entscheidend mit durch seine Werke und seine Schriften. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre unterwarf er den Serialismus selbst einer Analyse, ganz besonders durch die Komposition seiner "Dritten Klaviersonate", hier noch tiefgründiger als in seinen Schriften. Dieses fulminante Fragment einer Sonate, von dem er große Teile wieder zurückzog, setzt sich tief auseinander mit Literatur, insbesondere mit Mallarmé und Joyce. Beide Dichter verbindet Boulez im Rahmen seiner komplex formulierten Musiksprache mit dem damals auch in die Kompositionswelt gelangenden Gedanken der "offenen Form". Einen der veröffentlichten Teile der Sonate, "Trope" ("Einfügung" im mittelalterlichen Sinn) werden wir hier eingehend untersuchen, nicht nur in seinen rein-musikalischen Strukturelementen, sondern ganz besonders in seiner ästhetischen Haltung. Wir werden sehen, dass dieses Werk weitgespannt künstlerische und nebenbei auch naturwissenschaftliche Positionen des 20. Jahrhunderts mit einbezieht und beschreibt. Diese Sonate wird sich herausstellen als eine Klang gewordene Philosophie. Boulez war ein Freund der Weisheit, ganz gewiss. Und er war ein Kämpfer für eine Musik voller Präsenz und Wahrhaftigkeit, geistiger Durchdringung ihrer selbst. Wir benutzen das Wort "Kämpfer" hier sehr bewusst. Ein Kämpfer hat immer auch Gegner, oder gegnerische Konzepte. Dazu gehörte für Boulez eine rein aus dem alten Vokabular schöpfende Musik. Vor lauter Kampfesmut sah er oft nicht, dass auch die alte Musiksprache sich mitunter selbst verschmitzt oder verzweifelt analysierte. Es dauerte für Boulez eine geraume Zeit, bis er die Qualität Strawinsky's sah. Schostakowitsch jedoch verstand Boulez rein gar nicht, äußerte sich sogar abschätzig, wie Ligeti im Schülerkreis berichtete.

Wir werden sehen, wie sehr auch Boulez in seiner III. Sonate mit dem Phänomen Sprache kämpfte, mit dem Phänomen der durch Jahrhunderte gewordenen Musiksprache. Dies wurde sogar zum Hauptthema der Sonate, weit über die kleinen Subthemen der Strukturierungen in Ton und Rhythmus hinaus. Dies ist extrem wichtig zu wissen, wenn wir uns in dieser Arbeit sehr extensiv mit Strukturen befassen müssen. Dieser Teil der Arbeit wird nur hinführen zum tiefen Inhalt des Werkes, der aus einem Dualismus, einer Dialektik, einer Antinomie, einer Aporie besteht, also einem Unauflösbaren zwischen reiner Musikstruktur und Menschenbotschaft, oder Menschenschrei. Boulez hat über Jahre mit dieser Sonate gekämpft. Sie ergab sich ihm nur in Teilen.

Der Serialismus hat Auswirkungen auf Bereiche des musikalischen Schaffens noch im 21. Jahrhundert, zentral etwa bei Brian Ferneyhough und dessen weitverzweigter Denkschule. Serialismus selbst allerdings erscheint immer deutlicher als ein abgeschlossenes musikhistorisches Phänomen. Seine Blütezeit liegt in dem Zeitraum 1952-57. Hier wurden die wenigen Werke geschrieben, die jene Epoche eines radikalen Avantgardismus überdauern könnten. Vielleicht sind dies von Stockhausen die "Zeitmaße" für Bläser, die "Gruppen" für Orchester, von Nono "Il Canto sospeso" für Soli, Chor und Orchester, von Boulez "Le Marteau sans Maître" für Alt und Ensemble und, eher wohl als die "Structures I" für zwei Klaviere, die III. Klaviersonate.

Auch heute, 2017, ist es jedoch gefährlich, mit Bestimmtheit gerade diese Werke als die tragenden einer Epoche hervorzuheben. Um bei Boulez zu bleiben: Werke wie "Pli selon pli" (mit drei "Improvisations sur Mallarmé") für Sopran und Orchester oder auch "Figures-Doubles-Prismes" für Orchester, die bald nach der III. Sonate geschrieben wurden, spielen sicher eine wichtige Rolle innerhalb der Avantgarde der damaligen Zeit, sind aber weniger die Exposition von etwas Neuem als eine Fortsetzung dessen, was speziell in der III. Sonate erreicht war.

Boulez ist, konsequenter als viele seiner Mitstreiter der 50er Jahre, der seriellen Idee prinzipiell treu geblieben, wenn sie sich auch bei ihm erweiterte und wandelte. Wir werden später "Rituel" für Orchester (1975) eingehender untersuchen. 1979, als die vorliegende Arbeit in ihrer ersten Form verfasst wurde, erschien der Kreis der damals noch seriell denkenden Komponisten wie ein Relikt. Es entstand besonders seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein gewichtiger Kontrapunkt: Damals wurde "Tonalität" in ihren vielfältigen Formen auch in Konzerten der sogenannten "Neuen Musik" wieder thematisiert. Immer deutlicher zeigte sich die Tendenz, den musikgeschichtlichen Abfall, den die Avantgarde der 50er Jahre ein für allemal unter den Tisch fegen wollte, wieder hervorzugraben. Zitat- und Collagekompositionen seit den 60er Jahren, bei Bernd Alois Zimmermann etwa oder bei Luciano Berio, entstanden aus einer Vorstellung heraus, dass Musik und Musikgeschichte eben doch nicht, wie die Serialisten dachten, auch Boulez, auf einem Pfeil eines wie auch immer gearteten Fortschritts angesiedelt sind, sondern dass Musik sich innerhalb einer Kugelgestalt der Zeit bewegen könnte. Mitunter auch nahmen Komponisten eine Haltung des uneigentlichen tonalen Komponierens ein, in etwa formulierend: "Ich schreibe tonal, wohl wissend, dass es eigentlich nicht mehr geht, und ich thematisiere genau diesen Zustand". Spätestens ab den 70er Jahren aber schien diese Haltung umzuschlagen in eine - im positiven Sinn - naiv ausgelebte Sehnsucht nach der emotionalen Kraft des Alten. In dieser vielfältigen Umgebung wurde die Abgeschlossenheit der seriellen Denkweise immer offensichtlicher. Die Neue Musik diversifizierte sich in eine Pluralität von Denkrichtungen und Stilen. Serialismus wurde ein geschichtliches Phänomen und schreit heute danach, eingehend und emotionsfrei untersucht zu werden. Schließlich hatte diese Denkweise entscheidend dazu beigetragen, dass neu komponierte Musik im Kulturkontext diskutiert wurde, wie kontrovers auch immer. Ab den 50er Jahren wurden in den diversen Rundfunkanstalten Sendereihen mit "Neuer Musik" eingerichtet, in Hamburg etwa "das neue werk". Boulez führte hier seine - damals noch fünfsätzige - III. Sonate selbst auf. Neukomponierte Musik nahm teil an der Gesamtdiskussion der Künste. Vehement und gewiss extrem einseitig wurde damals kurzzeitig der Serialismus als einzig mögliche Denkform in neukomponierter Musik propagiert, von Komponisten und Musikjournalisten. Und ähnlich vehement wurde er von vielen Musikschaffenden und großen Teilen des Publikums abgelehnt, weil zu viele Brücken für ein Verständnis entweder zu schwach gebaut oder weil sie ohne Ersatz abgerissen worden waren. Eine Region, wo diese Neue Musik hätte leben können, wurde nicht mitgedacht, oder sie wurde gar nicht erst gewollt. Selbst in dem kleinen Kreis von spezialisierten Profihörern aus Komponisten und schreibenden Musikphilosophen, die sich in Darmstadt oder auf Neue-Musik-Festivals trafen, überlebten die allermeisten dieser Werke nicht ihre Uraufführung. Werke waren temporäre Diskussionspunkte in einer schier endlosen Kette von Versuchsanordnungen wie in einem Chemielabor. Die meisten dieser Anordnungen sind für das Musikleben verlorengegangen. Gerade deshalb ist es ungeheuer wichtig, die zentralen, Wirkung zeitigenden Perlen zu finden und zu beschreiben. Dazu gehört zweifellos die III. Sonate.

Diese Arbeit über Boulez' III. Sonate muss als ein Versuch betrachtet werden, das serielle Denken und dessen ästhetischen Hintergrund analytisch zu durchleuchten. Die III. Sonate wurde gewählt, weil sie ein Schlüsselwerk innerhalb des Serialismus und innerhalb des Boulez'schen Œuvre darstellt. In ihr realisiert sich, viel konsequenter noch als im "Marteau", die Durchdringung von Strenge und Spontaneität. Boulez' Grundvorstellung eines beweglichen Universums, abgezogen von Stéphane Mallarmé und James Joyce, findet in der III. Sonate die extreme Ausprägung.

Boulez hat in der III. Sonate jene Denkweise fortgesetzt, die mit dem "Marteau sans Maître" (1952/54) auf Texte von René Char begann. Es geht nicht mehr darum, starre Zahlentabellen strikt einzuhalten wie noch in der frühseriellen Zeit, ganz besonders in der "Structure I a" von 1952, die György Ligeti exemplarisch analysierte.(1) Die "Structures I" für zwei Klaviere faszinierten als Extremfall von serieller Strenge und dem Versuch, diese Strenge zu überwinden. Frühe weitere Beispiele der Auseinandersetzung sind in den Anmerkungen erwähnt.(2,3)

Boulez schafft sich dann im "Marteau" und extrem in der III. Sonate Möglichkeiten, durch "lokale Indisziplin"(4) unter verschiedenen Strukturwegen frei zu wählen, in der Sonate dann praktisch in jedem Moment. Der Notentext wird flexibel, da der Komponist ihn lokal nach eigenem Ermessen steuern und umsteuern, ja sogar zugrunde liegende Strukturen durch Gegenstrukturen auslöschen kann. Auch darin ist Boulez Mallarmé und Joyce nah. Je offener aber die Regeln sind, auf denen der Notentext beruht, desto schwieriger wird es, diese Regeln ausfindig zu machen. Die entwickeltsten Teile der III. Sonate erscheinen zunächst völlig improvisiert. Nach einiger Zeit detaillierter analytischer Arbeit stellt sich jedoch heraus, dass dem Notentext doch ein strenger struktureller Ablauf zugrunde liegt, wenn auch oft als Bild seiner Aufhebung. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen, was Boulez zu dieser Sprache der Offenheit geführt hat und woher diese Haltung kam.

Boulez hat dem Analysierenden die Arbeit insofern erleichtert, als er in verschiedenen Schriften und Interviews seine Kompositionstechnik, seine gesamte Denkweise erläuterte. Besonders wichtig im Zusammenhang mit der III. Sonate sind folgende Schriften:

1. "Möglichkeiten" (1952): Hier schildert Boulez unter anderem ausführlich seine rhythmische Zellentechnik. Diese spielt in der III. Sonate eine zentrale Rolle.(5) Sie geht aus von Boulez' Lehrer Messiaen, aber ebenso stark von Strawinsky.

2. "Alea" (1957): Boulez beschäftigt sich hier mit allen Implikationen des Begriffs "Zufall" und seiner Einpflanzung in das musikalische Werk. Mallarmé steht deutlich im Hintergrund. Am Ende wird aus seinem "Igitur" zitiert.(6)

3. "Zu meiner Dritten Klaviersonate" (1960): In diesem Aufsatz erläutert Boulez die großformale bewegliche Anlage seiner Sonate. Er setzt sein Werk in Beziehung einerseits zu den neuen Erkenntnis der Naturwissenschaft, andererseits speziell zu Mallarmé's "Un coup de dés" und "Le livre", außerdem zu Joyce' "work in progress" mit dem endgültigen Titel "Finnegans Wake".(7)

4. "Musikdenken heute 1" (1963): Dies ist ein umfangreicher Essay über Boulez' damaligen kompositorischen Standpunkt. Wichtig ist für uns vor allem die Erwähnung der Zwölftonreihe von "Trope" aus der III. Sonate, außerdem die Behandlung vieler kompositionstechnischer Einzelfragen, wie z.B. jene nach der Gewichtung der musikalischen Parameter: Tonhöhe, Tondauer, Tonstärke, Tonfarbe.(8) Die Idee des Parameters übernimmt Boulez aus der frühseriellen Zeit und formt sie sich spezifisch um.

5. Ferner äußerte sich Boulez (1972 bzw. 1974) eingehend über seine Sonate in Interviews mit Célestin Deliège.(9)

Über das Vorgängerwerk für Alt und Ensemble, "Le Marteau sans Maître", liegen, was seine Mikrostruktur und Ästhetik betrifft, inzwischen viele Untersuchungen vor.(10) Dieser bunte Strauß von Arbeiten zeigt das stetig wachsende Interesse an diesem Werk, mit dem Boulez gern identifiziert wird, das aber doch nur einen Zwischenschritt innerhalb seines Œuvre darstellt.

Über die III. Sonate hingegen fehlen bisher fast gänzlich detaillierte Darstellungen. Der Schwierigkeit der Sonate entspricht die rare Beschäftigung mit ihrem Text. Rosângela Pereira de Tugny und Peter O'Hagan haben das Skizzenmaterial eingesehen.(11,12) O'Hagan hat dazu einen ausführlichen Bericht verfasst und die Skizzen zum endgültigen Klaviertext in Beziehung gebracht. Es gibt auch eine kurze Untersuchung speziell zur Verbindung zwischen der III. Sonate und den Literaten Mallarmé und Joyce von Zbigniew Granat.(13)

Die Feinstruktur der III. Sonate ist bisher noch nicht zusammenhängend analysiert worden. O'Hagan hat in seiner umfänglichen Surrey-Veröffentlichung die Entwicklung "Commentaire" aus "Trope" auf das Tonmaterial hin durchleuchtet, ohne die Tonhöhen-Vorgänge im Zusammenhang zu beschreiben.(12) Konrad Boehmer hat in seinem Buch "Zur Theorie der offenen Form in der Neuen Musik" den Abschnitt "Parenthèse" eingehender betrachtet, was die Tonhöhen betrifft.(14) Hier benutzt Boulez in den "Tempo"-Teilen das einzige Mal in "Trope" seine Zwölftonreihe samt Vergrößerung in die erste "série privilégiée" und deren Ausfaltung in das "squelette".(12) "Parenthèse" ist damit in der Gesamttonstruktur fast ohne Tonumstellungen realisiert, wobei immer die Flexibilität der Auswahl durch den Komponisten hinzugedacht werden muss. Boulez beschreibt, wie erwähnt, diese Reihe in "Musikdenken heute 1". Boehmer bezieht sich bei seiner Analyse auf diese Schrift. Deswegen nimmt es Wunder, dass er sich nicht exakt an Boulez' Reihe hält, sondern eigenmächtig Tonumstellungen vornimmt.(15) Boehmers Buch enthält einen Vergleich der Formprinzipien von Stockhausens "Klavierstück XI" und Boulez' III. Sonatee.(16) Beide Werke werden bezüglich ihrer Form eingehend dargestellt. Boehmer gibt Boulez' Konzeption des Weges den Vorzug vor Stockhausens Idee des Zeitfeldes: Während dem Interpreten der III. Sonate eine begrenzte (vom Komponisten kontrollierte) Anzahl von Wegen angeboten wird, darf der Interpret von Stockhausens "Klavierstück XI" frei auf der Partiturseite springen; er allein besorgt die Zusam -menstellung der Formteile. Für Boehmer ist Stockhausens Zeitfeld eine "undifferenzierte Summe aller gegebenen Permutationen".(17) Formale Kontinuität werde verhindert. In Boulez' III. Sonate hingegen stifteten die Kriterien der Indetermination formalen Zusammenhang, so Boehmer. Wir werden in dieser Arbeit das Problem der offenen Form, wie es sich in der III. Sonate darstellt, ausführlich zu behandeln haben.

György Ligeti hat in seiner Schrift "Zur III. Klaviersonate von Boulez" auf die neuen formalen Fragestellungen dieser Sonate aufmerksam gemacht.(18) Allerdings geht Ligeti von einem sehr frühen Entwicklungsstand der Sonate aus. Spätere Überarbeitungen und das Zurückziehen einiger Formanten führten dazu, dass Ligetis Text auf die heute vorliegenden Teile der Sonate nur bedingt anwendbar ist. Auf den Formant-Begriff, ein zentraler Begriff innerhalb Boulez' formaler Konzeption, kommen wir noch zurück. Zu erwähnen ist eine frühe kurze Studie von Nicholas Maw: "Boulez and tradition", kurz nach der Veröffentlichung des Formanten "Trope" entstanden.(19) Maw macht unter anderem aufmerksam auf das Fehlen der Starrheit der "Structures I", auf die Verbindungen zur Brillanz der beiden früheren Sonaten, auf die literarischen Bezugspunkte, auf die Komplexität des Texts, ohne aber ins Detail zu gehen. Ferner versucht Maw sich an einer Erklärung des Titels "Trope".(20) Maw kennt offensichtlich nicht Boulez' Aufsatz "Zu meiner Dritten Klaviersonate", wo Boulez "Trope" eindeutig auf den mittelalterlichen Begriff bezieht. Tragend im Formanten "Trope" ist der Gedanke, Einschübe in vorher festgelegte Texte vorzunehmen, und zwar nicht nur, wie es der mittelalterliche Begriff impliziert, melodische, sondern Einschübe ganzer Formteile. Tropen werden, ausgehend von der Mikrostruktur, übereinander geschichtet, bis sich die Struktur an der Oberfläche dem Zustand der Un-Struktur, dem Chaos nähert. Das wird eines der wichtigen Themen innerhalb der vorliegenden Untersuchung sein.

Als das schlagend Neue der III. Sonate wurde die Verschiebbarkeit ihrer Formteile empfunden. Stockhausens bereits erwähntes "Klavierstück XI" (1956) und Boulez' III. Sonate (1956/57) waren die ersten Werke, die dem Interpreten eine bei Boulez mehr, bei Stockhausen weniger beschränkte Wahlmöglichkeit in der Anordnung der Formteile gewährten. Boulez schreibt als erste Begründung für diese Umwälzung:

[Es habe sich gezeigt,] "dass ein endgültig festgelegter Ablauf mit dem gegenwärtigen Stand des Musikdenkens nicht mehr übereinstimmt, auch nicht mit der Entwicklung der musikalischen Technik, die sich mehr und mehr der Untersuchung eines relativen Universums zuwendet, einer permanenten Erforschung - vergleichbar einer 'permanenten Revolution'."(21)

Wir werden festzustellen haben, inwiefern die musikalische Technik Grundsätze eines "relativen Universums" untersuchte und was Boulez hierunter überhaupt versteht. Boulez' zweite Begründung für die Offenheit der formalen Anlage stellt die erste in den Hintergrund:

"Im Grunde genommen ist mein gegenwärtiges Denken mehr aus Reflexionen über die Literatur als über die Musik hervorgegangen."(22)

Der Einfluss komme vor allem von Joyce und Mallarmé. Offenbar gibt es für Boulez zwei Triebfedern dafür, ein Werk nicht mehr mit festgelegtem Formablauf zu konzipieren: 1. die musikalische Sprachentwicklung, 2. das Werk von Joyce und Mallarmé. Diese zwei Stränge gilt es in der III. Sonate zu verfolgen.

Um die Eigenschaften der Boulez'schen musikalischen Sprache von 1956/57 zu beschreiben, brauchen wir Boulez nicht durch das gesamte (nicht fertiggestellte) Labyrinth seiner Sonate zu folgen. Wir werden den Formanten "Trope" herausgreifen. Die komplexe, teilweise bis an den Rand des Chaos getriebene Struktur von "Trope" kann umfassend unsere Frage nach der Boulez'schen Kompositionstechnik dieser Jahre beantworten. Die Begriffe "Labyrinth" und "Chaos" sind zentrale Komponenten im musikalischen Denken von Boulez.

Im ersten Teil dieser Arbeit wird es nicht zu umgehen sein, bis in die feinsten Verästelungen der Boulez'schen Strukturen vorzudringen. Wer diese Analyse nachvollzieht, wird dabei nicht selten das Gefühl haben, er verliere den Boden unter den Füßen. Boulez' Grundprinzip ist das Tropieren einer vorgegebenen Ordnung. Über eine erste Ordnung wird eine zweite gestülpt und eine dritte etc. Alle diese Schichten können sich gegenseitig beeinflussen. Sie bilden gewissermaßen Interferenzen und löschen sich teilweise gegenseitig aus. Der Komponist gewinnt in einem derartigen System erstaunliche Gestaltungsfreiheiten.

Diese Spätform des Serialismus wird gern als bloße Zwischenstufe zur sogenannten 'postseriellen Musik' gesehen. Wer von Serialismus redet, meint oft nur jene Denkweise, die exemplarisch aus der "Structure I a" (1952) von Boulez spricht. Gegen das dort vorhandene rigorose Denken in Zahlentabellen zog Boulez schon 1954 selbstkritisch zu Felde. Er sprach, allerdings ohne sich direkt auf die "Structures" zu beziehen, von einer "monströsen polyvalenten Organisation, die man schleunigst aufgeben sollte".(23) Er meinte, man habe Komposition mit Organisation verwechselt. Viel später, 1972 bzw. 74, charakterisierte Boulez jene Zeit Anfang der 50er Jahre folgendermaßen:

"Eine Krise, die zwei oder drei Jahre dauert, was ist das schon? Es hat ein Durchgangsstadium gegeben, so, wie man durch einen Tunnel fahren muss, um auf die andere Seite des Berges zu kommen. Dieser Tunnel musste ein paar Jahre lang durchquert werden, und in dieser Zeit war die theoretische Anstrengung so groß, dass es zwischen der eigentlichen Forschung und der Komposition zu keiner Übereinkunft mehr kam."(24)

Angesichts der III. Sonate und der in ihr sich krisenhaft zuspitzenden Situation des seriellen Denkens wird die Frage zu stellen sein, ob die Krise Anfang der 50er Jahre überhaupt überwindbar war ohne gleichzeitige Überwindung der seriellen Denkweise.

Die "Structure I a" gehorcht Zahlentabellen, die primär nichts mit musikaiischem Klang zu tun haben. Die strenge Befolgung dieser Tabellen führt, wie Ligeti in seiner Analyse gezeigt hat, zu mehr oder weniger auffälligen Absurditäten der musikalischen Struktur.(25) In den nächsten Werken hat Boulez versucht, seine serielle Grammatik flexibler zu gestalten und damit größere Einflussmöglichkeiten auf die klangliche Oberfläche seiner Werke zu gewinnen. Die Flexibilität der seriellen Struktur erreicht in der III. Sonate einen Höhepunkt. Sie wird so umfassend, dass ein Abfärben auf den großformalen Bereich sozusagen eine materialimmanente Notwendigkeit darstellt. Der wichtigste Punkt ist dabei, dass in den entwickeltsten Teilen der Sonate, wo an der Oberfläche reine Klang-Improvisation vorzuliegen scheint, die Reihe (oder die rhythmische Zelle) zur Erklärung dieser Strukturen unnötig wird. Der serielle Grundstoff ist so flexibel, dass er tendenziell jede nur denkbare Konstellation ermöglicht.

Die Krise zur Zeit der "Structures I", die sich im Übergewicht des Strukturdenkens gegenüber dem Klangdenken ausdrückte, scheint sich mit der III. Sonate dahingehend verlagert zu haben, dass bei einer Priorität der klanglichen Oberfläche der serielle Hintergrund nurmehr als Last mitgeschleppt wird. Wenn hier von einer Krise des seriellen Denkens in der III. Sonate gesprochen wird, ist damit beileibe nicht von vornherein ein Werturteil verknüpft. In der kritischen Materialsituation zwischen Struktur und Chaos kann sich gerade der positive Gehalt des musikalischen Textes verbergen. Hierbei ist zunächst gar nicht entschieden, was an der Oberfläche 'chaotischer' klingt: Anwesenheit von serieller Struktur oder deren Abwesenheit. Gerade mit der Aufweichung des seriellen Prinzips schafft sich der Komponist die Chance, das klangliche Resultat in seinem Sinn zu beeinflussen, also aus einer chaotischen Fülle von Formen eine persönliche auszuwählen. Unser Anliegen im ersten Teil dieser Arbeit ist die Darstellung der bis zum äußersten gespannten, nah an ihrem Zerreiß -punkt stehenden seriellen Denkweise.

Boulez hat sich zu jeder Zeit umfassend über seine Arbeit und über allgemeine ästhetische Fragen geäußert. Seine Schriften fordern geradezu heraus zu Analysen seiner Werke und zu Untersuchungen über deren gedanklichen Hintergrund. Es mag scheinen, als sei der Boulez'sche Serialismus kein reines Spiel mit Tönen, sondern verberge in sich eine umfassende Weltsicht. Natürlich werden wir kein banales Hineinpflanzen außermusikalischer Inhalte in die musikalische Struktur finden. Boulez stellte ausdrücklich fest, dass die Musik "eine Kunst ohne direkt fassbaren Bedeutungsinhalt" sei.(26) Aber ausgehend von Boulez' Bezugnahme auf Joyce und Mallarmé, werden wir dennoch eine Reihe von Indizien für konkrete gedankliche Vorstellungen finden, die mit der III. Sonate verbunden sind. Sie werden um die eben kurz beschriebene kritische Situation des Komponierens kreisen.

Der zweite Teil dieser Arbeit ist vor allem dem Komplex Mallarmé / Joyce gewidmet. Mit den Poetiken dieser beiden Dichter im Hintergrund verlangt die III. Sonate nach einer Exegese, so sehr dies auch im Widerspruch zu der überkommenen Vorstellung von Serialismus als einem Erzeugungsprinzip von nur um sich selbst kreisenden Strukturen zu stehen scheint.

Nach der Definition von C. Floros ist

"musikalische Exegetik ... eine übergeordnete Disziplin, die über die Formanalyse und Stilkritik hinausgeht und im Gegensatz zur alten Hermeneutik eine objektiv fundierte und nachprüfbare Deutung musikalischer Kunstwerke leisten will".(27)

Wir werden uns strikt an die Äußerungen von Boulez über die moderne Literatur, auch über die moderne Naturwissenschaft zu halten haben. Wo er selbst Parallelen zu seiner Musik zieht, wird unsere Aufmerksamkeit natürlich besonders gefordert sein. Letzte Klarheit über mögliche Konvergenzen schafft aber allein der Notentext. So wie es Widersprüche zwischen theoretischem Anspruch und komponiertem Resultat auf rein grammatikalischer Ebene geben kann, so dürfen wir die vom Komponisten selbst aufgezeigten Konvergenzen zu anderen Künsten oder zur Naturwissenschaft nicht ohne Weiteres von seinen Schriften her glauben.

Im dritten Teil wird eine kritische Betrachtung einer von Boulez versuchten Anonymität der III. Sonate unternommen. Boulez versuchte, durch die offene Form (deren Prinzip sich aus der offenen Logik der Mikrostruktur ableitet) ein anonymes Werk zu erreichen, ein "Anonymat", das ohne die Stimme des Autors auskomme.(28) Die zentralen Aspekte der Sonate, Anonymität, offene Form, Codeveränderung (auch die Frage nach einem Verzicht oder Nicht-Verzicht auf vorgegebene Codes wie Tonalität oder auch klassische Zwölftontechnik) werden daraufhin untersucht, ob sie im Notentext widerspruchsfrei sind, oder ob letzteres geradezu unmöglich wird.

Wir haben schließlich den Standort zu bezeichnen, den die III. Sonate innerhalb des Serialismus einnimmt, und die Perspektive, die sie vielleicht dem Fortbestehen der seriellen Idee eröffnen wollte. Es wird darum gehen, ob in der Sonate die Selbstaufgabe der seriellen Denkweise begründet liegen könnte. Dabei werden wir das 'serielle' Denken vom 'strukturalen' (kurz: kulturbezogenen) Denken abzugrenzen haben und besonders die linguistischen Forschungen von Claude Lévi-Strauss und vor allem von Umberto Eco heranziehen.(29,30) Das serielle Denken, das die eingefleischten, erstarrten Formen eines kulturellen Codes überwinden möchte, wird dort einem Denken gegenübergestellt, das auf einem gewachsenen kulturellen Code beruht und durch ihn 'Bedeutungen' entfalten kann. Es gilt festzustellen, wieweit sich das serielle Werk tatsächlich vom kulturellen Code des Abendlandes entfernt.

Wer sich zunächst mit den Grundlagen der seriellen Technik vertraut machen möchte, könnte mit den technischen Kapiteln von Herbert Eimerts Buch "Grundlagen der musikalischen Reihentechnik" beginnen. Außerdem werden wesentliche Grundbegriffe zur Neuen Musik erläutert in "Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert". In unserem Zusammenhang ist dort der Artikel "Aleatorisch, Aleatorik" wichtig mit der Erwähnung der III. Sonate.(31) Eine kurze, treffende Zusammenfassung über den gedanklichen Hintergrund der erweiterten seriellen Konzeption gibt Boulez in seinem Lexikon-Artikel "Reihe".(32) Die meisten Boulez'schen Schriften der 50er und 60er Jahre liegen auf deutsch in den Sammelpublikationen "Werkstatt-Texte"(33) und "Anhaltspunkte"(34) vor. Einen Überblick über Boulez' veröffentlichte Schriften und Interviews in Auswahl findet der Leser in der Bibliographie, ebenso ein Verzeichnis der Sekundärliteratur über Boulez. Ferner sei hingewiesen auf die Publikationen "die reihe" (1955-62) und "Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik" (ab 1958), die sich mit der "Neuen Musik" der 50er Jahre befassen. (35,36)

I. Die offene Logik der Mikrostruktur

Die Vorgänge innerhalb des mikroformalen Bereichs sind kaum zu verstehen ohne die Logik der großformalen Anlage. Die verschiebbare Großform ist gewissermaßen eine Projektion des Mikrobereichs nach außen. Oder erwächst aus der großformalen flexiblen Anlage die Mikrostruktur? Wir werden in der Feinstruktur des Werks eine der Großform sehr ähnliche Verschiebbarkeit der kleinsten Bausteine finden. In diesem Bereich hat der Komponist jedoch seine definitive Wahl getroffen. Nur die Groß- und auch die Medioform, also die mittlere Ebene innerhalb der "Formanten", wird auch vom Interpreten beeinflusst.

Die III. Sonate besteht aus fünf Teilen, die Boulez "Formanten" nennt.

Zum Formant-Begriff schreibt Boulez:

"Die Klangfarbe entsteht hauptsächlich durch die Verteilung der Obertöne: diese schließen sich zu mehr oder weniger vorherrschenden Gruppen zusammen, je nach ihrem höhen- oder lautstärkemäßigen Verhältnis zum Grundton; man nennt das die 'Formanten' einer Klangfarbe. Könnte man nicht auch von 'Formanten' eines Werkes sprechen?"(37)

Boulez möchte auf formaler Ebene alle vorgegebenen historischen Muster vermeiden. Derartige formale "Themen" mit ihren "bereits integrierten Eigentümlichkeiten" widersprechen offensichtlich der seriellen Idee.

"Der 'Formant' indessen - die nicht integrierten Eigentümlichkeiten wäre für die Physiognomie des Werkes verantwortlich, für seinen einmaligen Charakter."(37)

Dies schrieb Boulez schon 1954. Er sah zu dieser Zeit sehr deutlich das formale Grundprinzip der III. Sonate:

"Wir wünschen, dass das musikalische Werk nicht eine Flucht von Zimmern sei, die man unbarmherzig besichtigen muss, eines nach dem anderen; wir wollen es uns als einen Bereich vorstellen, in dem man gewissermaßen seine eigene Richtung einschlagen kann."(38)

"Antiphonie" und "Trope" sind, wie in der Abbildung oben sichtbar, untereinander austauschbar, desgleichen "Strophe" und "Séquence". Diese beiden Formant-Paare kreisen um "Constellation". Statt "Constellation" kann man auch die Spiegelform spielen. Der dritte Formant ist als "Constellation-Miroir" veröffentlicht. Boulez hat zwei der fünf Formanten, "Strophe" und "Séquence", definitiv zurückgezogen. In seinen frühen Interpretationen mit Boulez selbst am Klavier spielte er gern zu Beginn "Constellation", gefolgt von den unfertigen Formanten "Strophe", "Séquence" und 'Antiphonie", abgeschlossen dann von "Trope". Das erste Mal präsentierte er diese fragmentarische Sonate zweimal nacheinander in Darmstadt am 25. Juli 1957 bei der Kranichsteiner Musikgesellschaft auf einem "Kompositionsabend Pierre Boulez". Es handelte sich um einen Kompositionsauftrag der Stadt Darmstadt. Es gibt Aufnahmen der Sonate einschließlich der fragmentarischen Formanten. Boulez selber spielte diese Version öfter, z.B. am 11. Mai 1959 in der Reihe "das neue werk" des NDR in wiederum geänderter Reihenfolge.

Größere Teile von "Antiphonie" werden auch in jüngerer Zeit neben den fertiggestellten Formanten von dem Pianisten und Musikwissenschaftler Peter O'Hagan gespielt. Um "Antiphonie" hat Boulez lange Jahre gekämpft. Ein Bruchstück daraus durfte durch seinen Verleger, die Universal Edition Wien, ins "UE-Buch der Klaviermusik des 20. Jahrhunderts", UE12050, S.88-89 als "Sigle" ("Kürzel") aufgenommen und veröffentlicht werden, ist aber nicht als spielbare Partitur gedacht. Zumindest bis 1963 arbeitete Boulez an "Antiphonie". Die Skizzen dazu gehören zu den umfänglichsten in der gesamten Boulez-Sammlung der Paul Sacher Stiftung.(12) O'Hagan schreibt:

"...the work has remained in an unresolved state for four decades, notwithstanding the fact that the sketches for it are among the most extensive for any of the works in the Pierre Boulez Collection at the Paul Sacher Foundation. The first drafts date from as early as 1955, with the dedication to Heinrich Strobel of an unidentified fragment of the fifth Formant, "Séquence", "à l'occasion du dixième anniversaire de son activité en Südwestfunk", whilst work on the expanded version of "Antiphonie" continued at least until the summer of 1963 with the completion of the unpublished "Trait initial".

Ursprünglich nahm Boulez für "Trope" nur acht Aufführungsmöglichkeiten an. Diese ergeben sich, wenn die Paare I, II und IV, V immer als zusammengehörend gespielt werden und um III kreisen. Boulez spielte 1959 im Norddeutschen Rundfunk Hamburg die Reihenfolge IV, I, III, V, II. Er trennte also die Paare I, II und IV, V. Dadurch kommen wesentlich mehr als nur acht Kombinationsmöglichkeiten zustande.(39)

Zum Aufbau der einzelnen Formanten hat sich Boulez im Aufsatz "Zu meiner Dritten Klaviersonate" näher geäußert.(40) Wir werden uns in der Analyse der Feinstruktur auf den zweiten Formanten "Trope" beschränken.

"Trope" besteht aus den "Entwicklungen" A)"Texte", B)"Parenthèse", C)"Commentaire", D)"Glose". "Glose" kann auch vor "Commentaire" treten. Boulez erhält dadurch zwei originale Reihenfolgen: A) B) C) D) und A) B) D) C). Boulez schreibt in seinen Skizzen: a - β - γ - δ oder α - β - δ - γ.(12)

Die Anlage sowohl von A) B) C) D) als auch A) B) D) C) ist kreisförmig: Man kann bei jeder beliebigen "Entwicklung" einsteigen. Erstens ist also der Gesamtformant "Trope" beweglich im Gesamtnetz der III. Sonate. Zum zweiten sind seine Teile noch einmal in sich beweglich.

Der Titel "Trope" bezieht sich auf die Einschiebsel innerhalb des gregorianischen Gesangs. Als Tropen sind, allein vom Titel her, die Entwicklungen "Parenthèse", "Commentaire" und "Glose" (Glosse) zu erkennen. "Texte" muss als Ausgangsform betrachtet werden. Hier wird das Material in seiner einfachsten Form dargestellt. Alle vier Entwicklungen, auch "Texte", sind ihrerseits von Tropen durchsetzt. Boulez arbeitet mit verschiedenen Strukturebenen, von denen jeweils eine die Hauptebene darstellt. Einige Beispiele: In "Texte" sind 1. in die Kette rhythmisch strenger Großzellen freie rhythmische Zellen eingeschoben. 2. gibt es zwischen den Großzellen Einschiebsel in Form von Vorschlagsnoten.

Alle diese Tropen sind obligat. In "Parenthèse" bestehen die Tropen aus "Libre"-Teilen, die ad libitum gespielt oder weggelassen werden können, desgleichen in "Commentaire". Ferner gibt es sehr raffinierte Tropen, die sich in "Commentaire" z.B. als eine der gesamten Hauptstruktur überlagerte Struktur manifestieren, wobei ein und dieselben Töne zugleich Originaltext und Tropus sind, je nachdem, unter welchem Blickwinkel man sie betrachtet. Ein anderes Beispiel für einen sehr ausgefallenen Tropus ist "Glose". Hier wird die verwendete serielle Struktur auf folgende Weise glossiert: Die tatsächlich notierten Töne bilden das "Negativ" zu den vorausgesetzten, aber nicht erklingenden Tönen der zugrunde liegenden seriellen Struktur. Wo z.B. "gis" auftreten müsste, erscheinen stattdessen alle anderen 11 Töne, nicht aber "gis". Der Begriff Tropus ist bei Boulez also sehr weitgefasst und meint nicht nur fakultative Einschiebsel.

Die Analyse von "Trope" ist zweigeteilt: Zunächst wird die Tonhöhensprache untersucht, dann die Rhythmik. Die sogenannten Parameter