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Hans Rath

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Beschreibung

Freunde gibt's, die gibt's gar nicht In Adams Leben knirscht es gewaltig. Als sein Herz rebelliert und damit ein deutliches Signal sendet, fliegt er nach Island, um in der urwüchsigen Landschaft gründlich über sein Leben nachzudenken. Im Sturm stürzt Adam von einer Klippe – und wird von einem seltsamen Typen gerettet: Magnus, ein kleinwüchsiger, etwas verlotterter Mittzwanziger in Wollklamotten. Der behauptet, ein waschechter Troll zu sein – in dessen Schuld Adam nun steht. Was in Island so viel heißt wie: Magnus genießt Sonderrechte, und Adam wird ihn nicht wieder los, auch nicht bei der Rückreise nach Berlin. Dort versucht Adam, sein Leben aufzuräumen, doch der anarchische Magnus stürzt es immer tiefer ins Chaos.

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Hans Rath

Halb so wild

Roman

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Über dieses Buch

Freunde gibt’s, die gibt’s gar nicht

 

In Adams Leben knirscht es gewaltig. Als sein Herz rebelliert und damit ein deutliches Signal sendet, fliegt er nach Island, um in der urwüchsigen Landschaft gründlich über sein Leben nachzudenken. Im Sturm stürzt Adam von einer Klippe – und wird von einem seltsamen Typen gerettet: Magnus, ein kleinwüchsiger, etwas verlotterter Mittzwanziger in Wollklamotten. Der behauptet, ein waschechter Troll zu sein – in dessen Schuld Adam nun steht. Was in Island so viel heißt wie: Magnus genießt Sonderrechte, und Adam wird ihn nicht wieder los, auch nicht bei der Rückreise nach Berlin. Dort versucht Adam, sein Leben aufzuräumen, doch der anarchische Magnus stürzt es immer tiefer ins Chaos.

Über Hans Rath

Hans Rath, geboren 1965, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bonn. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er unter anderem als Drehbuchautor tätig ist. Zwei Bände seiner Romantrilogie um den Mittvierziger Paul Schubert wurden fürs Kino adaptiert. Seine aktuellen Bücher aus der Reihe «Und Gott sprach» sind ebenfalls Bestseller.

Danke für diese Reise

1

Am Ende sind alle Märchen wahr.

Warum mir ausgerechnet dieser Gedanke durch den Kopf schießt, als ich mit stechenden Brustschmerzen und heftiger Atemnot in die Rabatten des Stadtparks stolpere, ist mir völlig schleierhaft.

Gleichermaßen erschüttert wie verwundert versinke ich in einem Meer aus blauen Hortensien. Der Aufprall fühlt sich an wie ein heftiger Rempler. Ich rieche die trockene Erde und schmecke den aufwirbelnden Staub.

Dann denke ich: Aha, das war es jetzt also. Schluss, aus und vorbei. Ich bin erledigt. Mein Leben endet in einem Hortensienbeet. Was wohl meine Familie sagen wird, wenn sie hört, dass ich so plötzlich den Löffel abgegeben habe?

Sterben ist ein seltsames Gefühl. Außerdem ärgert es mich, dass das wirklich schon alles gewesen sein soll. Ich hatte doch noch so viel vor. Zwar irgendwie nichts Konkretes, aber insgesamt gesehen wollte ich schon noch eine ganze Menge erleben.

Alle, die schon immer gewusst haben, dass man Dinge nicht auf die lange Bank schieben darf, haben also recht behalten. Kunststück, in der Theorie wusste ich das auch. Aber in der Praxis ist es dann doch nicht so einfach, wie es sich anhört. Wer jeden Tag so lebt, als wäre es sein letzter, der ist schneller arbeitslos und pleite, als er Carpe Diem sagen kann. Aber jetzt gerade denke ich, dass ich das vielleicht hätte riskieren sollen.

«Hilfe! Hier braucht jemand Hilfe!», höre ich eine aufgeregte Stimme rufen. Sie scheint aus weiter Ferne zu kommen. Vermutlich gehört sie der ebenso jungen wie drahtigen Eisverkäuferin, an deren Stand ich vor einer Minute vorbeispaziert bin. Sie hat meinen Zusammenbruch bestimmt mitbekommen.

Ich habe leider eine Menge guter Gründe für einen Herzinfarkt. Mein Job ist anstrengend, meine Ehe noch sehr viel anstrengender. Ich rauche, und ich trinke regelmäßig Alkohol, treibe aber selten Sport. Und ich werde in wenigen Monaten fünfzig – zumindest war das bis eben noch so geplant.

«Hallo? Können Sie mich hören?» Diesmal fragt eine junge Männerstimme. Es ist wahrscheinlich der Fahrradkurier, den ich eben habe heranpreschen sehen, ein gertenschlanker Kerl mit Ganzkörperneoprenanzug und Hipsterbart.

Ich merke, dass ich auf den Rücken gedreht werde, und versuche, die Augen zu öffnen, aber es geht nicht. Meine Lider sind schwer wie Blei. Der süßliche Duft der Hortensien steigt mir in die Nase, und ich spüre die Sonne im Gesicht.

«Hören Sie mich? Hallo?» Wieder die Männerstimme, diesmal drängender.

Ich will etwas sagen, doch meine Stimmbänder regen sich ebenso wenig wie meine Augenlider.

In der Ferne ist eine Sirene zu hören. Die Kavallerie ist unterwegs. Hoffentlich ist sie auch meinetwegen ausgerückt. In Berlin hört man ja ständig irgendwo das Jaulen von Sirenen. Könnte auch sein, dass da ein Diplomat eiligst zu einem wichtigen Termin chauffiert wird, während ich hier noch eine Weile auf meine Mitfahrgelegenheit warten muss.

Ist überhaupt schon jemand auf die Idee gekommen, mir einen Krankenwagen zu rufen?

«Er reagiert nicht», höre ich die Männerstimme sagen.

«Ist er etwa tot?», fragt die Frauenstimme besorgt.

«Ich glaube nicht», antwortet die Männerstimme. «Aber wetten würde ich nicht darauf.»

«Vielleicht sollten wir ihm mal den Puls fühlen», sagt die Frauenstimme.

«Gute Idee», erwidert die Männerstimme. «Ich habe nur keine Ahnung, wie man so was macht. Du vielleicht?»

«Echt nicht? Ich hätte jetzt geschworen, du kannst das.»

Hört sich an, als würde sie mit ihm flirten.

«Sehe ich etwa aus wie ’n Arzt?» Er flirtet ebenfalls. «Ist ja cool.»

«Eher wie ’n Medizinstudent. Ich hätte auf drittes Semester getippt.» Sie bemüht sich, kokett zu klingen.

«Ganz falsch. Ich mache Medieninformatik. Viertes Semester.»

«Echt jetzt?» Sie klingt ehrlich erstaunt. «Ich hab gerade mit Webdesign angefangen.»

«Cool. Was für ein Zufall. Und wo?»

«An der Design Akademie. Und wo bist du?»

«An der TU.»

«Auch sehr cool.»

«Ja. Macht auch großen Spaß.»

Den beiden ist während ihrer Plauderei offenbar entfallen, dass ich immer noch reglos in den Hortensien liege und ein bisschen medizinische Hilfe gebrauchen könnte. Um auf mich aufmerksam zu machen, würde ich gern genervt seufzen, aber auch das ist mir momentan leider nicht möglich.

Vermutlich verbringen in diesem Park auch ein paar gestandene Humanmediziner ihre Mittagspause. Dummerweise war im entscheidenden Moment keiner davon in meiner Nähe. Stattdessen bin ich an zwei Studenten geraten, die zwar das Internet der Zukunft gestalten werden, aber nicht wissen, wo der menschliche Puls sitzt. Tja. Pech gehabt. Immerhin sind die beiden noch nicht auf die Idee gekommen, mich mit ihren Handys zu filmen. Ich möchte auf keinen Fall als «regloser Mann im Hortensienbeet» heute Abend auf Facebook geliked werden.

«Ich funke mal die Zentrale an», entscheidet der Kurier. «Die sollen einen Krankenwagen schicken.» Man hört das Knacken des Funkgerätes.

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass der Zeitfaktor bei einem Herzinfarkt eine ganz entscheidende Rolle spielt. Je schneller jemand Hilfe bekommt, desto größer ist seine Chance, keine bleibenden Schäden davonzutragen. Ich befürchte, diese Information ist leider noch nicht zu meinen Rettern durchgedrungen. Trotz Internet.

«Freddy, bitte kommen. Bist du da?»

«Was geht?», fragt eine Stimme, begleitet von lautem Rauschen.

«Kannst du mal einen Krankenwagen rufen? Ich bin hier im Tiergarten in der Nähe vom Goethedenkmal. Hier ist ein alter Mann umgefallen.»

Ich überhöre die Beleidigung und frage mich, warum mein Retter nicht einfach sein Handy aus der Tasche zieht und direkt einen Krankenwagen ruft. Als angehender Medieninformatiker hat er bestimmt ein schickes Smartphone dabei. Aber ich will mich nicht beklagen. CB-Funk geht natürlich auch. Ich habe schließlich alle Zeit der Welt. Und die leichte Verzögerung bei meiner Rettung wird mich bestimmt nicht viel mehr als sechs bis acht zusätzliche Wochen in der Reha kosten. Also Schwamm drüber.

«Scheiße, Tom! Wieso hängst du noch im Tiergarten rum?», will Freddy wissen. «Du müsstest längst am Potsdamer Platz sein.»

«Mach halblang, Freddy! Ich hänge hier nicht rum. Ich habe doch gesagt, hier ist jemand umgefallen. Da kann ich ja nicht einfach abhauen, oder?»

Freddy überlegt in aller Ruhe, was er mit seinem verspäteten Kurier machen soll. Dann sagt er leicht genervt: «Okay. Rufe ich eben einen Krankenwagen. Aber sobald der da ist, haust du ab. Die haben gesagt, sie brauchen die Lieferung subito. Also hau rein. Over and out.»

Danke, Freddy. Wenn dich eines Tages mal der Sensenmann am Arsch hat, dann wünsche ich dir, dass du auf Menschen triffst, die dir ebenso gern und unkompliziert helfen wie du mir gerade.

«Alles klar. Krankenwagen kommt gleich», höre ich Tom sagen.

Dann ist eine Weile nur das Zwitschern der Vögel zu hören.

Ich stelle mir vor, wie der Kurier und die Eisverkäuferin etwas unschlüssig voreinander stehen. Wenn er sie zu einem Rendezvous einladen will, dann sollte er das meiner Ansicht nach genau jetzt tun. Sobald der Krankenwagen hier ist, wird es hektisch, und dann ist die Gunst der Stunde vorbei.

Tom scheint nicht recht zu wissen, wie er es anstellen soll, denn weiterhin ist nur Vogelgezwitscher zu hören.

«Was ist? Willst du ein Eis?», fragt sie in die Stille. «Ich spendiere uns eins.»

«Coole Idee. Darfst du das denn einfach so?»

«Eigentlich nicht, aber das hier ist ja eine Ausnahme. Und ich finde, wir haben uns ein Eis verdient. Auf den Schreck.»

Ich habe mich zwar auch ein bisschen erschrocken, aber ich gönne den beiden Turteltäubchen natürlich ihr Eis.

Außerdem erlange ich wundersamerweise urplötzlich die Kontrolle über meinen Körper zurück.

Ich öffne die Augen, rolle mich vorsichtig auf die Seite, stütze mich auf den Unterarm und horche in mich hinein. Kein Schwindel, kein Schmerz. Ich fühle mich gut. Wunderbar, denke ich und rappele mich hoch.

Meine Retter schlendern angeregt plaudernd zum Eiswagen.

Ich beuge mich vor, um mir den Staub aus dem Anzug zu klopfen, und stelle dabei mit Unbehagen fest, dass ich gut einen Meter über dem Boden schwebe und langsam, aber konstant an Höhe gewinne. Und als wäre das nicht beunruhigend genug, sehe ich dann noch, dass unter mir mein lebloser Körper in den Hortensien liegt. Ganz offensichtlich bin ich mausetot.

Ob ich schon seit meinem Sturz nicht mehr unter den Lebenden weile oder gerade erst gestorben bin, weiß ich nicht. Jetzt schwebe ich jedenfalls über dem Tierpark und danach vermutlich ins Jenseits. Wenn es stimmt, was man so hört, dann werde ich gleich ein gleißendes Licht sehen, und wenig später wird mein Leben an mir vorüberziehen. Oder umgekehrt.

Wäre ich nicht auf dem Weg ins Jenseits, dann würde ich mich sogar darüber freuen, noch einmal bei Lenas Geburt dabei sein zu dürfen. Dreiundzwanzig Jahre ist das her, und ich glaube, es ist der schönste Moment meines Lebens gewesen. Erstaunlich, dass mich vom glücklichsten Tag meines Erdendaseins fast ein Vierteljahrhundert trennt. Ich werde meine Tochter schmerzlich vermissen und sie mich bestimmt auch. Selbstverständlich wird auch Conny mein plötzliches Ableben treffen, allerdings befürchte ich, dass ihre Wut darüber, dass ich aus dem Leben geschieden bin, ohne das vorher mit ihr abzusprechen, zumindest anfänglich größer ausfallen könnte als die Trauer über den Tod ihres Mannes. Meine Frau hat nicht nur allgemein große Verlustängste, sondern auch sehr spezielle im Bezug auf mich. Kann ich aber verstehen. Eigentlich bin ich sogar schuld daran.

Ich spüre, dass die Geschwindigkeit, mit der ich an Höhe gewinne, langsam zunimmt. Wie bei einem Zug, der erst in Fahrt kommen muss.

Die gute Nachricht lautet, dass man von hier oben einen sehr schönen Blick hat. Die Kehrseite der Medaille ist, dass dies wohl mein letzter Blick auf Berlin sein wird.

Ich kann den Krankenwagen sehen. Wie üblich kriegen es die Berliner Autofahrer nicht hin, eine Gasse zu bilden. Deswegen kommt das Gefährt nur langsam voran. Aber das spielt ohnehin keine Rolle mehr. Hätten meine Retter etwas weniger getrödelt, dann wäre ich zwar noch am Leben, würde aber vielleicht den Rest meiner Tage vor mich hin vegetieren. Insofern muss ich Tom und der Eisverkäuferin fast dankbar sein, dass sie mir die Zeit gegeben haben, mich vom Acker zu machen.

Der Krankenwagen hat sein Ziel erreicht. Ich kann die herumwuselnden Rettungskräfte sehen, darunter eine Ärztin, die mein Hemd aufreißt und mir dann die Elektroden des Defibrillators auf die Brust drücken will. Sie zögert nur kurz, um meinen Puls zu prüfen.

In genau diesem Augenblick endet meine Himmelfahrt. Fühlt sich an, als würde mich ein starker Sog nach unten ziehen. Verglichen mit dem sanften Schweben von vorhin ist das ein nicht ganz so angenehmes Gefühl. Außerdem lässt mich die Geschwindigkeit, mit der ich zu Boden sinke, einen heftigen Aufprall befürchten. Instinktiv schließe ich die Augen.

Als ich sie wieder öffne, blicke ich in das müde Gesicht der Ärztin, die ich gerade noch von oben gesehen habe. Sie hat harte Züge und schmale Lippen, aber ihre Augen strahlen Herzenswärme aus.

«Können Sie mich hören?», fragt sie.

Ich nicke.

«Wissen Sie, wie Sie heißen?»

Mein Gaumen ist trocken, und ich habe den Geschmack von Blumenerde im Mund. Ich muss schlucken, bevor ich antworten kann. «Adam Schmitt.»

«Wissen Sie, wo Sie sind und was Sie hier vorhatten?»

«Im Tiergarten. Ich wollte was essen und mir die Beine vertreten. Aber dann hatte ich plötzlich Herzschmerzen und bin im Blumenbeet gelandet.»

«Und wie fühlen Sie sich jetzt?»

«Geht so. Ehrlich gesagt ging es mir schon besser.»

«Hatten Sie früher schon mal Probleme mit dem Herzen?»

«Nicht dass ich wüsste.»

Sie legt die Elektroden beiseite und winkt die Sanitäter heran. «Okay. Wir nehmen Sie zur Untersuchung mit ins Krankenhaus. Eine Synkope, also eine plötzliche Ohnmacht, wie sie Ihnen gerade passiert ist, kann alle möglichen Ursachen haben. Das geht von leichtem Kammerflimmern bis hin zum schweren Herzinfarkt. Aber wie dem auch sei, in jedem Fall haben Sie heute das große Los gezogen. Ein überlebter plötzlicher Herztod ist extrem selten.»

«Überlebter plötzlicher Herztod», wiederhole ich ratlos.

«Ja. So nennen wir das, wenn jemand quasi von den Toten zurückkommt», sagt sie bestätigend.

«Ich muss zugeben, ich war ziemlich sicher, dass es mit mir vorbei ist», sage ich. «Wirklich nett von Ihnen, dass Sie mich zurückgeholt haben. Vielen Dank dafür.»

«Oh, das ist nicht mein Verdienst», antwortet sie. «Sie sind ganz allein zurückgekommen. Und das ist äußerst bemerkenswert. Ich kenne solche Fälle aus der Literatur, aber mir selbst ist noch niemand begegnet, der ohne mein Zutun auf halbem Weg ins Jenseits kehrtgemacht hat.»

«Sie glauben aber jetzt nicht, dass das irgendwas zu bedeuten hat, oder?»

Sie muss lachen. «Für solche Fragen bin ich nicht zuständig.»

Während die Sanitäter mich auf eine Krankenliege heben, steckt sich die Ärztin eine Zigarette an. Ich muss mir verkneifen, sie zu fragen, ob sie auch eine für mich hat.

 

Im Krankenhaus lerne ich Dr. Han-Kim Zhang kennen, einen schmalen Chinesen mit breitem Lächeln und einem angenehmen Naturell. Er stellt sich mir als der leitende Kardiologe vor, und ich bin erfreut, dass er sich die Zeit nimmt, mit mir zu plaudern.

«Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen, wenn Sie erlauben.»

«Gern», antworte ich. Vermutlich interessiere ich ihn als medizinisches Phänomen. «Ihre Kollegin hat mir schon gesagt, dass der überlebte plötzliche Herztod extrem selten vorkommt.»

Er nickt. «Rauchen Sie?»

«Manchmal ein paar Zigaretten, manchmal eine ganze Packung, dann wieder tagelang überhaupt nicht.»

«Sind Sie verheiratet?»

«Seit dreiundzwanzig Jahren. Wir haben eine Tochter.»

«Trinken Sie regelmäßig Alkohol, und nehmen Sie Drogen oder Medikamente?»

«Keine Drogen, keine Medikamente», antworte ich. «Aber ich trinke einigermaßen regelmäßig Wein oder auch Bier. Selten harte Sachen.»

«Lieben Sie Ihren Job?»

Gute Frage, denke ich, und antworte: «Mal ja, mal nein. Es kommt darauf an, wen ich gerade in welcher Sache vertrete. Ich bin Anwalt, und manchmal ist der Job eine Gratwanderung.»

«Heißt das, Sie haben beruflich bedingten Stress?»

Ich zucke mit den Schultern. «Nicht mehr als andere Leute auch, würde ich sagen.» Ich frage mich, ob er sich für alle Patienten dermaßen viel Zeit nimmt. Ich habe immer gedacht, Ärzte wären grundsätzlich in Eile.

«Treiben Sie regelmäßig Sport?»

Ich schüttele den Kopf. «Hin und wieder gehe ich spazieren, aber als Sport würde ich das nicht bezeichnen.»

«Lieben Sie Ihre Frau?»

«Was hat denn das mit meinem Herzen zu tun?», frage ich verblüfft.

Dr. Zhang stutzt, dann lacht er laut. «Ist das ein Nein?»

Erst jetzt begreife ich, dass es kein gutes Zeichen für eine Ehe ist, wenn ein Mann die Liebe zu seiner Frau und den Zustand seines Herzens assoziativ nicht unter einen Hut bekommt.

«Wir durchleben gerade eine etwas schwierige Phase», erkläre ich. «Man könnte sagen, wir versuchen unsere Liebe neu zu entdecken.»

«Aha.» Dr. Zhang überlegt. «Aber ist das jetzt ein Ja oder ein Nein?»

«Ich würde sagen, eher ein Ja», erwidere ich. «Sonst würden wir es wahrscheinlich nicht noch einmal miteinander versuchen, oder?»

Dr. Zhang wiegt den Kopf hin und her. Er will etwas erwidern, beschließt dann aber, meine Antwort nicht zu kommentieren.

«Wann haben Sie sich zuletzt eine Auszeit genommen?», fragt er stattdessen. «Ich meine keinen Familienurlaub, sondern ein paar Tage ganz allein ohne Ihren Job und Ihre Liebsten.»

Ich schaue ihn verständnislos an. «Ich glaube, noch nie. Oder zählen auch Spaziergänge?»

Er schüttelt den Kopf. «Eher nicht. Sie sollten überlegen, ob Ihnen so etwas guttun könnte.»

«Okay», sage ich. «Sonst noch was?»

«Haben Sie einen Hund?», fragt er.

«Nein. Wie kommen Sie darauf?»

«Nur so. Es wäre gut, wenn Sie einen Hund hätten», antwortet Dr. Zhang. «Hunde sind gut. Sie könnten Ihren Hund streicheln. Das beruhigt. Hunde gehen auch gern spazieren. Sie könnten mit dem Rauchen aufhören und sich von dem ersparten Geld einen Hund kaufen. Das wäre gut.»

So langsam frage ich mich, wohin dieses Interview führen soll. «Wann wollen Sie mich eigentlich untersuchen?»

Dr. Zhang hebt beschwichtigend die Hand. Seine Geste sagt: Immer mit der Ruhe. Wir sind hier noch lange nicht fertig.

 

Es ist später Nachmittag, als ich wieder ins Büro komme. Dr. Zhang hat mich nach unserem Gespräch noch ausgiebig untersucht, um schließlich zu der Erkenntnis zu gelangen, dass meine plötzliche Ohnmacht als idiopathisch bezeichnet werden muss. Übersetzt heißt das, er hat nicht die leiseste Ahnung, warum ich im Park umgefallen bin. Nach Ansicht des freundlichen Chinesen ist mein Herz jedenfalls kerngesund. Einerseits ist das eine beruhigende Nachricht. Andererseits bleibt da trotzdem mein rätselhafter, plötzlicher Herztod. Es wäre einleuchtender gewesen, wenn ich zuerst die Diagnose und dann den Anfall bekommen hätte. Passiert ja häufiger, dass Leute, die mittags noch kerngesund sind, am Nachmittag plötzlich den Löffel abgeben. Aber mittags herztot zu sein und nachmittags kerngesund, finde ich dann doch etwas seltsam.

Dr. Zhang hatte zwar noch ein paar weitere Untersuchungen anzubieten, aber da ich mit einem wichtigen Mandanten verabredet bin, habe ich das Krankenhaus auf eigenes Risiko verlassen.

«Was war denn los? Wo bist du gewesen?» Rainer wirkt genervt.

«Ich hatte einen plötzlichen Herztod», antworte ich. «Hat mir die Mittagspause verhagelt.»

Er ignoriert meine Antwort, wahrscheinlich hält er sie für einen schlechten Scherz. «Göttler wartet schon seit zehn Minuten auf dich.»

Ich bin es gewohnt, von Rainer Ernst ignoriert zu werden. Er ist nicht nur der Sonnenkönig in dieser Kanzlei, sondern auch mein Schwiegervater und ein Patriarch, wie er im Buche steht. Seit Jahren lässt er mich spüren, dass ich seinen hohen Erwartungen weder als Anwalt noch als Schwiegersohn gerecht werde. Das schmerzt an manchen Tagen mehr, an anderen weniger. Heute ist es mir völlig gleichgültig. Wenn man in der Mittagspause kurzzeitig tot war, dann sieht man die Dinge am Nachmittag sehr viel entspannter.

Ich nicke Rainer also freundlich zu und steuere den Konferenzraum an.

Marco Göttler ist sichtlich verärgert darüber, dass ich ihn habe warten lassen. Vermutlich ist er der Meinung, dass ein Mann seines Formats so etwas nicht nötig hat.

«Freut mich sehr, Sie zu sehen», lüge ich und reiche ihm die Hand.

«Wissen Sie eigentlich, warum ich so erfolgreich bin, Dr. Schmitt?» Göttler hat sein Sakko ausgezogen und es über die Lehne des Nachbarstuhls gehängt, damit sein lachsfarbenes Maßhemd besser zur Geltung kommt. «Ich bin vor allem deshalb erfolgreich, weil man sich hundertprozentig auf mich verlassen kann.» Er redet laut und lässt beim Gestikulieren seine goldenen Manschettenknöpfe über die Tischplatte klackern.

«Hat man Ihnen schon Kaffee angeboten?», frage ich.

Er winkt unwirsch ab. Ich gieße mir ein Glas Wasser ein, während er mit seinem Vortrag fortfährt.

«Was sind die drei Säulen des Erfolgs?», fragt er und reckt den Kopf vor wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat.

Ich spare mir eine Antwort, weil ich weiß, dass Göttler sie postwendend selbst geben wird. Er ist ein Verkaufsprofi, und gewisse rhetorische Mittel sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Dazu gehört auch, dass er ständig Fragen stellt, die er gleich darauf selbst beantwortet.

«Verlässlichkeit, Beständigkeit und Pünktlichkeit. Das sind die Säulen des Erfolgs», verkündet Göttler. «Und jetzt kommen Sie, Dr. Schmitt.»

«Sie wollen über Pünktlichkeit reden?», frage ich.

Er macht eine einladende Geste, lehnt sich zufrieden zurück und scheint gespannt darauf zu sein, wie ich meine zehnminütige Verspätung entschuldigen oder zumindest erklären will.

Fragt sich, ob Göttler mich aus pädagogischen Gründen tadelt oder ob es eine psychologische Erklärung dafür gibt. Vielleicht hat man ihn in der Grundschule zu wenig beachtet, wer weiß.

Die Kanzlei Dr. Rainer Ernst & Kollegen stellt Göttler für jede Stunde Beratung 300 Euro in Rechnung. Meine Anwesenheit kostet also fünf Euro pro Minute. Göttlers Firma, ein Finanzvertrieb für Lebensversicherungen, ist angeblich 50 Millionen Euro wert. Er beschwert sich also nicht des Geldes wegen, sondern aus Prinzip. Nicht wenige reiche Menschen sind der festen Meinung, dass man sie immer und überall übervorteilen will. Die einzige Möglichkeit, sie vom Gegenteil zu überzeugen ist es, Ihnen großzügige Geschenke zu machen. Leute, die schon alles haben, finden es nämlich sehr beruhigend, wenn sie immer noch mehr bekommen.

«Ich werde unsere Buchhaltung anweisen, Ihnen den heutigen Termin nicht in Rechnung zu stellen», sage ich. «Ich bin leider eben noch aufgehalten worden, aber Sie sollen wissen, dass es nicht der Stil dieses Hauses ist, unsere wichtigsten Mandanten warten zu lassen.»

Ein Strahlen geht über sein Gesicht. Er hat gerade exakt das gehört, was er hören wollte. Dass er nichts zahlen muss. Dass er einer unserer wichtigsten Mandanten ist. Und dass man Männer wie ihn nicht warten lassen darf.

«Schwamm drüber», sagt er gnädig, und sein sowieso schon leicht gerötetes Gesicht scheint vor Freude noch ein wenig mehr zu leuchten.

Marco Göttler ist also zufrieden. Und ich bin es auch, denn nebenbei wird mein Schwiegervater sich darüber ärgern, dass ich einen kompletten Beratungstermin verschenke, weil ich lächerliche zehn Minuten zu spät gekommen bin. So haben wir alle was davon.

«Was kann ich denn heute für Sie tun, Herr Göttler?», frage ich und lege mir den Schreibblock zurecht.

«Es geht um die von Ihnen entwickelte Lösung meines klitzekleinen Problems», sagt Göttler und wirkt nun nicht mehr ganz so selbstsicher.

«Ja. Was ist damit?», frage ich. «Wir hatten doch alles geklärt, oder?»

«Ich fürchte, so wie wir uns das vorstellen, wird es nicht funktionieren.»

«Weil?», hake ich nach.

«Weil ich Mist gebaut habe», sagt Göttler zerknirscht.

2

Was Marco Göttler mit seinem klitzekleinen Problem meint, ist die Tatsache, dass er eine Reihe von Steuerstraftaten begangen hat, die ihn in den Knast bringen könnten.

Anfangs schien der Fall noch harmlos. Göttler kam zu uns, weil er sich Sorgen um ein Konto in Luxemburg machte, wo er für schlechte Zeiten eine Million Euro Schwarzgeld gebunkert hatte. Strafrechtlich gesehen ist das keine große Sache. Man erstattet eine Selbstanzeige, versteuert den Betrag und zahlt eine Geldbuße. Fall erledigt.

Aber dann räumte Göttler ein, dass er noch eine weitere Million versteckt habe, in der Schweiz. Zwei Millionen Euro Schwarzgeld sind zwar kein Pappenstiel, aber immer noch kein Beinbruch. Eine Kanzlei wie die unsere, die darauf spezialisiert ist, Leute vor dem Knast zu bewahren, die eigentlich dringend eingesperrt gehören, kann solche Unannehmlichkeiten ohne größeres Aufsehen aus der Welt schaffen.

Ich erklärte Göttler also, dass er seine schmucke Neubauvilla in Köpenick nicht gegen eine Zelle in Plötzensee eintauschen müsse. Allerdings könne ich ihm das nur garantieren, wenn er reinen Tisch mache. Eine Selbstanzeige hat nämlich nur dann strafbefreiende Wirkung, wenn ausnahmslos alle vorhandenen Schwarzgeldkonten angegeben werden. Wenn man den Finanzbehörden auch nur ein einziges Konto verheimlicht, dann macht das sofort den kompletten Deal zunichte.

Die Warnung zeigte Wirkung. Zwei Tage später gestand Göttler, weitere drei Millionen in Andorra, Singapur und auf den Cayman Islands geparkt zu haben.

Insgesamt waren es also fünf Millionen, und das hieß: So langsam hätten Göttlers Versteckspiele dann doch für eine Haftstrafe reichen können. Ich bläute ihm noch einmal ein, dass er nur mit heiler Haut aus der Sache rauskommen könnte, wenn er wirklich alle Fakten auf den Tisch legen und sich zudem auf einen finanziellen Aderlass einstellen würde. Je konsequenter er sich um Schadensbehebung bemühe und je bereitwilliger er kooperiere, desto milder könne man die Behörden stimmen.

Er schwor mir hoch und heilig, vollumfänglich mitzuarbeiten und rein gar nichts zu verschweigen, wenn ich ihm nur den Knast ersparen würde.

Eine Woche später gestand er mir, dass er noch eine Kleinigkeit vergessen habe: eine Million in Liechtenstein. Außerdem eine weitere Million auf den Bahamas. Und noch eine Million, verstreut in der Karibik.

«Haben Sie eigentlich überhaupt schon mal Steuern gezahlt?», fragte ich.

Erbost blies Göttler die Backen auf. «Warum geht es eigentlich immer nur darum, was ich alles nicht gemacht habe? Keiner spricht davon, dass ich mich jeden Tag für diese Gesellschaft krummlege. Ich gebe mehr als fünfhundert Menschen Arbeit und sorge dafür, dass sie dem Staat nicht auf der Tasche liegen. Dass sie sich und ihre Familien ernähren können. Dass sie ihre Kinder zur Schule schicken können. Und wissen Sie auch, womit diese fünfhundert Menschen ihre Zeit verbringen? Sie verkaufen Lebensversicherungen und helfen damit anderen Menschen, sich finanziell abzusichern. Ich sorge also mit meiner Firma nicht nur für fünfhundert Menschen nebst Familien, ich sorge auch noch dafür, dass Hunderttausende nicht in die Altersarmut abrutschen. Dass sie ihren Kindern und Kindeskindern nicht auf der Tasche liegen. Dass sie ihren Lebensabend genießen können. Wenn ich es mir recht überlege, dann sollten mir nicht nur sämtliche Steuern für alle Zeiten erlassen werden, ich müsste obendrein noch das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen.»

Heute sitzt der angehende Bundesverdienstkreuzträger von letzter Woche also vor mir und gesteht, dass er Mist gebaut hat. Wieder mal.

«Es gibt weitere Schwarzgeldkonten», rate ich und stelle mich schon einmal darauf ein, seine Selbstanzeige zum vierten Mal zu korrigieren.

Göttler schüttelt energisch den Kopf. «Nein. Ich hab Ihnen wirklich alle Konten genannt. Mehr gibt es definitiv nicht.»

«Na, das ist ja schon mal eine gute Nachricht», sage ich.

«Ja, aber leider gehören mir die acht Millionen nicht», fügt Göttler hinzu und lässt diese Nachricht kurz wirken, bevor er fortfährt: «Es handelt sich um Vorschüsse von Versicherungskonzernen für künftige Verträge. Sobald rauskommt, dass wir nicht annähernd so viele Verträge liefern können, wie wir versprochen haben, werden diese Konzerne ihr Geld zurückfordern.»

«Das heißt, Ihrer Firma drohen dann Liquiditätsprobleme», kombiniere ich.

«Eigentlich droht ihr die Pleite», erwidert Göttler. «Aber die droht auch ohne die Rückforderungen. Vielleicht haben wir ein bisschen über unsere Verhältnisse gelebt.»

«Sie haben die besagten Vorschüsse also widerrechtlich auf ihre Privatkonten transferiert.»

Er nickt. «Von irgendwas muss ich ja leben, wenn der Laden zusammengebrochen ist.»

«Sie haben doch ein paar Jahre sehr gut verdient», wende ich ein. «Ist davon denn gar nichts übrig geblieben?»

«Nichts», bestätigt Göttler. «Alles weg. Ich muss eine Ehefrau, zwei Exfrauen und vier Kinder unterhalten. Und alle wollen nur das Beste vom Besten. Wissen Sie, was eine gute Privatschule kostet? Oder ein Wochenende in New York?»

«Was ist mit Immobilien?», will ich wissen.

«Ich hab nur meine Villa. Die Autos sind geleast. Die Yacht ist gechartert. Es gibt ein paar Bilder, die was wert sind, und ein bisschen Schmuck. Aber das war es dann auch schon.»

Wird schwer werden, ihm den Knast zu ersparen, denke ich.

Er errät meinen Gedanken. «Sieht nicht gut für mich aus, oder?»

«Muss ich drüber nachdenken», sage ich und schiebe meinen unbeschriebenen Block zur Seite.

«Tun Sie das, Dr. Schmitt», sagt er und nickt mir kumpelhaft zu. «Ich setze auf Sie.»

«Erwarten Sie lieber nicht zu viel», erwidere ich.

«Keine Sorge. Das tue ich nicht. Wenn es Ihnen gelingt, auch nur die Hälfte meines Geldes aus dem Feuer zu holen, dann bin ich vollauf zufrieden.»

So sind sie, die Reichen, denke ich. Gerade noch hat er mir gesagt, dass er das Geld geklaut hat. Ein paar Wimpernschläge später gehört es ihm bereits.

 

Ich erwische Dr. Zhang beim Abendessen in seinem Büro.

«Entschuldigung», sage ich und will im Gang warten, um ihn nicht zu stören, aber er erkennt mich wieder und winkt mich zu sich herein.

«Nein! Kommen Sie!», ruft er. «Leisten Sie mir Gesellschaft.»

Er hat einen grünen Tee vor sich stehen, außerdem eine Glasschale mit Reis und Gemüse.

«Guten Appetit. Das sieht alles sehr lecker aus», lüge ich.

«Frische Zutaten, nur kurz gedünstet und ohne Salz zubereitet», verkündet er. «Wenn Sie sich so ernähren, dann werden Sie hundert Jahre alt.»

«Warum will man hundert Jahre alt werden, wenn man nur Reis und Gemüse essen darf?», frage ich.

«Weil es schön macht», sagt er. «Schauen Sie beispielsweise mich an. Wie alt schätzen Sie mich?»

Ich vermute, Dr. Zhang ist etwa in meinem Alter.

«Zweiundachtzig», antworte ich. «Aber ich gebe zu, das sieht man Ihnen überhaupt nicht an.»

Er muss grinsen. «Was führt Sie zu mir?»

«Könnten Sie mich bitte krankschreiben?», frage ich. «Nur für ein paar Tage. Ich habe tatsächlich das Gefühl, ich muss mal raus, um einen klaren Kopf zu kriegen. Aber ich arbeite in der Kanzlei meines Schwiegervaters. Und wenn ich ihm keinen triftigen Grund dafür liefere, warum ich ein paar Tage fehle, dann lässt er mich erst gar nicht weg.»

«Sie brauchen also keine Krankschreibung, sondern ein Alibi», konstatiert Dr. Zhang.

«So könnte man es auch sagen.»

Er überlegt.

«Wo soll es denn überhaupt hingehen?», will er wissen.

Ich zucke mit den Schultern. «Keine Ahnung. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich will einfach nur weg. Egal wohin.»

Dr. Zhang öffnet eine Schreibtischschublade, zieht einen Dartpfeil hervor und wirft ihn an meinem Kopf vorbei in Richtung Tür.

Ich zucke erschrocken zusammen, drehe mich um und sehe, dass dort eine Weltkarte hängt. Dr. Zhangs Dartpfeil ist in die nördliche Hemisphäre geflogen.

«Schauen Sie doch mal, wo der Pfeil gelandet ist.»

Bei näherem Hinsehen erkenne ich eine Menge kleiner Löcher in der Weltkarte. Er muss dieses Spiel häufiger spielen.

«Herzpatienten sind oft Workaholics», erklärt er. «Wenn man denen sagt, dass sie eine Weile verreisen sollen, um sich auszuruhen, dann wissen die meisten nicht, wohin. Also lasse ich den Zufall oder wahlweise das Schicksal entscheiden. Ruhige Orte gibt es ja schließlich überall auf der Welt.»

Er sieht, dass ich ungläubig auf die Karte starre.

«Was ist? Wohin hat es Sie verschlagen?», will er wissen.

«Der Pfeil steckt im Nordatlantik», antworte ich. «Mein ruhiges Plätzchen liegt auf dem Meeresboden, irgendwo zwischen Island und Grönland.»

«Oh. Dann dürfen Sie wählen», sagt Dr. Zhang. «Wollen Sie lieber nach Island oder lieber nach Grönland?»

«Geht auch Ibiza?», frage ich.

Er überhört die Bitte, weil er mit seinem Computer beschäftigt ist.

«Mallorca würde ich auch nehmen», füge ich hinzu. «Oder können wir uns nicht wenigstens auf Rügen einigen?»

Dr. Zhang blickt vom Bildschirm hoch. «Nicht nötig. Ich hab schon was gefunden. Wir machen es folgendermaßen: Sie fliegen morgen für ein paar Tage nach Island. Offiziell habe ich Ihnen ärztlich angeraten, meinen Freund Dr. Einar Gunnarsson aufzusuchen, er ist einer der weltweit angesehensten Spezialisten auf seinem Fachgebiet.»

Dr. Zhang drückt eine Taste, und ein Drucker nimmt geräuschvoll seine Arbeit auf.

«Und was ist das Fachgebiet von Dr. Gunnarsson?», will ich wissen.

«Keine Ahnung», erwidert Dr. Zhang. «Ich habe ihn gerade erst erfunden. Aber ich bin sicher, wenn es ihn gäbe, dann würde er mir schreiben, dass er mindestens eine Woche braucht, um Sie mal gründlich durchzuchecken.»

Er zieht ein Blatt aus dem Drucker und reicht es mir. «Ihre Überweisung. Viel Spaß in Island. Schicken Sie mir eine Postkarte.»

«Danke. Das werde ich tun», sage ich.

«Gern geschehen.» Er wendet sich wieder seinem Essen zu, bemerkt dann aber, dass ich etwas unschlüssig im Raum stehe. «Ist noch was?»

«Ich überlege gerade, was man tatsächlich in Island machen kann. Haben Sie zufällig eine Ahnung?»

Dr. Zhang zeigt mir sein breites Lächeln. «Am besten tun Sie nichts.»

«Nichts?»

«Genau. Tun Sie einfach mal eine Woche lang gar nichts. So was kann wahre Wunder wirken.»

«Okay», sage ich und will mich nun endgültig abwenden.

Eine letzte Frage habe ich noch. «Wie alt sind Sie eigentlich wirklich?»

«Zweiundfünfzig», antwortet er.

«Dann sind wir etwa gleich alt», erwidere ich erstaunt.

«Ja. Und?»

«Sie sehen nicht wesentlich jünger aus als Anfang fünfzig. Ihre spezielle Kost wirkt also offenbar keine Wunder.»

Dr. Zhang zuckt mit den Schultern. «Das ist noch nicht raus, würde ich sagen. Ich mache diese Diät nämlich erst seit einer Woche. Schauen Sie doch in dreißig Jahren noch mal vorbei. Dann sehen wir, ob es was gebracht hat.

 

«Du kommst spät», sagt Conny, als ich das Schlafzimmer betrete, um mich rasch für unsere abendliche Verabredung umzuziehen.

Ich hauche ihr einen Kuss auf die Wange. «Ja. Ich beeile mich.»

Ihr Parfum hängt in der Luft, ein leichter, frischer Duft, der gut zu einem lauen Sommerabend passt.

«Paps hat mir erzählt, dass du heute stundenlang Mittagspause gemacht hast. Was war denn los?» Sie sitzt an ihrem Schminktisch und sucht nach einem Lippenstift, der zu ihrem pastellfarbenen Sommerkleid passt. Ich bemerke, dass sie mich unauffällig belauert.

«Lass uns später darüber reden», sage ich.

Ich überlege, was ich anziehen soll. Wir sind zwar nur zu einem zwanglosen Grillabend bei Connys Eltern eingeladen, aber ihre Familie legt Wert auf Äußerlichkeiten. Conny selbst geht grundsätzlich nur geschminkt und in gepflegter Garderobe aus dem Haus. Völlig undenkbar, dass sie in Jogginghose Brötchen holen würde. Das Formelle hat sie von ihrem Vater, der am liebsten im schwarzen Anzug herumläuft, selbstverständlich mit blütenweißem Hemd und immer korrekt sitzender Krawatte. Wenn es nicht seltsam aussähe, würde er in diesem Aufzug sogar am Grill stehen.

Conny beobachtet mich im Schminkspiegel, während ich meinen Anzug in den Schrank hänge und in eine Jeans schlüpfe. Womöglich ist ihr dieser Aufzug zu leger.

«Wir sind doch heute mit deinen Eltern allein, oder?», frage ich sicherheitshalber.

Sie hat den passenden Lippenstift gefunden und beginnt, ihn aufzutragen.

«Mmmm», summt sie.

«War das ein Ja?», frage ich. «Und heißt das, die Jeans ist okay, oder was?»

«Mmmm», wiederholt sie.

«Dann ist ja gut», sage ich und schließe die Schranktür.

«Wir wollen doch heute über Lenas Hochzeit sprechen. Schon vergessen?»

«Wie könnte ich die Hochzeit meiner Tochter vergessen?», antworte ich diplomatisch.

«Wenn ich mich recht entsinne, dann hast du vor nicht allzu langer Zeit sogar vergessen, dass du selbst verheiratet bist.» Gemächlich stellt sie den Lippenstift auf den Schminktisch zurück und wirft mir im Spiegel einen forschenden Blick zu: «Du triffst dich doch nicht wieder heimlich mit ihr, oder?»

Die Frau, deren Namen Conny nicht aussprechen will, heißt Astrid Bollinger. Wir hatten eine Affäre, aber das ist vorbei. Ich wollte meine Ehe retten, habe deshalb reinen Tisch gemacht und Conny versprochen, dass ich sie nicht noch einmal enttäuschen werde. Seitdem gehe ich regelmäßig mit meiner Frau zur Paartherapie und halte mein Versprechen. Aber es wäre sowieso unmöglich, die Affäre mit Astrid wieder aufleben zu lassen. Conny passt auf mich auf wie ein Schießhund.

«Nein», antworte ich wahrheitsgemäß.

«Nein?» Conny klingt ungemütlich. «Du bist mehrere Stunden verschollen, und das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Nur ein … Nein?»

«Wie gesagt, ich würde mich gern später in Ruhe mit dir unterhalten», erkläre ich in ruhigem Tonfall.

Sie dreht sich auf ihrem Hocker zu mir um. «Ich möchte aber gern jetzt mit dir reden. Und nicht erst später. Also. Was ist heute passiert?»

«Deine Eltern warten auf uns», gebe ich zu bedenken. «Und Rainer kann es nicht ausstehen, wenn man zu spät kommt.»

«Lass Paps nur meine Sorge sein», erwidert sie und verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust. «Wo bist du heute gewesen, Adam?»

Ich mag es zwar überhaupt nicht, wenn meine Frau mich wie einen Fünftklässler behandelt, der verbotenerweise den Pausenhof verlassen hat. Aber es ist normal, dass sie mir misstraut. Unsere Paartherapeutin hat das prophezeit. Ein Seitensprung sorgt dafür, dass die Grundfesten einer Beziehung erschüttert werden. Eine dieser Grundfesten ist gegenseitiges Vertrauen. Und es kann sehr lange dauern, das wieder aufzubauen.

«Also gut», sage ich und setze mich auf die Bettkante. «Ich wollte die Mittagspause im Park verbringen. Und da war ich auch, als ich plötzlich einen kleinen Schwächeanfall hatte.»

Sie zieht erstaunt eine Augenbraue hoch. Zugleich wirkt sie besorgt.

Beruhigend lege ich meine Hand auf ihren Arm. «Keine Sorge, jemand hat den Notarzt gerufen, und dann haben die mich ins Krankenhaus gebracht und von oben bis unten durchgecheckt. Deshalb war ich erst Stunden später wieder im Büro.»

«Warum hast du mich nicht angerufen?», fragt sie. Da ist immer noch diese Mischung aus Sorge und Erstaunen in ihrem Gesicht zu sehen.

«Ich wollte dich nicht beunruhigen. Außerdem wusste ich nicht, dass die Untersuchung so lange dauern würde.»

Sie nickt skeptisch. «Aha. Und was hat die Untersuchung ergeben?»

«Der Kardiologe meint, es besteht vermutlich kein Grund zur Sorge. Aber sicherheitshalber soll ich zu einem Spezialisten fliegen. Nach Reykjavik.»

In Connys Gesicht überwiegt nun das Erstaunen. «Nach … Reykjavik?»

«Ja. In Island», ergänze ich.

«Ich weiß, wo Reykjavik liegt», sagt sie. Es klingt leicht patzig.

«Der Arzt meint, ich soll es nicht auf die lange Bank schieben. Deshalb würde ich schon morgen hinfliegen», füge ich hinzu. «Aber es ist auch nur für ein paar Tage. Maximal bin ich vielleicht eine Woche weg.»

Das Erstaunen in ihrem Gesicht weicht nun einem leisen Misstrauen.

«Und du willst da ganz allein hin?», fragt sie.

«Ja. Hab ich mir zumindest so gedacht», antworte ich.

«Du sprichst nicht ein Wort Isländisch.»

«Na und? Fast alle Isländer sprechen Englisch. Manche sogar Deutsch.»

«Ach ja?» Es ist keine Nachfrage, eher eine Stichelei.

«Ja. Ich hab mal kurz gegoogelt, wo dieser Arzt mich hinschickt. Einige Isländer haben sogar deutsche Wurzeln. Wusstest du das?»

«Und du kommst nicht auf die Idee, mich zu fragen, ob ich dich vielleicht begleiten möchte?»

«Ich dachte, das wäre dir höchstens lästig. Möchtest du denn?»

«Na ja. Ich meine, du brauchst doch sicher seelischen und moralischen Beistand, oder?» Sie kann nicht besonders gut verhehlen, dass sie mir die Geschichte nicht so ganz abnimmt.

Vielleicht ist es ihr ständiges Misstrauen, das mich daran hindert, ihr einfach die Wahrheit zu sagen. Seit meiner Affäre kann ich nichts tun, ohne Conny darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Würde ich ihr gestehen, dass ich nur ein paar Tage meine Ruhe haben möchte, dann wäre sie bestimmt überzeugt davon, dass ich heimlich meine Geliebte treffen will.

«Du kannst gern mitkommen und dir Island ansehen», schlage ich vor. «Ich werde dich nur leider nicht begleiten können, weil ich in der Klinik bleiben muss, damit sie diese Tests mit mir machen können.»

Ihr Misstrauen weicht, eine leise Skepsis bleibt dennoch. Aber für völlig abwegig hält sie meine Geschichte dann wohl doch nicht.

Ich stehe auf, öffne den Schrank und ziehe Dr. Zhangs Überweisung aus meinem Sakko.

«Der Arzt in Reykjavik ist zufällig ein Freund des Kardiologen, der mich heute untersucht hat», sage ich und gebe Conny die Überweisung. «Das ist auch der Grund dafür, warum ich so schnell einen Termin bekommen habe. Eigentlich dauert das Wochen.»

Sie schaut sich das Papier genau an. Dr. Zhangs improvisierte Überweisung scheint ihre Zweifel zu zerstreuen. Sie steht auf und nimmt mich in die Arme. «Muss ich mir Sorgen um dich machen, Adam?»

«Nein. Alles bestens», sage ich und halte ihrem Röntgenblick stand.

3

Als Conny ihren Eltern von meinem Schwächeanfall erzählt, scheinen auch Rainer und Ruth froh darüber zu sein, dass meine längere Abwesenheit in der Mittagspause nur gesundheitliche und nicht etwa amouröse Gründe hatte. Man gönnt mir lebensbedrohliches Kammerflimmern also eher als sexuelle Eskapaden. Ganz nebenbei scheint jeder hier mich völlig selbstverständlich für einen notorischen Fremdgeher zu halten.

Damals, nachdem ich ihr die Affäre mit Astrid gestanden hatte, vertraute Conny sich nicht nur ihren Eltern an, sie zog auch eine Weile zu ihnen. In dieser Zeit litt sie unter Heulkrämpfen, unkontrollierten Fressattacken und einer daraus resultierenden merklichen Gewichtszunahme.

Ruth und Rainer reagierten entsetzt und fassungslos.

«Warum hast du ihr denn überhaupt was gesagt?», blaffte Rainer mich eines Morgens in der Kanzlei an. «Ich denke, die Affäre ist passé.»

«Ist sie ja auch, aber ich wollte trotzdem nicht, dass diese Sache zwischen Conny und mir steht», antwortete ich.

«Na, das ist dir ja super gelungen!», rief er genervt. «Sie heult sich die Augen aus dem Kopf, frisst wie ein Sumo-Ringer und ist überzeugt davon, dass sie nie wieder glücklich sein wird. Glaubst du im Ernst, dass sie da jemals drüber hinwegkommt?»

«Ja, das glaube ich tatsächlich», antwortete ich zuversichtlich.

«Vergiss es», erwiderte Rainer im Brustton der Überzeugung. «Ich schwöre dir, Adam, du wirst bis an dein Lebensende Vorwürfe zu hören bekommen. Mit der Zeit verwandeln sie sich vielleicht in Sticheleien, aber die werden nie aufhören. Da kannst du hundert Jahre alt werden. Und am Ende wirst du die Geschichte mit in dein dunkles Grab nehmen.»

«Hätte ich stattdessen eine Lüge mit ins Grab nehmen sollen?», fragte ich.

«Aber klar! Wenn es für alle Beteiligten besser ist, dann muss man auch den Mumm haben, mit einer Lüge zu leben. Oder sogar mit mehreren.»

«Das klingt, als würdest du dich damit auskennen», erwiderte ich.

Er atmete tief durch, legte mir eine Hand auf die Schulter und sah mir in die Augen. «Adam, ich bin seit siebenundvierzig Jahren verheiratet. Ich werde so viele Lügen mit ins Grab nehmen, dass ich nicht mal sicher bin, ob sie zusätzlich noch den Sarg reinkriegen.»