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Hans Rath

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Beschreibung

Der Sensenmann in Therapie Ausgerechnet an ihrem 50. Geburtstag bekommt die Psychologin Liv Bentele Besuch von einem attraktiven Südländer in schwarzem Cape. Leider hat sich der Mann nur in der Tür geirrt. Aber dann ist plötzlich die alte Dame tot, nach der er sich erkundigt hat, und Liv stellt ihn zur Rede. In Wahrheit sei er Thanatos, der griechische Gott des sanften Todes, antwortet er freundlich, und ja, es deprimiere ihn zutiefst, wie unwürdig das Sterben heute sei. Liv sieht in ihm eher einen von Todessehnsucht geplagten Neurotiker und bietet ihm therapeutische Hilfe an. Bei ihrem lebhaften Austausch stellt sich heraus, dass Livs neuer Klient tatsächlich der Sensenmann ist – und sich nicht in der Tür geirrt hat.

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Hans Rath

Jetzt ist Sense

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1

Sie wäre heute gern mit einem Kuss geweckt worden, aber die Welt war leider nicht perfekt. Statt sich im Bett zu rekeln und an frischen Croissants zu knabbern, stand Olivia gebückt und leise fluchend in ihrer kleinen Küche und stocherte mit dem Brotmesser in der Kaffeemaschine herum, um eine der verdammten Kapseln, die sich darin verklemmt hatte, freizubekommen.

Dummerweise war die Maschine noch vor der ersten Tasse in die Knie gegangen. Und ganz oben auf Olivias Liste unausstehlicher Dinge stand, sich vor dem ersten Kaffee ärgern zu müssen. Sie fand, mit Kaffee ärgerte es sich irgendwie leichter.

Als es an der Tür klingelte, zuckte sie erschrocken zusammen, und dabei brach mit einem leisen »Pling« das Brotmesser ab. Genervt warf sie es in die Spüle.

Happy birthday, Liv.

Sie öffnete. Vor ihr stand ein Mann mit braunen Augen, dunklen Haaren, einem Dreitagebart, einem langen schwarzen Umhang und einer …

»Ist das eine Sense?«, fragte sie.

Er nickte.

Seltsame Erscheinung, dachte sie. Irgendwas zwischen Zigeunerbaron und Graf Dracula. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ihn ganz attraktiv zu finden. Zumindest, soweit sie das trotz des Capes beurteilen konnte.

Außerdem ging ihr durch den Kopf, dass das Wort »Zigeunerbaron« bestimmt diskriminierend war. Ob die gleichnamige Operette wohl umbenannt werden musste? Aber in was? In Baron, ungarische Art? Vermutlich war auch das diskriminierend. Sie schob das Problem beiseite. »Was kann ich für Sie tun?«

»Schade. Sie sind nicht Elisabeth Keller«, stellte er fest, während er ein Päckchen Zigaretten unter seinem Umhang hervorfummelte.

»Stimmt.« Sie deutete auf ihr Praxisschild.

Vielleicht ist er ein Stripper, dachte sie. Ob Conny ihr zum Geburtstag einen Stripper vorbeigeschickt hatte? Ihrer besten Freundin wäre eine solche Idee absolut zuzutrauen. Aber warum war sie dann nicht hier, um sich ebenfalls an Olivias Geschenk zu erfreuen?

»Dr. Olivia Bentele«, las er halb laut vor und steckte sich eine Zigarette in den Mund. »Sie sind Psychologin. Interessant.«

»So ist es«, erwiderte sie. »Und hier ist Rauchen verboten.«

»Trifft sich gut. Ich wollte sowieso aufhören«, sagte er, nahm die Zigarette aus dem Mund und schob sie hinters Ohr. »Ich interessiere mich übrigens auch für Psychologie.«

»Wie schön«, sagte sie und dachte: Wenn er für mich strippen will, dann soll er das doch einfach tun.

»Ich vermute, Sie kennen Freuds Theorie vom Todestrieb«, sagte er.

Olivia fragte sich, ob es zu seinem Job gehörte, sich interessant zu machen, bevor er zur Sache kam. »Ja. Sagt mir was. Thanatos und Eros, richtig?«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Genau.« Er wiederholte ihre Worte wie eine Verheißung. »Thanatos und Eros.«

In leiser Vorfreude öffnete sie die Tür. »Wollen Sie vielleicht reinkommen und … darüber reden?«

»Nein, ich hab leider keine Zeit«, sagte er. »Aber vielleicht könnten Sie mir Ihre Karte geben. Man weiß ja nie, wozu es gut ist.«

»Klar.« Olivia überlegte zwar kurz, ob sie da gerade einen Spinner mit einem Stripper verwechselt hatte, nahm aber dennoch eine Visitenkarte vom Besuchertisch und gab sie ihm. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht vielleicht doch reinkommen möchten?«

»Bin ich«, erwiderte er und schien selbst ein wenig zu bedauern, dass er weitermusste. »Sie wissen nicht zufällig, wo ich Elisabeth Keller finden kann?«

»Doch. Zwei Etagen höher«, antwortete Olivia.

»Danke.« Lässig schulterte er seine Sense und machte sich auf den Weg nach oben. »Schönen Tag noch.« Er begann, Griechischer Wein vor sich hin zu pfeifen.

»Ebenso.« Olivia sah ihm nach. Was der gut gelaunte Sensenmann von der alten Frau Keller wollte, ging sie zwar nichts an, aber neugierig war sie trotzdem. »Erwartet sie Sie eigentlich?«, rief sie ihm hinterher.

»Ja, wir sind verabredet«, antwortete er, ohne sich umzudrehen.

»Na, dann ist ja alles bestens«, sagte sie und schloss die Tür.

2

Schade, ein Stripper wäre nett gewesen, dachte Olivia und wollte sich wieder zur Küche wenden, als es erneut klingelte.

Lächelnd öffnete sie die Tür. »Haben Sie sich doch nicht in der Tür geirrt?«

»Wie meinst du das?«

Georg, ihr Ex-Mann. Längst nicht so eine Augenweide wie der Kerl mit der Sense. Ihr Lächeln erstarb. »Es war gerade jemand an der Tür, und ich dachte … Egal, vergiss es.«

»Alles okay mit dir?«, fragte er und klang besorgt, was allerdings nicht viel hieß. Georgs Sorge um andere Menschen hielt sich in Grenzen. Er bekundete zwar oft Anteilnahme, am liebsten sorgte er sich aber um sich selbst.

»Alles bestens«, log sie. »Und bei dir?«

Er sah müde aus. Sogar sehr müde. Regelrecht abgekämpft. Ein Mann Mitte fünfzig mit dünner werdendem Haar, einem Bauchansatz und langsam schmaler werdenden Schultern. Es tat ihm wohl doch nicht so gut, sie für eine deutlich Jüngere verlassen zu haben. Tja, geschah ihm ganz recht.

»Ich brauche deine Hilfe. Darf ich reinkommen?«

Sie zögerte.

»Ist wirklich wichtig«, fügte er hinzu.

»Ich hab eigentlich keine Zeit. Gleich kommt eine Klientin.«

»Danke, geht auch ganz schnell«, sagte er und zwängte sich an ihr vorbei, um sich seufzend in einen der beiden Sessel fallen zu lassen, die im Eingangsbereich standen. »Sag mal, riecht’s hier nach Kaffee?«

»Nein. Die Maschine streikt.« Sie schloss die Tür und setzte sich ihm schräg gegenüber in den anderen Besuchersessel. »Fünf Minuten. Ich muss mich noch vorbereiten. Die Frau kommt zum Erstgespräch.«

»Soll ich sie mir mal ansehen?«, fragte er.

Sie stutzte. »Meine Klientin?«

»Nein. Die Kaffeemaschine.«

»Wozu? Verstehst du denn was davon?«

»Das nicht, aber vielleicht finde ich den Fehler trotzdem.«

Warum glaubten die meisten Männer eigentlich, Dinge zu können, von denen sie nicht die leiseste Ahnung hatten? Olivia fand, das war mit Erziehung oder Sozialisation nur ungenügend zu erklären. Es musste einen anderen Grund dafür geben. Vielleicht einen evolutionären Vorteil, den man hatte, wenn man sich vordrängelte, um in einen ausweglosen Krieg zu ziehen oder bei einer irrwitzigen Expedition ins Gras zu beißen. Aber worin hätte dieser Vorteil bestehen können? Alle Männer, die bei idiotischen Heldentaten ins Gras bissen, waren für die Evolution schließlich verloren.

»Was ist? Soll ich?«, fragte er und riss Olivia aus ihren Gedanken. »Sag schon, soll ich mir die Kaffeemaschine jetzt mal ansehen, oder nicht?«

Olivia überlegte kurz, ob sie Georg an der Evolutionslotterie teilnehmen lassen sollte. Heute in der Lostrommel: ein Stromschlag, verursacht durch eine defekte Kaffeemaschine. »Nicht nötig«, antwortete sie. »Ich hab sie schon allein kaputt gekriegt. Also, was hast du auf dem Herzen?«

Er seufzte lang und theatralisch, schaute an die Decke und überlegte.

In Wahrheit hatte sie noch eine gute halbe Stunde Zeit, genug also, um in Ruhe mit ihm zu reden. Andererseits war heute ihr Geburtstag. Statt sich die Probleme ihres Ex-Mannes anzuhören, würde sie viel lieber irgendwo einen Becher Kaffee organisieren und damit noch ein Viertelstündchen still am Fenster in der Sonne sitzen.

Viel Sonne hatte dieser Spätsommermorgen zwar nicht zu bieten, aber es war besser als nichts. In jedem Fall besser als ein Gespräch mit dem Ex. »Lass uns lieber ein andermal reden.«

Georg erwachte aus seiner Denkstarre. »Nein. Ist schon gut. Ich frag mich nur, wo ich anfangen soll.« Er seufzte erneut und fläzte sich in den Sessel, als hätte er alle Zeit der Welt. »Es ist leider ein bisschen … kompliziert.«

»Irgendwo solltest du jetzt anfangen«, sagte sie leicht genervt. »Wie schon erwähnt, habe ich gleich einen Termin.«

»Springst du immer so mit deinen Klienten um?«, fragte er spitz.

»Du bist nicht mein Klient. Du bist mein Ex-Mann. Und nach Lage der Dinge behandele ich dich außerordentlich fair.«

»Schon gut.« Er wusste, dass sie recht hatte. »Also. Die Sache ist die: Es läuft momentan nicht gut mit mir und Manisha. Ehrlich gesagt, läuft es schlecht. Manchmal sogar sehr schlecht.«

»Wer ist Manisha? Bist du nicht mit Uschi zusammen?«

»Ihr Name ist nicht Uschi, sondern Ursula. Und du weißt ganz genau, dass sie es nicht mag, Uschi genannt zu werden.«

»Da sie nicht hier ist, wird es sie nicht weiter stören«, erwiderte Olivia ungerührt.

»Und was ist, wenn auch ich es nicht mag, dass du sie Uschi nennst?«, fragte er gereizt.

»Willst du deine fünf Minuten wirklich damit verplempern, Haare zu spalten, oder mir jetzt einfach sagen, was es mit Manisha auf sich hat?«

»Ursula nennt sich neuerdings Manisha«, erklärte Georg. »Das ist ein spiritueller Name aus dem Sanskrit.«

»Klingt auf jeden Fall besser als Uschi.«

»Hör auf, Liv.«

»Okay, ich fasse mal zusammen. Deine Uschi hat sich einen neuen Namen zugelegt, und es gibt Probleme in eurer Beziehung. Letzteres ist, wie wir alle wissen, nichts Neues.«

»Und? Was sagst du dazu?«

»Ich sage genau das, was ich immer sage, wenn du mich nach eurer Beziehung fragst: Ich kann euch nicht beraten, weil ich persönlich zu sehr involviert bin. Ihr müsst eure Probleme also allein lösen oder euch anderweitig psychologische Hilfe suchen.«

»Ich will keine Therapie von dir, sondern nur einen Ratschlag«, sagte er. »Und ich bitte dich auch nicht als Psychologin, sondern als gute Freundin.«

»Als … was?« Hatte sie sich verhört?

»Als gute Freundin.«

»Wir sind geschieden und reden noch hin und wieder miteinander. Aber das macht uns nicht zu guten Freunden, Georg«, stellte Olivia klar. »Außerdem ist der Sinn einer Scheidung nicht, dass man gute Freunde bleibt. Oder wird.«

»Komm schon, Liv, sei nicht so förmlich«, bat er. »Du kannst die Frage, die ich dir stellen will, mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Ich erwarte nicht mal eine Begründung.«

Sie sah ein, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu diskutieren. Er war entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. »Also gut«, sagte sie. »Wie lautet deine Frage?«

Er straffte sich. »Findest du, ich sollte Manisha einen Heiratsantrag machen?«

Der Typ hat wirklich Nerven, dachte Olivia. Da kommt er am frühen Morgen unangemeldet in meine Praxis, und statt mir zum Geburtstag zu gratulieren, was nicht unbedingt nötig, aber irgendwie ganz nett gewesen wäre, fragt er mich, ob er seine fünfundzwanzig Jahre jüngere Freundin heiraten soll, jene Freundin, für die er unsere Ehe über Bord geworfen hat. »Du willst sie heiraten, obwohl es gerade schlecht läuft? Ist das eine gute Idee?«

Olivia fragte sich, ob sie Manisha in gewisser Hinsicht dafür dankbar sein sollte, dass sie Georg und seine Probleme zu sich genommen hatte. Aber sollte sie all das jetzt auch noch heiraten?

»Weißt du, ich dachte mir, dass ich ihr mit einem Antrag beweisen kann, wie ernst es mir mit unserer Beziehung ist. Vielleicht habe ich ihr das bislang nicht genug gezeigt.«

»Was meint denn Lilly dazu?«

»Lilly ist siebzehn und hat ihre eigenen Probleme. Außerdem möchte ich mein Lebensglück nicht von den Ansichten meiner Tochter abhängig machen.«

»Hast du sie denn überhaupt gefragt?«

»Was soll das, Liv? Natürlich habe ich sie gefragt.«

Sie sah ihm an, dass er log. Schon immer hatte sie ihm seine Lügen an der Nasenspitze ansehen können. »Du hast sie nicht gefragt.«

»Nein, hab ich nicht«, gab er zu.

»Du willst deine Tochter über eure Zukunftspläne im Unklaren lassen, aber fragst mich um Rat?«

»Ja. Weil wir verheiratet waren. Und weil du mich kennst.«

»Wir waren nicht mal ein Jahr lang verheiratet.«

»Aber wir kennen uns seit sechs Jahren.«

»Wobei wir seit zwei Jahren getrennt sind. Lilly kennt dich also sehr viel länger. Außerdem würde sie sich mit einer neuen Stiefmutter arrangieren müssen, während sich für mich nichts ändert.«

Er winkte ungehalten ab. »Schon gut, schon gut, ich werde sie fragen.«

Olivia nickte zufrieden und stand auf. »Bestens, dann hast du ja jetzt, was du wolltest.«

»Wie jetzt?« Er wirkte verblüfft. »Ich wollte einen Ratschlag von dir.«

»Und den hast du bekommen: Sprich erst einmal mit deiner Tochter.«

»Aber ich wollte doch wissen, wie du über die Sache denkst!«

Sie fragte sich, ob er von ihr eine Absolution erwartete oder ob er sich wünschte, dass sie ihm die Sache ausredete. Immerhin wäre es seine vierte Ehe, drei Versuche waren schon gefloppt. »Sprich mit Lilly. Dann reden wir noch mal in Ruhe, okay?«

Wenig später verhallten Georgs Schritte im Treppenhaus.

Olivia wollte gerade zurück in ihre Wohnung, da hörte sie von oben ein fröhliches Pfeifen, und kurz danach kam der Mann mit der Sense die Treppe heruntergeschlendert.

Sie wunderte sich. »Ist Frau Keller etwa nicht da?«

»Doch. Ich komme gerade von ihr.«

»Das war dann aber ein sehr kurzer Besuch.«

»Jaja, ging alles ganz schnell«, sagte er und spazierte an Olivia vorbei.

Sie sah ihm hinterher und fragte sich erneut, was er von ihrer Nachbarin gewollt haben könnte. »Sind Sie eigentlich ein Verwandter?«

»Nein«, antwortete er knapp und stieg die Stufen hinab.

»Und … wie war noch gleich Ihr Name?«

Er hielt auf dem Treppenabsatz inne und blickte zu ihr hoch. »Ich glaube nicht, dass ich mich vorgestellt habe.«

Sie lächelte einnehmend. »Dann können Sie das ja jetzt nachholen.«

Er lächelte zurück. »Ich würde wirklich gern mit Ihnen plaudern, aber das müssen wir verschieben, denn ich habe heute eine Menge Arbeit zu erledigen. Schönen Tag wünsche ich Ihnen. Genießen Sie ihn. Wer weiß, was heute noch alles passiert.«

Olivia wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber die Klingel erinnerte sie lautstark an ihren ersten Termin.

Als sie den Türöffner betätigt hatte und sich wieder zur Treppe wandte, war der Sensenmann verschwunden.

3

Hanna Kirschner. Olivia schätzte sie auf Mitte, Ende vierzig. Eine schlanke, beinahe hager wirkende, gut gekleidete Frau mit widerspenstigen dunkelbraunen Haaren, die sie mit einer hellen Spange zu einem Zopf gebändigt hatte.

Olivia bat ihre Klientin, es sich im Behandlungszimmer bequem zu machen und in Ruhe den Anamnesebogen auszufüllen. Inzwischen wollte sie kurz nachsehen, ob es der alten Frau Keller gut ging. Der merkwürdige Besucher mit der Sense hatte zwar einen sympathischen Eindruck gemacht, aber Olivia wurde dennoch das dumpfe Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Muss ich das alles ausfüllen?«, fragte Hanna und blätterte durch den mehrseitigen Anamnesebogen.

Olivia bemerkte, dass sie nicht nur eine ungewöhnlich sanfte Stimme hatte, sondern auch sehr leise sprach.

»Wichtig sind Ihre persönlichen Daten. Und die Angaben zu Vorerkrankungen und zum Konsum von Medikamenten, Alkohol, Zigaretten und so weiter. Alles andere können wir auch im Gespräch klären, wenn es Ihnen lieber ist.«

»Ich bin Selbstzahlerin«, sagte Hanna unvermittelt.

»Das ist kein Problem«, erwiderte Olivia. »Die Preise stehen auf meiner Praxisseite im Internet.«

»Ich weiß«, sagte Hanna. »Ich wollte nur wissen, ob Sie meine Daten an irgendwelche Behörden weitergeben.«

Olivia schüttelte den Kopf. »Ich unterliege der ärztlichen Schweigepflicht. Ihre Daten und alles, was wir besprechen, bleibt unter uns.«

Hanna nickte zufrieden und wandte sich dem Bogen zu.

»Bin gleich wieder da«, sagte Olivia und verließ das Behandlungszimmer, um nach Frau Keller zu sehen.

Sie konnte das Schrillen der alten Türklingel bis auf den Flur hören. Sie wartete. Vergeblich.

Dann klingelte sie erneut. Doch wieder herrschte nur Totenstille.

Sie versuchte es ein drittes Mal.

Als das geräuschvolle Rascheln eines Schlüsselbundes erklang, wollte Olivia schon aufatmen, aber nicht Frau Kellers Tür wurde geöffnet, sondern die des Nachbarn.

»Können Sie vielleicht mal aufhören, hier Sturm zu läuten?«, schimpfte er. »Ganz offensichtlich ist ja niemand da!«

»Sie muss aber da sein«, erwiderte Olivia. »Sie hatte gerade noch Besuch.«

Kopfschüttelnd versperrte der Mann seine Wohnung und verschwand grußlos und polternd im Treppenhaus.

Blödmann, dachte Olivia und horchte an der Tür. Es war nichts zu hören. Sie sah ein, dass es keinen Sinn hatte, noch länger zu warten.

Wenig später saß sie Hanna Kirschner gegenüber und studierte den Anamnesebogen. Verwundert stellte Olivia fest, dass ihre neue Klientin nicht bereits Mitte vierzig war, sondern gerade mal neununddreißig. Olivia durchzuckte die bange Frage, ob auch sie ein paar Jahre älter aussah, als sie in Wirklichkeit war. Rasch schob sie den Gedanken beiseite. Es war okay, an einem Tag wie heute über das eigene Alter nachzudenken. Nicht okay war es, sich davon runterziehen zu lassen.

»Sie leiden unter Schlaflosigkeit«, stellte Olivia fest.

»Ja. Unser Hausarzt meinte, es handelt sich um eine innere Unruhe. Deshalb hat er mir Baldrian verschrieben. Und später auch ein Schlafmittel.«

»Seit wann verspüren Sie diese innere Unruhe?«

»Schon länger«, antwortete Hanna vage. »Aber es ist mit der Zeit schlimmer geworden. Carlo sagt, dass ich einfach nicht mehr so belastbar bin wie früher.«

»Carlo ist …?« Olivia blätterte im Anamnesebogen.

»Mein Mann«, kam Hanna ihr zuvor.

»Und sehen Sie das auch so wie Ihr Mann?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ja. Vermutlich.«

»Meinen Sie damit, dass Sie die Sache vermutlich ähnlich sehen wie ihr Mann oder dass er vermutlich recht hat?«

»Beides«, antwortete Hanna.

»Hier steht, Sie sind seit vierzehn Jahren verheiratet. Sie haben zwei Töchter, vierzehn und zwölf Jahre alt.«

»Wir kannten uns erst kurz, bevor ich mit Ina schwanger wurde, und haben dann auch gleich geheiratet.«

»War das Ihr Wunsch?«

»Meinen Sie die Schwangerschaft oder die Hochzeit?«

»Beides«, antwortete Olivia.

»Die Schwangerschaft war ein Unfall. Ich weiß nicht, ob ich sonst den Wunsch gehabt hätte, ihn zu heiraten. Aber als er mich gefragt hat, habe ich Ja gesagt. Wie würden Sie das nennen?«

»Sagen Sie es mir«, bat Olivia freundlich.

Hanna überlegte. »Wenn ich Carlo so höre, dann müsste ich eigentlich wunschlos glücklich sein. Wir haben ein großes Haus mit Garten, zwei gesunde Kinder, genug Geld für Urlaube und ein sehr angenehmes Leben.«

»Und? Sind Sie glücklich?«, fragte Olivia.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich glücklich bin«, antwortete Hanna. »Wunschlos glücklich bin ich garantiert nicht. Geht ja auch gar nicht. Ich meine, wenn man keine Wünsche mehr hat, dann wird das Leben doch sinnlos, oder? Es ist, als wäre man glücklich begraben, oder so.«

»Glücklich begraben?«, wiederholte Olivia verwundert.

»Ja, wenn man dauernd wunschlos glücklich ist, sich nach nichts mehr sehnt und nach nichts mehr strebt, dann wird doch alles bedeutungslos. Man friert quasi fest in seinem Glück. Vielleicht mit einem Lächeln auf den Lippen. Aber es ist trotzdem so, als wäre man tot und begraben.«

»Fühlen Sie sich so?«, fragte Olivia. »Glücklich begraben?«

Hanna lachte.

Olivia fiel auf, dass sie ihre makellosen Zähne bislang nicht gezeigt hatte.

»Carlo glaubt, dass mich mein Leben im goldenen Käfig langweilt und ich deshalb auf solche merkwürdigen Gedanken komme. Wenn es nach ihm geht, dann sind auch meine Schlafstörungen nur ein Ausdruck von Langeweile.«

»Das klingt, als würden Sie ihm auch in dieser Hinsicht recht geben«, sagte Olivia. »Finden Sie oft, dass er recht hat?«

Hannas makellose Zähne verschwanden abrupt hinter den sorgfältig geschminkten Lippen. »Ja. Im Grunde schon. Aber er hat ja auch immer recht.«

»Wieso das?«

»Weil die Fakten für ihn sprechen. Was er sagt, stimmt. Zumindest rein faktisch gesehen. Also denke ich, der Irrtum muss bei mir liegen, meine Gefühle sind falsch.«

»Ist das Ihre Ansicht? Oder die Ihres Mannes?«

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Hanna mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wenn ich es nicht glauben würde, dann würde er es für uns beide glauben.«

Olivia ließ den letzten Satz auf sich wirken, bevor sie sagte: »Bitte, erzählen Sie mir von Ihrem Mann.«

»Er ist groß, fast zwei Meter. Sportlich. Er fährt Ski. In seiner Jugend hat er Eishockey gespielt. Er ist sehr diszipliniert, geht regelmäßig ins Fitnessstudio. Und sollte einer seiner Anzüge doch mal etwas spannen, dann machen wir alle zusammen eine Familiendiät.«

»Eine Familiendiät«, wiederholte Olivia gedehnt.

»Ja. Er sagt, gelegentliches Fasten ist gut für den Körper, und Verzicht fällt allen leichter, wenn man gemeinsam verzichtet.«

»Haben in Ihrer Familie alle diese Erkenntnis, oder stammt sie nur von Ihrem Mann?«

»Er kann sehr überzeugend sein«, antwortete Hanna vage.

»Was macht er beruflich?«

»Er ist Manager eines Businesshotels.«

»Hier in Berlin?«

Hanna nickte. »Er hat unserer Familie zuliebe auf lukrative Angebote aus dem Ausland verzichtet. Jetzt muss er zwar einmal im Monat in die Zentrale nach Paris, aber sonst ist er meistens da.«

»Sind Sie beide glücklich mit dieser Entscheidung?«

»Wie man es nimmt. Einerseits haben wir es geschafft, den Kindern ein Zuhause zu geben, statt mit ihnen um die Welt zu ziehen. Andererseits glaube ich, dass Carlo gern einen prestigeträchtigeren Job hätte. Ich denke, er hat sich seine Karriere etwas anders vorgestellt.«

»Und wie geht es Ihnen damit?«

Hanna überlegte lange.

»Ich weiß nicht«, sagte sie dann. »Ich glaube, ich habe mich das bislang nie ernsthaft gefragt.«

»Wie wäre es, wenn Sie das tun«, schlug Olivia vor.

»Und was, wenn ich ebenfalls zu der Erkenntnis komme, dass ich mir mein Leben ganz anders vorgestellt habe?«, fragte Hanna skeptisch.

»Ich weiß nicht, was dann wäre«, erwiderte Olivia. »Ich glaube, Sie müssen es einfach ausprobieren. Dann werden wir sehen, was passiert.«

4

»Ah, die Frau Doktor. Ist irgendwas kaputt?«

»Nein, Herr Spengler, alles in Ordnung. Ich wollte Sie nur fragen, ob wir mal kurz nach der alten Frau Keller sehen könnten. Ich war heute schon zweimal an ihrer Tür, aber sie macht nicht auf.«

Der Hausmeister sah die Treppe hinauf, als wäre es die Eiger-Nordwand. »Dann würde ich mal sagen, die gute Frau Keller ist nicht zu Hause.«

Olivia roch den Braten. Vielmehr die Buletten, die auf Spengler warteten. Offenbar wollte er sich die Mittagspause nicht verderben lassen.

»Sie hatte heute Besuch«, erklärte Olivia. »Eigentlich müsste sie da sein.«

»Na bitte!«, frohlockte er. »Wenn sie Besuch hatte, dann geht es ihr gut, und alles ist in bester Ordnung.«

»Aber das war heute Morgen«, insistierte Olivia.

»Na und? Heute Morgen ist ja noch nicht so lange her«, gab Spengler zu bedenken. »Warum glauben Sie eigentlich, dass ihr was passiert sein könnte?«

»Ich dachte, ich hätte eben ein Geräusch aus ihrer Wohnung gehört«, log Olivia. »Es klang, als wäre jemand gestürzt oder so.« Sie sah ihm an, dass er ihr kein Wort glaubte.

»Na gut. Ich schau später mal bei ihr vorbei.« Er schickte sich an, die Tür zu schließen.

»Aber dann könnte es zu spät sein, Herr Spengler. Falls Frau Keller in ihrer Wohnung gestürzt ist, dann braucht sie schnell Hilfe und nicht erst nach Ihrer Mittagspause.«

Spengler zögerte. Sah so aus, als würde er überlegen, wie viel Ärger ihm die Sache einbrocken könnte.

Also goss Olivia mit der Frage »Können Sie das verantworten, Herr Spengler?« noch ein wenig Öl ins Feuer.

Er seufzte und griff nach dem Schlüsselbund. »Schon gut. Gehen wir.«

Auch diesmal halfen Klingeln und Klopfen nicht.

Spengler schloss die Tür mit seinem Zweitschlüssel auf, öffnete sie einen Spalt breit und rief: »Frau Keller? Sind Sie da?«

Keine Reaktion.

»Vielleicht ist sie bewusstlos«, sagte Olivia.

»Ja. Vielleicht liegt sie aber auch splitternackt in der Badewanne und seift sich gerade ein. Das könnte dann für uns alle ein bisschen peinlich werden.«

»Für Sie vielleicht. Für mich nicht«, sagte Olivia und schickte sich an, die Tür ganz zu öffnen.

»Entschuldigung, Frau Doktor, aber ich kann Sie nicht einfach so allein in eine fremde Wohnung lassen.«

»Dann kommen Sie halt mit«, sagte Olivia.

Bevor er etwas erwidern konnte, war sie bereits an ihm vorbei in den Flur spaziert, wo sie nun innehielt, um ihn hereinzuwinken. »Was ist? Kommen Sie nun mit?«

»Wir machen das jetzt aber auf Ihre Verantwortung«, raunte Spengler und betrat zögerlich die Wohnung.

In diesem Moment bemerkte Olivia, dass etwas nicht stimmte. Der Geruch kam aus dem Wohnzimmer. Eine Urinwolke, wie sie einem manchmal entgegenschlug, wenn man sich öffentlichen Toiletten näherte. Nicht schlimm, aber auch nicht angenehm.

Sie betrat das Wohnzimmer. Noch bevor sie den leblosen Körper auf dem Sofa entdeckte, wusste sie, dass Frau Keller das Zeitliche gesegnet hatte. Olivia roch es nicht nur, sie spürte auch deutlich, dass der Tod vor Kurzem in dieses Zimmer gekommen war.

Frau Keller lag friedlich auf ihrem geblümten Sofa, die Augen träumerisch geschlossen, die Hände über dem Bauch verschränkt. Sie trug ein schlichtes dunkles Kleid und war sorgsam frisiert. Es sah aus, als hätte sie sich für einen festlichen Anlass zurechtgemacht. Olivia glaubte sogar, ein zartes Lächeln auf ihrem blassen Gesicht erkennen zu können. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung.

Spengler hatte es die Sprache verschlagen. Und vermutlich auch den Appetit, denn er sah blasser aus als Frau Keller. Nervös fummelte er sein Handy aus dem Gürtelholster. Olivia hatte sich schon oft gefragt, warum er es nicht in seine Hosentasche steckte, sondern wie einen Colt am Gürtel trug. War wohl auch so ein Männerding.

Während er vor Nervosität stotternd den Notdienst verständigte, musste sie an den Mann mit der Sense denken. Seltsam, dachte sie. Sehr seltsam.

5

Wieder klingelte es. Als sie die Tür öffnete, sah Olivia eine Sachertorte, auf der eine schneeweiße Kerze brannte. Dann tauchte hinter der Torte Connys lächelndes Gesicht auf. Sie begann zu singen: »Happy birthday toooo you. Happy birthday toooo …« Abrupt verstummte sie. »Hast du etwa geweint? Was ist los?«

»Nur ein bisschen«, antwortete Olivia.

Conny kam rein, zog die Tür hinter sich zu, stellte den Kuchen ab und umarmte ihre Freundin. »Mach dir nichts draus, Liv. So geht es uns allen. Es ist nur eine Zahl. Auch wenn dein Tacho seit heute ein neues Jahrzehnt anzeigt, bist du in Wirklichkeit nur ein Jahr älter geworden. Ich weiß, das ist ein schwacher Trost. Mit fünfzig kannst du dir nicht länger einreden, dass du noch die Hälfte des Lebens vor dir hast. Aber …«

Conny löste sich von ihr, zog einen Umschlag aus der Tasche und präsentierte ihn triumphierend. »Aber du kannst viel dafür tun, diese Tatsache zu verschleiern. Hier drin sind fünf Tage Tirol. Nur du, ich und ein Wellnesshotel mit Schönheitstempel, in dem sie alle schmutzigen Tricks kennen. Und in den Pausen begeben wir uns in die begnadeten Hände blutjunger Masseure. Alles Gute zum Geburtstag, Liv.«

Olivia musste lachen. Sie umarmte Conny. »Danke, Liebes. Ich freu mich darauf, mit dir in Tirol runderneuert zu werden. Aber ich habe nicht geweint, weil ich fünfzig werde, sondern weil im Haus jemand gestorben ist.«

»Oh, mein Gott.« Conny war bestürzt. »Und wer?«

»Frau Keller. Zwei Etagen höher.«

»Und wann?«

»Heute Mittag.«

»An deinem Geburtstag?«, fragte Conny mitfühlend.

Olivia zuckte mit den Schultern. »Sie hat es sich nicht aussuchen können.«

»Wie alt war sie?«

»Ich glaube, schon in ihren Achtzigern.«

»Na immerhin«, sagte Conny.

»Na immerhin? Was soll das heißen?«

»Dass sie immerhin achtzig Jahre Zeit gehabt hat, um all das zu tun, was sie in ihrem Leben tun wollte. Nicht jeder bekommt so viel Zeit.«

Olivia stutzte. So hatte sie den Tod der alten Frau noch gar nicht betrachtet.

»Kanntest du sie gut?«

»Wie man sich eben so kennt, wenn man Nachbar ist.«

»Dafür, dass sie nur eine Nachbarin war, hat dich ihr Tod aber ganz schön mitgenommen.«

»Ich war quasi Augenzeugin«, erwiderte Olivia und erzählte von ihrer Begegnung mit dem Sensenmann und dem, was dann gefolgt war.

Connys Bestürzung wuchs zusehends. »Du hast die alte Frau gefunden?«

»Der Hausmeister war bei mir, aber … ja.«

»Morgens klopft also der Tod an deine Tür, und mittags findest du eine Leiche.«

»Es war zwar nicht der Tod persönlich, sondern nur ein offenbar verkleideter Mann, aber ja, seltsamer Zufall, oder?«, antwortete Olivia.

»Denkst du, dieser schwarz gekleidete Typ hat was mit dem Tod der alten Frau zu tun?«

»Keine Ahnung. Merkwürdig ist die Sache schon. Ich meine, was kann er bei ihr gewollt haben? Und warum ist er in diesem seltsamen Aufzug unterwegs gewesen? Halloween ist erst in ein paar Monaten.«

»Vielleicht ist er ein Schauspieler, der gerade von einer Probe kam. Vielleicht hat er auch Handzettel für ein besonders originelles Beerdigungsinstitut verteilt. Oder er ist ein Stripper, wer weiß?«

»Ein Stripper? Wer kommt denn auf so eine Idee?«, fragte Olivia und fühlte sich ertappt.

Conny hob die Schultern. »Heutzutage ist das doch nichts Besonderes mehr. Ich hab auch kurz überlegt, ob ich dir zum Geburtstag einen Stripper vorbeischicken soll. Aber da du ja offenbar generell das Interesse an Männern verloren hast, dachte ich, ein Wellnessgutschein wäre dir vermutlich lieber.«

»Du übertreibst«, sagte Olivia. »Ich interessiere mich durchaus noch für Männer, ich bin nur wählerisch geworden.«

»Mag ja sein, aber trotzdem. Das Leben ist kurz«, sagte Conny. »Vielleicht wusste deine Nachbarin das besser als du.«

»Und deshalb hat sie sich einen Stripper bestellt?«

»Warum denn nicht? Sollte ich in dreißig Jahren noch unter den Lebenden sein, dann hoffe ich, ich habe exakt dieselbe Idee«, erwiderte Conny.

»Wenn du dann so schlecht siehst wie die alte Frau Keller, dann hilft dir auch der schärfste Stripper nichts«, konterte Olivia.

»Egal«, beendete Conny das Thema. »Was hat denn die Polizei gesagt?«

»Welche Polizei?«

»War die Polizei nicht hier, als die alte Frau abgeholt wurde?«

»Nein. Wozu auch? Der Arzt hat festgestellt, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Aber dann ist doch alles in bester Ordnung«, befand Conny.

»Genau. Es sei denn, die alte Frau ist Opfer eines besonders heimtückischen und deshalb unerkannten Verbrechens geworden«, unkte Olivia.

»Ein bisschen sehr weit hergeholt, oder?«

Olivia zuckte mit den Schultern.

Ihre Freundin überlegte. »Ich glaube, ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn du mich heute Nachmittag nach Brandenburg begleitest? Ich finde, du könntest einen Tapetenwechsel gebrauchen.«

»Du willst nur nicht allein hinfahren.« Olivia grinste.

»Stimmt genau. Mir gehen meine spießige Tochter und ihr langweiliger Ehemann auf die Nerven. Ich könnte psychologischen Beistand gebrauchen.«

»Okay, ich bin dabei.«

»Wirklich? Wie schön!«

»Sag mir nur noch, ob ich vorher zur Polizei gehen soll.«

Conny wiegte den Kopf hin und her. »Die Sache scheint dir keine Ruhe zu lassen. Also melde es halt, und dann ist auch gut.«

6

Polizeiobermeister Hummels strich sein Formular glatt, wobei er sich Zeit ließ. Dann legte er Olivias Ausweis neben das Papier, kramte einen Kugelschreiber hervor und begann, ihre Personalien aufzunehmen.

»Haben Sie eigentlich keinen Computer?«, fragte sie verwundert.

Hummels hielt inne und hob den Kopf. »Wie bitte?«

»Ein Computer. So ein Ding, das Daten verarbeitet. Würde Ihnen die Arbeit bestimmt erleichtern«, fügte sie freundlich hinzu.

»Gut, dass Sie mich daran erinnern«, erwiderte Hummels gemütlich. »Eigentlich kriegen wir ja jedes Jahr zu Weihnachten die neuesten MacBooks geschenkt. Die alten werfen wir dann immer in den Müll. Aber kürzlich hieß es, die Polizei muss sparen. Seitdem bekommen wir nur noch diese verknitterten Formulare mit ausrangierten Werbekugelschreibern. Aber gut, dass Sie mich drauf ansprechen. Ich werde gleich mal nachfragen, was los ist.«

Aha, ich bin also an einen Witzbold geraten, dachte Liv und erwiderte: »Gibt man Ihnen denn wenigstens noch Dienstwaffen? Oder müssen Sie die Verbrecher fangen, indem Sie Ihnen ein Beinchen stellen?«

Hummels verzog keine Miene. »Wen sollen wir denn überhaupt für Sie fangen?«

»Heute Morgen ist meine Nachbarin gestorben. Kurz zuvor hatte sie Besuch von einem merkwürdigen Unbekannten, der versehentlich zuerst bei mir geklingelt hat«, antwortete Olivia.

»Und?«

»Und ich denke, dieser Mann könnte etwas mit dem Tod meiner Nachbarin zu tun haben.«

»Warum denken Sie das?«

»Er hat sich merkwürdig benommen.«

»Das ist alles? Mehr nicht?«

»Mehr nicht. Aber ich wollte es sicherheitshalber melden. Ich denke, Sie können besser beurteilen, ob an der Sache was dran ist.«

»Ermitteln wir denn schon in der Angelegenheit?«, fragte er.

»Nein. Der Amtsarzt hat festgestellt, dass die alte Dame eines natürlichen Todes gestorben ist. Deshalb ist der Fall offiziell erledigt.«

Polizeiobermeister Hummels rutschte ein Oha heraus. »Aber Sie sind der Meinung, man sollte ihn wieder aufrollen, weil der Amtsarzt was übersehen hat.«

Klang das jetzt ein bisschen patzig?

»Nicht unbedingt«, antwortete Olivia. »Aber ich habe gedacht, die Polizei würde sich vielleicht für meine Beobachtungen interessieren. Es könnte ja da draußen ein Mörder frei herumlaufen, der schon seinen nächsten Mord plant, den er wieder wie einen natürlichen Todesfall aussehen lässt.«

»Interessante Theorie«, sagte Hummels. Es klang wie: Sie haben eine blühende Fantasie, aber keine Ahnung. »Leider haben wir nicht die personellen Möglichkeiten, um jeden Totenschein des Amtsarztes zu überprüfen.«

»Es geht ja auch nicht um jeden, sondern um einen einzelnen«, widersprach Olivia. »Falls es Ihnen aus Kostengründen lieber ist, kann ich aber auch gern auf eigene Faust ermitteln.«

Hummels verzog den Mund, dann wandte er sich wieder seinem Formular zu. »Okay. Wie sah der Mann denn aus?«

»Schlank, groß, etwa eins achtzig, braune Augen. Ich schätze ihn auf Ende dreißig.«

»Haarfarbe?«

»Schwarz.«

»Lange oder kurze Haare?«

»Mittellang, glaube ich, aber das konnte ich nicht genau erkennen. Er trug ein schwarzes Cape und eine Kapuze auf dem Kopf. Eigentlich mehr so eine Art Haube, bei der man nur das Gesicht sehen kann.«

»So wie … Batman?«, feixte Hummels und grinste über seinen gelungenen Witz.

»Nein. Batman trägt eine Maske mit Fledermausohren«, erwiderte Olivia. »Das wäre mir aufgefallen. Was ich meine, ist eine schlichte schwarze …«

»Jaja, eine Haube, schon gut«, vollendete Hummels den Satz. »Ist Ihnen sonst noch was aufgefallen?«

»Er hatte eine Sense dabei«, sagte Olivia.

»Eine Sense.«

»Genau.«

»Er trug einen schwarzen Umhang und hatte eine Sense dabei?« Hummels hob den Stift an und ließ ihn unschlüssig über dem Blatt schweben.

»Ich weiß, dass das komisch klingt«, sagte Olivia. »Aber dieser Mann wäre nicht der erste geistig verwirrte Todesengel, der alte Menschen heimlich ins Jenseits befördert.«

Hummels runzelte die Stirn. »Hat er denn einen verwirrten Eindruck auf Sie gemacht?«

»Nein. Überhaupt nicht. Aber das muss nichts heißen. Erstens haben wir nur kurz miteinander gesprochen. Und zweitens können sich Psychopathen oft sehr gut verstellen.«

Der Polizeiobermeister machte Notizen. »Sonst noch was?«

Olivia schüttelte den Kopf.

»Gut.« Er drehte das Formular zu ihr. »Bitte hier unterschreiben.«

»Und was passiert jetzt?«, fragte sie, während sie den Stift ansetzte.

»Ich werde die Sache intern weiterleiten. Die Kollegen sollen mal nachsehen, ob Ihr Sensenmann aktenkundig ist.«

7

Connys Mini Cooper rollte durch die spätsommerliche Landschaft. Es war ein bisschen zu frisch, um mit offenem Verdeck zu fahren. Leider. Olivia liebte es, die Natur an sich vorbeiziehen zu lassen und dabei den Fahrtwind zu spüren. Hier draußen war das Grün des Sommers bereits mit Gelb gemischt. Es sah aus, als hätte die Landschaft den Herbst in den Knochen.

Olivias Handy klingelte. Sie zog es hervor, zögerte.

»Was ist?«, fragte Conny.

»Das ist Georg«, sagte Olivia und überlegte, ob sie Lust hatte, sich seine Beziehungsprobleme anzuhören. Lieber nicht, dachte sie.

»Dein Ex-Mann will dir zum Geburtstag gratulieren«, sagte Conny. »Ist doch nett, dass er an dich denkt.«

»Er war heute Morgen schon bei mir und hat nicht dran gedacht«, erwiderte Olivia.

»Oh.«

Sie nahm das Gespräch nun doch an. »Ja?«

»Du denkst bestimmt, dass ich deinen Geburtstag vergessen habe, aber dem ist natürlich nicht so«, tönte Georg. »Ich wollte nur heute Morgen nicht die Themen vermischen, und deshalb …«

Kurz entschlossen drückte sie das Gespräch weg.

»Was war denn das?«, fragte Conny.

»Statt sich dafür zu entschuldigen, dass er heute Morgen vergessen hat, mir zu gratulieren, erzählt er mir Märchen. Das kann ich jetzt echt nicht gebrauchen.«

Wieder klingelte das Handy. »Ja?«

»Ich glaube, wir wurden getrennt«, sagte Georg.

»Wurden wir nicht. Ich hab aufgelegt«, erwiderte Olivia.

»Oh«, sagte er. »Warum?«

Sie gab ihm ein paar Sekunden, damit er sein Versäumnis erkannte, aber es zwar zwecklos. Er wartete tatsächlich auf eine Erklärung. »Ich leg jetzt wieder auf«, sagte sie. »Sing mir was auf die Mailbox, wenn du willst.«

Wieder drückte sie das Gespräch weg, wieder klingelte es kurz danach. Diesmal ließ sie es klingeln.

Wenig später fuhren sie durch ein Dorf mit niedrigen Häusern, die fein säuberlich an der Hauptstraße aufgereiht waren. Olivia kam das Bild einer Warteschlange in den Sinn. Am Ortsausgang nahmen sie einen holprigen Feldweg, der zu einem einsamen Gehöft führte.

Schließlich rollte der Wagen auf das grasüberwucherte Kopfsteinpflaster eines großen Innenhofes und kam neben einer baufälligen Scheune zum Stehen.

»Da wären wir«, sagte Conny. »Willkommen am Arsch der Welt.«

»Wieso? Ist doch schön hier«, log Olivia. »Irgendwie …«

»Schäbig und trostlos?«, schlug Conny vor.

»Idyllisch, wollte ich sagen.«

»Wenn es hier so wahnsinnig idyllisch ist, warum hauen dann alle ab?«

»Gibt ja auch welche, die hier heimisch werden wollen«, konterte Olivia.

»Ja. Und da sind sie auch schon«, sagte Conny. »Unsere Öko-Hipster.«

Camilla und Arne erschienen am Eingang des windschiefen Fachwerkhauses und winkten. Conny hatte recht, die beiden waren sofort als Städter zu erkennen. Ihre Klamotten stammten jedenfalls nicht von einem der Textildiscounter, die Olivia auf dem Hinweg in beinahe jedem Einkaufspark gesehen hatte. Außerdem trug Arne seinen ökologisch korrekten Baumwollpullover wie eine Auszeichnung, die er sich im Kampf um eine bessere Welt verdient hatte. Mit neu glänzenden Gummistiefeln stolzierte er auf den Wagen zu, während Camilla ihm folgte und mit beiden Händen ihren enormen Babybauch wiegte. Die Szene erinnerte an einen miserablen Spätwestern.

»Solange sie glücklich sind, ist doch alles in bester Ordnung«, sagte Olivia.

»Das stimmt«, erwiderte Conny. »Wobei sie leider der festen Überzeugung sind, den einzig wahren Weg zur Glückseligkeit gefunden zu haben. Und das nervt ein bisschen.«

»Du übertreibst.«