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Warmherzig, witzig, wunderbar! Einmal mit dem Rad rund ums Ijsselmeer. 360 Kilometer an einem Tag und in einer Nacht. Eine verrückte Idee, aber Atlanta ist wild dazu entschlossen. Was soll man auch sonst tun, wenn der nächste Tag schreckliche Untersuchungsergebnisse bringen kann. Ärgerlich nur, dass sie gleich am Anfang mit Finley zusammenstößt, der auch vor irgendetwas wegläuft. Oder ist das doch eher ein Glück? Jedenfalls fahren sie nun gemeinsam weiter, ausgerüstet mit Wasserflaschen, zwölf Käsebroten und Haifischzähnen. Denn dem Schicksal begegnet man am besten nicht unbewaffnet. Ein Mädchen, das Angst um ihre Mutter hat, ein Junge, der auf seine Mutter gerade so wütend ist, dass er sie am liebsten nicht mehr sehen will und eine Fahrradtour, nach der alles wieder ins Lot kommt! Selten werden Freundschaft und Familie so echt, so dem Leben und den Figuren zugewandt und trotz aller Schwierigkeiten so lebensfroh beschrieben wie bei Anna Woltz!
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Anna Woltz
Haifischzähne
An einem Tag und in einer Nacht mit dem Rad ums IJsselmeer. Eine verrückte Idee, aber Atlanta ist wild entschlossen. Was soll sie auch sonst tun? Bloß darauf warten, ob ihre Mutter wieder ganz gesund wird? Blöd nur, dass sie gleich am Anfang mit Finley zusammenstößt. Oder ist es doch eher ein Glück? Jedenfalls fahren sie danach gemeinsam weiter, ausgerüstet mit Wasserflaschen, zwölf Käsebroten und Haifischzähnen. Denn dem Schicksal begegnet man lieber nicht unbewaffnet.
Wohin soll es gehen?
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Viten
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4,9 Kilometer
Mein Fahrrad braust die Straße hinab. Der Wind saust mitten durch mich hindurch, aber ich bremse nicht. Ich schaue hinauf zu dem Leuchtturm. Einem schneeweißen eckigen Turm, der geradewegs aus einem Märchen kommt.
Und dann spüre ich den Aufprall.
Ich knalle mit voller Wucht gegen den Jungen, der vor mir fährt. Sein Rücklicht platzt in alle Himmelsrichtungen auseinander, ich überschlage mich halb, aber er kann sich gerade eben noch fangen. Ich falle und spüre, dass zwischen meinem Ellenbogen und der Straße plötzlich keine Haut mehr ist.
Ich beiße die Zähne zusammen, aber ich fange nicht an zu weinen. Von allen Mädchen, die ich kenne, weine ich am wenigsten.
Einen Moment lang ist es sehr still.
Hier unten, in dieser Mulde hinter dem Deich, weht es nicht. Alle Sachen aus meiner Fahrradkiste liegen auf der Straße verstreut. Wasserflaschen, Regenjacke, zwölf Käsebrote und vier Bananen.
»Tut dir was weh?«, fragt der Junge.
Sofort schüttele ich den Kopf.
Ich brauche echt keinem leidzutun. Meine gesamte Schule zerfließt fast vor Mitleid mit mir. Und alle meine Onkel und Tanten. Die Leute aus der Nachbarschaft, mein ganzes Fußballteam.
»Bist du verrückt oder so!«, rufe ich, während ich mich aufrapple. Es fühlt sich gut an, jemanden anzuschreien, den ich nicht kenne. »Du kannst doch nicht einfach so bremsen?«
»Offenbar kann ich das durchaus«, sagt der Junge entspannt. »Das hast du doch gesehen?«
Seine dunklen Haare sind einen Tick länger als bei den Jungs aus meiner Klasse. Seine braunen Augen schauen mir direkt ins Gesicht.
Ich sehe, dass er sich nicht entschuldigen wird. Nicht, dass mir das was ausmachen würde. Erwachsene wollen ständig, dass man Tut mir leid sagt. Und Danke schön und Wie geht’s dir jetzt? Aber wenn es wirklich drauf ankommt, fällt ihnen nichts ein, rein gar nichts. Dann helfen ihnen vierzig Jahre Höflichkeit nicht die Bohne.
Der Junge legt sein Rad in die Böschung und läuft ein paar Meter zurück. Dort hebt er etwas vom Boden auf. Was war bloß so wichtig, dass er eine Vollbremsung dafür machen musste? Ehe ich sehen kann, was es ist, hat er es schon in die Hosentasche gesteckt.
Schnell schaue ich auf mein Handy. Ich bin eine knappe halbe Stunde unterwegs und erst ein paar Kilometer hinter Enkhuizen.
Wenn ich nicht schnell weiterfahre, klappt es niemals.
Ohne auf meinen Ellenbogen zu achten, stelle ich mein Rad wieder hin. Alle Sachen müssen zurück in die Kiste: der dicke Pulli, die Weihnachtsbeleuchtung, Müsliriegel und Reparaturset.
»Mein Lenker ist total verbogen«, sage ich wütend. »Das bekomme ich allein nicht wieder hin …«
Der Junge stellt sich gut gelaunt vor mein Rad und greift nach dem Lenker. Er trägt Shorts, obwohl es eigentlich schon Herbst ist. Auf seinem T-Shirt ist ein lachender Fisch zu sehen.
»Pass doch auf!«, rufe ich, als er plötzlich an meinem Lenker ruckt. »Nicht so wild!«
Er lässt los und seufzt. »Gibt es Leute, die dich nett finden?«
»Genügend«, entgegne ich sofort. »Gibt es Leute, die dich nett finden?«
Er denkt nach. »Zu wenige«, sagt er dann. »Hey!« Er zeigt auf die roten Tropfen auf dem Asphalt. »Du hast dich verletzt!«
»Quatsch.«
»Ach nein? Und warum tropft dann Blut aus deinem Arm?«
»Mach nicht so einen Aufstand«, sage ich. »Vampire tropfen vor Blut. Das hier ist nichts. Die paar Tröpfchen.«
Er fängt an zu lachen. »Okay, du bist tough, schon klar. Aber willst du wirklich eine rote Spur hinter dir herziehen?«
Ich beiße mir auf die Lippe.
Jetzt, wo ich darauf achte, tut mein Arm doch ganz schön weh. Wie nervig. Wenn man an Schmerzen denkt, tut es sofort extra weh.
Genau darum bin ich hier.
Hier, auf diesem Radweg. Und nicht zu Hause.
»Simsalabim!« Der Junge zieht eine Schachtel mit Pflastern aus der kleinen Tasche unter seinem Sattel hervor. »Gib mal deinen Arm …«
»Im Ernst jetzt?«, frage ich. »Du trägst in diesem Täschchen Pflaster mit dir rum?«
Ohne zu antworten, zieht er die Folie vom allergrößten Pflaster ab. Ich drehe den Arm ein wenig, damit er meinen Ellenbogen sehen kann, und schaue sofort wieder weg.
Früher habe ich nie darüber nachgedacht, dass Menschen entzweigehen können. Das war besser.
»Was ist denn noch so in diesem Täschchen?«, frage ich. »Eine Vase mit Blumen? Kerzen? Eine saubere Unterhose?«
»Du spinnst ja.« Er seufzt. »Nein, aber meine Mutter mischt sich immer überall ein. Ich habe den ganzen Sommer Tricks mit meinem Rad geübt und bin jeden Tag mit aufgeschrammten Knien nach Hause gekommen. Wenn ich mich dann mit einer Tüte Chips aufs Sofa gelegt hab, kam da schon mal Blut dran. Darum hat sie eine neue Regel aufgestellt: Ich durfte erst ins Haus, wenn alle offenen Wunden zugeklebt waren.«
Er drückt das Pflaster auf meinen Ellenbogen. Ziemlich fest.
»Sie kapiert echt gar nichts«, sagt er grimmig. »Wenn man den ganzen Tag weg ist, darf man überhaupt keine Regeln aufstellen. Egal, wir brauchen jetzt also ein neues Sofa. Oder na ja – sie braucht ein neues Sofa. Ich gehe nicht mehr zurück.«
»Wie meinst du das?«, frage ich.
Er zuckt die Achseln. »Wie ich’s sage eben. Ich gehe nicht mehr zurück. Ich wohne ab jetzt woanders.«
»Wo denn?«
»Das muss ich mir noch überlegen.«
16,3 Kilometer
Was ich heute tun muss, das geht nicht zu zweit. Vielleicht kann ich es nicht mal allein.
»Ich muss wieder los«, sage ich also zu dem Jungen. »Viel Erfolg mit äh … deinem neuen Zuhause und so.«
Gestern Nacht habe ich ausgerechnet, wie lange diese Fahrt dauert. Alle zwei Stunden darf ich zehn Minuten anhalten. Nicht länger. Sonst schaffe ich es nicht.
Ich steige auf und trete wieder in die Pedale. Langsam, weil der Weg sofort steil auf den Deich führt. Mein Ellenbogen tut weh, aber das ist mir egal. Nach dem Jungen sehe ich mich nicht mehr um.
Und dann bin ich oben.
Links lauter Weiden, rechts glitzert das IJsselmeer. Dazwischen liegt der hohe Deich mit nichts anderem als einem schmalen Radweg. Hier braucht man nicht nachzudenken: Es geht überhaupt nur in eine Richtung. Vorwärts.
Jetzt, da meine Beine wieder strampeln und mir der Wind die Haare zerzaust, kann ich endlich atmen. Sonst wäre es ja genau wie zu Hause. Da hocken Papa und Mama und warten. Was immer sie auch tun, so feste sie auch staubsaugen oder Gemüse schnippeln oder auf die Tastatur einhämmern, eigentlich halten sie nur den Atem an und warten.
Ich hatte den Jungen mit den lachenden Augen schon wieder vergessen, aber plötzlich fährt er neben mir. Seine Haare wehen in alle Richtungen, sein T-Shirt flattert.
»Bist du auf der Flucht vor Aliens?«, ruft er außer Atem. »Du rast einfach weiter und hörst mich überhaupt nicht!«
Über unseren Köpfen kreischen Möwen, auf der Straße neben dem Deich rattert ein Trecker vorbei. Wegen diesem Jungen fahre ich echt nicht langsamer.
»Als du abgezischt warst, habe ich das hier auf dem Boden gefunden.« Er hält einen Zweig in die Höhe. Am Ende baumelt ein rosa Plastikteil mit Eisendrähten. »Hast du zufällig dein Gebiss ohne Zähne verloren?«
Ich merke, wie meine Wangen feuerrot werden. »Gib her!«
Angewidert schwingt er den Zweig leicht in meine Richtung. Das Plastikteil mit den Eisendrähten fliegt durch die Luft, knallt mir gegen den Kopf und landet genau in meiner Fahrradkiste.
»Igitt!«, sagt er fröhlich. »Bist du vielleicht unterwegs zu deiner Zombie-Oma?«