Und Gott sprach: Wir müssen reden! - Hans Rath - E-Book + Hörbuch

Und Gott sprach: Wir müssen reden! Hörbuch

Hans Rath

4,5

Beschreibung

«Vor Ihnen sitzt der liebe Gott höchstpersönlich», erklärt mein Gegenüber und wischt sich die Lachtränen aus dem Gesicht. Wir schweigen. «Witzig», sage ich nach einer Weile und gebe mich unbeeindruckt. «Ich hab Sie mir immer anders vorgestellt.» Baumann hebt den Zeigefinger und sagt mit gespielter Strenge: «Das ist verboten. Man darf sich kein Bild von mir machen.» «Na, immerhin scheint Gott Humor zu haben», sage ich. Baumann nickt. «Es bleibt Gott nichts anderes übrig, als die Dinge mit Humor zu nehmen.» Sein Lächeln verwandelt sich in einen Anflug von Melancholie. Nachdenklich schaut er zu Boden. «Es ist die Wahrheit, Dr. Jakobi. Ich bin es wirklich.» Er beugt sich vor und sieht mir nun direkt in die Augen. «Ich bin Gott. Und ich bin, unter uns gesagt, ziemlich im Arsch. Es wäre also schön, wenn Sie mir helfen könnten, Doktor.»

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Zeit:6 Std. 54 min

Sprecher:Johannes Steck
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Hans Rath

Und Gott sprach: Wir müssen reden!

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Vor Ihnen sitzt der liebe Gott höchstpersönlich», erklärt mein Gegenüber und wischt sich die Lachtränen aus dem Gesicht.

Wir schweigen.

«Witzig», sage ich nach einer Weile und gebe mich unbeeindruckt. «Ich hab Sie mir immer anders vorgestellt.»

Baumann hebt den Zeigefinger und sagt mit gespielter Strenge: «Das ist verboten. Man darf sich kein Bild von mir machen.»

«Na, immerhin scheint Gott Humor zu haben», sage ich.

Baumann nickt. «Es bleibt Gott nichts anderes übrig, als die Dinge mit Humor zu nehmen.» Sein Lächeln verwandelt sich in einen Anflug von Melancholie. Nachdenklich schaut er zu Boden. «Es ist die Wahrheit, Dr. Jakobi. Ich bin es wirklich.» Er beugt sich vor und sieht mir nun direkt in die Augen. «Ich bin Gott. Und ich bin, unter uns gesagt, ziemlich im Arsch. Es wäre also schön, wenn Sie mir helfen könnten, Doktor.»

Über Hans Rath

Hans Rath, Jahrgang 1965, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bonn. Er lebt in Berlin, wo er sein Geld unter anderem als Drehbuchautor verdient. Bereits mit seiner Romantrilogie um den Anfangvierziger Paul und sein Liebesleid («Man tut, was man kann», «Da muss man durch» und «Was will man mehr») hat Rath sich eine große Fangemeinde geschaffen. «Und Gott sprach: Wir müssen reden!» sowie «Manchmal ist der Teufel auch nur ein Mensch» wurden ebenfalls zu Bestsellern.

Inhaltsübersicht

WidmungGott ist komischGott ist erfinderischGott ist ratlosGott ist unterwegsGott ist kooperativGott ist frustriertGottes GeliebteGottes SohnGottes BeweiseGottes WunderGottes WegeGottes KäsetafelGott zaubertGott leidetGott ruftGott schwebtGott gehtGott lebtLeseprobeUnd Gott sprach: Du musst mir helfen!

«Wenn es Gott nicht gäbe,

müsste man ihn erfinden.»

Voltaire

Gott ist komisch

Mitten in der Nacht steht meine Exfrau vor der Tür.

«Was ist passiert?», frage ich entgeistert.

«Ich brauch deine Hilfe. Meine Ehe steht auf der Kippe.»

«Deine aktuelle Ehe?», stottere ich und streiche mir verwirrt durchs Haar.

«Natürlich meine aktuelle Ehe», erwidert sie patzig. «Welche denn sonst? UnsereEhe ist seit drei Monaten geschieden. Da kann nix mehr kippen.»

«Danke, dass du mich daran erinnerst», sage ich matt.

«Gern geschehen. Was ist jetzt? Kann ich reinkommen?»

Kalte Nachtluft kriecht an ihr vorbei in mein winziges Apartment.

«Nicht so gern», antworte ich ehrlich.

«Und warum nicht?», fragt sie und späht argwöhnisch über meine Schulter. «Hast du etwa eine andere Frau hier?»

«Was heißt denn: eine andere Frau?», frage ich. «Wir sind geschieden. Wenn mir der Sinn danach steht, kann ich hier Bunga-Bunga-Partys feiern, ohne das mit dir abzusprechen.»

«Ja! Das sähe dir wieder mal ähnlich!», ruft sie. «Weil du nicht über mich hinwegkommst, wirfst du dich gleich der erstbesten Schlampe an den Hals, die dir über den Weg läuft.»

Ich seufze. Es liegt mir nicht, mich zu streiten, wenn ich müde bin. Ellen weiß das. Während unserer Ehe hat sie deshalb am liebsten frühmorgens oder spätabends Krach angefangen.

«Lass uns morgen reden», bitte ich freundlich.

Sie presst die Lippen aufeinander und überlegt. Für Sekundenbruchteile habe ich die Hoffnung, dass sie tatsächlich einlenken könnte. Ein Irrtum, wie ich nach sieben Jahren Ehe eigentlich wissen müsste.

«Dir ist aber schon klar, dass dieses Apartment mir gehört, oder?», pflaumt sie mich an. «Und die Praxis, für die du auch schon eine ganze Weile keine Miete mehr bezahlst, gehört ebenfalls mir. Ich finde, da kann ich durchaus mal einen klitzekleinen Gefallen von dir erwarten.»

Sie sieht mich an. Ich kenne diesen Blick. Wenn ich ihr jetzt die Tür vor der Nase zuschlage, wird sie mir den Strom oder das Wasser abdrehen lassen. Oder beides. Vielleicht droht mir auch die Zwangsräumung. Ellen kann sehr ungemütlich werden, wenn man nicht nach ihrer Pfeife tanzt.

Genervt trete ich zur Seite, damit sie hereinkommen kann.

«Nun hab dich nicht so», sagt sie und marschiert Richtung Küche. «Du hast doch geschworen, für jeden da zu sein, der Hilfe braucht.»

«Hab ich nicht», erwidere ich und schließe die Tür. «Psychologen leisten keinen hippokratischen Eid, falls du das meinst.»

Sie verschwindet in die Küche. «Hast du etwa keinen Weißwein?», höre ich sie rufen. Sie wartet nicht ab, ob ich antworte, sondern beginnt, geräuschvoll meinen Kühlschrank zu durchwühlen.

«Im Eisfach», sage ich und lasse mich müde auf einen Küchenstuhl sinken.

«Im Eisfach? Da kann die Flasche aber platzen», gibt sie zu bedenken.

«Dann mal gut, dass du gekommen bist», erwidere ich. «Du hast mich zwar heute um meinen Schlaf und insgesamt um ein paar Jahre meines Lebens gebracht, aber wenigstens platzt mir obendrein nicht auch noch eine Flasche Weißwein.»

Sie gießt sich ein und hebt fragend die Flasche. Ich nicke und bekomme ebenfalls ein Glas.

«Okay. Schieß los!», sage ich und nehme einen Schluck.

«Wie? Hier? In dieser winzigen Küche soll ich über meine Eheprobleme reden? Ist das dein Ernst?»

«Wo wäre es dir denn lieber? Ich hätte noch ein winziges Bad anzubieten, oder ein winziges Schlafzimmer.»

«Was soll das nun wieder heißen?», bellt sie. «Etwa, dass ich dir kein anständiges Apartment zur Verfügung stelle? Weißt du eigentlich, dass dein guter Freund Adam Weberknecht …»

«Adam Weberknecht ist nicht mein guter Freund. Im Grunde kenne ich ihn kaum.»

«Jedenfalls lebt er seit seiner Scheidung unter einer Brücke!»

«Dann hat er bestimmt mehr Platz als ich. Vielleicht besuche ich ihn mal.»

Sie stößt verächtlich Luft durch die Nase, nippt am Wein und verzieht das Gesicht. «Uh. Teuer war der aber nicht, oder?»

«Zwei Euro irgendwas», antworte ich schulterzuckend.

«Ja. So schmeckt er auch. Vielleicht bringst du Adam Weberknecht eine Pulle davon mit, wenn du ihn unter der Brücke besuchst.»

«Sorry, Ellen. Sobald ich mir wieder Jahrgangschampagner leisten kann, melde ich mich bei dir.»

«Weißt du eigentlich, was dein Problem ist, Jakob?», fragt sie spitz.

«Ja. Dass du mir über den Weg gelaufen bist», erwidere ich.

Sie überhört den Einwand. «Dein Problem ist, dass du ein Weichei bist. Schon die kleinsten Schwierigkeiten hauen dich um.»

«Schön, dass wir jetzt wissen, was mein Problem ist. Vielleicht kommen wir dann jetzt mal zu deinem Problem.»

«Nur, damit das klar ist. Ich will von dir nichts geschenkt. Diese Beratung hier stellst du mir bitte ganz normal in Rechnung, okay?»

«Okay. Mach ich.»

«Allerdings werde ich dein Honorar natürlich zunächst mal mit den ausstehenden Mieten verrechnen. Du bist ja …»

«Schon gut, Ellen», winke ich ab. «Sag mir doch jetzt einfach, was du auf dem Herzen hast.»

Sie nippt an ihrem Wein und sieht sich um. «Diese winzige Küche schlägt mir wirklich aufs Gemüt.»

«Ellen, es ist mitten in der Nacht. Hat das alles nicht Zeit bis morgen? Ich geb dir den ersten Termin. Versprochen. Du kannst meinetwegen gleich um acht Uhr vorbeikommen. Okay?»

Sie nimmt einen weiteren Schluck Weißwein und mustert mich. «Ich hab mir schon gedacht, dass die Praxis schlecht läuft, als du mit den Mieten in Rückstand geraten bist. Aber ich wusste nicht, dass du am Rande des Ruins stehst.»

«Wie kommst du darauf?»

«Ein Psychologe, der mitten in der Nacht noch Termine für den nächsten Morgen vergeben kann, steht ganz offensichtlich finanziell mit dem Rücken an der Wand.»

«Danke für deine Einschätzung», sage ich. «Und jetzt lass uns über dich reden.»

«Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du knapp bei Kasse bist.»

«Möchtest du mir was leihen oder dich nur an meiner Not ergötzen?»

Sie überlegt.

«Lass gut sein, Ellen. Als ich erfahren habe, dass unser Ehevertrag nur den Zweck hatte, die Millionen deines todkranken Erbonkels vor mir in Sicherheit zu bringen, hast du für alle Zeit das Recht verloren, dich in meine finanziellen Angelegenheiten zu mischen. Wenn es dich glücklich macht, kannst du mich gerne damit erpressen, dass ich materiell von dir abhängig bin. Aber spar dir bitte deine Ratschläge.»

Sie sieht mich an und zieht die Mundwinkel nach unten. Dabei spannen sich ihre Lippen, was sie immer tun, wenn Ellen zum Angriff schreitet.

Ich komme ihr zuvor. «Und jetzt sag mir endlich, warum du hier bist, sonst gehe ich nämlich wieder ins Bett.»

Es klingelt.

«Da ist er ja», sagt Ellen hastig.

«Wer?»

«Armin. Mein Mann. Du musst ihn zur Vernunft bringen. Er ist rasend vor Eifersucht, und auf mich hört er einfach nicht.»

Wieder klingelt es. Diesmal länger.

Mir schwant etwas. «Du hast gewusst, dass er kommen würde. Du hast ihn absichtlich hergelockt, damit nicht du dich mit ihm herumschlagen musst, sondern ich.»

«Logisch!», antwortet sie. «Wer ist denn hier der Psychologe?»

Ich brauche einen Moment, um zu verdauen, dass meine Exfrau mich ganz selbstverständlich mitten in der Nacht in ihre Eheprobleme reinzieht.

«Okay. Hat er Drogen genommen?», frage ich. «Oder ist er betrunken?»

Sie schüttelt den Kopf. Wieder klingelt es.

«Moment! Ich komme!», rufe ich in Richtung Haustür und wende mich dann wieder Ellen zu: «Noch was, das ich wissen sollte?»

«Er ist Boxer.»

«Boxer?»

«Ja. Berufsboxer.»

«Da steht ein rasend eifersüchtiger Typ vor meiner Tür, der professionell Leute zusammenschlägt? Hast du sie noch alle, ihn herzubringen?»

Ellen zuckt mit den Schultern. «’tschuldigung, aber …»

«Welche Gewichtsklasse?»

«Federgewicht», antwortet Ellen.

Ich luge durch den Türspion. Im Halbdunkel kann ich einen Hänfling erkennen, der mir gerade mal bis zum Kinn reicht. Er ist zwar etwas aufgebracht, wirkt aber ungefährlich. Ein beruhigender Anblick.

«Ich komme jetzt raus», sage ich und drehe den Schlüssel herum. Fast im gleichen Moment wird die Tür aufgestoßen, und Armin stürmt in die Wohnung, so schnell, dass ich gar nicht realisiere, wie er zum Schlag ausholt. Im Grunde wird mir erst klar, dass Ellens Mann gleich auf mich eindreschen wird, als seine Faust sich wenige Millimeter vor meiner Nase befindet. Ich habe noch kurz für den hoffnungsfrohen Gedanken Zeit, dass die Sache glimpflich ausgehen könnte, dann höre ich ein Knirschen und spüre einen stechenden Schmerz im Gesicht. Es fühlt sich an, als würde mir jemand die Nase mit einem Vorschlaghammer in den Schädel treiben.

Während ich wie ein nasser Sack zu Boden sinke, beschließe ich, meinen Job an den Nagel zu hängen. Blühen wird mir das nach Lage der Dinge ja sowieso. Es ist traurig, aber wahr, dass meine Praxis miserabel läuft. Bis endgültig die Lichter ausgehen, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein. Obendrein bin ich ganz bestimmt kein guter Psychologe, wenn meine Menschenkenntnis so dermaßen schlecht ist wie jetzt gerade. Schade, denke ich, als ich mit einem Krachen auf der hässlichen Auslegware lande. Eigentlich mag ich meinen Job. Außerdem habe ich leider nichts anderes gelernt. Dann wird mir schwarz vor Augen.

Ich erwache in einem Krankenwagen. Mein Kopf dröhnt. Ich spüre ein Pochen hinter den Schläfen. Neben mir sitzt ein schlaksiger Typ mit ungesunder Hautfarbe. Er kaut irgendwas und blättert dabei in einer Illustrierten. «Liegen bleiben», sagt er, ohne hochzusehen.

Ich lege den Kopf wieder zurück, und das Pochen wandert in die Nasengegend. «Könnte ich bitte was gegen die Schmerzen haben?»

«Sorry, aber ich hab mir den Rest der Packung gerade eingeworfen», nuschelt er und schluckt dann ostentativ.

«Sind Sie auch ein Patient?», frage ich irritiert.

Er schüttelt den Kopf. «Ich bin Dr. Kessels. Der Arzt.»

«Aha», erwidere ich verunsichert. «Und warum essen Sie mir dann meine Schmerzmittel weg?»

«Weil ich seit dreißig Stunden auf den Beinen bin und keine Amphetamine mehr habe. Oder wollen Sie, dass mein Magengeschwür mich umbringt?»

«Das nicht. Aber meine Nase tut auch höllisch weh.»

Er seufzt genervt und schlägt mit der Faust gegen die Verbindungswand zur Fahrerkabine. «Mach die Funzel an! Hier hat’s jemand eilig.»

Die Sirene jault auf, ruckartig beschleunigt der Wagen.

«Danke», sage ich.

Er winkt ab. «Das wird Ihnen nicht viel nutzen. In der Notaufnahme sind bestimmt noch drei Dutzend Leute vor Ihnen dran. Mit ’ner angebrochenen Nase stehen Sie ziemlich weit hinten auf der Liste.»

«Vielleicht könnten Sie noch mal über mich drüberfahren, bevor Sie mich abliefern», schlage ich vor.

Er lacht heiser, bekommt einen Hustenanfall und bekämpft ihn mit einem Asthmaspray, das er nach einigem Suchen in einer Kiste mit Krimskrams findet. Schwer atmend setzt er sich wieder auf seinen Hocker. «Sie dürfen einen Kettenraucher nicht so zum Lachen bringen.»

Mit quietschenden Reifen kommt der Wagen zum Stehen.

Auf dem Krankenhausflur herrscht Jahrmarktsatmosphäre. Wie der Arzt prophezeit hat, tummeln sich hier ein paar Dutzend Kranke nebst Familien und Freunden. Die meisten plaudern, um die Wartezeit zu verkürzen. Einige telefonieren, andere spielen Karten. Ich soll ein mehrseitiges Antragsformular ausfüllen und mich auf ein paar Stunden Wartezeit einstellen. Immerhin bekomme ich unkompliziert eine Schmerztablette.

Ich suche mir einen Platz und beginne, das Formular zu studieren.

«Und ich dachte schon, ich wäre der Einzige hier, der komisch aussieht», höre ich eine Stimme sagen.

Vor mir steht ein Endvierziger in einem Clownskostüm. Er hat beide Daumen hinter die gepunkteten Hosenträger geklemmt und grinst. Auf seiner Stirn und im angegrauten Dreitagebart sind Reste von Schminke zu erkennen. Scheint so, als käme er direkt aus der Manege.

«Sie sehen aus wie Jack Nicholson in Chinatown», sagt er und setzt sich neben mich. «Guter Film, übrigens. Kennen Sie den?»

Ich überlege, was der Clown meinen könnte, und strecke mich, um in der gegenüberliegenden Glasscheibe zu erkennen, dass der übernächtigte Dr. Kessels meine Nase provisorisch geschient und dabei Unmengen von Pflaster verbraucht hat. Ich sehe aus, als hätte der Kerl mich nicht nur zusammenflicken, sondern abdichten wollen.

Seufzend lehne ich mich wieder zurück und schaue den Clown an, der mich mustert und vermutlich immer noch auf eine Antwort wartet. Inzwischen habe ich leider seine Frage vergessen. Gerade will ich nachhaken, da kommt er mir zuvor.

«Wer hat Ihnen nur so einen sauberen Punch verpasst?» Er wirkt regelrecht fasziniert von meinem Nasenbruch.

«Der Mann meiner Exfrau», antworte ich.

«Der Bursche hat Talent», erwidert der Clown.

«Kein Wunder. Er ist Berufsboxer.»

«Dann sollten Sie froh sein, dass Sie sofort umgefallen sind. Sonst hätte er Sie wahrscheinlich noch schlimmer zugerichtet.»

Ich stutze. «Woher wollen Sie wissen, dass ich sofort umgefallen bin?»

«Ach … ich hab früher selbst ein bisschen geboxt», antwortet er. «Und das da …» Er zeigt auf meine Nase. «… sieht nach einem lupenreinen Knockout aus. Ich vermute, bevor sie ‹piep› sagen konnten, lagen Sie bereits am Boden. Und ich vermute auch, der Schlag kam völlig unerwartet, denn einen so schönen Nasenbruch kriegt man praktisch nicht hin, wenn der Gegner die Deckung oben hat.»

Ich muss lächeln. Der Kerl gefällt mir.

Er reicht mir die Hand. «Ich bin übrigens Abel Baumann.»

«Jakob Jakobi», erwidere ich. «Freut mich. Und warum sind Sie hier?»

«Komische Geschichte», sagt Baumann. «Ich hatte heute einen Auftritt bei einer Betriebsfeier. Danach kriegte ich Stiche in der Herzgegend. Organisch ist aber alles in Ordnung. Mir ist das in letzter Zeit schon ein paarmal passiert. Ist wohl psychosomatisch, meint der Arzt.»

«Gut möglich», erwidere ich. «Sind Sie denn beruflich oder privat großem Stress ausgesetzt?»

Baumann nickt. «Kann man schon so sagen.»

«Und belastet Sie das? Fühlen Sie sich oft müde und abgekämpft? Oder schlafen Sie schlecht?»

Wieder überlegt Baumann, dann stutzt er. «Hey! Moment mal! Sie kennen sich aus mit diesen Psychosachen, oder?»

Ab und zu tauchen in meinem Privatleben gewisse Fragetechniken aus meiner Therapiearbeit auf. Eine Berufskrankheit, mit der ich mich inzwischen abgefunden habe. «Stimmt. Ich bin Psychotherapeut.»

«Das ist toll», erwidert Baumann. «Ich soll mir einen wie Sie suchen, damit mein Herzklabaster aufhört. Hat mir eben der Arzt geraten.»

Normalerweise würde ich Baumann jetzt meine Visitenkarte geben und ihn in meine Praxis bitten, aber da Ellens Mann mich im Bademantel zur Strecke gebracht hat, habe ich kein Geld, keine Papiere und erst recht keine Visitenkarten dabei. Außerdem wollte ich eben noch meinen Job an den Nagel hängen. Vielleicht sollte sich dieser Baumann also lieber einen anderen Therapeuten suchen. Einen mit professionellem Auftreten und beruflicher Perspektive.

«Tut mir leid, aber ich praktiziere zur Zeit nicht», lüge ich.

Er sieht mich an und überlegt. «Also, wenn es am Geld liegt …», sagt er dann, «das ist kein Problem. Ich habe Geld.»

«Nein. Es liegt nicht am Geld. Ich befinde mich nur gerade in einer Phase der beruflichen Neuorientierung.»

«Aha.» Baumann wirkt enttäuscht. «Was kostet denn so was eigentlich?», will er wissen. «Nur damit ich mal einen Anhaltspunkt habe.»

«Bei mir dauert eine Sitzung fünfundvierzig Minuten und das kostet achtzig Euro. Wie viel die Krankenkasse davon übernimmt, muss man im Einzelfall sehen. Ich mache bei neuen Patienten immer eine Probesitzung, um herauszufinden, ob die Chemie stimmt. Das wird von den meisten Kassen nicht erstattet.»

«Schade, dass Sie gerade nicht praktizieren», sagt Baumann. «Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Chemie zwischen uns beiden stimmen würde.»

Mit gespieltem Bedauern hebe ich die Schultern.

«Und ich kann Sie nicht wenigstens dazu überreden, diese Probesitzung mit mir abzuhalten? Sie wären wirklich zu nichts verpflichtet.» Er zieht einen Hunderter aus seinem Clownskostüm und wedelt mir damit vor der Nase herum. «Die haben mich bar bezahlt. Ich kann mir also eine Probesitzung bei Ihnen leisten. Ich würde im Voraus zahlen. Und ’n kleines Frühstück für uns beide wäre auch noch drin.»

«Sie wollen jetzt sofort ein Therapiegespräch?»

«Ja. Warum nicht? Um die Ecke gibt es ein Café, wo wir reden können. Um diese Zeit ist da bestimmt nichts los. Und Sie müssen hier doch sowieso noch ein paar Stunden warten.»

Da hat er recht. Allerdings behandele ich nur sehr ungern Patienten, die ich noch nicht kenne, außerhalb meiner Praxis und außerhalb der Sprechzeiten. Andererseits könnte ich einen Kaffee und ein ordentliches Frühstück gebrauchen. Außerdem scheint dieser Baumann ein netter Kerl mit überschaubaren Problemen zu sein. Also, warum nicht ein paar Prinzipien über Bord werfen, wenn die Situation es erfordert? Das predige ich meinen Patienten ja schließlich auch immer.

«Einverstanden», sage ich kurzentschlossen und erhebe mich. «Ich hole mir jetzt noch ein paar Schmerztabletten, und dann gehen wir frühstücken. Aber wenn Sie mich schon für die Sitzung bezahlen, dann geht das Frühstück auf mich.»

Baumann nickt erfreut. «Klingt fair.»

Eine halbe Stunde später sitzen wir in einem Café unweit des Krankenhauses. Hinterm Tresen steht eine macchina in der Größe eines Caprifischerbootes. Ein kleiner Italiener poliert die Metalloberfläche, als würde er eine Bikinischönheit mit Sonnenmilch einreiben. Seine früh verblühte Ehefrau kümmert sich um alles andere. Wahrscheinlich führen die beiden keine glückliche Ehe, aber immerhin ist der Cappuccino Weltklasse.

«Hat unsere Sitzung eigentlich schon angefangen?», will Baumann wissen, während die Signora uns Fenchelsalami, Parmaschinken und andere Köstlichkeiten auftischt.

«Die frischgepressten Säfte kommen auch gleich», erklärt sie und huscht davon.

«Nein. Sie bestimmen, wann es losgeht», antworte ich an Baumann gewandt. «Wenn Sie bereit sind, fangen wir an.»

«Okay. Ich bin bereit. Was wollen Sie denn wissen?»

«Was möchten Sie mir denn erzählen?»

Baumann nippt an seinem Cappuccino, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. «Was wir heute hier besprechen, das bleibt doch unter uns, oder?»

«Ja. Prinzipiell unterliegen Psychologen der Schweigepflicht. Warum fragen Sie?»

Er merkt auf. «Was heißt denn: prinzipiell?»

Ich zucke mit den Schultern. «Na ja. Wie immer gibt es Ausnahmen. Wenn ich den Eindruck habe, dass Sie eine Gefahr für sich oder andere sind, dann bin ich unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich dazu verpflichtet, das zu melden. Aber solche Fälle kommen eher selten vor.»

Er nickt grüblerisch.

«Haben Sie etwas auf dem Herzen, das juristisch problematisch sein könnte?», frage ich.

Baumann zuckt mit den Schultern. «Was weiß denn ich, was Sie für juristisch problematisch halten? Ich bräuchte schon die Garantie, dass Sie mich nicht einsperren lassen. Das würde mir nämlich gerade überhaupt nicht in den Kram passen.»

«Diese Garantie kann ich Ihnen leider nicht geben», entgegne ich. «Es gibt Gesetze, und an die muss ich mich halten.»

Er seufzt und blickt eine Weile nachdenklich zur Decke.

«Vielleicht möchten Sie noch einmal in Ruhe überlegen, ob Sie überhaupt mit mir sprechen wollen», schlage ich vor. «Wir können das hier einfach vergessen. Sie brauchen auch nichts zu bezahlen.» Mein Blick fällt auf die vor uns stehenden Köstlichkeiten, und ich füge rasch hinzu: «Wäre allerdings nett, wenn Sie mir das Geld fürs Frühstück pumpen würden. Ohne Ihr Honorar bin ich nämlich so pleite wie zuvor.»

Er überlegt immer noch. «Verstehe», sagt er nach einer Weile. «Könnten Sie mir denn versprechen, dass Sie eine solche Entscheidung nicht allein auf Basis der Gesetzgebung treffen, sondern auch von Ihrem Bauchgefühl abhängig machen? – Wissen Sie, ich traue dem Gesetz nicht besonders.»

«Aber Sie trauen meinem Bauchgefühl?», frage ich überrascht.

Er nickt. «Sie haben heute einen Schlag ins Gesicht bekommen. «Offenbar wissen Sie, dass man sich im Leben so sehr irren kann, dass es weh tut.»

Auch ich lehne mich nun zurück und nehme einen Schluck Cappuccino. Wer ist der Mann, der mir da gerade gegenübersitzt? Anscheinend habe ich den netten Kerl im Clownskostüm falsch eingeschätzt. Wer weiß, welche Überraschungen dieser Abel Baumann noch bereithält. Jedenfalls hat er mein Interesse geweckt. «Gut, ich verspreche es», sage ich. «Und nun bin ich gespannt, was Sie mir zu erzählen haben.»

Baumann räuspert sich und lehnt sich vor. In diesem Moment kommt die Signora an unseren Tisch und bringt die frischgepressten Säfte. Dabei macht sie eine hektische Bewegung und rammt versehentlich ihren Ellenbogen gegen meine angebrochene Nase. Für Sekundenbruchteile sehe ich einen makellosen Sternenhimmel. Dann wird mir erneut schwarz vor Augen.

Gott ist erfinderisch

Ich erwache in einem winzigen Krankenzimmer. Mühsam richte ich mich auf. Kommt mir vor, als hätte ich überall Muskelkater, selbst in Regionen meines Körpers, wo ich niemals Muskeln vermutet hätte. Was ist mit mir passiert? Ich schaue zum Fenster und stelle fest, dass es dunkel wird. Hatte der Tag nicht eben erst angefangen? Seltsam.

Ich teile das Zimmer mit zwei alten Männern. Der eine schnarcht leise, der andere liegt mit weit geöffnetem Mund da und gibt keinen Mucks von sich. Würde die Bettdecke sich nicht im Rhythmus der Atemzüge heben und senken, könnte man den Kerl glatt für tot halten.

Mein Blick fällt auf einen winzigen Fernseher, der an der gegenüberliegenden Wand unterhalb der Decke klebt. Sieht aus, als hätte jemand versucht, ihn so aufzuhängen, dass man möglichst wenig vom Fernsehprogramm erkennen kann. Gerade läuft stumm ein Fußballspiel. Könnte auch Eishockey sein.

Ein leises Knarren. Die Tür öffnet sich und das ebenso dezent wie sorgfältig geschminkte Gesicht meiner Mutter erscheint.

«Er ist wieder unter den Lebenden», sagt sie zu jemandem, den ich nicht sehen kann. «Du musst später rauchen gehen, Schatz.»

«Schon okay», antwortet die Stimme hinter der Tür. Es ist mein Bruder Jonas.

Ein paar Sekunden später stehen die beiden am Kopfende meines Bettes.

«Was ist passiert?», will ich wissen. «Und warum seid ihr beide hier?»

Mutter runzelt vorwurfsvoll die Stirn, dann wendet sie sich zu Jonas. «Hab ich es nicht gleich gesagt? Er wird es uns nicht danken. Wie üblich.»

«Was danken?», frage ich und ärgere mich darüber, dass Mutter in der dritten Person über mich spricht, während ich anwesend bin. Obwohl sie weiß, dass es mich auf die Palme bringt, macht sie das regelmäßig.

Ihr strafender Blick trifft mich. «Wir haben stundenlang in dieser schrecklichen Cafeteria gehockt und darauf gewartet, dass du endlich aus dem Koma aufwachst. Wir waren schon ganz krank vor Sorge.»

«Koma? Was denn fürn Koma?»

Jonas macht eine beschwichtigende Handbewegung und bedeutet mir mit einem Seitenblick, dass unsere Mutter ein wenig übertreibt. Auch das macht sie regelmäßig.

«Es gab Komplikationen bei deiner OP», erklärt Jonas. «Dein Leben stand auf Messers Schneide. Um ein Haar hätten sie dich verloren.»

Die Information dringt nur langsam in mein Bewusstsein. Zugleich spüre ich ein seltsames Unbehagen. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an die letzten Stunden. Vermutlich hätte ich meinen eigenen Tod verschlafen. Vorsichtig betaste ich meine Nase. Ich erinnere mich nun wieder an Abel Baumann, die Kellnerin und meinen doppelten Knockout.

«Keine Sorge. Sie haben alles wieder gut hinbekommen», erklärt Jonas.

«Aber du musst uns jetzt hoch und heilig versprechen, dass du mit dem Trinken aufhörst», sagt Mutter theatralisch.

Ich blicke fragend zu Jonas, der zuckt ahnungslos mit den Schultern.

«Einer Mutter kann man nun mal nichts vormachen», fährt sie fort. «Ich weiß doch, dass die meisten Komplikationen bei einer Vollnarkose auftreten, weil es sich bei den Patienten um schwere Alkoholiker handelt. In solchen Momenten kommt die Wahrheit dann eben doch ans Licht.»

Ich seufze. «Mutter, ich bin kein Alkoholiker.»

«Da habe ich aber von Ellen was ganz anderes gehört. Dem Inhalt deines Kühlschrankes nach zu schließen, ernährst du dich von Billigwein.»

Hätte ich mir ja denken können, dass sich die beiden längst ausgetauscht haben. Meine Exfrau und meine Mutter verstehen sich nämlich blendend. Kein Wunder, denn charakterlich gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass ich mit Ellen quasi meine Mutter geheiratet habe, psychologisch gesehen. Das ist zwar schrecklich, aber nachvollziehbar. Ein Therapeut ist ebenso wenig gegen Neurosen gefeit wie ein Zahnarzt gegen Karies. Wobei dieser Vergleich hinkt, weil Zahnschmerzen meist nach ein paar Tagen vorbei sind, während eine neurotische Ehe gerne mal sieben Jahre dauern kann.

«Ellen wollte übrigens auch kommen. Sie hat versucht, ihre Termine zu verschieben. Hat aber nicht geklappt. Sie lässt dich grüßen. Wenn du willst, dann holt sie dich morgen ab.» Mutter zieht ihr Smartphone hervor und entriegelt es mit einem Wisch. «Soll ich ihr simsen?»

«Nein», sage ich. «Und wieso kann ich nicht sofort raus? Mir geht’s gut.»

«Sie wollen dich noch eine Nacht hierbehalten», antwortet Jonas. «Ist nur zur Beobachtung.»

«Also ich würde auch keine Nacht länger als nötig in diesem alten, zugigen Kasten bleiben», erklärt Mutter und zupft an ihrer Kurzhaarfrisur. «Wobei ich gesehen habe, dass in den picobello renovierten Einzelzimmern für die Privatpatienten sogar Plasmafernseher hängen.»

«Wie schade, dass ich kein Privatpatient bin», erwidere ich. «Einen Plasmafernseher hätte ich auch gern gehabt, als ich im Koma lag.»

Mutter verzieht ihre schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln. «Vielleicht kann dir ja dein Bruder eine Nacht in der gehobenen Zimmerkategorie spendieren.»

«Mutter! Bitte!», wirft Jonas mit gespielter Empörung ein. In Wahrheit könnte er stundenlang zuhören, wenn sie ihn über den grünen Klee lobt.

«Wusstest du eigentlich, dass die Bank ihm einen äußerst lukrativen Job in Übersee angeboten hat?»

Ich nicke Jonas anerkennend zu. «Nein. Aber gratuliere. Und wo da genau in Übersee?»

«Was spielt denn das für eine Rolle?», blafft Mutter.

«Ich finde, es ist schon ein Unterschied, ob er künftig an der Wall Street sitzt oder irgendwo in den Anden.»

«Weder noch», erwidert Jonas herablassend. «Sie wollen, dass ich dabei helfe, eine Investmentbank in Florida aufzubauen.»

Wäre Arroganz ansteckend, müsste mein Bruder jetzt auf die Quarantänestation. Und zwar zusammen mit unserer Mutter.

«Florida», wiederhole ich und pfeife anerkennend. «Das ist doch ein Paradies für Rentner, habe ich gehört. Magst du Mutter nicht mitnehmen? Ihr könntet abends am Strand sitzen, Hummer essen und über mich lästern.»

«Schon klar, dass du mich loswerden willst», erwidert Mutter. «Aber ich bleibe natürlich in Berlin. Erstens würde ich unseren Familiensitz nie im Leben verkaufen, und zweitens kümmert sich eine Mutter immer besonders um jenes Kind, das ihr die größten Sorgen bereitet. Bei Jonas weiß ich, dass er seinen Weg gehen wird. Er ist noch nicht mal vierzig, hat einen guten Job und verdient eine Menge Geld. Es würde mich außerdem nicht wundern, wenn er uns bald eine hübsche Amerikanerin vorstellt …»

«Mutter, ich habe schon verstanden, dass ich dein Problemkind bin», unterbreche ich. «Aber besten Dank für die vielen verletzenden Details.»

«Gern geschehen», entgegnet Mutter mit einem eiskalten Lächeln.

«Deine Befürchtungen sind übrigens unbegründet», fahre ich fort. «Ich komme gut allein zurecht und habe nicht die Absicht, dich um Hilfe zu bitten.»

Mutter zieht verächtlich Luft durch die Nase. «Du kommst allein zurecht? Da höre ich aber ganz andere Geschichten. Ellen hat mir erzählt, du kannst die Miete nicht bezahlen, weder für das Apartment noch für die Praxis. Außerdem scheinen dir die Patienten nicht gerade die Bude einzurennen.» Sie seufzt bedeutungsvoll. «Ein Glück, dass dein Vater das nicht miterleben muss. Er würde sich ganz bestimmt …»

Ein energisches, kurzes Klopfen lässt sie verstummen. Dann öffnet eine korpulente Krankenschwester schwungvoll die Tür und verkündet: «Ich bitte jetzt alle Besucher mal kurz auf den Flur. Es dauert nur ein paar Minuten. Vielen Dank!»

Die Visite erspart mir Mutters Vortrag über all jene Enttäuschungen, die ich meinem Vater glücklicherweise nicht mehr zumuten muss, weil er vor fünf Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Man könnte sagen: in weiser Voraussicht. Knapp vor seinem Siebzigsten ereilte ihn ein Herzinfarkt. Kein ungewöhnliches Schicksal für einen ebenso arbeitsbesessenen wie unsportlichen Alkoholiker. Wobei Vaters tägliche halbe Flasche Scotch oder Brandy nie als Alkoholismus bezeichnet werden durfte. Da er ausnahmslos nach 17 Uhr trank und nie Anzeichen eines Rausches zeigte, galten seine acht bis zehn doppelstöckigen harten Drinks am Tag offiziell immer als kultivierte Variante des Feierabendbierchens.

Routiniert verteilt die Krankenschwester Medikamente. Meine Bettnachbarn bekommen randvolle Tablettenboxen, nach Tageszeiten sortiert. Auf mein Tischchen stellt sie einen kleinen Plastikbecher mit zwei Pillen darin. «Nur ein mittelschweres Schmerzmittel. Reine Vorsichtsmaßnahme, falls Ihnen heute Nacht die Nase weh tun sollte.»

«Danke», sage ich.

Sie nickt und zieht mit den Worten «Der Arzt ist auch gleich da» die Tür ins Schloss. Ich kann für den Bruchteil einer Sekunde Mutter sehen, die gerade auf Jonas einredet. Bestimmt schildert sie ihm meine desolaten Lebensumstände und spart nicht mit düsteren Farben und apokalyptischen Wendungen. Seit Vaters Tod muss ich mir regelmäßig von ihr anhören, dass ich als Psychotherapeut und Stütze der Gesellschaft eine herbe Enttäuschung bin. Mutter glaubt, dass ich in Vaters viel zu große Fußstapfen treten wollte. Psychologisch gesehen ist das ein Totschlagargument, weil alle Kinder zunächst einmal in die Fußstapfen ihrer Eltern treten wollen. Die Frage ist nur, ob man dem vorgezeichneten Weg dann später wirklich folgt oder davon abweicht.

Ich gebe zu, in meinem Fall scheinen die Dinge klar auf der Hand zu liegen. Mein Vater ist der berühmte Psychologe Bartholomäus Jakobi. Sein Buch über die verkaufspsychologische Wirkung der Spektralfarben gilt als Standardwerk und hat ihm zunächst wissenschaftliche Anerkennung eingebracht, dann diverse Gastprofessuren und damit schließlich eine große Villa in Berlin-Zehlendorf. Obwohl Mutter nicht müde wird, das Haus als unseren Familiensitz zu bezeichnen, lebt sie dort seit Jahren allein und weigert sich, zumindest einen Teil des viel zu großen Anwesens unterzuvermieten.

Erneut wird die Tür geöffnet, und jener schlaksige Typ mit ungesunder Hautfarbe, der sich mir letzte Nacht als Dr. Kessels vorgestellt hat, erscheint.

«Hallo! Wie geht es Ihnen?»

Ich zucke mit den Schultern. «Danke. Eigentlich ganz gut.»

«Das freut mich», sagt er und hustet heiser. «Tut mir leid, dass Sie noch bis morgen hierbleiben müssen, aber ich möchte kein Risiko eingehen. Sonst sterben Sie womöglich ausgerechnet heute Nacht, und dann heißt es wieder, ich hätte die OP verbockt.»

«Und? Haben Sie sie verbockt?», frage ich launig.

«Natürlich habe ich sie verbockt», erwidert er und schielt auf meinen Becher mit Schmerztabletten. «Anfängerfehler. Ich habe der Narkoseschwester eine falsche Anweisung gegeben. Ist aber nur passiert, weil ich seit fast fünfzig Stunden auf den Beinen bin.»

«Hört sich an, als müssten Sie den Laden allein schmeißen», werfe ich ein.

«Sagen wir so: Das aktuelle Gesundheitssystem ist nicht gerade arbeitnehmerfreundlich.» Er lässt meine Pillen nicht aus den Augen.

«Eine würde ich Ihnen abtreten», sage ich. «Die andere brauche ich vielleicht noch selbst.»

«Hey! Das ist aber nett von Ihnen! Danke!» Er fischt eine der Pillen aus dem Plastikbecher und schiebt sie sich in den Mund. «Sie müssen sich jedenfalls keine Sorgen machen. Ich bin sicher, morgen früh ist alles überstanden. Und Ihre Nase dürfte auch wieder wie neu werden.»

«Was genau ist denn eigentlich mit mir passiert?», frage ich.

Er öffnet die Pillenschachtel meines Bettnachbarn und pickt sich ein paar Tabletten heraus, als wären es Erdnüsse. «Nichts Besonderes. Ihr Herz ist stehengeblieben.»

«Oh», erwidere ich verblüfft.

«Nur ein paar Minuten.»

«Ehrlich gesagt klingt das für mich ziemlich lange.»

«I wo!», erwidert er und wirft sich seine gesammelten Pillen in den Mund. «Es klingt dramatischer, als es ist. Stimmt schon, in gewisser Weise waren Sie eine kurze Weile tot. Und vor zweihundert Jahren wären Sie es wohl auch geblieben.» Er lacht kurz auf und hustet ein paarmal. «Aber für uns heute ist das Routine. Kein Grund zur Panik.»

«Dann ist es ja ein hübscher Zufall, dass ich noch am Leben bin.»

«Das ist die richtige Einstellung!», entgegnet er und wendet sich zur Tür. «Ich muss zurück in den OP. Komplizierte Herzgeschichte. Wir sollten ihm beide die Daumen drücken. Kann ich noch was für Sie tun?»

Ich will schon den Kopf schütteln, da fällt mir doch noch etwas ein. «Draußen stehen ein Kerl um die vierzig und eine ältere Dame mit kurzen, dunklen Haaren. Könnten Sie denen bitte sagen, dass ich Ruhe brauche und jetzt nicht mehr gestört werden darf?»

Er lächelt. «Familie, was? Kein Problem. Ich wimmel die beiden ab.»

Im nächsten Moment ist er verschwunden. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich benutze eine schäbige Ausrede, um Mutter und Jonas wegzuschicken, obwohl die beiden nur meinetwegen den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht haben. Mein Gewissen zwickt mich zum Glück nicht lange. Zum einen werde ich mir noch viele Jahre anhören müssen, wie meine engste Familie heute aufopferungsvoll um mein Leben gefiebert hat. Zum anderen bin ich tatsächlich hundemüde. Meine Notlüge war also lediglich eine kleine Übertreibung. Langsam fallen mir die Augen zu.

Als ich wieder erwache, herrscht tiefste Nacht. Draußen ist es zappenduster. Der Raum wird nur vom matten Schein des Fernsehbildschirms erleuchtet. Meine Bettnachbarn sehen sich einen alten Film an. Die beiden sind nun hellwach. Man hört Tütenknistern und Essgeräusche.

Ich konzentriere mich auf den Bildschirm und erkenne James Stewart. Gerade spricht er mit einem freundlichen Kerl in altmodischer Unterwäsche. Die Szene kommt mir bekannt vor. Das ist einer dieser Streifen, die jedes Jahr zu Weihnachten wiederholt werden. Ich überlege, wie der Film heißt, und erinnere mich, dass James Stewart sich das Leben nehmen will und der freundliche Kerl ein Engel ist, der ihn retten soll. Ich glaube, das Wort Leben kommt sogar im Titel vor. Während ich angestrengt überlege, werde ich erneut von bleierner Müdigkeit gepackt. Wieder fallen mir die Augen zu, und wieder werde ich ins Reich der Träume hinabgezogen.

Als ich erwache, fühle ich mich frisch und ausgeruht. Es ist Morgen. Die Wintersonne taucht den Raum in kaltes Licht. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Zimmernachbarn verschwunden sind, und zwar mitsamt ihren Betten. Ich setze mich auf und schaue mich um.

«Ich dachte, ein Einzelzimmer wäre Ihnen lieber», höre ich Abel Baumann sagen. Er sitzt etwas versteckt an dem kleinen Besuchertisch vor meinem Bett, hat zwei dampfende Tassen Kaffee mitgebracht und hält mir nun eine davon hin. «Möchten Sie? Ist ganz frisch.»

«Danke.» Ich nehme die Tasse entgegen, überlege aber zugleich, ob ich es Baumann ein bisschen krummnehmen sollte, dass er mir bis ans Krankenbett gefolgt ist. Ich mag ihn zwar, und er hat irgendwie eine gute Aura. Trotzdem muss ich darauf achten, die professionelle Distanz zu wahren. Ich nehme einen Schluck Kaffee. Tut gut. «Wo sind denn die beiden Alten hin, die hier lagen?»

«Die hab ich in ein anderes Zimmer verlegen lassen», sagt Baumann.

Erst jetzt fällt mir auf, dass er sein Clownskostüm gegen einen Arztkittel getauscht hat.

«Arbeiten Sie etwa hier?», frage ich irritiert.

Baumann streicht über seine grauen Bartstoppeln. «Nein. Den Kittel hier hab ich nur geliehen.»

Er sieht mein fragendes Gesicht und fügt hinzu: «Ehrlich gesagt, mache ich das häufiger, dass ich mir … ähm … Dinge leihe.»

«Sie leihen sich einen Arztkittel und lassen Patienten verlegen?», frage ich mit kritischem Blick.

Baumann zuckt mit den Schultern. «Wenn mich schon alle hier für den neuen Chefarzt halten, dann kann ich es uns doch auch ein bisschen nett machen, oder? Außerdem schulden die mir was. Immerhin hab ich schon Visite gemacht.»

«Sie haben … Visite gemacht?», frage ich erschrocken. «Das ist definitiv nicht in Ordnung. Ich hoffe, Sie wissen das.»

Baumann winkt ab. «Ich hab den Leuten nur Mut zugesprochen. Dafür kommt man ja wohl nicht gleich in den Knast, oder?»

«Oh. Da wäre ich mir nicht so sicher.»

«Eigentlich bin ich ja auch nicht der Visite wegen gekommen. Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht. Und ich dachte, nebenbei könnten wir einen Termin für unsere erste Sitzung ausmachen. Hat ja gestern nicht geklappt.»

«Stimmt.» Mir fällt ein, dass ich heute entlassen werden soll. Wir könnten uns später treffen. «Sie sind nicht zufällig mit dem Auto da, oder?»

Baumann schüttelt den Kopf. «Ich gehe meistens zu Fuß.»

Ich überlege, ob ich Baumann um Taxigeld bitten soll. Ich schulde ihm ja ohnehin noch das Frühstück. Allerdings spricht es nicht gerade für eine funktionierende professionelle Distanz, wenn sich ein Psychologe ständig Geld von seinem Patienten pumpt. Bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, wird die Tür aufgerissen, und die korpulente Krankenschwester erscheint, diesmal in Begleitung von zwei Polizisten.

«Das ist er», verkündet sie und zeigt auf Abel, dessen freundliches Lächeln nicht über sein urplötzliches Unbehagen hinwegtäuschen kann.

«Können Sie sich als Mitarbeiter dieses Krankenhauses ausweisen?», fragt einer der Polizisten in forschem Ton.

Abel schüttelt den Kopf. «Ich hab den Kittel nur geliehen. Ich wollte ihn gleich wieder zurückgeben …», beginnt er zu erklären, wird aber von dem anderen Polizisten unterbrochen: «Sie müssen mitkommen.»

Rasch und routiniert haken die beiden Beamten den verdutzten Baumann unter und geleiten ihn zur Tür.

«Entschuldigen Sie die Störung», sagt einer der beiden zu mir, der andere nickt zustimmend. Abel sieht mich flehentlich an, schweigt aber. Bevor ich etwas sagen kann, sind die Polizisten mit ihm und der Krankenschwester auf dem Gang verschwunden.

Ich brauche ein paar Schrecksekunden, um zu begreifen, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, Abel Baumann einfach so seinem Schicksal zu überlassen. Er mag noch nicht offiziell mein Patient sein, aber immerhin hat er mich bereits für die erste Sitzung gebucht.

Entschlossen werfe ich die Decke zurück, springe aus dem Bett und will zur Tür hechten, aber mein Kreislauf kommt nach der langen Ruhephase nicht so schnell auf Touren. Ich falle der Länge nach hin. Glücklicherweise wird dabei ausnahmsweise meine Nase nicht in Mitleidenschaft gezogen. Dafür bin ich nun schlagartig hellwach.

Als ich den Gang betrete, sind die Polizisten gerade im Begriff, mit Abel im Fahrstuhl zu verschwinden.

«Moment!», rufe ich. «Warten Sie! Ich komme mit!»

Die Beamten sehen sich erstaunt an, immerhin stellt sich einer der beiden in die Lichtschranke, um die Fahrstuhltür zu blockieren. Ich eile durch den Krankenhausflur und sehe, dass Baumann erleichtert lächelt.

«Stehen Sie denn in irgendeiner Beziehung zueinander?» Der Polizist, der die Fahrstuhltür blockiert, sieht mich argwöhnisch an.

«Herr Baumann ist mein Patient», antworte ich.

Der Beamte mustert meine ungewaschenen Haare und den schmuddeligen Bademantel. Dann dreht er sich zu Baumann, der mit seinem schneeweißen Kittel problemlos als Koryphäe der Humanmedizin durchgehen würde.

«Stimmt das?», fragt der Beamte.

Baumann nickt. «Ja. Das ist mein Psychotherapeut.»

Der Polizist wirft seinem Kollegen einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu. Dann bedeutet er mir mit einem Kopfnicken, dass ich ebenfalls in den Fahrstuhl steigen soll.

Gott ist ratlos

Mein Plan, Abel Baumann Scherereien zu ersparen, geht total schief. Am Ende kriegen wir beide Ärger. Abel, weil er ein Wiederholungstäter ist. Man hat ihn schon Dutzende Male verhaftet, weil er sich für einen anderen ausgab. Noch vor kaum zwei Wochen war er ein paar Straßen weiter als Architekt unterwegs und koordinierte über mehrere Tage hinweg die Arbeiten an einem riesigen Hotelkomplex. Mit dem Ergebnis, dass nun die Hälfte der Zimmer fehlt, weil Baumann angeordnet hat, diverse Zwischenwände rauszureißen. Er habe die Zimmer größer, heller und freundlicher gestalten wollen, gab er später zu Protokoll. Dummerweise waren die betreffenden Wände von nicht unerheblicher Bedeutung für die Statik des Gebäudes. Anders ausgedrückt: Der Rohbau hätte jede Minute in sich zusammenkrachen können. Die Ingenieure, die nun damit beschäftigt sind, zu retten, was zu retten ist, haben es jedenfalls als ein Wunder bezeichnet, dass das Gebäude überhaupt noch steht.

Der Revierleiter, ein Gemütsmensch mit Walrossbart, macht mir zum Vorwurf, dass ich von alldem nichts wusste. Polizeioberrat Schavinski findet, wenn ich schon als psychologischer Betreuer auftrete, dann sollte ich zumindest eine leise Ahnung davon haben, wen ich eigentlich betreue. Ich verbitte mir kategorisch jede Einmischung in meine Tätigkeit als Psychologe, muss aber insgeheim natürlich zugeben: Der Mann hat völlig recht. Außerdem möchte Schavinski mir ja nur ans Herz legen, künftig etwas besser auf meinen Patienten aufzupassen, damit der Papierkram sich in Grenzen hält.

Zwischenzeitlich meldet einer von Schavinskis Beamten, dass ich mein Krankenbett verlassen habe, ohne die Formalitäten zu erledigen. Ich vermute, die dicke Schwester hat mich verpetzt. Ich soll jedenfalls unbedingt noch unterschreiben, dass ich auf eigenes Risiko abgehauen bin. Das entsprechende Formular werde man der Polizei per Fax zukommen lassen. Ich sehe Polizeioberrat Schavinski an, dass er es mir persönlich übelnimmt, nicht wenigstens den Papierkram im Krankenhaus erledigt zu haben.

Dummerweise kann ich Ellen nicht erreichen. Sie könnte meinen Ausweis holen und ihn mir vorbeibringen. Zumindest das ist sie mir schuldig.

Ich spreche ihr auf die Mailbox, habe aber wenig Hoffnung, dass sie mich bald zurückruft. Als Millionärin ist Ellen eine umschwärmte Frau. Und da die meisten Leute mehr von ihr wollen als nur eine kleine Gefälligkeit, geht sie gewöhnlich erst spätabends die Mailboxliste ihrer Bittsteller durch.

Polizeioberrat Schavinski entscheidet deshalb, dass wir für ein paar Stunden die Gastfreundschaft seines Hauses in Anspruch nehmen werden. So lange nämlich, wie es dauern wird, den Papierkram zu erledigen und abzuklären, ob Baumann hinter Gittern bleiben muss oder nicht.

Man sperrt uns in eine Art Abstellkammer, in der zwei knochenharte Pritschen auf uns warten. An den Fußenden liegen säuberlich gefaltete, dunkelgraue Decken, die schon beim Hinsehen kratzen. Immerhin bekommen wir eine Kanne Kaffee und ein paar belegte Brote spendiert.

Wir frühstücken schweigend. Baumann scheint etwas