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Es war Montag und ich musste auf der Hut sein, ich musste ganz ohne Hut auf der Hut sein. Montags gehen die meisten Sachen baden, pleite, gehen die Sachen, die man am Sonntag noch hatte, verloren. Montags ist immer was los, und wenn nichts los ist, schiebt man es auf den Montag. Denn montags ist nie etwas los, ist nie etwas los, ist nie etwas los. Der Montag ist nicht umsonst der Montag, wer am Montag etwas geschenkt bekommt, hat es für sein ganzes Leben.
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Seitenzahl: 108
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So liegen Erinnerungen, Stücke von Erinnerungen, Brachfläche, im Dunkel auf dem Grund ihres Blutes. So geht hin und her um ihn, den Löwen, der krank ist. Kranksein wird nicht besorgt in ihm und vermindert ihn nicht; es schließt ihn nur ein. Wie er so liegt, die weich abgebogenen Pranken ohne Absicht, das hochmütige Gesicht mit der abgetragenen Mähne überhäuft, die Augen nicht geladen, ist er errichtet auf sich selbst zum Gedächtnis seiner Trauer, wie er einst (immer über sich hinaus) seiner Kraft Übertreibung war.
Der Löwenkäfig von Rainer Maria Rilke
*
Zögernd schob ich den Mittelfinger zwischen Ringfinger und Daumen, schaute auf die Zeit, ohne auf eine Uhr zu sehen. Ich brauchte keine Uhr, ich brauchte Zeit. Aber manchmal brauchte ich auch die nicht.
Ich hielt einen Umschlag mit Bewerbungsunterlagen in den Händen, fürchtete, dass jemand in meiner Nähe zittern oder niesen und der Umschlag deshalb verloren gehen könnte. Das geschah nicht, nichts geschah, obwohl sicher alles geschah, wie sollte nichts geschehen, wo doch alles immer noch da war, der Wahnsinn und die Vernunft, die Vergebung und die Vergeltung, der Krieg und der Frieden, die Hoffnung und das Verderben, das Pech und das Glück. Natürlich war auch die Erkältung da und die Nasen, die von dieser Erkältung alles wissen wollten. Aus irgendeinem Grund, war dort, wo ich stand, nichts von all dem, nichts außer meine Schritte, einem Briefkasten, einen Umschlag und die Sorge, etwas falsch gemacht zu haben.
Ich versuchte die Unsicherheit auszuradieren, es gelang nicht, stattdessen fiel mir ein Radiergummi ein. Ich trug ihn in meiner rechten Jackentasche. Wenn ich ihn lange genug mit dem Mittelfinger berührte, dachte ich an eine Malerin.
Sie wohnte in einem kleinen Eckzimmer über einer Kneipe, in der ich manchmal saß. In ihrem Eckzimmer sah es aus wie in einem Palast, in dem es aussah wie in einem Eckzimmer. Es war staubig, wie es sich für ein Eckzimmer über einer Kneipe gehörte. Sie hatte keine Lampe, nur eine Kerze, die das Zimmer noch dunkler machte.
Ich fragte sie, sag mal, warum machst du es dir so dunkel hier. Ich zeigte auf das Licht draußen, sie musste es doch gesehen haben, sie war doch nicht blind, und selbst Blinde wissen von der Helligkeit, sonst wüssten sie ja nichts mit der Dunkelheit anzufangen. Sie sagte, ich bin Malerin, meine Bilder benötigen das Licht, das bekommen sie aus der Dunkelheit.
Sie sagte, das Licht ist nur ein Plagiat, eine billige Kopie, es macht die Dinge sichtbar, die wir vor uns selbst verstecken.
Sie blickte auf die Kerze, sie blickte auf mich, sie sagte, so lange wir uns noch unterhalten können, ist selbst die Dunkelheit schon zu viel, man sollte gar nichts sehen, was wir sehen, ist oft nur ein Hindernis. Sie sagte, wir suchen in den kleinsten Details die größte Entfernung, wenn wir keine Gesichter hätten, wären wir uns noch ähnlicher, wir existieren ja nur deshalb, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass wir genauso gut auch nicht existieren könnten. Ich wusste nicht immer, was sie meinte, aber die Art, wie sie sprach, mochte ich sehr, in ihrer Stimme lag etwas, etwas, das an vergessene Pläne erinnerte, an Pläne, die nur dazu auf der Welt waren, dass man sie einmal aussprach und dann ganz schnell wieder vergaß.
Doch zurück zu mir, ich musste an meine Zukunft denken, ich brauchte einen Job, und deshalb hatte ich meine Bewerbungsunterlagen ausgedruckt und sie in einen Umschlag gelegt.
Den Umschlag hielt ich in den Händen, hatte den Briefkasten erreicht, doch plagte mich Unsicherheit. Ich öffnete den Umschlag, entdeckte einen Fehler im Bewerbungsanschreiben, der leicht zu korrigieren gewesen wäre, doch dazu hätte ich nach Hause gehen müssen und darauf hatte ich keine Lust.
Also sagte ich mir, ist nicht so schlimm, schloss den Umschlag und warf ihn in den Briefkasten.
Einige Tage später saß ich in der Küche, kochte Kaffee, sah aus dem Fenster, beobachtete einen Mann, der bemüht war, ein Taschentuch aufzuheben. Doch das Taschentuch wollte nichts davon wissen. Es zog sich jedes Mal von seiner Hand zurück.
Er trug ein langes Sakko mit dem Emblem der Vereinigten Staaten. Wahrscheinlich kam er von dort und sollte uns beibringen, wie wir zu leben hatten.
Das Taschentuch wirbelte kurz in der Luft. Der Wind bekam es zu fassen, der Mann versagte, er puderte seine Nase mit seinem Versagen. Doch er lächelte, noch lächelte er. Er lächelte kühl, so wie man am Tag einem Einsamen zulächelt, irgendeinem Einsamen, der sein Leben tapeziert mit seiner Einsamkeit.
Die Straße war voller Leute, voller Leute, die über das Problem des Mannes hinwegsprangen, es nicht sehen wollten, nicht sehen wollten, dass er ein Problem hatte, man sah das Problem, es wäre so leicht gewesen, eine kleine Hilfe, eine rettende Hand, doch nichts, diese Menschen taten nichts.
Dem Mann schien das egal zu sein, er hätte die Hilfe der anderen am Ende nicht einmal angenommen, für ihn existierte nur noch dieses Taschentuch. Er wollte es haben, er wollte es unbedingt.
Er trug einen großen grauen Filzhut, einen Hut, der seine Farbe ändern konnte, der seine Farbe aber nicht änderte. Einen Hut, der nur existierte, wenn man ihn nicht verlor; wenn man ihn verlor, schien er zu verschwinden, er war dann kein Hut mehr, aber was war er dann?
Er war ein Hut, der nicht mehr als Hut existierte. So einfach war das. So einfach war das natürlich nicht. Es gab nichts Einfaches in dieser Stadt. Es gab Worte, man nahm sie in den Mund; man nahm sie in den Mund und behielt sie dort, meistens war es besser, sie zu behalten, hin und wieder jedoch kam man damit raus, das änderte nichts, es war genauso wie vorher, als wäre man, selbst als man noch redete, die ganze Zeit sprachlos geblieben.
Er machte keinen Lärm. Er hatte Hände. Warum sollte er keine haben. Aber er hatte keine Hände, die nach etwas greifen konnten, ohne dass sie etwas verloren.
Diese Hände waren sichtbar, sie machten deutlich, dass sie zu ihm gehörten, und deshalb schrie er nicht, schrie nicht, wie Babys schreien, er durfte nicht mehr wie ein Baby schreien. (Babys schrien so, weil sie fürchteten, eines Tages nicht mehr zu schreien.)
Das schien ihn zu schmerzen. Der Schmerz war das Lächeln der Wunde. Der Schmerz war nicht austauschbar, und doch konnte man ihn leicht mit dem Lächeln verwechseln. Das Lächeln sah dem Schmerz ähnlich, obwohl sich beide selten erkannten, sie erkannten die Ähnlichkeit nicht und das war gut, das war ungemein gut, denn es half beim Überleben, und überleben wollte der Mann doch, überleben wollten auch der Schmerz und das Lächeln.
Der Mann war unglücklich, das konnte ich an seinem Lächeln sehen. Die Menschen lächeln immer so, wenn sie nicht wissen, wie es weitergehen soll.
Niemand schien ihn zu beachten, warum auch. Die Leute hatten zu tun. Sie standen in dunklen Jacken vor Bushaltestellen. Sie suchten die Mülleimer nach Pfandflaschen ab. Sie zitterten, weil sie vor etwas Angst hatten. Wovor hatten sie Angst? Was taten sie dagegen? Rauchten sie zu lange an verdorbenen Ecken? Suchten sie dort irgendeinen Sinn?
Was war los mit diesem Mann, brauchte er etwas, von dem er wusste, dass er es nie bekommen würde? Konnten so Jahre vergehen? Epochen? Mit was würde er die Zeit erledigen? Dass er die Zeit mit der Zeit erledigen würde, sagte mir sein Blick.
Sein Blick war farblos, war leer, war nicht zu begreifen, eigentlich existierte sein Blick überhaupt nicht, hatte er einen? Ach, der hatte sicher einen, einen der verschwand, noch ehe er ihn zu fassen bekam.
Er trug dunkle Schuhe; dunkle Schuhe, die noch nie einen Holunderstrauch berührt hatten.
(Woher wollte ich das wissen? Ich kannte diese Schuhe doch gar nicht. Oh ja, das stimmte, ich kannte diese Schuhe nicht, aber ich wusste, wie einer aussah, wenn er einen Holunderstrauch berührt hatte.)
Er hatte es eilig. Warum hatte er es so eilig? Hatte er einen Termin? War dieser Termin so wichtig? Wichtiger als dieses Taschentuch?
Er sollte besser gehen, ruf es ihm zu, sagte ich mir, ich war schon nah dran, das Fenster zu öffnen, man durfte schließlich nicht zusehen, wie einer einen Termin verpasste wegen eines widerspenstigen Taschentuchs.
Ich konnte mich gerade noch festhalten, mir sagen, lass das gefälligst bleiben, was geht dich das an, und überhaupt, willst du denn, dass er geht, du magst es doch, wie er dort unten steht, so ungeschickt, so verlassen, als gäbe es auf der ganzen Welt nur noch dieses eine Taschentuch.
Dieser Mann war hartnäckig, daran war nichts auszusetzen, es kümmerte ihn eben, was auf der Straße lag.
Trotzdem war es seltsam, es kam mir verrückt vor, was war schon daran, es war ein Taschentuch, es war sicher ein gewöhnliches, vielleicht verflucht von der Zeit bis in die Ewigkeit, oder es hatte einen Zauber inne, einen Zauber, der nur schmerzen konnte.
Liebte er den Schmerz? Konnte er ohne Schmerz nicht sein?
Was war das Leben anderes als Schmerz, was war das Leben anderes als Sein, beide gehörten zusammen, ohne dass sie sich ähnlich sein mussten.
Beide weckten das Leben und beide machten es schläfrig und senil.
Die Straße war breit und es konnte so viel dort geschehen und es geschah sicher auch viel, aber mein Fokus war auf diesen Mann gerichtet.
Warum auf ihn, warum nicht auf irgendeine Straßenräuberin oder einen ehemaligen Hausbesetzer, der in kunstvoller Art und Weise erklärte, warum nichts mehr so war, wie es einmal war.
Dieser Mann war nicht fähig, ein Taschentuch aufzuheben.
Was plagte ihn? Schmerzte ein Zahn, schmerzte ein Zahn höllisch? Er hatte vielleicht einen Termin beim Zahnarzt und er dachte daran, dieses Taschentuch mitzunehmen, er konnte es gut gebrauchen, er hatte sicher kein anderes, sonst wäre er nicht so an diesem Taschentuch interessiert.
War es denn überhaupt ein Taschentuch? Es könnte doch auch ein Brief sein. Ein Brief, in dem die ganze Wahrheit über die Menschheit stand.
Wie sollte er so etwas nicht aufheben, das war doch ein Dokument.
Doch es war ganz sicher kein Brief, und wenn es doch ein Brief war, dann stand alles, was in dem Brief stehen sollte, nicht dort, denn das konnte ich sehen, ich konnte sehen, das nichts auf dem Taschentuch geschrieben stand, warum sollte auch etwas auf einem Taschentuch stehen, das ergab doch gar keinen Sinn.
Die Sonne schien auf das Laub, das noch mehr eintrocknete, das noch mehr raschelte, das vor Sehnsucht raschelte, das hinauf wollte zu den Ästen, die davon nichts mehr wissen wollten, die verächtlich auf das Laub schauten.
Der Mann blieb stehen. Er schien seine Lage zu überdenken. Das Taschentuch bewegte sich nicht. Der Mann beugte sich leicht und überheblich zum Taschentuch. Er fegte all die Versuche davor aus seinem Gedächtnis.
Tatsächlich schien alles gut zu gehen. Ich sah, wie er sich dem Taschentuch näherte, und dann hielt er es in den Händen, aber während er es in den Händen hielt, verlor er seinen Hut, und darüber war er so erstaunt, dass er das Taschentuch fallen ließ.
Er sollte den Hut in zwei Hälften schneiden. Er sollte gehen. Er hatte doch wahrscheinlich einen Termin. Ich wusste es nicht, ich war nicht sicher, wie hätte ich es wissen sollen, dazu hätte ich den Mann doch kennen müssen und ich kannte diesen Mann nicht, ich kannte andere Männer, und manche von ihnen arbeiteten in der Brauerei, die aber stillstand, die sich nicht mehr bewegte, und auch die Männer, die einmal in dieser Brauerei gearbeitet hatten, bewegten sich nicht mehr, absoluter Stillstand, nichts zu machen.
Die Menschen tranken kein Bier mehr, sie hoben Taschentücher auf, weil sie sich etwas davon versprachen. Dieser Mann war einer von ihnen. Er zitterte nicht. Er sah sich nicht um, und trotzdem rutschte sein Blick hin und her. Er verharrte und plötzlich schien es, als hätte er eine Erleuchtung.
Er legte den Hut über das Taschentuch.
Er hob den Hut kurz auf und schnappte sich das Taschentuch, steckte es schnell in die Jacke, den Hut zog er auf und verschwand.
Ich drehte den Radiergummi hin und her und dachte an die Malerin. Sie saß damals neben mir an der Theke und fragte:
Was ist, lässt du dich malen?
Wie denn?, fragte ich.
Mit meiner Mutter, sagte sie.
Ich dachte schon nackt.
Natürlich nackt, was ist schon dabei.
Mit deiner Mutter?
Ja, mit meiner Mutter.
Was sagt sie dazu?
Meine Mutter ist tot, ihre Asche liegt in einer Vase. Ich werde dich mit der Vase malen und das Bild Die einsamen Schritte nennen.
Am nächsten Tag stand ich in ihrem Atelier (besser gesagt, einer kleinen Ecke in einem kümmerlichen Teil ihres Eckzimmers). Hielt die Vase fest, dachte daran, an ihr zu lauschen, womöglich würde ich eine Stimme hören, eine Stimme, die nicht unterbrochen werden möchte. Eine Stimme, die alles betrachten könnte und sehr wohl wüsste, wo die Erde anfing und wo alles wieder von vorne begann.