Habt Spass - Hans-Jürgen Hilbig - E-Book

Habt Spass E-Book

Hans-Jürgen Hilbig

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Beschreibung

Am Rande der Stadt, bin ich eines morgens aufgewacht, jemand stand vor mir, ein Typ der aussah wie ein Mörder und der mir sagte, schreib es auf. Schreib auf was passiert, wenn nachts in der Stadt das Schießen und Morden erlaubt ist. Er sagte, dort irgendwo in der Stadt gibt es Menschen, die auch ohne Morderlaubnis nicht immer wissen wohin, wohin mit ihrem Leben. Schreib es auf, sagte er. Er ging mir auf die Nerven, ich wollte weiterschlafen, aber ich konnte nicht.

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Der Müll von Gestern

ist die Moderne von Heute

*

Horst fühlte sich staubig. Niedergeschlagenheit war da noch das Zärtlichste, alles hielt Einzug, alles, was man nicht gebrauchen konnte, Zweifel, Traurigkeit und wenn man dann noch weit vom Schuss war, na, herzlichen Glückwunsch.

Er kam sich vor wie eine ganze Packung nicht aufgegessener Zwiebackklößchen.

Er blieb ahnungslos, hoffnungslos, atemlos durch den Tag, an dem er nicht wusste, war er frei, war er frei oder war es noch etwas Schlimmeres?

Er stellte sich vor, er auf einem Helene-Fischer-Konzert, die Leute um ihn haben alle Meeresfrüchte in den Händen, nur er sieht aus wie ein Tarnanzug.

Dieses dichte Gewölk an Irrtümern, an komischen Launen, diese Scherenschnitte, die uns nur zeigen, das wir falsch liegen, wir tragen keine Bärte, wir riechen nicht nach Salz, wir trommeln nicht die ganze Zeit, aber wir brennen darauf, es zu tun.

Horst fühlte sich wie einer, der warten konnte, aber nicht warten wollte. Als hätte es Pausen geregnet und er hätte den Schirm vergessen.

Trotzdem wollte er weitermachen, weitertrinken, weiterexistieren, er wollte alles ändern, er wollte nichts ändern, es sollte so bleiben, es sollte nur anders werden, es langweilte ihn, er hatte die langen Durststrecken satt, er hatte die Sattheit satt, er wollte es anders, freundlicher, dümmer, asozialer und liebloser, und er wollte das genaue Gegenteil. Mit anderen Worten, er wusste nicht, was er wollte.

Er liebte die Frauen, er liebte sie auf eine Art, die sie nicht liebten. Er tat alles unterschwellig, er liebte sie, doch sie sollten nichts davon wissen, erst wenn er sicher war, dass sie ihn auch liebten, rannte er zu ihnen, um ihnen alles zu gestehen.

Früher arbeitete er bei Voko. Wie lange war das her, das war schon solange her, dass er das Radio einschalten musste, um zu vergessen, wie lange.

Seitdem hatte sich eine Menge verändert, die Zeit hatte sich verändert, die Wirklichkeit hatte sich verändert.

Er ging Konflikten gerne aus dem Weg, natürlich, wenn er betrunken war, da kam es vor, da ging schon mal ein Stuhl zu Bruch, aber eher aus Versehen als aus Absicht. Absichtlich geschah selten etwas. Sein ganzes Leben kam ihm manchmal wie ein Versehen vor, wie man damit leben konnte, wusste er nicht, er lebte einfach.

Die Frauen regten ihn auf. Wie gerne er sie hatte. Es machte ihn wahnsinnig, wenn sich im Haus gegenüber eine Frau im Bademantel zeigte.

Sie hat gebadet, vermutete er. Er vermutete es in der Art, wie Zugvögel von dannen ziehen.

Er vergötterte die Frauen, wie andere die Frauen verabscheuten. Wenn er sie heimlich beobachten konnte, hatte er immer das Gefühl, sie bemerkten ihn und mochten es, wenn er ihnen zusah.

Er liebte ihre Bewegungen, er liebte den Stoff, den sie trugen.

Eine Frau von gegenüber hatte sich einmal ausgezogen, sie sah aus dem Fenster, sie schaute ihn an, er war sicher, die meint mich, sie will, dass ich zu ihr komme.

Eilig eilte er hinüber, er war so erregt, dass er beinah über seine eigenen Schritte gefallen wäre, aber als er im Hochhaus gegenüber ankam und hineinwollte, kam er nicht rein.

Er überlegte, sie hat mir doch gewunken, sie war doch nackt. Nackte meinen es ernst, wenn sie winken.

Keine Ahnung, woher er diese Weisheit nahm, er nahm sie sich einfach, so wie andere sich das Leben nahmen, er begrub diese Weisheit wieder, er glaubte nicht so richtig dran, er glaubte an nichts so richtig, es war alles verkehrt, egal ob man traurig war oder nicht, darüber staunte er und lachte und danach fiel ihm ein, dass er trinken könnte, und weil es ihm einfiel, trank er, er trank zu Hause, damit er die Stammkneipe nicht zitternd betrat, er betrat die Stammkneipe nie zitternd, er betrat sie lächelnd, schief und gebeugt, aber zitternd betrat er sie nie.

Horst glaubte nicht an Weltwunder. Sie existierten einfach nicht. Für ihn existierten nur die Dinge, die er sehen konnte, die Lottokugeln zum Beispiel oder das Flaschenpfand, an das Flaschenpfand glaubte er aber nur so lange, bis er es abgegeben hatte.

Er klagte nicht an, aber er beklagte sich, das Leben war an ihm vorbeigezogen und hatte ihn links liegen gelassen. Es kam ihm vor, als stehe er vor einer Ampel, für alle anderen war immer Grün, nur er blieb ständig vor einer roten Ampel stehen.

Horst war alt, er musste die Jahre nicht zusammenzählen, um das zu bemerken, er bemerkte es einfach, er bemerkte es am Knirschen der Zähne, er bemerkte es an seiner Traurigkeit, er bemerkte es an der Art wie er die jungen Frauen ansah, er sah die jungen Frauen wie ein Flüstern an, er verstand die jungen Frauen nicht, er verstand auch sich nicht, er nickte öfter ein, bei solchen Gedanken, wenn er dann schlief, träumte er, er wäre auf einer Insel und eine Frau, die er gerettet hatte, legte sanft ihr Knie auf seine Stirn.

Horst ging es nicht gut, dementsprechend sah es in seiner Wohnung aus, überall Taschentücher, Bierdosen, Zigarettenasche, der Geruch von abgelaufener Wurst, von abgelaufenen Erotikmagazinen, schimmligen Senftuben, alten Kaffeetassen und Schweiß, überall roch es nach Schweiß. Ihm war es gleichgültig und es war niemand da, die das schlimm finden konnte, es war keine da, die ihm Ratschläge gab.

Er wurde mies behandelt, dabei hatte er keinen schlechten Charakter, er hatte wahrscheinlich überhaupt keinen Charakter: Trotzdem traute man ihm zu, dass er den Kindern Bälle abnahm und sie plattstach, man traute ihm zu, dass er den ganzen Tag soff und immer komischer wurde.

Letzteres mochte stimmen, aber das mit den Bällen war eine Gemeinheit, denn den Kindern versuchte er so gut es ging aus dem Weg zu gehen.

Ein Bauch hatte sich um ihn herum gebildet. Ein Bauch, auf den er nicht unbedingt stolz war, der war sogar ein Hindernis für die Blicke der Damen. Der Bauch wirkte abstoßend, er war einfach zu sehr präsent. Er wusste keinen Ausweg, wie er ihn losbekommen könnte.

Er hatte es mit Atemübungen versucht, mit Laufen, mit weniger fetthaltigem Essen. Umsonst.

Natürlich gab es Wahnsinnige, die behaupteten, das sei ein Bierbauch und er müsse einfach nur den Alkohol weglassen.

Solche Stimmen ruinierten ihn, wie gut, dass er sie nicht ernst nahm, er wäre sonst so ziemlich ins Straucheln gekommen.

Was soll nur werden, was soll nur werden, fragte er sich immerzu. Sein Mund zweifelte solche Hilferufe nicht an, nein, er jagte nur die kleinen Bläschen davon, die sich im Inneren seinen Mundes bildeten, damit die Rufe sich ausbreiten konnten.

Er war eine Seele von Mensch, so hätten die Leute später von ihm reden sollen, aber was hieß später, so sollten sie reden, denn er war es, er tat doch niemandem etwas, zumal wenn man ihn in Ruhe ließ.

Er war traurig, rieb sich die Augen, rieb auch alles andere, alles was da war und nicht gesehen wurde, er flüsterte sich zu, keiner hat das Recht, auf mich zu zeigen, niemand soll sagen, da geht der Horst, er ist alt und Kummer gewohnt, komm, wir treten ihn.

Er sah hinaus, wo Kinder in brütender Hitze Pingpong mit dem Fußball spielten.

Nicht zum Aushalten, geiferte er. Anschließend setzte er sich auf die Couch und las ein Erotikmagazin. Da war ein Interview mit Silke drin, die sich nackt ablichten ließ, damit das Interview mehr Tiefe bekam.

Horst sah es nicht gerne, wenn Frauen und Männer neben ihm hergingen. Er stellte sie sich dann jedes Mal unbekleidet vor. Wie sie gierig übereinander herfielen, während er auf der Couch saß und Silkes Meinung zur Doggystellung las.

Horst war alt, er war es nicht gerne, doch dagegen konnte er nichts tun, aber dass er einsam war, das war durchaus seine Schuld, das gestand er sich sogar ein, er war von Anfang an ungeschickt, ging es völlig falsch an und fiel auf die Nase. Er wusste einfach nicht, wie man anfing und wie es weiterging.

Bisweilen hatte er das Gefühl, er habe den Bus verpasst, als wäre das Leben nur für andere sinnvoll, oder wenigstens erträglich. Natürlich, das Leben war nicht zu ertragen, es würde nicht enden, wenn es zu ertragen wäre, es war schwer, es war leicht, es war gut oder es war schlecht, aber zu ertragen war es nicht.

Horst war oft schlechter Laune, wenn er nicht gerade den Busverkehr beobachtete, wenn er nicht gerade zusah, wie eine Frau ein Hustenbonbon in den Händen rieb, wenn eine Frau ein Hustenbonbon in den Händen rieb, gab es kein Halten mehr, da ging er sofort los und kaufte sich auch Hustenbonbons und rieb jedes einzelne Hustenbonbon in den Händen.

Silke plauderte über den ersten Mann, der sie am Tisch, hinter irgendeinem Vorhang nahm. Sie lächelte kühl und zeigte, was sie drauf hatte. Silke war klasse, sie konnte sich selbst nackt artikulieren.

Sie sprach über die Freiheit und Politik, sie sagte, Politik sei nichts für sie und Freiheit fände sie gut.

Die nackte Silke hätte er gerne in sein Herz geschlossen, wenn er auch nichts von dem glaubte, was sie da erzählte.

An diesem Abend kam alles anders. Da war eine Frau, die neben ihm ging, eine hübsche Frau, die die Tochter eines Brauereibesitzers sein konnte, die aber nicht die Tochter eines Brauereibesitzers war, sondern die Tochter von irgendwem, von Horst ganz sicher nicht.

In der Kneipe hatte er sie angesprochen, sie saß allein auf einem der Kneipenstühle, sah auf ihr Handy und schien sehr traurig zu sein. Sie hat sicher rote Wangen, wenn sie schläft, träumte Horst und fasste sich ans Kinn, warum er sich ans Kinn fasste, wusste er nicht, vielleicht um den Augenblick zu genießen, oder um das Leben zu feiern, vielleicht um alle Gedanken und Wünsche auf einem Fenstersims liegen zu lassen, vielleicht um sein Leben zu bedauern, jenes, das er hinter sich gelassen hatte.

Er sollte sie fragen, sie bitten, nicht auf das zu hören, was er von sich gab, sein Hirn drehte sich wie ein Kreisel. Er spürte das Verlangen, vor ihr auf die Knie zu gehen.

Er tat es nicht.

Warum nicht?

Er hatte Angst, ja Angst. Er hatte Angst, er könnte es verderben, immer hatte er Angst, er könnte es verderben, er hätte selbst Angst, es zu verderben, wenn er es nur noch ums Verderben ging.

Er kam sich so unfähig vor, es war noch nichts geschehen und schon fühlte er sich schwach, wie sollte er sich übrigens auch nicht schwach fühlen, er konnte ihr ja nichts bieten, und er konnte ihr nichts bieten, weil er nichts hatte, er hatte ja nicht einmal einen Führerschein, er konnte ja nicht einmal mit ihr davonfahren, einfach davonfahren. Wie gerne er mit ihr davongefahren wäre, natürlich, die Richtung hätte er bestimmt und sie hätte nicht ein einziges Mal gefragt, wohin?

Was war nur los mit ihm? Kam ihm das Leben wie eine klaffende Wunde vor? Wie ein Werkzeug, das immer dann verschwand, wenn man es am nötigsten brauchte, und wenn es so war, was versuchte er dagegen zu tun?

Nichts, nichts, nichts tat er dagegen.

Das machte ihn traurig. Er hätte gerne das Bewusstsein verloren, doch er verlor es nicht, und dass er es nicht verlor war gut, wer konnte wissen, ob er es je wiedergefunden hätte?

Doch wozu Pessimismus verstreuen, wo doch gerade alles zur Entfaltung kam. Es geschah ein Wunder, alles was gestern gewesen war, war nur noch Geschichte. Er war nicht mehr allein.

*

Marie hatte einen Plan zu erfüllen. Sie lernte Jörg kennen, sie lernte ihn vor einer Polizeistelle kennen.

Sie hing an seinen Lippen wie manche an trockenen Kichererbsen.

Jörg brannte darauf, ihr alles zu erklären, sie zu beschwören, auf ihn zu hören, ihm zu vertrauen.

Er lachte mit ihr, sang mit ihr, er erzählte viel aus seinem Leben, dass das meiste gelogen war, machte ihr überhaupt nichts.

Ich habe bei der Polizei falsche Fingerabdrücke hinterlassen, meinte er protzig, seine Augen verrieten ihn, sie wollte es nicht sehen, sie wollte seine Stimme hören, seine Stimme, die klang, als hätte sie von allen Fähigkeiten immer die gewählt, mit der man am allerwenigsten rechnete, eine Stimme, die sagte, wir drehen das Ding, doch keine Angst, es ist ganz leicht, wir kommen zu Geld und dann fahren wir um die ganze Welt.

Marie sollte in dieser Kneipe warten, und wenn sie einer einlud, sollte sie mitgehen. Ja und dann, hätte sie fragen sollen, die Frage galoppierte nach vorne, sie war zu schnell für ihre Gefühle. Das wird nicht funktionieren, sagte etwas in ihr. Es wird nicht funktionieren, weil es nicht klingt, als hätte er darüber nachgedacht.

Trotzdem spazierte sie weiter. Sie nannte es für sich spazieren gehen. Sie war früher gerne mit ihrer Oma spazieren gegangen, das hier war wohl so etwas Ähnliches.

Nur mit dem Unterschied, dass dieser Alte immer noch durstig war, durstig nach einem Körper. Verkrampft nach Einfällen suchend, um diesen zu betasten, hätte er alles getan.

Nun ging sie neben ihm und er fasste es nicht, konnte es nicht fassen, es war einfach nicht zu fassen, wie sollte er das fassen, er hatte viel zu wenig getrunken, er musste trinken, um zu begreifen, aber wenn er genug getrunken hatte, zählte nur noch seine Abwesenheit. Wenn er genug getrunken hatte, wollte er nur noch nach Hause, und da würde es ihn nur stören, wenn er nicht allein war.

Der Plan war dumm, er war abscheulich. Sie begriff nicht, was Jörg an diesem Plan so gut fand.

Geilte es ihn auf, dass sie mit diesem Alten durch Gießen spazierte?

Gießen war auch alt, wurde aber modernisiert, ständig grub man in der Stadt etwas aus, schob etwas dazwischen, quälte sich damit, dass es viel zu wenig Diamantengeschäfte gab.

Die Worte bekamen Flügel. Die Worte, die Jörg sprach, lebten nicht von dem, was er sagte, sondern von dem, was er daraus machte, und selbst wenn dieser Plan schlecht war, war sie sicher, dass er hinter irgendeiner Ecke warten würde. Er würde warten, und dann begänne ihr Leben neu. Was mit dem Alten wurde, kümmerte sie nicht, warum sollte sie es auch kümmern?

Jörg liebte sie, er liebte sie auf eine außergewöhnliche Weise. Als sie miteinander geschlafen hatten, hatte er sie angesehen, er hatte sie angesehen, wie man nachts einen Zigarettenautomaten ansah, das hätte sie bei jedem anderen aufgebracht, aber bei ihm weckte es eine Zärtlichkeit, von der sie sicher war, dass er sich lange erinnern würde.

Für ihre Gefühle gab sie alles, sie wusste nie, ob sie ihnen trauen konnte, aber in Frage stellen würde sie sie nie.

Sie vergrub die Zweifel. Es gab keinen Grund zu zweifeln. Jörg war ein Genie. Sie hatte es noch nie mit einem Genie zu tun gehabt, sie hatte mal etwas Platonisches mit einem Zwiebelschneidermeister, aber das war eine andere Geschichte. Sie zweifelte trotzdem, sie war ja noch bei Verstand, aber sie war auf diese Idee gekommen, den Verstand auszublenden.

Sie hätte ihn gerne verrückte Sachen gefragt, sie wagte es nicht, er durfte ja nicht das Gefühl haben, dass sie die Sache nicht ernst nahm.

Sie war in ständiger Verbindung mit ihm.

Er freute sich, feuerte sie an. Jörg war ein Besessener und Besessene waren nicht die schlechtesten.

Er litt ganz sicher darunter, bestimmt schlief er schlecht, aber das war ihr gleichgültig, Hauptsache, sie machte ihn glücklich.

Das war egoistisch. Die ganze Welt war egoistisch, das fing schon damit an, dass man geboren wurde, warum ich nicht, brüllte das Ungeborene, das ist egoistisch. Natürlich war es egoistisch. Ohne Rücksicht kam man auf die Welt und ohne erkennbare Logik setzte man das Leben fort.

Sie zerlegte die Bedenken, sie widersprach der Vernunft und ging mit diesem Alten. Warum auch nicht. Der Alte würde eh nicht durchhalten, er war ein Säufer, er musste saufen, für alles andere war er zu alt.

Er zog einen Popel aus der Nase. Wie widerlich der ist, dachte sie, er weiß noch nicht einmal, was ein Taschentuch alles kann.

Aber das stimmte nicht, er wusste was ein Taschentuch konnte, vor langer Zeit hatte er eines gehabt, aus Stoff, und es war ein Foto von Steffi Graf draufgestickt. Aber irgendwie hatte er es verloren. Dabei hatte er es nie benutzt. Niemals hätte er es seiner Nase gestattet, in die Nähe von Steffi Graf zu schnäuzen.

*

Während andere um ihr Leben würfelten, um eine Nacht, um ein Getränk, das diese Nacht bestimmen sollte, stand Tom kerzengerade vor dem Spiegel und fürchtete nichts, nicht einmal die Unendlichkeit.

Während sich die anderen davonstahlen, herumgingen, lachten, weinten, sangen, drohten, schlugen, maulten, kotzten, liebten, hassten, vergaßen, hüpften, sprangen, träumten, stand er vor diesem Spiegel und fragte ihn nichts. Er brauchte ihn nicht fragen, er sah es doch, er sah sich doch an.

Normalerweise sollte er rausgehen. Doch die Chefin hatte Sonderschichten angeordnet, das bedeutete, dass er samstags arbeiten musste. Immer wenn er seine Chefin sah, hatte er nicht übel Lust, sie zu erschießen.

Er mochte die Frauen nicht, wenn sie auf diese Art existierten, sie dürfen schon existieren, dachte Tom und lächelte. Er lächelte in dieser kühlen Art, so hatte Schwarzenegger als Teminator gelächelt.

Er liebte diese Gestalten, die nur aus den USA kommen konnten. Schwarzenegger war zwar in Österreich geboren, aber er war Amerikaner, er war Amerikaner durch und durch.

Tom blickte auf die Welt, er sah noch immer in den Spiegel, sah auf sein gewachsenes Geschlechtsteil und hätte es am liebsten umarmt, doch er umarmt es nicht, es war noch nicht an der Zeit.

Später sah er aus dem Fenster. Manche waren noch wach, natürlich waren die wach, die mussten ja auch nicht arbeiten, die arbeiteten einfach nichts, trieben sich herum und glaubten Wunder, was sie waren, denen würde er eines Tages den Arsch aufreißen. Von wegen herumhängen, von wegen so tun, als gehörte das alles ihnen, denen gehörte nichts. Ihm auch nicht, aber das würde sich bald ändern.

Er drehte sich nach sich selber um, er fand, dass er atemraubend aussah. Er war ein Symbol für diese Stadt, dabei hatte er in Gießen nichts zu suchen, in dieser Stadt gab es zwei Friedhöfe, aber keine Freiheitsstatue, er blickte voller Verachtung auf diese Stadt, die viel zu klein für ihn war, sein ganzes Leben schenkte er her, für was?

Er trank Whiskey, am liebsten Jim Beam, denn der kam aus den Staaten.

Es gab viele Staaten, er wusste davon, aber es gab nur ein Amerika.

Er liebte die USA, wegen ihrer Kraft, wegen ihrer Power, wegen ihrer Energie. Er liebte sie, weil sie auf dem Mond waren, weil sie den Hamburger erfunden hatten, weil sie cooler waren als alle anderen.

Was sollte er in Gießen? In Gießen war er auf die Welt gekommen, nicht in New Jersey, wenigstens in New Jersey hätte er zur Welt kommen müssen, aber doch nicht in Gießen.

Warum war er nicht einfach wieder zurückgekrochen, zurück in den Raum, in dem er vorher gewesen war, in diese Hülle, diese Wärme, warum hatte er nicht einfach eine heimliche Botschaft an seine Mutter geschickt, bring mich erst zur Welt, wenn du in Amerika bist.

Er hatte es nicht getan, weil er es nicht gekonnt hatte, das musste er einsehen, er war viel zu klein gewesen, er versteckte sich darin, das wusste er nicht, er war viel zu klein gewesen, um es zu wissen, er wusste ja nicht einmal, was Zahlen bedeuteten und wenn du keine Ahnung von Zahlen hattest, brauchst du in Amerika erst gar nicht auf die Welt zu kommen, da machen sie dich ein, und deshalb war es doch gut, dass er in Gießen geboren wurde. In Gießen konnte er lernen was einen Dollar von einer anderen Pflanze unterschied.

In Gießen lernte er laufen, lernte er sprechen, lernte er mit Messer und Gabel essen, lernte er schwimmen, lernte er trinken und in Gießen lernte er schießen.

Auch die Frauen lernte er kennen, an den Frauen fand er vieles gut, nur nicht den Verstand, hatten die Frauen Verstand, machten sie sich lustig über ihn, sie machten sich lustig über ihn, weil er versuchte, über ihnen zu stehen.

Wenn er unsicher war, war es blöd, das mochte er nicht, er hatte dann das Gefühl, er würde seine Würde verlieren, und seine Würde verlieren, das war unfassbar, denn die Würde war unantastbar.

Besonders schlimm waren die jungen Frauen, die existierten nicht für ihn, deshalb waren sie auch nichts wert. Er sah sie nicht besonders gerne, denn sie waren frech, warum waren die frech, man durfte doch zu ihm nicht frech sein. Er war so großzügig, wenn man nicht frech zu ihm war.

Was für eine Nacht und er war nicht draußen, er durfte nicht, dabei könnte er gerade so viel verbessern.

Doch er musste schlafen, so lag er da und wartete, er wartete vergebens, er konnte nicht schlafen, das war dumm, er war unruhig.

Der Wasserhahn draußen in der Küche tropfte.

Doch was gingen ihn die Wassertropfen an. Sie sprangen wild und unnötig vom Wasserhahn ins Spülbecken.

Tom arbeitete als Hilfsarbeiter, er war zu Besserem berufen, aber bislang hatte sich nichts Besseres ergeben. Er wollte die Stadt retten, aber die Stadt ignorierte ihn, das sollte sie ihm teuer bezahlen. Ja, die Schuld hatte die Stadt, er mochte dieses Nest nicht, obwohl er zugeben musste, dass die Stadt sich verändert hatte, es gab Läden, da konntest du Tag und Nacht Patronen oder Popcorn, Cola oder Eis kaufen, das war doch geil, aber so richtig ab ging es in der Stadt trotzdem nicht, da musste man schon selber was inszenieren.

Tom lag auf dem Bett und onanierte, er tat es mechanisch, ohne besonderen Antrieb, er überlegte dabei nichts, er stellte sich nichts vor, nicht einmal, dass er in diesem Moment in den USA sein könnte.

Es war gut, sich zu befriedigen, es war so gut, wie es nicht zu tun, es war auch gut, zu trinken, er hatte noch zu trinken, das war gut.

Tom wäre gerne Boss einer Gang gewesen. Er mochte die Vorstellung, dass jeder auf sein Kommando hören musste, und wehe, wenn nicht, da konnten die sich die Grashalme von unten ansehen.

Sein Bruder studierte, den sah er nie, mit dem wollte er nichts zu tun haben, wenn er aber doch mal was von ihm wollte, zum Beispiel Geld, nervte ihn dessen Gleichgültigkeit, er wollte nicht einmal wissen, wofür. Immer gab er ihm was und nie musste er zurückzahlen, was er sich ausgeliehen hatte. Deshalb hasste Tom ihn, er hasste ihn wegen seiner Freundlichkeit.

Einmal hatte er einen Freund, den hätte er am Anfang beinah getötet, weil er seine Art kopierte, aber später wurde er sein Freund.

Doch zwischendrin hatte der Freund eine Freundin, die Freundin war gegen Tom eingestellt und der Freund war weg, weil er sich entschieden hatte. Aber dann tauchte er wieder auf, er tauchte auf und nahm seinen Platz wieder ein. Er war wieder sein Freund und sie lachten oft, über die Zeit, als der Freund eine Freundin hatte, und nie fragte Tom, warum hast du sie verlassen, aber eines Tages wusste Tom es, er wusste es an der Art wie der Freund lachte, er lachte, wie nur Mörder lachen.

Sie hatten eine gute Zeit, nahmen Massagebäder, drangen in den Wald ein, kletterten auf Bäume, schlugen sich tapfer durch die Nächte, redeten wenig, sie waren einfach nicht zum Reden gemacht, aber dann war er wieder nicht sein Freund, dann konnte von einer Freundschaft nicht mehr die Rede sein. Er war darüber nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich, es war nicht der Rede wert und dann wieder, sie gingen echt los, wie Raketen, manchmal kam zufällig einer auf die Idee, loszugehen und dann gingen sie los, wie schon erwähnt, ohne dass sie redeten, schließlich aber war der Kumpel weg, wohin auch immer, es war Tom ganz gleichgültig.

Tom fand es gut, dass er eine Einstellung hatte, anderen war alles egal, Hauptsache, sie hatten zu kiffen, zu saufen, zu vögeln, Hauptsache, sie konnten das Ende absehen, ohne zu vermuten, dass das irgendetwas mit ihnen zu tun hatte, das langweilte.

Als die Pistolen in die Stadt kamen, war er der glücklichste Mensch der Welt. Sie wurden an die Bevölkerung verteilt, wegen der Übergriffe, zu denen es immer wieder kam, aber lassen wir Tom selbst berichten.

Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, ein freier Mensch zu sein, jeder bekam eine Pistole, natürlich das Billigste vom Billigen, aber man konnte ja andere kaufen, die kosteten dann eben.

Was für ein Tag, als sich jeder seine Pistole abholen konnte, wie dankbar ich war, leider schalten sie schon wieder einen Gang zurück, am liebsten würden sie die ganze Stadt wieder entwaffnen, das ist Politik, es gibt einige, die wollen das nicht, die werden unruhig, mit anderen Worten, die haben Schiss, dabei wurde seitdem seltener geschossen als vorher, das hat mir irgendwer erzählt, der gerade einen erschossen hatte, ich schaute ihn mir genau an, er hatte einen Blick, nach dem ich lechzte.

Am Tag, als die Stadt bewaffnet wurde, gab es hinter dem Zaun Leute, die dagegen protestierten, als er seine Pistole in der Hand hielt, hatte er die Idee, auf sie zu zielen, doch einer der Sicherheitsleute, der wahrscheinlich nicht das gleiche Niveau hatte wie er, stupste ihn an und sagte, das lass mal lieber bleiben.