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**Auf wessen Seite stehst du?** Malison Hades ist unerschrocken, gerissen und die beste Kopfgeldjägerin der Unterwelt. Doch als sie auf den mysteriösen Wandler Ethan Bones angesetzt wird, kommen ihr erstmals Zweifel an den Aufträgen ihres Vaters, dem Gott der Unterwelt und der Toten. Zwischen ihrer menschlichen und dämonischen Seite hin- und hergerissen, spürt sie eine magische Verbindung zu Ethan, die etwas zu bedeuten haben muss. Deswegen hilft sie dem seltenen Greif bei der Flucht, anstatt ihn an Hades auszuliefern. Die restlichen Kopfgeldjäger lassen allerdings nicht lange auf sich warten und so beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, bei dem schnell klar wird, dass Hades weitaus mehr von Ethan will als nur seine Seele. Denn Ethan ist der Schlüssel zu einem perfiden Plan, den Hades schon seit langem verfolgt ... Entdecke griechische Götter, mystische Wesen und eine epische Liebesgeschichte! //Diese E-Box enthält beide Bände der magischen Romantasy-Reihe »Hades & Bones«. -- Band 1: Hades & Bones: Tochter der Unterwelt -- Band 2: Hades & Bones: Prinz des Totenreichs//
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Veröffentlichungsjahr: 2024
www.impressbooks.de Die Macht der Gefühle
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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH, Völckersstraße 14-20, 22765 Hamburg © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2024 Text © Anna Lukas, 2023, 2024 Coverbild: Shutterstock.com / ©RGBA / ©KDdesignphoto / ©Trybex / ©Angelatriks / ©Mia Stendal / ©AlexZaitsev / ©RandomizeTH / ©Slay / ©Lukas Gojda / ©Chaikom / ©Mikhail Bakunovich / ©tomertu / Freepik.com / ©rawpixel / ©baglasadesign / ©fastfun23 / ©handmadefont / ©kjpargeter / ©alfonsocabaleiro27 / ©kavicstm / Adobe Stock.com / ©Sasha Covergestaltung der Einzelbände: M. D. Hirt ISBN 978-3-646-61091-8www.impressbooks.de
© privat
Die Autorin Anna Lukas, Jahrgang 1999, lebt mit ihren drei Katzen in der Nähe von Stuttgart, wo sie ihren Master in Online-Marketing absolviert hat. Unter annas.inkspell bloggt die Autorin regelmäßig über Bücher und das Autorenleben. Anna Lukas schreibt seit ihrem zehnten Lebensjahr am liebsten Fantasyromane. Andere Themen, die sie interessieren, sind: Tierschutz, Städte-Reisen und Serien. Doch eine ihrer größten Leidenschaften sind natürlich Bücher.
Vita
Band 1: Tochter der Unterwelt
Band 2: Prinz des Totenreichs
Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Anna Lukas
Hades & Bones: Tochter der Untwerwelt
** Auf wessen Seite stehst du?**
Malison Hades ist unerschrocken, gerissen und die beste Kopfgeldjägerin der Unterwelt. Doch als sie auf den mysteriösen Wandler Ethan Bones angesetzt wird, kommen ihr erstmals Zweifel an den Aufträgen ihres Vaters, dem Gott der Unterwelt und der Toten. Zwischen ihrer menschlichen und dämonischen Seite hin- und hergerissen, spürt sie eine magische Verbindung zu Ethan, die etwas zu bedeuten haben muss. Deswegen hilft sie dem seltenen Greif bei der Flucht, anstatt ihn an Hades auszuliefern. Die restlichen Kopfgeldjäger lassen allerdings nicht lange auf sich warten und so beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, bei dem schnell klar wird, dass Hades weitaus mehr von Ethan will als nur seine Seele. Denn Ethan ist der Schlüssel zu einem perfiden Plan, den Hades schon seit langem verfolgt ...
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Danksagung
Malison
Ich genoss die nächtliche Stille, lehnte mich gegen einen der kahlen Grabsteine und ließ meinen Blick von dem Hügel hinab über die Stadt schweifen. Ab und zu vernahm ich die Sirenen von Krankentransportern und Polizeiwagen, hupende Autos oder die Gespräche von Spaziergängern, die in der Dunkelheit auf versteckten Waldwegen neben dem Friedhof umherspazierten. Santiago de Chile war trotz der dunklen Nacht ein einziges Lichtermeer.
Um die Gräber waberte der Nebel, der sich wie eine streunende Katze an meine Unterschenkel schmiegte. Dennoch schob ich die dunkle Atmosphäre auf dem Friedhof eher auf mein Wesen als auf diesen Ort. Was sollte man als Tochter von Hades auch anderes annehmen?
Hier in den Hügeln war die Luft vollkommen klar und nicht mit Feinstaub und Abgasen versehen wie in den dreckigen Straßen der Großstadt. Im Allgemeinen war die Luft allerdings überall sanfter und angenehmer als in meinem Zuhause, der düsteren, kalten Unterwelt.
Ein frischer Wind peitschte mir entgegen und schmiegte sich eng um meinen Nacken. Ich schloss die Augen und genoss die Brise, während ich die Mischung aus stickiger und frostiger Luft in der Unterwelt aus meinem Gedächtnis verbannte.
Ich zog meine Beine dicht zu mir, als ich auf einmal das Schreien einer Krähe bemerkte. Erschrocken machte mein Herz einen Satz. Ich biss mir auf die Unterlippe und öffnete das rechte Auge vorsichtig, um über den Friedhof zu spähen. Noch hatte ich die leise Hoffnung, dass es sich um einen stinknormalen Raben handelte, der sich auf der Suche nach Kadavern auf einem chilenischen Friedhof verirrt hatte. Ich blickte über den Abhang voller Grabsteine, sah den Tau an den Gräsern und die langsam verblassenden Strahlen des Mondes. Mir fiel ein vermodertes Holzschild ins Auge. Darauf stand: Wir sollten zu unseren Mitmenschen netter sein, solange sie noch am Leben sind, und ihnen nicht erst Blumen bringen, wenn sie längst nicht mehr existieren.
Ich riss meinen Blick von dem Schild los; Menschen waren so sensibel und kleinlich. Selbst wenn ich zur Hälfte zu ihrer Spezies gehörte, verspürte ich keine große Empathie für sie. Aber vermutlich lag das an meiner Erziehung im Reich der Toten und meiner erlernten Gefühlstaubheit.
Erneut kreischte die Krähe auf und riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte nach rechts und entdeckte den Vogel auf einem großen grauen Grabstein, von dem aus er mich mit seinen pechschwarzen Augen anstarrte. Er neigte den Kopf zur Seite und nickte mir mit einer groben Geste zu. An seiner Kehle hatte er einen schneeweißen Fleck.
Verdammt!
Ich öffnete das linke Auge und es bestand kein Zweifel mehr, dass es mein Rabe war.
Ich drehte meine Hand und griff nach dem silbernen Armband, das mit goldenen Anhängern versehen war. Einer davon zeigte einen Kreis und war in der Mitte mit einem Schieberegler und einer versilberten Krähe versehen. Ich packte den Regler und drehte daran.
Blitzartig schoss eine lilafarbene Substanz aus dem Anhänger und verbreitete sich schlierenartig auf dem Boden. Der violette Schleier schlängelte sich auf der Erde entlang, bis er den Grabstein erreichte und langsam zu dem Raben vordrang. Das Tier schrie auf, als der Nebel seine Füße erreichte und sich langsam darum wand. Die Schreie verklangen in einer Wolke, die den Raben geradezu verschluckte, bis der Nebel sich wieder lichtete. Doch da war kein Vogel mehr, der auf dem Grabstein saß, sondern ein junger Mann, der seine langen Beine entspannt hin und her schaukeln ließ und mir ein wissendes schiefes Lächeln schenkte.
»Komm da runter, Dylan«, sagte ich und verdrehte dabei die Augen. »Schon mal was von Respekt vor den Toten gehört?«
Überrascht blinzelte er mich mit seinen braunen Augen an und zog die perfekten Brauen nach oben.
»Wieso?«, fragte er verblüfft, sprang leichtfertig von dem Grabstein herab und landete auf der weichen, aufgewühlten Erde des Grabes. Desinteressiert trampelte er zu mir, die begrabene Leiche unter seinen Füßen kümmerte ihn nicht die Bohne.
»Den Menschen sind ihre Toten eben wichtig«, entgegnete ich schroff; eine wirkliche Erklärung für meine Verteidigung der menschlichen Rituale fand ich selbst nicht. Es war für mich eine reine Platzverschwendung, ein solch großes Grundstück für das Begraben von Leichnamen zu nutzen. Hingegen waren die Städte der Lebenden beengend und knapp an Wohnraum. Wozu die Toten so viel Platz brauchten?
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Dylan, der mit geschmeidigen Schritten auf mich zulief, wobei seine pechschwarzen Klamotten sich mit jeder Bewegung auf und ab bewegten.
»Verstehe ich nicht«, meinte er und warf kurz einen Blick zurück auf das Grab, dann sah er wieder mich an und zuckte locker mit den Schultern. »Am Ende kommen ihre dunklen Seelen sowieso bei uns in der Unterwelt an, dabei ist es egal, ob ihr Körper hier in einem Loch verscharrt wurde oder nicht.«
»Du bist wirklich richtig gefühlvoll«, meinte ich und drückte mich mit den Handflächen am Grabstein ab. Ich richtete mich auf und stolzierte auf Dylan zu. Er war größer als ich, doch durch den Fünf-Zentimeter-Absatz an meinen schwarzen Schuhen standen wir uns Kopf an Kopf gegenüber.
»Was hast du gesehen?«, fragte ich prompt und unterstützte meine Frage durch eine hochgezogene Augenbraue.
»Malison Hades«, tadelte er mich lächelnd, »du kommst immer gleich zum Punkt. Bist du so neugierig auf die neue Seele?«
»Natürlich«, entgegnete ich mit rauer Stimme und einem bösen Funkeln in den Augen. In Wahrheit hatte ich allerdings keine Lust darauf, einen armen Idioten aufzuspüren und ihn eine Etage tiefer zu meinem Vater zu schleifen. Irgendwie erhoffte ich mir langsam mehr von meinem dämonischen Leben. Vielleicht ein schickes Penthouse mit Strandblick?
»Es ist Alex Pars, er besucht gerade auf dem Friedhof seine verstorbene Frau – der ideale Zeitpunkt, um zuzuschlagen«, erklärte mir Dylan und richtete seine Haare, die durch sein Gestaltwandeln kreuz und quer abstanden.
»Was hat er getan?«, erkundigte ich mich neugierig, obwohl ich seine Akte sicher gelesen hatte, und spürte, wie meine menschliche Seite die Oberhand gewann. Dämonen stellten solche Fragen nicht, sie konzentrierten sich nur darauf, die Mission zu erfüllen.
»Was kümmert es dich?«, antwortete Dylan ausweichend mit einer Gegenfrage. »Wenn dein Vater uns seinen Namen genannt hat, dann ist er eine verlorene Seele, die aus der Unterwelt entkommen ist und von uns zurückgebracht werden muss. Das ist unser Job, Malison. Wir sind die Kopfgeldjäger der Unterwelt.«
»Was für eine Ehre …«, murmelte ich und setzte ein gespieltes Grinsen auf.
»Ich führe dich hin«, entgegnete Dylan munter, als würden wir lediglich kurz Kaffeepulver für unseren Chef besorgen. »Dir macht das wirklich Spaß, oder?«, staunte ich und musterte ihn von hinten, als wir losliefen.
Er schenkte mir einen irritierten Blick über die Schulter und kniff die Augen zu zwei skeptischen Schlitzen zusammen. »Selbstverständlich«, sagte er euphorisch und lächelte, wobei der Mondschein schwach auf sein bleiches Gesicht fiel. Dylan war ein Dämon, ein Krieger in der Gefolgschaft meines Vaters Hades, und mir zugeteilt worden, als wäre er ein Hund, für den man einen neuen Besitzer gesucht hatte. Er war mein loyaler, spöttischer Begleiter, den man in der Menschenwelt vermutlich zum »Mitarbeiter des Monats« gekürt hätte. »Ich könnte mir keinen besseren Beruf wünschen; das ist der beste seit siebzig Jahren!«
Ich schmunzelte und unterdrückte ein Kichern, denn Dylan wirkte höchstens wie ein junger Erwachsener, obwohl er um die zweihundert Jahre alt sein musste. Tatsächlich war das schon verdammt jung für einen Dämon, dagegen fühlte ich mich mit meinen dreiundzwanzig Jahren wie ein Neugeborenes.
Den Rest des Weges schwiegen wir. Dylan – auch alle anderen Wesen aus der Unterwelt – verstanden sich nicht im Small Talk. Sie hatten ja auch keine menschliche Seite und damit kein stetiges Bedürfnis nach Kommunikation – diese verfluchten Glückspilze! Ich versuchte mein Menschsein und die damit verbundenen Gefühle bestmöglich zu verdrängen. Es war wichtig, einen klaren Schnitt zwischen mir und der menschlichen Welt zu machen, sonst würde mich meine Menschlichkeit irgendwann übermannen. Also unterdrückte ich jegliches Mitgefühl; laut meinem Vater verdienten die Erdenbürger unsere Gnade ohnehin nicht.
Plötzlich flatterte Dylan in seiner Rabengestalt vor meiner Nase davon und setzte sich auf ein frisches Grab, das noch nicht mit einem Grabstein, sondern nur mit einem kleinen Holzkreuz versehen war. Der goldene Anhänger meines silbernen Bettelarmbands schlug bei jedem Schritt gegen mein Handgelenk und erinnerte mich daran, dass es mir die Kontrolle über Dylans Erscheinung schenkte. Doch diese kleine Freiheit gewährte ich ihm, ich wollte nicht jede Sekunde die Meisterin raushängen lassen.
Auf einmal fühlte ich mich beobachtet. Sorgfältig huschte mein Blick über die Gräber, die aufgebrochene Gittertür am Eingang und die Gebüsche, auf der Suche nach einem Augenpaar eines Höllenhundes. Diese Wesen streiften immer wieder unauffällig durch die Welt – auf der Suche nach Seelen, die sie in die Unterwelt zerren konnten. Zweifel machten sich in mir breit, dass ein Haustier meines Vaters die Seele schneller ausfindig machen könnte als ich. Bei dem Gedanken an ihre messerscharfen Zähne und den fauligen Atem schauderte ich. Sie teilten ihre Beute nicht und wenn ich auf einen dieser Hunde traf, würde es zu einem blutigen Kampf kommen.
Dylan streckte seinen kurzen Rabenhals in die Länge und deutete mit seinem Schnabel auf den Grabstein hinab. Ich trat langsam näher und tastete mit meiner rechten Hand wie paranoid nach dem Dolch an meiner Hüfte, bis ich einen menschlichen Rücken vor dem Stein entdeckte und entspannt aufatmete. Es war lediglich mein nächstes Opfer für die Unterwelt.
Ein paar Regentropfen rieselten vom Nachthimmel herab und fielen auf mein glattes schwarzes Haar. Ich schlich auf Zehenspitzen an die verlorene Seele heran und tippte ihr schließlich behutsam mit dem Zeigefinger auf die Schulter. Sofort wirbelte der Mann herum und blinzelte mich mit überraschten, tränengefüllten Augen an.
»Entschuldigen Sie, aber heißen Sie zufällig Alex Pars?«, prüfte ich gespielt schüchtern und ließ ein sanftes Lächeln auf meine zierlichen Lippen gleiten.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Dylan über meine Sorgfalt die Rabenaugen verdrehte. Ich wollte sichergehen, dass wir die richtige Seele in den Abgrund rissen.
Der Mann schluchzte und ließ seinen Blick wieder über das Grab seiner Frau schweifen, wobei der Regen stärker wurde und seine Haare nässte.
»Ich habe meine Frau dort unten gesehen, wissen Sie?«, sagte er krächzend und blickte mich jetzt mit festem Blick an.
Ich dachte an die Qualen und die Folter in der Unterwelt, von der mir Dylan erzählt hatte. Die Dämonen folterten die Menschen gern mit ihren Erinnerungen, Halluzinationen oder ihrer größten Reue in einer endlosen Schleife.
»Ich habe meine liebe Frau in der Hölle immer wieder vor meinen Augen sterben sehen … Und jedes Mal war ich schuld. Ich konnte sie nicht retten, ich war wie paralysiert. Wieso foltert ihr Dämonen uns so?«
Mir stockte der Atem. Er erkannte mich … mein wahres Ich mit den kleinen dunklen Teufelshörnern und den pechschwarzen Augen, die ich vor den Menschen verbarg. Es musste daran liegen, dass er die Unterwelt inzwischen kannte und die Augen nicht davor verschloss wie die anderen Menschen.
»Das ist nur eine Traumwelt«, entgegnete ich und versuchte erst gar nicht mich herauszureden. Seelen, die von der Unterwelt entkommen waren, sahen danach oft die Dämonen und das Überirdische in der menschlichen Welt. Es war mir ein Rätsel, wie es manche Seelen schafften zu entkommen. In der Unterwelt gab es mehrere Theorien dazu. Meist vermuteten wir einen unaufmerksamen Dämonenwächter oder eine Lücke in einem der Gefängnisse. Mein Vater hatte eine andere Theorie. Er sah darin das Werk seiner göttlichen Geschwister, die den Seelen halfen zu fliehen und ihn damit noch mehr bestraften, als sie es sowieso schon getan hatten. Schließlich war es seine Aufgabe, all diese Seelen wieder einzufangen. »Du darfst dich nicht schuldig fühlen, sonst wirst du auf ewig in der Hölle verrotten.«
Er nickte mehrfach, wobei Tränen seine Wangen hinunterliefen, sich mit den Regentropfen vermischten und von seinem kantigen Kinn tropften. »Aber ich bin schuld an ihrem Tod«, sagte er, während sein Blick wie gefesselt auf dem Grab lag. Nun erinnerte ich mich an seine Akte. Er und seine Frau waren durch einen Autounfall gestorben. Die Seele seiner Frau war längst im Himmel, doch seine Schuldgefühle hielten ihn in der Unterwelt fest und sofern sich das nicht änderte, würde er für ewig in den kalten Fängen meines Vaters verweilen.
Ich verfestigte meinen Griff um das kalte silberne Metall, zog es hervor und ließ die glänzende Klinge neben meinem Oberschenkel ruhen. Ich hatte keine Zeit, für diesen armen Kerl die Therapeutin zu spielen, die Unterwelt erwartete ein Opfer und mein Vater war extrem ungeduldig – genau wie ich.
Ohne mich länger von meinen menschlichen Gefühlen ablenken zu lassen, holte ich mit dem rechten Arm aus und ließ die Klinge auf die verlorene Seele zurasen. Ich traf sein rechtes Schulterblatt und er kreischte auf. Die Klinge drang nicht tief durch seinen Knochen, doch das hatte den jämmerlichen Schrei auch nicht ausgelöst. Es war das Dämonengift, mit dem die Dolchspitze benetzt war. Für Dylan und mich war das Gift ungefährlich, doch für jedes andere Lebewesen war es wie ein Parasit, der sekundenschnell in den Körper eindrang und ihm jegliche Muskelkraft raubte.
Pars kippte nach vorn, das Gesicht fiel in das weiche Blumenbeet. Dann fing der Mann ruckartig an zu zucken, wobei er mich an einen glitschigen Fisch erinnerte, den man aus einem Bach geangelt hatte.
Die teuflische Seite in mir machte sich bereit, meine Schläfen fingen an zu brennen und meine Stirn glühte förmlich. Es waren die zwei kleinen Teufelshörner, die versuchten, sich von dem Bann zu lösen und meine wahre Gestalt preiszugeben. Mit der freien Hand griff ich nach meiner silbernen Halskette und umfasste einen hellblauen Kristallanhänger. Rhythmisch glänzte er magisch auf, bändigte meine wahre Natur kurz und erlosch dann; seine Magie war aufgebraucht. Es wurde Zeit zu verschwinden, bevor meine Hörner sichtbar wurden und uns ein Mensch entdecken konnte.
Als hätte Dylan meine Gedanken gelesen, schoss sein Kopf in die Höhe. Seine dunklen Augen traten aus den Höhlen hervor, während er meine Stirn anstarrte. Reflexartig sprang er von dem Grabstein herab, breitete die langen Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Er flog einen eleganten Kreis, wobei seine pechschwarzen Schwingen wild flatterten, bis er auf meiner Schulter zur Ruhe kam. Er hieb seine lästigen Vogelkrallen in mein Schlüsselbein, was mich fluchen ließ. Ob Dylan es mir wohl erlauben würde, seine Krallen zu stutzen?
»Es wird Zeit, Malison«, dröhnte seine tiefe mystische Rabenstimme in meinem Kopf und ließ mich zusammenzucken.
Ich dachte nicht länger nach, sondern packte die verlorene Seele an der blutenden Schulter und zog den Mann mit einem Ruck dicht zu mir her. Seine blauen Augen starrten mich an.
»Bitte«, wimmerte der arme Kerl.
»Es liegt nicht in meiner Hand«, knurrte ich kaltherzig, als würde diese Ausrede jede Schandtat ausgleichen.
Ich griff nach dem Rubinring an meinem rechten Zeigefinger und drehte ihn einmal um, als der Stein blutrot aufleuchtete und wie ein Alarm blinkte. Es dauerte keine drei Sekunden, bis sich die Nebelschlieren um die Gräber sammelten und scharlachrot verfärbten. Sie türmten sich auf und bildeten eine unheilverkündende Spirale. Es war ein Portal zur Unterwelt, das sich langsam öffnete.
Ich packte den Saum der dunklen Jacke fester, zog den Mann dicht an mein Gesicht und schenkte ihm ein gleichgültiges Lächeln. »Was du in der Unterwelt siehst, hast du dir selbst angetan. Es ist nicht meine Schuld, dass du ein schlechter Mensch bist«, fletschte ich durch zusammengebissene Zähne.
Er öffnete die Lippen, um zu protestieren, doch ich war schneller als sein Mundwerk. Ich ließ seinen Jackenkragen los und schubste ihn mit Wucht grob von mir, wodurch er ins Schwanken geriet und nur noch wenige Zentimeter von dem Portal entfernt war. Dylan sprang leichtfertig von meiner Schulter und flatterte auf ihn zu, um ihm dann mit den spitzen Krallen voran ins Gesicht zu stürzen. Der Todgeweihte schrie auf und schlug mit den Händen wild um sich, während er instinktiv rückwärtslief. Dylans Kraft war nicht gewöhnlich, selbst in der Gestalt einer Krähe schlug er einen Menschen mit Leichtigkeit. Die verlorene Seele hatte keine Chance gegen zwei Ausgeburten der Hölle.
Blut spritzte auf das Grab der Frau, als Dylan seine Krallen aus dem menschlichen Gesicht zog und einen Meter zurückflatterte. Unser Opfer war entstellt. Seine Gesichtszüge waren mit tiefen Kratzern übersät, die Wangen gerötet und mit Blutstropfen besprenkelt und die Augen zerkratzt, sodass er kaum noch etwas sah. Dylan überließ mir den letzten Schlag, der unsere Seele direkt in die Unterwelt und in sein ewiges Gefängnis befördern würde. Mit meinem linken Bein holte ich nach hinten aus, schlug zu und traf mit einer übermenschlichen Wucht auf Alex Pars’ Magengrube.
Unkontrolliert stolperte der Mann rückwärts und fiel mitten in das Portal. Er schrie ein letztes Mal laut auf und stürzte in die Tiefen des roten Strudels, bis die Unterwelt ihn verschluckte und seine Seele aus der Erde riss. Zurück blieb ein lebloser Körper, der wie ein gefällter Baum zur Seite kippte und hart auf den Erdboden knallte.
Meine Augen funkelten triumphierend, während ich an dem Anhänger meines Bettelarmbands drehte und Dylan sich zurück in seine menschliche Gestalt verwandelte.
Er klopfte sich den Staub von den Klamotten, dann schritt er auf mich zu und deutete wie ein Gentleman auf das Portal. »Ladys first«, schnurrte er mit einer verführerischen Stimme.
Ein leichtes Zischen drang aus meiner Kehle. Ich war keine Lady. »Vater wird von unserer neuen Rekordzeit begeistert sein«, rief ich und spürte ein warmes Gefühl des Stolzes in meiner Brust anschwellen.
»Nun, wir gelten ja nicht umsonst als das beste Kopfgeldjäger-Team der Unterwelt«, prahlte Dylan.
Die anderen Dämonen mussten ihn und unseren Erfolg verabscheuen.
Aber er hatte recht, wir waren ein verdammt gutes Duo. Und es wurde Zeit, die Lorbeeren für unseren Erfolg einzusacken.
»Komm schon«, trällerte ich zufrieden, doch es schwang auch ein seufzender Unterton mit. »Gehen wir nach Hause«, entschied ich und machte einen Schritt vorwärts und hinein in das blutrote Portal, das meine dunkle Seele sofort willkommen hieß und jedes meiner Moleküle in sich verschlang, um es in tiefste Dunkelheit zu tauchen.
Bones
Ich genoss die Strahlen des Mondes, die auf meine Gesichtszüge fielen und mir Energie einflößten. Ich war wie ausgelaugt, die Anstrengungen der letzten Tage nagten an meinen Kräften und die Angst verdrehte mir die Sinne. Meine Schwester Cora und ich waren seit zehn Tagen auf der Flucht vor der Unterwelt und ihren Lakaien. Ich dachte an meine Mutter, die uns viel über diese Welt gelehrt und uns vor Hades gewarnt hatte. Sie hatte gewusst, dass er von unserer Anwesenheit erfahren würde, sobald wir nur einen Fuß auf diese Erde setzten. Die Götter hatten sie gewarnt, dass er es auf unsere Magie abgesehen hatte. Aber Cora und mir war keine Wahl geblieben, als in diese Welt zu flüchten. Ich spürte förmlich, wie uns die Zeit wie Sand durch die Hände rann. Meine Schwester würde sterben, wenn wir noch viel länger auf dieser trostlosen Erde blieben.
Ich drückte die Türklinke einer Apotheke hinunter, wodurch eine schrille Klingel läutete und meine Ankunft verriet. Hektisch blickte ich von rechts nach links, um zu prüfen, dass mir niemand gefolgt war. Hinter mir quetschte sich eine ältere Dame, die sich auf ihren hölzernen Laufstock stützte, mühsam durch den engen Spalt. Ich ordnete sie rasch als harmlose Großmutter ein und eilte weiter in Richtung Verkaufstheke.
Mit großen Augen blinzelte mich eine junge Frau an und winkte mich nach rechts zu ihrer Seite. Ein sanftes Lächeln zierte ihre Mundwinkel, doch ihre großen Augen wirkten erschöpft.
»Wie kann ich Ihnen helfen? Was brauchen Sie?«, fragte sie mit einer gedämpften Stimme und klimperte mit den falschen Wimpern. Unsicher schob sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und klemmte sie sich hinter die Ohrmuschel.
Am liebsten würde ich sagen: Ein Portal zu einer magischen Welt, um den Dämonen der Unterwelt zu entkommen. Aber Menschen waren in ihrer Vorstellungskraft so eingeschränkt, dass sie nicht an übernatürliche Kräfte glaubten und die Magie leugneten. Daher wussten nur die wenigsten Sterblichen von Kreaturen wie mir.
Stattdessen erwiderte ich das freundliche Lächeln der Verkäuferin und sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich brauche die stärksten Schmerzmittel, die Sie mir verkaufen können.« Es war nicht das erste Mal, dass ich für Cora Medizin bestellen musste. Seit wir hier waren, litt sie fürchterlich.
Die junge Frau nickte, dann drehte sie sich elegant auf ihrem Absatz um und verschwand hinter ihrem Medikamentenschrank. Ich kramte in meiner grauen Manteltasche, stieß mit meinen Fingerspitzen gegen ein paar kalte Münzen und schob sie sorgfältig auf meine Handfläche, als wären sie aus Glas. Klimpernd zog ich das Geld hervor und legte es auf die Theke, als ich auf einmal eine dunkle Präsenz hinter mir wahrnahm. Bohrende Blicke brannten mir auf den Rücken und benebelten meinen Verstand. Ich war mir nicht sicher, ob ich aus Schlafmangel und Verfolgungswahn halluzinierte oder ob ich tatsächlich in Gefahr war. Es war meine magische Gestalt, auf die es die Unterwelt abgesehen hatte – und sie würde alles tun, um zu bekommen, was Hades sich ersehnte.
Mit flinken Schritten kehrte die Angestellte mit einer kleinen weißen Papiertüte in der Hand zurück und legte sie auf die Theke. Sie ging an ihre Geldkasse und fing an zu tippen, während ich misstrauisch einen Blick über meine Schulter warf. Die alte Dame stand wenige Meter hinter mir und tat so, als würde sie sich die Medikamente in einem Regal anschauen. Ab und zu huschten ihre trüben grünen Augen in meine Richtung und musterten mich abwartend. Ich bildete mir ein, kleine schwarze Pünktchen in ihren Iriden aufblitzen zu sehen, die sich langsam mit dem Grün vermischten und ihren Dämon zum Vorschein brachten.
Ich musste hier weg. Es war egal, ob es Fiktion oder Realität war. Jegliche weitere Sekunde, die ich in den Londoner Straßen verbrachte, erhöhte die Gefahr, entdeckt zu werden.
Eilig packte ich die Papiertüte und murmelte: »Behalten Sie den Rest.« Ich hatte keine Ahnung, ob mein letztes Kleingeld für die Medizin reichte, aber diese Arznei war die einzige Möglichkeit, meiner Schwester Cora auf die Beine zu helfen.
Ich eilte zum Ausgang und riss die sperrige Tür auf, wobei die Klingel erneut ertönte. Dieses Mal kam sie mir lauter vor, als wollte jemand meinen Fluchtversuch verraten. Dann hetzte ich auf die andere Straßenseite, öffnete die Tüte und stopfte die grünen Tabletten in meine Manteltasche. Ich schmiss die schneeweiße Verpackung auf den Asphalt – in diesem Moment war mir mein Überleben wichtiger als die Spuren, die ich hinterließ.
Ich warf einen Blick nach hinten und entdeckte die ältere Dame, die ihren Blick durch die Gegend schweifen ließ. Sie sucht dich, dröhnte mein Unterbewusstsein finster und trieb meinen Herzschlag in die Höhe.
Ich musste verschwinden. Rasch beschleunigte ich meine Schritte, bog nach rechts ab und drängte mich immer mehr in einen Strom aus Menschen, die das lang ersehnte Ende des Arbeitstages erreicht hatten und jetzt in ihre Wohnungen flüchteten.
Ich wurde eins mit der Menge. Dank der Erzählungen meiner Mutter und durch meine Beobachtungen der letzten Tage kannte ich das Verhalten der Menschen ein wenig. Meine Schritte verlangsamten sich, meine Miene wurde finster und mein Verstand versank in der Passivität. Ich verlor das Zeitgefühl, jede Sekunde fühlte sich in die Länge gezogen an. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war, als ich nach rechts in eine Nebengasse ausscherte und der Strom an Arbeitern an mir vorbeizog. Hier war es dunkler, es gab keine Straßenlaternen, die den Weg erhellten, sondern nur die schwachen Strahlen des Mondes. Ob Cora sich wohl schon sorgte? In meinem Herzen breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Wo zur Hölle war ich überhaupt?
Der Geruch von Urin und Abfall stieg mir in die Nase und verstärkte mein Bedürfnis, zu meiner Schwester zu gelangen. Mein Blick schweifte unwillkürlich in die Höhe zu dem tröstenden Vollmond. Dann wanderten meine Augen weiter zu einem Dach und einer verrosteten Feuerleiter. Es war nicht sehr hoch und wirkte wie die optimale Möglichkeit, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Ohne viel darüber nachzudenken, eilte ich zu der Leiter und griff nach der nächstgelegenen Sprosse. Ich sammelte meine Kräfte in den Armen und zog mich mühevoll nach oben, bis meine Füße eine Sprosse erreichten und mir Halt verschafften. Ich drückte mich mit den Füßen ab und verlieh meinem Körper so Schwung, während meine Hände mich immer höher zogen. Nach ein paar Minuten erreichte ich die letzte Sprosse und schob mich über die Dachkante. Schnaufend stützte ich die Arme auf die Knie, harrte kurz eine Minute aus und richtete mich dann auf.
Die Erde entzog auch mir die Lebenskraft, dieser Planet war nichts für magische Wesen wie mich. Die Luft hier war dichter und schwerer, sodass ich den Druck in meiner Lunge spürte und ein ständiges Kratzen in meiner Kehle, als litt ich an einer allergischen Reaktion. Andere übernatürliche Wesen wie Kobolde und Feen nahmen magische Kräuter zu sich, um diesen Druck auszugleichen. Allerdings hatten Cora und ich einfach kein Geld und keine Zeit, um uns diese Kräuter zu beschaffen.
Ich verdrängte die Gedanken an meine Probleme und trottete über das Dach, wobei mir der kalte Wind ins Gesicht wehte. In der Mitte blieb ich stehen und wippte mit den Füßen über den Rand. Der Nachthimmel war von dunklen Wolken verhangen und verfinsterte die Sicht auf London, aber in der Ferne entdeckte ich einen riesigen Uhrenturm und ein rot leuchtendes Rad, das sich drehte und mir Orientierung gab. Der Anblick beruhigte meinen Herzschlag und ließ mich das erste Mal seit Stunden entspannt aufseufzen. Ich entdeckte eine gefleckte Taube, die elegant neben mir landete, ihren Kopf schief legte und mich mit ihren riesigen dunklen Augen anblinzelte, als würde sie mich um Futter fragen. Als Antwort zuckte ich belanglos mit den Schultern, ich hatte seit gestern Abend nichts mehr gegessen und der Hunger verdrehte mir selbst bereits den Magen. Tatsächlich war ich genauso hungrig wie die Menschen – vielleicht eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die ich mit diesen Wesen hatte. Denn ihr seltsames Streben nach Erfolg, nach Beziehungen und Geld, von dem man mir als Kind erzählt hatte, verstand ich nicht. Für mich funktionierte die Welt anders.
Die Taube gurrte verärgert auf und ich bildete mir ein, dass sie ihre Augen zusammenkniff und mich hasserfüllt anfunkelte. Dann breitete sie ihre schlichten Flügel aus, drückte sich mit den Krallen von dem rauen Boden ab und stürzte hinab in die Dunkelheit. Im Sturz fing sie an zu flattern und machte damit eine schwungvolle Kurve und schoss geradezu in den Himmel empor. Sehnsüchtig blickte ich ihr nach. Ich war neidisch darauf, dass sie einfach in die Lüfte flattern durfte und ich an den Boden gefesselt war. Zu meinem Wesen gehörte das Fliegen; ich vermisste den peitschenden Wind unter meinen Flügeln, die beruhigende Stille in den Lüften und das Gefühl der Freiheit. Doch die Menschen durften nichts von der Existenz der Magie erfahren, das hatte ich in meiner Heimat früh gelernt. Selbst wenn ich nicht verstand, warum mein Zuhause untergegangen war, hielt ich mich wie ein braver Musterschüler an die Grundsätze meiner Erziehung und plante nicht gegen die heiligen Regeln zu verstoßen. Gefahr wäre mit jeglicher Offenlegung von Magie verbunden.
Plötzlich spürte ich wieder die Präsenz von Dunkelheit, die mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Ein Dämon, fuhr es mir in den Verstand und alarmierte all meine Sinne. Instinktiv fiel mein Blick nach unten, wo mich pechschwarze Augen trafen und gleichgültig anblinzelten. Mein Herz machte einen Sprung. Dieser Dämon war keine Einbildung und die zwei tödlichen Klingen in seinen Händen ebenfalls nicht. Ein Grinsen schmiegte sich auf die Lippen des Untiers, als es auf mich deutete und schnell rückwärtslief. War es etwa nicht allein? Das Blut schoss mir in den Kopf und erschwerte mir das Denken. Ich musste mich entscheiden: Flucht oder Kampf?
Schlagartig bildete sich ein Riss in der Luft und versprühte blaue Fäden, die sich drehten wie eine Spirale und nach kurzer Zeit ein blaues Portal bildeten. Mein Körper war wie paralysiert und ich konnte keinen Muskel bewegen, obwohl mir mein Verstand zuschrie, dass ich um mein Leben rennen sollte.
In dem strudelnden blauen Portal entdeckte ich auf einmal genau diese pechschwarzen Augen, die mich begierig anstarrten. War das Hades? Oder nur einer seiner Dämonenlakaien? Ich durfte nicht bleiben, um es herauszufinden. Ich schüttelte den Kopf, versuchte mich zusammenzureißen und zwickte mir mit der Fingerspitze in die raue Handfläche, um mich wachzurütteln. Es schien zu helfen, denn ich schaffte es, einen Schritt vorwärtszumachen, dann noch einen und noch einen …
Ich rannte förmlich und ließ die Angst hinter mir. Ich warf einen Blick nach hinten und entdeckte erneut die schwarzen Augen. Inzwischen glitt die Gestalt mit einem Fuß aus dem Portal und zog das andere beschwerlich hinter sich her. Ein bläulicher Schimmer umgab den Dämon – offensichtlich eine Nachwirkung des Portals. Im Mondschein funkelten seine Zähne glänzend, als er mich von der Seite angrinste.
»Ethan Bones«, zischte er mit rauchiger Stimme, die mir die Nackenhaare aufstellte. »Hades würde sich sehr freuen dich als Gast in der Unterwelt begrüßen zu dürfen!«
Wütend schnaubte ich: »Nur über meine Leiche!« Ich hob trotzig das Kinn.
»Das lässt sich arrangieren«, meinte der Dämon trocken, wobei ein düsterer Unterton in seiner Stimme mitschwang.
Der Dämon befreite sich aus den Fängen des Portals und rannte stürmisch auf mich zu. Schnell eilte auch ich weiter, wobei ich dem Ende des Daches gefährlich näher kam und es nur noch einen Ausweg zu geben schien: Ich beschleunigte meine Schritte, raste auf die Dachkante zu und drückte mich schwungvoll ab. Ich flog kurz und näherte mich dem nächstgelegenen Dach, doch mein Anlauf hatte nicht gereicht. Stück für Stück verlor ich an Schwung und glitt langsam hinab in den todbringenden Abgrund. Ich malte mir aus, wie ich auf dem dreckigen Asphaltboden Londons verendete – mit einem Genickbruch und einem zerquetschten Hinterkopf. Daher vergaß ich für eine Sekunde jegliche Vorsicht, breitete wie in Trance die Arme aus und presste die Augenlider aufeinander. Dabei waren die Regeln meiner Welt einfach gewesen:
1. Halte dich von der Erde fern oder Hades wird dich holen.
2. Falls du jemals in einer anderen Welt landest, verhalte dich unauffällig.
3. Beschütze deine Familie – um jeden Preis.
Ich konzentrierte mich auf die Magie in meinem Körper, die durch jeden Winkel verlief und mich so kostbar für die Dämonen machte. Ich spürte, wie an meiner Haut langsam die hellbraunen Federn zum Vorschein kamen und sich meine Knochen unter dem Zwang der Magie verformten. Durch einen magischen Zauber verband sich die Kleidung mit meinem menschlichen Körper und verschwand. Ich atmete tief ein und aus – es schien das erste Mal seit zehn Tagen, dass sich wirklich Luft in meiner Lunge sammelte und vereint aus meiner Luftröhre gepresst wurde. Mein Körper war jetzt wesentlich größer, wodurch meine rechte Flügelspitze gegen die Betonwand stieß und kurz daran entlangkratzte, bis ich mein Flügelpaar dicht zu mir herzog und dann mit Schwung den Staub unter meinen Krähenfüßen aufwirbelte. Ich kreischte, es fühlte sich so gut an, sein wahres Ich zu zeigen. Dann stieg ich auf in die Lüfte und schoss an der Dachkante vorbei, an die mein Verfolger eben herantrat. Er wurde durch die Wucht des Windes nach hinten gefegt. Sofort zuckten die Mundwinkel meines Schnabels amüsiert nach oben.
Ich wollte höher fliegen, aber mein Innerstes wusste genau, dass das nur für Probleme sorgen würde. Zu hoch am Sternenhimmel könnten die menschlichen Flugzeuge meine Flugbahn kreuzen oder neugierige Leute meine Existenz bemerken. Daher zwang ich mich, die Flughöhe von drei Metern über den Dächern nicht zu überschreiten. Ich hatte keine Ahnung, ob ich damit die zweite Regel meiner Heimat einhielt und tatsächlich unauffällig war. Doch es war meine einzige Möglichkeit zu entkommen.
Hinter mir hörte ich den Dämon laut fluchen. Ich warf einen Blick zurück und entdeckte gerade noch, wie er zu seinem Portal eilte und hindurchsprang. Ich ahnte nichts Gutes, Dämonen waren zu stur, um kampflos aufzugeben.
Mein Instinkt hatte richtiggelegen, denn nur wenige Sekunden später bildete sich ein neues Portal unter mir. Ich verstärkte den Schlag meiner Flügel und nahm Fahrt auf, während sich das Portal dieses Mal rascher formte und den dunklen Dämon hervorbrachte.
Er sprang hinaus, eilte auf mich zu und stach mit seinen im Mondlicht glänzenden Dolchen in die Luft, in der Hoffnung, einer meiner Füße zu erwischen. Schmerz durchzuckte mich wie ein Blitz, als er sein Ziel traf und seine Dolchspitze sich in eine meiner drei Vorderzehen bohrte. Die Schwerkraft zog den Dämon zurück auf den Boden, wodurch die Klinge mit ihm nach unten gerissen wurde und mein ganzes Fleisch aufriss. Ich kreischte laut, während das Blut aus meinem Zeh schoss und auf den Dächern eine scharlachrote Spur legte.
Doch ich hörte nicht auf weiterzufliegen. Stattdessen hatte ich durch den Schmerz neuen Antrieb gefunden und flatterte flink zum nächsten Dach. Der Dämon versuchte mir erneut durch ein Portal zu folgen, doch dieses Mal konnte er nicht mithalten. Wir spielten dieses Spielchen eine ganze Weile, bis ich einen erheblichen Vorsprung erreicht hatte und sich mein Verstand langsam in Sicherheit wiegte.
Plötzlich hörte ich ein zischendes Sirren und blickte nach rechts, als ich einen Dolch auf mich zufliegen sah. Erschrocken schnappte ich nach Luft und versuchte mich zur Seite zu wenden, um der tödlichen Klinge zu entkommen, aber sie war zu schnell und traf mich in die Bauchflanke. Ich jaulte auf. Der Dolch bohrte sich tief in mein Fleisch; ich war mir sicher, dass er von einer Hexe verflucht sein musste. Ich entdeckte eine dunkle Schnur, die sich fest um den Dolch gewunden hatte und sich jetzt straffte. Ein mächtiger Ruck brachte mich aus dem Gleichgewicht und ließ mich fallen. Jemand musste an dem Seil gezogen haben und ich würde bald herausfinden, wer das war …
Ich stürzte in die Tiefe, versuchte verzweifelt mit meinen Flügeln zu flattern, aber vergeblich …
Krachend schlug ich mit dem rechten Hinterbein auf dem Beton auf und verstauchte mir das Bein. Ich unterdrückte ein Keuchen. Ich würde es diesen dreckigen Dämonen nicht erlauben, sich an meinem Leid zu laben.
Ein zweites Mal durchzuckte mich der Schmerz, aber jetzt in meinen Vorderbeinen und schwächer. Es war wie ein brennendes Piksen, das sich in meinem Körper ausbreitete und gemächlich ein betäubendes Gefühl auslöste. Ich hob die linke Tatze, fuhr über die Wunde und spürte einen winzigen metallischen Gegenstand. Ein Betäubungspfeil, durchfuhr es mich. Mein Herz raste und ich nahm das Pulsieren in meinen Ohren wahr. Ich wusste nicht, um welches Gift es sich handelte, aber in einem war ich mir sicher: Ich musste von hier verschwinden, bevor mich die Wirkung ausknockte und hilflos zurückließ.
Ich hatte meinen Orientierungssinn verloren. Mein Federkleid war völlig durchnässt, da ich in einer schmutzigen Pfütze gelandet war. Ich hob den Kopf leicht an, wodurch ein paar Tropfen von meinen Federn auf den Boden fielen. Ich kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen, und entdeckte zwei grinsende Dämonen in schwarzen Lederjacken, die abfällig auf mich herabblickten.
»Was soll das sein?«, entgegnete der eine und räusperte sich.
»Ein Greif«, meinte der andere mit geschärfter Stimme und einer Spur von Genervtsein. »Kleiner Klaus, lies endlich die Berichte, bevor wir zu einer Mission aufbrechen«, knurrte er seinen offensichtlich jüngeren Kollegen an.
»Du bist so ein Spielverderber, Nikolai«, konterte Klaus und machte mit seiner rechten Hand eine abfällige Bewegung. »Außerdem habe ich mir die Berichte sehr wohl angeschaut! Für diesen Greif kriegen wir unsere Freiheit zurück – egal ob tot oder lebendig!«
»Falsch«, knurrte Nikolai streng. »Lebendig erwartet uns zusätzlich unendlicher Reichtum.« Sein Blick wanderte weiter zu mir, wobei er seine dämonischen Augen zusammenkniff und eindringlich meine Greifengestalt musterte. »Du bist dem König der Unterwelt viel wert, oder, Ethan Bones?«
Ich hatte keine Lust auf Small Talk – weder mit Menschen noch mit Dämonen. Das Gift breitete sich immer mehr in meinen Adern aus und vergiftete jegliche Zellen, sodass es mir bald schon schwerfiel, die Krallen auf- und abzubewegen. Sicherlich handelte es sich um ein paralysierendes Gift, das mir letztendlich die Kontrolle raubte. Meine Muskeln brannten vor Erschöpfung und sehnten sich nach Ruhe, also gewährte ich ihnen diese Auszeit und ließ mich zusammensacken. Zwar nicht die schlaueste Taktik angesichts des Giftes in meinem Kreislauf, aber für meinen Plan war es essenziell.
Ich senkte den Kopf und landete in einer weiteren Pfütze – einer Mischung aus Wasser und Milch. Wer zum Hades verschüttete in Londons Straßen Milch?
Ich schob diese Frage vorerst beiseite und konzentrierte mich auf meinen Plan. Ich sollte mich tot stellen oder geschwächt wirken, sodass sie mich unterschätzten, ganz dicht vor mir standen und ich sie nur noch packen musste …
Ich konzentrierte mich darauf, meinen Atem flach zu halten und mich nicht zu bewegen. Meine Lider hielt ich zusammengepresst, aber mit dem linken Auge schielte ich durch einen dünnen Spalt vorsichtig zu den Dämonen. Sie blinzelten mich irritiert an, Klaus zuckte verwundert mit den Schultern und warf Nikolai einen ängstlichen Blick zu. »Vielleicht habe ich zu viel Schlangengift benutzt?«, fragte er vorsichtig, als fürchtete er, Nikolai könnte ihn zur Strafe Hades’ Höllenhunden zum Fraß vorwerfen.
»Hm …«, brummte Nikolai nur nachdenklich und ich hörte trotz der Entfernung, wie Klaus nervös atmete.
Dann trottete Nikolai in meine Richtung, hielt einen Meter vor mir an und begann mich mit großen Schritten zu umkreisen. Dabei machten seine schweren dunklen Lederstiefel ein Geräusch, das wie ein schrilles Lied klang.
»Ich glaube, er atmet«, knurrte Nikolai mit einem zufriedenen Unterton.
Aus dem Augenwinkel konnte ich das Aufleuchten seiner eisblauen Iriden erkennen. Vermutlich sah er die goldenen Schätze der Unterwelt bereits vor seinem inneren Auge erstrahlen. »Bring mir das magische Fischernetz. Es wird Zeit, unsere Belohnung abzusahnen«, befahl er dem anderen und deutete mit einem Kopfnicken auf einen braunen Jutebeutel, der in Klaus’ Nähe stand. »Wir werden mit diesem Fang in die Dämonengeschichte eingehen – als die gefürchteten Gebrüder Sergei!«
Wenn die beiden glaubten, einen Greif so leicht unter Kontrolle bringen zu können, waren sie noch dümmer, als sie in ihren identischen schwarzen Lederjacken aussahen.
Klaus griff nach dem Beutel und zog ein langes Netz hervor, das mindestens fünf mal fünf Meter maß. Die schwarzen Fäden waren mit einem glitzernden silbernen Glanz überzogen, der sicherlich das Werk einer Hexe war. Das Ding war eindeutig verzaubert und würde meinem geschwächten Körper den Rest geben.
Der jüngere Bruder kam nun ebenfalls auf mich zu und präsentierte Nikolai das Fischernetz. »Du weißt, dass Malison erfolgreicher ist als wir? Sie gilt immerhin als die berüchtigtste Kopfgeldjägerin und …«
»Schluss damit!«, brüllte Nikolai ihn an, schritt auf ihn zu und packte ihn grob am rechten Ohr. »Kein Wort mehr über Malison oder andere Jäger. Wir werden die Nummer eins sein und das lassen wir uns nicht kaputt machen!«
»Aber …«, meckerte Klaus, wurde vor Ärger leicht rot im Gesicht und schlug Nikolais Hand von sich. »Sie ist nun mal besser als wir!«
Jetzt schien Nikolai vor Wut zu kochen, seine blauen Augen funkelten seinen jüngeren Bruder hasserfüllt an und aus seinen Ohren schien fast Dampf auszutreten. Ich wusste nicht, wer Malison war, aber ich war ihr unendlich dankbar. Nicht nur, weil Nikolai und Klaus sich von ihr unterkriegen ließen, sondern auch, weil die beiden Schwachköpfe in ihren Streit vertieft waren und mir damit die bestmögliche Fluchtmöglichkeit boten.
Ich nahm die Tatzen zusammen, atmete tief ein und aus und sammelte meine letzten Kräfte in den Beinen. Dann sprang ich in Sekundenschnelle auf und stieß mich mit den Hinterbeinen vom kahlen Boden ab, um an Klaus zu gelangen. Ohne zu zögern, bohrte ich meine messerscharfen Krallen in seinen breiten Unterschenkel und riss ihn damit zu Boden. Das Gift in meinen Adern brannte und zehrte an meinen Kräften, doch das Adrenalin hielt mich vorerst wach. Nikolai schrie zornig auf, rannte auf mich zu und breitete das Fischernetz aus, in dem er sich fast verhedderte. Doch ich war flinker. Ich ließ meinen Schweif nach rechts ausscheren und auf den Dämon zurasen. Ein erstauntes Keuchen drang aus seiner Kehle, als mein fedriger Schweif ihn zu Boden riss. Seine Hand wanderte zu seinem Hinterkopf, der eine scharlachrote Färbung angenommen hatte und im Mondlicht glänzte.
Ich reckte mich und streckte meine immer schwächer werdenden Muskeln, dann schüttelte ich mich und aus meinem Federkleid flogen Hunderte Regentropfen. Ich warf den Brüdern einen wütenden Blick zu, dann verlagerte ich mein Gewicht auf die Hinterbeine und stieß mich kraftvoll vom Boden ab. Ich legte die Flügel an und streckte sie erst, als mich mein Schwung verließ. Sie hoben und senkten sich rhythmisch, allerdings musste ich darauf achten, nicht an die Betonwand zu stoßen. Ich erreichte bald die Höhe der Dächer und glitt dann unauffällig wie ein dunkler Schatten über die Häuser. Ich wollte so viel Abstand wie möglich zwischen mich und die Gebrüder Sergei bringen. Außerdem musste ich zu Cora gelangen, sie war bestimmt schon krank vor Sorge … und geschwächt.
Ich flog etwa seit zehn Minuten, als ich schleichend das Gefühl in meinen Hinterbeinen verlor. Ich stoppte meine Schwingenschläge und ließ mich durch die Lüfte gleiten, bis ich immer näher an die Dächer geriet und die Flügel wie einen Fallschirm ausbreiten konnte. Sanft landete ich auf einem der Dächer, wobei mein verletztes Hinterbein schmerzte. Ich zog mich zu einer Kugel zusammen und blickte auf die hektischen Straßen Londons. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Kilometer ich zwischen die Dämonen und mich gebracht hatte, aber es musste reichen.
Noch verwandelte ich mich nicht zurück in meine menschliche Gestalt. Denn wenn sie kamen, musste ich bereit sein. Ich war gespannt, wen die Unterwelt als Nächstes auf mich ansetzte. Vielleicht diese Malison? Ein aufgeregtes Kribbeln durchfuhr meine Zellen. Wenn sie die beste Kopfgeldjägerin war, konnte ich es kaum erwarten, ihr über den Weg zu laufen und mich der Herausforderung zu stellen.
Ich wollte zurück zu meiner Schwester, doch das Gift entfaltete nun seine volle Wirkung und entriss meinem Körper jegliche Kraft. Langsam fielen mir die Augenlider zu. Sollte Hades doch so viele Dämonen schicken, wie er wollte, mich bekam er nur über meine Leiche in das dreckige Loch namens Unterwelt.
Malison
Triefender rötlicher Sabber legte sich um meinen gesamten Körper, als ich durch das Portal hindurch in den Eingangsbereich der Unterwelt gelangte und die magische Wucht des Weltenwechsels mich zu Boden riss. Ich hasste Portalreisen! Jedes Mal kam in mir der dringliche Wunsch auf, stundenlang zu duschen, um die magische Substanz von meinem Körper zu bekommen.
Die rötliche Flüssigkeit breitete sich auf dem Boden aus und beschmutzte den frisch gewienerten Marmorboden. Wenn das Millie erfuhr, war ich geliefert. Die Sekretärin verabscheute das Putzen und sah es als ihre persönliche Höllenstrafe.
Vor dem Zimmer meines Vaters lag der Empfangstresen, an dem die übereifrige Millie gerade saß und alle Termine und Besprechungen für meinen Vater plante. Daneben befanden sich die Zimmer meiner Halbschwester Caitlyn, von Dylan und mir sowie von ein paar loyalen jahrhundertalten Dämonen. Laut meinem Vater durfte hier nur die Familie und treu Ergebene wohnen.
Geradeaus vor mir befand sich das Tor zu den Seelen. Es war eine riesige magische Pforte, die an beiden Seiten von vier Dämonen streng bewacht wurde. Dahinter war ein blaues Portal, das direkt zu den Seelen und ihren Gefängnissen führte. Dagegen war dieser Teil der Unterwelt ein Paradies.
Plötzlich kamen drei Wachen auf mich zugelaufen, deren Rüstungen bei jedem Schritt klapperten. Ihre kalten schwarzen Augen waren auf die verlorene Seele gerichtet. Pars stand hinter mir, seine Haut hatte nun einen geisterhaften Schimmer und die Augen blickten leblos um sich. Dennoch war seine Seele hier unten so greifbar wie ein Mensch, weshalb Dylan ihn mit einem Messer an der Kehle in Schach hielt.
Schlagartig fiel mir ein, dass ich immer noch wie ein Kadaver auf dem Boden lag, und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Verwirrung trat in die Augen der Dämonen, als sie mich erblickten, wobei ein paar verärgert den Kopf schüttelten. Peinlich berührt liefen meine Wangen rötlich an.
Als Mischling war ich nicht sonderlich angesehen, selbst als Tochter von Hades. Daher bekam ich oft die abfälligen Blicke meiner Kollegen zu spüren und Begriffe wie Halbblut oder Abschaum an den Kopf geworfen, doch mehr trauten sie sich nicht. Auch bei den Dämonen fanden sich Unterschiede. So gab es die unreinen Dämonen, die als schuldige Seelen in die Unterwelt kamen. Sie wurden zu Dämonen, in dem sie entweder durch jahrelange Folter den Verstand verloren oder sich durch einen Schwur gegenüber Hades verpflichteten. Ab und zu konnte ihre menschliche Seite noch zum Vorschein kommen. Hingegen waren reinblutige Dämonen wesentlich beliebter in der Unterwelt. Sie wurden aus Hades’ Magie und Zorn geformt, ohne jegliche Seele, und empfanden keinerlei Empathie. Dylan war einer von ihnen, aber für mich war es unerklärlich, wie er dennoch recht menschlich wirkte. Oder war Vater hier ein Fehler widerfahren?
Hier in der Unterwelt konnte ich meine kleinen schwarzen Teufelshörner nicht verstecken, die mein Wesen verrieten. Die anderen Dämonen hatten stattliche Hörner, die doppelt so groß waren und von der Stirn aus in die Höhe ragten. Nur Caitlyn, Dylan und ich hatten kleinere. Meine Schwester und ich waren Halbblüter, während Dylan sich seine Hörner zum Trotz hatte schleifen lassen, um mir beizustehen. Er nahm seine Aufgabe als Partner und Diener offensichtlich sehr ernst.
Ich eilte an Dylans Seite und vergrub meine Finger in den Saum von Alex‘ Jacke. »Ich darf doch, oder?«, fragte ich ihn keck mit einem frechen Grinsen.
Dylan zog sein Messer zurück, er wusste, dass ich mich vor den anderen Dämonen beweisen musste.
»Halbblut?«, entgegnete der oberste Dämonenführer Ian und kniff seine Augen skeptisch zu zwei Schlitzen zusammen. »Du bist ja schon zurück. Hast du die verlorene Seele etwa nicht gefunden und irgendeinen unschuldigen Menschen in die Unterwelt gerissen?«, zog er mich auf, während hinter ihm zustimmendes Gemurmel ertönte.
»O doch!«, beteuerte ich und zog Alex dichter zu mich her. »Darf ich vorstellen? Alex Pars, Seele Nummer viertausend in einer Rekordzeit von nur zehn Minuten«, prahlte ich und hob trotzig das Kinn.
Ian funkelte mich verärgert an und schaffte es nicht, den Mund zu öffnen, also ließ ich Alex los und stieß ihn am Rücken vorwärts, sodass er in Ians Arme stolperte.
Neben mir lachte Dylan erfreut auf.
»Nicht schlecht«, gab eine andere Wache zu, wodurch er sofort mit einem bösen Blick seines Dämonenführers bestraft wurde.
Ian richtete sich auf und trieb Alex wie ein verlorenes Schaf in die Mitte der Dämonen. »Das ändert gar nichts, Halbblut«, blaffte er mit tiefer Stimme, dann wandte er sich von uns ab und verschwand mit seinem Gefolge in Richtung Seelenportal. Ich warf Alex noch einen letzten mitfühlenden Blick zu, dann begrub ich meine Gefühle wie eine Leiche unter der Erde.
Ians Worte verärgerten mich und beschleunigten meine Schritte, wobei das Klackern meines Absatzes laut in der hohen, gewölbten Decke widerhallte. Ich entdeckte eine Whiskyflasche an Millies Tresen und steuerte wie eine Abhängige darauf zu.
»Ich darf doch, oder, Millie?«, fragte ich, während ich bereits nach dem Flaschenhals griff, den Deckel aufschraubte und ihn irgendwo in die Ferne kickte. Statt mir eins der Whiskygläser zu nehmen, erlaubte ich mir direkt einen Schluck, wodurch die Flasche blubberte und Millie mein lautes Schlucken vernahm. Die Flüssigkeit rann meinen Hals hinab und hinterließ ein warmes, brennendes Gefühl. Ich entfernte die Flasche von meinen Lippen und stöhnte zufrieden auf. »Gibt es etwas Besseres, Millie?«, reizte ich sie und hob provokativ die rechte Augenbraue. Die Whiskyflasche war für ihre wartenden Kunden und sie machte es immer rasend vor Wut, wenn ich mir einen Schluck nahm.
»Malison«, sagte sie süßlich. »Deinem Vater wird es sicherlich nicht gefallen, dass du eine immer größer werdende Alkoholsucht entwickelst.«
»Millie«, erwiderte ich und versuchte es mit einer genauso falschen sanften Stimme. »Daddy hat selbst Alkoholprobleme. Außerdem ist es maximal eine Whiskysucht … Als ob ich billiges Bier trinken würde.«
Die Sekretärin beugte sich auf ihrer grauen Theke nach vorn und öffnete gerade den Mund, um weiterzuplaudern, als die Gebrüder Sergei die schwere Eingangstür aufstießen und in Richtung Wachen eilten. Sie zogen alle Blicke auf sich. Nicht wegen des bläulichen Schleims von der Portalreise, sondern wegen Nikolais blutenden Hinterkopfs und Klaus‘ dreißig Zentimeter breiter Wunde in einer Wade.
»Heiliger Hades! Was ist denn mit Klaus passiert? Der sieht aus, als hätte ihn ein Nilpferd gebissen«, bemerkte ich beiläufig und erntete ein ermahnendes Zischen von Millie. »Ist doch die Wahrheit«, meinte ich scharf, dieses Mal aber leiser.
Ich bemerkte Dylan, der sich mit einer der Wachen unterhielt und sich dann den Gebrüdern Sergei zuwandte.
»Dieser verdammter Bones! Verflucht sei er!«, schrie Nikolai, der schon immer der launischere der beiden Brüder war. Dylan sah überrascht drein, suchte dann meinen Blick und verdrehte unauffällig die Augen. Leise kicherte ich los, allerdings bemerkte es die korrekte Millie sofort und kniff die Brauen zusammen.
Ich entschied mich dazu, der offenbar misslungenen Mission der Brüder den Rücken zu kehren, und lenkte meine Konzentration erneut auf die Sekretärin. Ich rückte näher an die Theke und stützte meine Ellbogen auf den glatten Tisch. »Ich muss mit meinem Vater reden«, erklärte ich ihr ohne Umschweife und kniff herausfordernd die Augen zusammen.
»Hades hat mir ausdrücklich gesagt, dass er heute niemanden sehen will – das schließt dich mit ein«, sagte sie mit einer sanftmütigen Stimme, doch in ihren braunen Augen glänzten Triumph und Selbstzufriedenheit.
»Er wird mich sehen wollen.« Ich hatte nicht vor locker zu lassen.
»Du siehst ihn vermutlich öfter als sonst wer«, entgegnete sie schroff.
»Oh, der Vater des Jahres«, entgegnete ich kühn und versteckte das Stechen in meinem Herzen.
»Als König der Unterwelt hat er viele Pflichten und nicht ständig Zeit für deine kindischen Angelegenheiten. Er will heute seinen freien Tag genießen.«
»Tja, man bekommt nicht alles, was man will«, blaffte ich und hob amüsiert den rechten Mundwinkel.
Millie seufzte genervt auf. »Du wirst nicht gehen, bevor ich dich zu ihm reinlasse, oder?«
»Verdammt richtig!«
Millie beugte sich zu einem roten Knopf vor und drückte drauf, wodurch sich die Eingangstür zu meinem Vater öffnete. Ich wandte mich von Millie ab und wollte zu Hades stolzieren, als sie noch sagte: »Er wird nicht erfreut sein, weißt du? Vielleicht solltest du dir einfach eine andere Familie suchen, wenn du dein menschliches Verlangen nach Liebe stillen willst. Die wirst du bei ihm nicht finden.«
»Ich trage nun mal seinen Namen und bin seine Tochter. Was erwartest du von mir? Dass ich aufgebe?« Meine Stimme wurde unbeabsichtigt heiser und meine Luftröhre fühlte sich auf einmal enger an.
»Manche Wesen kann man eben nicht retten«, meinte sie nur und strich sich ein Haar aus dem Gesicht, das sich an einem ihrer schwarzen Hörner verheddert hatte.
»Man muss es zumindest versuchen«, sagte ich stur und schritt schnurstracks auf das Zimmer meines Vaters zu.
Kalte Luft begrüßte mich und schlängelte sich um meine Haut. Mein Herz schlug unwillkürlich höher. Vor anderen konnte ich meine Angst verstecken, aber nicht vor mir selbst. Ich biss mir auf die Unterlippe und atmete tief ein und aus, doch nichts schien mein wild schlagendes Herz zu beruhigen.
»Was willst du, Kind?«, dröhnte die Stimme meines Vaters dunkel und hallte durch den ganzen Raum.
Es gab nur wenige Möbelstücke, da er davon nicht viel hielt. Wir waren in seinem Wohnzimmer, das einzige Zimmer, das ich aus seiner riesigen Wohnung kannte. Rechts von mir befand sich ein langer, edler Holztisch, der schon seit Ewigkeiten nicht mehr mit Gästen glänzte. Am Ende des Zimmers brannte ein Feuer in einem Marmorkamin, der die einzige Wärmequelle war. Mein Vater liebte die Kälte und die Unterwelt war eine schreckliche Mischung aus Hitze und Frost.
Ganz links in einem modrigen braunen Sessel entdeckte ich Hades, wie er sich nach vorn beugte und nach einem frischen Glas Whisky auf einem kleinen Glastisch griff, um sich dann wieder schwer in seinen Sessel zurückfallen zu lassen.
Er sah nicht gesund aus. Er trug ein lockeres T-Shirt und eine lässige Hose, wobei die Haut an seinen Armen und am Gesicht wie erfroren wirkte. Sein Blick war kalt auf das wärmende Kaminfeuer gerichtet. Trotz seines muskulösen Oberkörpers sah er schwach aus, als hätte das Leben ihn gebrochen. Aber der äußere Schein trog. Ich hatte schon zu oft erlebt, wie er Dämonen aus ihrer Existenz riss und sie zu Staub verwandelte. Ich hatte seine Kraft am eigenen Leib erlebt, als ich in einer winzigen Mission, der Tötung meiner Katze Whiskers, kläglich gescheitert war. Seitdem hatte ich den Stubentiger bei einem liebevollen Menschen versteckt und jeglichen Befehl meines Vaters erfolgreich ausgeführt. Ich wollte mich seiner würdig erweisen, um eines Tages Hades’ Platz auf dem Thron einzunehmen. Seit der Rettung meiner Katze hatte ich ihn nie wieder enttäuscht.
»Ich habe eine neue Rekordzeit aufgestellt: zehn Minuten für das Fangen einer Seele«, berichtete ich stolz und konnte das nervöse Zittern meiner Stimme nicht unterdrücken.
»Mach daraus fünf Minuten, dann kannst du wiederkommen«, brummte er verärgert und blickte weiterhin in sein blödes Feuer anstatt zu mir.
»So schnell war noch keiner deiner Dämonen«, erinnerte ich ihn vorsichtig.
»Du bist meine Tochter! Von dir erwarte ich auch keinen Durchschnitt, sondern Bestleistung!«, erwiderte er hart und ich bekam allmählich das Gefühl, dass er mir nicht zuhörte.
»Daddy, ich …«
»Genug!«, unterbrach er mich mit seiner donnernden Stimme und schnitt mir durch die Seele.
Tränen schossen mir in die Augen, doch ich blinzelte sie verzweifelt weg. Vielleicht hatte Millie recht und ich sollte es einfach aufgeben, doch es widerstrebte meiner Kämpfernatur.
Ich preschte vorwärts und stellte mich direkt vor seinen heiligen Kamin, wodurch er sofort wütend knurrte. Der Anblick seiner langen dunklen Hörner jagte mir einen Schauder über den Rücken. Er reagierte immer noch nicht, also eilte ich zu ihm und schnappte flink das Whiskyglas aus seiner Hand. Ich betrachtete es kurz in dem Lichtschein des Feuers, dann packte mich der Zorn und ich schleuderte es wütend in die Flammen. Zischend jaulte das Feuer auf und wurde schließlich durch die Zugabe des Whiskys genährt.
Jetzt sah er mich an.
Blitzschnell sprang er auf und stand einen Herzschlag später direkt vor meinem Gesicht, nur wenige Zentimeter trennten unsere Nasenspitzen. Seine eisblauen Augen bohrten sich in mich und machten mich klein … klitzeklein. Meine Schultern sackten zusammen und ich duckte mich, um harmloser zu wirken. Ich drohte unter seinem Blick zu ersticken.
Er hob die Hand und ich fürchtete, dass er mir eine schmerzhafte Ohrfeige verpassen würde, doch kurz vor meiner Wange hielt er inne und verwandelte seine ausgestreckten Finger in eine drohende Geste. Langsam färbten sich seine blauen Iriden schwarz und verschwammen mit dem Weiß seiner Augen. Sein bleiches Gesicht färbte sich bläulich, wie immer, wenn er sich aufregte. Doch er zügelte seine Wut – als wäre jegliche Reaktion zu anstrengend.
Nach wenigen Sekunden nahm sein Gesicht die übliche gefühlstaube Miene an, sodass nur noch seine zusammengezogenen Augenbrauen auf seine Wut schließen ließen.
Sein Blick wandte sich den peitschenden Flammen zu, dann wanderte er zurück zu mir und blinzelte mich ausdruckslos an. »Das war eine sinnlose Verschwendung von gutem Whisky«, sagte er mit einer tiefen, bohrenden Stimme. Er tat so, als könnte er sich keinen neuen leisten, obwohl die Reichtümer der Familie Hades schier unendlich waren.
»Wenigstens bist du jetzt endlich mal aufgestanden«, entgegnete ich verbittert und wich nach hinten, da ich spürte, wie mir wieder die Tränen kamen. Verdammte menschliche Seite! Gab es nicht irgendeine magische Tablette, mit der ich jegliche Gefühle hinunterschlucken konnte?
Ich stürmte davon und würdigte meinen Vater keines Blickes, doch ich hörte, wie er verärgert aufseufzte und sich in seinen bequemen Sessel fallen ließ.
In letzter Zeit schien er in einer Art Depression gefangen zu sein … Er wirkte, als würde er die Unterwelt satthaben. Aber musste das zwingend bedeuten, dass er mich auch satthatte?
Ich beschleunigte meine Schritte, als ich spürte, wie die Tränen stärker in meine Augen drängten. Ich wollte nach der Türklinke greifen, doch die Tür öffnete sich bereits automatisch. Kaum war ein leichter Spalt erschienen, drückte ich mich hindurch und presste mich an die nächstgelegene Wand. Die Tür schloss sich sofort wieder, als sie mein Gehen registriert hatte, und sperrte mich damit auf unbestimmte Zeit aus.
Eine erste Träne kullerte aus meinen Augenwinkeln und lief an meiner Wange entlang, dann folgte die nächste und die nächste …
Ich spürte Millies Blick auf mir, sie starrte auf meine Tränen und blinzelte mich irritiert an. Die Kälte der Dämonen machte es für mich nur noch schlimmer. Sie erinnerte mich immer wieder daran, wie fehl am Platz meine Gefühle waren.
Plötzlich spürte ich eine tröstende Hand an meiner Schulter und blickte auf. Es war Dylan, vermutlich mein einziger Verbündeter in dieser bescheuerten Unterwelt.
»Deine menschliche Seite?«, fragte er sanft und blinzelte mich mit einem warmen Blick an.
Ich nickte schluchzend, als er mich in seine Arme zog und in Richtung meines Zimmers lenkte.
»Er wird es schon noch sehen, du bist die perfekte Anwärterin auf den Thron«, tröstete er mich mit einem kläglichen Versuch.
Dylan verstand es nicht, niemand hier unten tat das. Ich wollte nicht seinen Thron, sondern lediglich seine Zuneigung.
Ich blieb still und schwor mir, dass ich Hades wieder auf die Beine kriegen würde. Früher hatten wir zusammen die Dämonen befehligt und ich hatte stolz jedem seiner Worte auf Versammlungen gelauscht, doch jetzt war das alles weg. Der letzte Funken gemeinsamer Zeit, die wir einst gehabt hatten. Ich würde ihn wieder auf meine Seite ziehen und aus seinem Tief zerren – egal wie viele und welche Seelen er dafür benötigte.
Bones
Der süßliche Duft von Honig stieg mir in die Nase und weckte mich sanft. Ich öffnete die Lider und fand mich in unserer unterirdischen Höhle in den Wäldern wieder. Ein Teil von mir wusste, dass ich träumte, aber die Erinnerungen zogen mich in ihren Bann.