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Welche Figuren sind typisch im Männer-Yoga? Ist es eine gute Idee mit fünf Halbwüchsigen im Kino einen Horror-Film anzusehen? Und wie wirken sich hellhörige Räume auf die Arbeit im Home-Office aus? Diese und andere Fragen beantwortet Olaf Nägele in seinem neuen Sammelband aus launigen Geschichten und hammerharten Schnurren, die nur der Alltag diktieren kann.
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Seitenzahl: 139
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Liebe Leserin, lieber Leser,
es war und ist HAMMERHART: Ein Virus und die damit einhergehende Pandemie hat den Alltag aus den Angeln gehoben, die Gesellschaft gespalten und, was viel schlimmer ist: Virus und Pandemie haben aus mir einen Tagebuchschreiber gemacht.
Tagebuch: Solche Aufzeichnungen des drögen Seins werden doch allenfalls von adipösen, von Liebeleien verschonten Jugendlichen oder von Sinnsuchenden geschrieben, die vom Universum keine Antwort bekommen. Gut, stimmt, in beiden Fällen hätte ich auch schon anfangen können, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Aber nein, ein Virus, eine Krankheit bringt nicht nur Menschen auf die Straße, um dagegen zu sein, sondern auch mich an den Schreibtisch.
Dabei war es wirklich nicht so, dass ich mich gelangweilt hätte in der häuslichen Isolation während den Lockdown-Phasen. Keinesfalls. Also nicht oft. Nur manchmal, hin und wieder. Ich wollte mir mit meinen Aufzeichnungen auch keinen Trost spenden oder literarische Zähren vergießen. Es ging mir darum, ungewöhnliche Erscheinungen und absonderliche Verhaltensweisen festzuhalten. Und da gab es in den ersten Monaten so einige, ganz unabhängig von Klopapier-Horterei und Ravioli-Rausch. Ich meine, wann hat man schon mal eine Pandemie, da stecken doch Geschichten drin. Auszüge dieser Tagebuchaufzeichnungen finden Sie in der Mitte des Buches.
Drumherum habe ich Texte gesammelt, die vor, während und nach der Arbeit an meinen Kriminalromanen entstanden sind. Zum Beispiel Episoden der Radio-Kolumne »Hen Se g’schwend Zeit«, die ich für den Reutlinger Sender NeckaralbLive schreiben und einsprechen durfte. Und auch das ist HAMMERHART: Um den Leserinnen und Lesern, die im Schwäbischen Defizite aufweisen, einen Zugang zu den Texten zu schaffen, habe ich sie ins Hochdeutsche übersetzt.
HAMMERHART ist auch, dass Sie mit meinen Ausflügen in lyrische Gefilde konfrontiert werden. Einige dieser Pretiosen von außergewöhnlich poetischer Strahlkraft fanden ihre Erprobung in den Bühnenprogrammen von »Dem und Derra Nägele«, die ich mit der zauberhaften Babs Steinbock und dem an Charme wohl kaum zu übertreffenden Claus Lindenmaier bestreiten darf.
Und ich stelle Ihnen einige meiner Freunde vor. HAMMERHART ist, dass sie inzwischen eher Ex-Freunde sind, was es einfacher machte, sie humoristisch zu porträtieren. Kurz: Sie halten ein Lesebuch in der Hand, das Sie überallhin begleiten kann: in die Schule/ Universität, zur Arbeit, zu Sport und Spiel, auf die Toilette, unter die Dusche, in‘s Schlafzimmer. Zeit für ein bisschen Lektüre findet sich immer.
Ich wünsche viel Vergnügen,
Ihr Olaf Nägele
Proust Mahlzeit
Loslassen mit Resonanz
Horror mit Lauch
Hen Ihr g’schwend Zeit:
Sichtbare Berufung
Hen Ihr g’schwend Zeit:
Liebe des Lebens
Transparente Wahrhaftigkeit
Freunde in der Not:
Björn
Ich krieg die Krise. Eine Art Corona-Tagebuch
Süß am Morgen, Teil 1 und 2
Prinzip
Neues vom Wertstoffhof
Im Namen der Karotte
Freunde in der Not:
Cordula
Ich war noch niemals in Tripsdrill
Hen Ihr g’schwend Zeit:
Sport isch saug’fährlich
Hen Ihr g’schwend Zeit:
Lotto Erkenntnis
Nahverkehr mit Streuobstwiese
Der Lump von Hausach -
Ode an Wolf Biermann
Kritiker unter sich
Hen Ihr g’schwend Zeit:
Steuer-Napping
Hen Ihr g’schwend Zeit:
Internet macht’s Leba oifach
Schwäbisches Missverständnis
Halb neun in der Frühstückspension
Meine kapitalistische Sozialisation
Freunde in der Not:
Guido
Dalai Lamas verbotene Schriften
Raumklima mal anders
Winter bleib fort - ein Plädoyer
Nix passiert
Sind wir nicht alle polymorph?
Der Viel-O-Soff
Kleine Typologie der Weihnachtsmarktgänger
Schlaflos in Grapfareut
Was freu ich mich so Schaden
Bollaguad
Die vier Heiligen drei Könige aus dem Schwabenland
Überzeugungsarbeit
Hen Ihr g’schwend Zeit:
Rückwärts immer
Hen Ihr g’schwend Zeit:
Zahn der Zeit
Danke! Danke! Danke!«
Leute kauft mehr Literatur.
Nur keine Hemmingways.
Kommen Sie näher, kommen Sie ran,
hier werden Sie bedient wie bei Paul Celan.
Neu reingekommen sind unsere Schillerlocken:
Wer drei nimmt, erhält gratis ein Shakespeare dazu.
Na, springt da die Funke über?
Das ist die Joyce Ihres Lebens.
Was Musil denn tun, damit Sie kaufen?
Ihre Sparsamkeit ist echt Grass.
Da Ringelnatz einem ja die Fußnägel auf.
Dabei würde Ihnen ein bisschen Vonnegut tun.
Aber ich Schätzing, dafür haben Sie kein Haupt Mann.
Umsonst wollen Sie lesen? Auf keinen Fallada.
Alles was Brecht ist. Da Goethe ja jeder kommen.
Literatur hat seinen Kleist.
Wer das nicht akzeptiert, kann uns Verne haben.
»Mit dir zusammen zu leben, ist nicht einfach«, eröffnete mir die beste Lebensgefährtin, die man sich vorstellen kann, eines Morgens beim Frühstück. »Nachts knirschst du mit den Zähnen, da meint man, du würdest Knäckebrot kauen. In deinen Furchen auf der Stirn könnte man Kartoffeln anpflanzen, so tief sind die. Und ständig bist du am Zappeln, als würdest du in einem Ameisenhaufen sitzen. Wie kann ein einzelner Mensch so angespannt sein?«
Vor Schreck über diese Aufzählung meiner mir bislang unentdeckt gebliebenen Schwächen, ließ ich mein Honigbrot fallen. Es verfehlte meinen Teller knapp und landete direkt auf meiner Hose. Mit dem Belag nach unten, versteht sich.
Bei dem Versuch, mein Beinkleid zu retten, stieß ich meinen Kaffee um, der sofort die Wurstplatte flutete. Meine Partnerin beobachtete mit stoischer Miene, wie sich meine Missgeschicke zu einer mittleren Katastrophe aneinanderreihten.
»Siehst du? Genau das meine ich. Du bist derartig angespannt, dass dir andauernd solche Dinge passieren«, lautete ihr Kommentar, während ich versuchte, mit einer Serviette den Honig aus meinem Schritt zu tupfen.
»Und was soll ich, deiner Meinung nach, dagegen tun?«, fragte ich gereizt.
»Du musst ruhiger werden. Lerne dich zu entspannen«, lautete ihr Rat. »Übrigens: Die Hose kannst du wegwerfen. Du hättest die Serviette nass machen müssen. Jetzt ist es zu spät.«
Das war so ein Punkt, der meine Nervenenden reizte: Ihre hochmütige Art, diese Besserwisserei, die sie immer dann anwendete, wenn nichts mehr zu retten war.
»Das hättest du mir ja vielleicht früher sagen können«, herrschte ich sie an.
»Ts, ts, ts. Ein Typ wie eine Tiefkühltruhe. Ständig unter Strom«, entgegnete sie, erhob sich und verließ den Raum.
Im Büro lief es keinen Deut besser. Mein Kollege strafte mich mit Missachtung, ging meinen Kontaktaufnahmeversuchen eindeutig aus dem Weg. Nach einer Stunde Stillschweigen stellte ich ihn zur Rede.
»Das fragst du noch? So wie du dich gestern bei der 100-Jahr-Feier der Bäckerei Weber aufgeführt hast, musst du dich nicht wundern, wenn keiner mehr mit dir redet.«
Ich versuchte mich zu erinnern. Das Jubiläum unseres größten Kunden verlief aus meiner Sicht unspektakulär. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»Das ist das Schlimme: Du merkst nicht einmal, wenn du dich danebenbenimmst. Deine Vermutung, die Brötchen vom Buffet stammten wohl aus Gründertagen, kam gar nicht gut an. Und dass du das Ehepaar Weber als abgelaufene Sahneschnitte und aufgeblasenen Windbeutel beschrieben hast, und zwar so laut, dass es alle hören mussten, auch nicht.«
»Na gut, ich hatte ein Gläschen zu viel getrunken. Da sagt man so etwas schon mal«, versuchte ich, die Sache ins Belanglose zu ziehen. Er sah mich entsetzt an und packte mich an den Schultern. »Nein, du warst nicht betrunken. Du bist eine tickende Zeitbombe. Der kleinste Funke genügt, um dich zum Explodieren zu bringen. Du stehst unter Hochspannung, bist ständig gereizt, bist ein Typ wie ein Formel-1-Wagen: Von null auf hundertachtzig in fünf Sekunden.«
Immerhin hatte ich durch den neuen Vergleich den Bereich der Weißware verlassen. Aber seine Kritik ließ mich nicht unberührt, zumal sie in ihrer Aussage mit der meiner Partnerin übereinstimmte. »Okay«, sagte ich beherrscht. »Was schlägst du vor?«
Er tätschelte mir die Wange. »Schalte einen Gang zurück. Geh spazieren. Meditiere. Oder melde dich bei einem Tai Chi- oder einem Yoga-Kurs an.« Er boxte mich freundschaftlich gegen die Schulter. »Bei diesen Kursen herrscht immer ein enormer Frauenüberschuss. Wenn das kein Argument ist.« Er zwinkerte mir doppeldeutig zu.
Auf den Frauenüberschuss konnte ich verzichten. Wahrscheinlich trafen sich die Damen nur, um Neuankömmlinge wie mich zu beobachten und sich an meinen unbeholfenen Bewegungen zu ergötzen, die sie beim nächsten Kaffeeklatsch ungehindert durchlästern konnten.
Mein Motto lautete: Selbst ist der Mann und so besorgte ich mir in einer Buchhandlung eine DVD, die einen Yoga-Kurs für Anfänger und ziemlich Fortgeschrittene versprach.
Meine Lebensgefährtin mutmaßte, dass ich mir das Werk nur wegen der drallen, vollbusigen Leiterin, die auf den Namen Yoga-Jordan hörte, gekauft hatte.
»Das Auge turnt mit«, erklärte ich ihr und versuchte die Übungen nachzuahmen, die mir die junge Frau im extrem figurbetonten Dress vormachte. Sie erwies sich trotz ihres äußerst üppigen Vorbaus als sehr viel gelenkiger als ich, zudem fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren. Meine weitaus bessere Hälfte hatte mit einem Glas Wein und Kartoffelchips auf der Couch Platz genommen, beobachtete mich und kommentierte die Figuren, die ich auf die Matte legte.
»Ganz ehrlich, für deinen herabschauenden Hund müsstest du beim Tierschutz angezeigt werden«, spottete sie.
Kurz konnte ich ihre Bewertungen ausblenden, als Jordan in die Cobra ging und ihr Oberteil auf eine harte Materialprobe stellte.
»Ich dachte immer, die Cobra sei eine Schlange«, ätzte es von hinten. »Bei dir sieht das ein bisschen aus wie ein verendender Seelöwe.« Alle ihre Sticheleien ertrug ich mit einer Fassung, um die mich Mahatma Gandhi sicher beneidet hätte, aber als mein Baum, bei dem es gilt, das Gleichgewicht auf einem Bein zu halten und mit den Händen über dem Kopf eine Krone zu bilden, mit »Sag mal, hat bei dir schon das Waldsterben eingesetzt« bewertet wurde, erlosch meine Begeisterung für Jordan und ihre Trainingseinheiten.
Dafür erwachte mein Zorn. »Ich hoffe, dein Körper bleibt so beweglich wie dein Mundwerk«, blaffte ich meine Partnerin an und hörte noch, wie sie mir »Aus einer trüben Quelle lässt sich kein klares Wasser schöpfen« hinterher brüllte.
Womöglich ist es dem Gesetz der Resonanz zuzuschreiben, diesem esoterischen Glaubenssatz, dass gezielte Wünsche durch die Energie des Universums genährt werden und ich noch an diesem Abend eine Entspannungstechnik für mich entdeckte, die meiner Persönlichkeit entsprach.
Im Gasthaus um die Ecke saß eine mobile Männer-Yoga-Gruppe um einen Tisch und exerzierte Übungen, die mir allzu vertraut waren. Das durstige Kamel, das möglichst rasche Leeren eines Bierkrugs, beherrschte ich aus dem Effeff. Auch beim reißenden Wolf, dem Verschlingen einer Frikadelle unter zehn Sekunden, machte mir keiner etwas vor. Mein röhrender Hirsch, der lang gezogene Ructus, vulgär auch Rülpser genannt, ist ausbaufähig und auch beim notgeilen Bock, dem Versuch, der Kellnerin in die Bluse zu schielen, hielt ich mich höflich zurück. Mir war zu Ohren gekommen, dass einer meiner Mit-Yoginis in Folge einer ähnlichen Situation die Figur des Klappernden Storchs eingenommen hatte und schon bald mit der Übung Fütter das Kuckuckskind konfrontiert worden war.
Wie jede Entspannungstechnik erfordert auch meine erwählte Disziplin. Und eine gewisse Regelmäßigkeit erhöht den Erfolg. Seitdem ich zweimal wöchentlich zum Männer-Yoga gehe, kann mir kein Stress der Welt etwas anhaben. Allerdings beschwert sich meine Lebensgefährtin nun über meine Lieblingsfiguren taumelnder Schimpanse und ausgelassene Kichererbse. Während ich in mir ruhe, wirkt sie aufbrausend und gereizt. Ich glaube, sie sollte unbedingt lernen zu entspannen.
»Mensch, bist du groß geworden!«
Eigentlich habe ich mir als Jugendlicher geschworen, diese von Generationen gebrauchte Worthülse niemals anzuwenden. Sie ist der Ausdruck einer unüberwindbaren Kommunikationsbarriere, die sich zwischen einem Erwachsenen und einem jungen Menschen, die nicht täglich miteinander zu tun haben, auftürmt.
Der Satz ist mir herausgerutscht und schon fühle ich mich schuldig. Mein kleiner Freund Jan, der mich inzwischen um einen halben Kopf überragt und Empfänger dieser Floskel, verdreht zurecht die Augen, stülpt die Kapuze seines Hoodies über den Kopf und schlurft stöhnend von dannen.
»Mach dir nichts draus. Er ist in einer schwierigen Phase«, versucht seine Mutter den Abgang zu erklären, aber das muss sie nicht. Eine Begrüßung wie diese, an Inhalts- und Bedeutungslosigkeit nicht zu übertreffen, hat kein junger Mensch dieser Welt verdient.
»Wir kommen klar«, erwidere ich und ernte dafür ein schrilles Lachen.
»Bist du sicher? Da wärst du derzeit aber der Einzige, der sich auf dem Planeten Jan zurecht findet.«
»Jungs in dem Alter sind so. Das kenn ich von mir«, gebe ich den Jugend-Versteher, wohlwissend, dass zwischen meiner persönlichen Pubertäts-Erfahrung und Jans Gegenwart Jahrzehnte liegen.
»Na, dann ist es ja gut«, antwortet seine Mutter spitz.
Jan kenne ich seit seiner Geburt und wir haben schon einige Abenteuer zusammen erlebt. Immer dann, wenn seine Eltern eine kurze Auszeit von seinem kreativen und lebendigen Schaffen benötigten, sprang ich ein, um mit ihm die Welt zu erkunden. Er brachte mir seine Sichtweise auf die Dinge bei und ich bezahlte meistens dafür, wenn seine Perspektive nicht mit der anderer Menschen, oder dem Gesetzgeber übereinstimmten. Denn auch das waren fundamentale Eigenschaften des aufgeweckten Kerls: Seine zügellose Energie und sein Drang, Dinge nachhaltig in Bestandteile zu zerlegen, ohne darüber nachzudenken, ob die Puzzleteile jemals wieder zusammengefügt werden konnten.
Im Laufe der Jahre legte sich dieser Antrieb, die Hormone übernahmen das Kommando und verwandelten das sonnige Herzblättchen in ein finster dreinblickendes, wortkarges, meist schlecht gelauntes personifiziertes Magengeschwür. Vielleicht trug die Trennung der Eltern zu seiner Verstörung bei, ganz bestimmt jedoch die Tatsache, dass sich Jans Vater in eine 18-jährige Thailänderin verliebte, die sich bald schon als 25-jähriger Thailänder entpuppte.
Dennoch versuchen wir, der Tradition gehorchend, zumindest einbis zweimal im Jahr etwas miteinander zu unternehmen. Jan hat Nachholbedarf in musikalischer Sozialisation, wie ich finde und umgekehrt sieht er es wohl ebenso, also besuchen wir des Öfteren Konzerte, die entweder er oder ich vorschlage. Von Bereicherung für beide Seiten kann nicht gesprochen werden. Musikgeschmack kennt auf beiden Seiten keine Toleranz.
»Was wollt ihr heute machen?«, fragt mich seine Mutter. Sie trägt ein schwarzes, tief dekolletiertes Kleid, das ihre weibliche Figur sehr betont. Sie duftet nach Vanille und Honig. Offensichtlich hat sie schon sehr genaue Pläne für den Abend, was ich von mir nicht behaupten kann.
»Ich dachte, ein bisschen Kultur könnte nicht schaden. Im Marionetten-Theater zeigen sie heute Schillers Räuber«, sage ich.
»Na, da wird sich Jan aber freuen. Ganz sein Ding«, erwidert seine Mutter und legt eine Hand auf meinen Arm. Eine Geste, die wohl mehr Trost als Zuspruch sein soll.
»Ich muss los«, sagt sie, haucht mir einen Kuss auf die Wange. »Viel Spaß im Marionetten-Theater, Jan«, ruft sie.
»Da kann er allein hingehen, der Geringverdiener«, kommt es schroff von oben. »Ich geh ins Kino. Mit meinem Squad.«
»Das ist doch prima. Ich komme mit! Ich lade euch ein, so wenig verdiene ich nämlich gar nicht«, ergänze ich.
»Den Abend wirst du so schnell nicht vergessen«, lautet der Kommentar von Jans Mutter, bevor sie die Haustür hinter sich zuzieht.
Selbstverständlich gibt es bessere Ideen als mit fünf am Tor der Adoleszenz Pochenden ins Kino zu gehen und ihnen die Auswahl des Filmes zu überlassen. Ich hätte mit einem wunderbaren Disney-Abenteuer, dem neuen James Bond oder auch einer Komödie mit Til Schweiger in der Hauptrolle leben können, aber das Squad, zwei Mädchen und drei Jungs, entscheidet sich für den Horror-Streifen mit dem vielsagenden Titel »Das Klassenfahrt-Massaker«.
»Der Film ist erst ab 18 Jahren freigegeben«, versuche ich den letzten Joker zu ziehen, um das Unvermeidliche zu verhindern.
»Keine Sorge. Wir bringen dich da rein«, erklärt mir Lars und grinst.
Die Mädchen kichern. Ausgerechnet er, der aufgrund seiner Größe in einer Riesentonne Popcorn verschwinden würde wie in einem Ikea-Bällebad, reißt hier auf meine Kosten Zoten. Gut, da stehe ich drüber. Auch, dass ich von Jan dazu aufgefordert werde, eine Runde »Shots« auszugeben, das sei der Preis dafür, den Abend mit ihm und seinen Freunden teilen zu dürfen.
»Euch ist schon klar, dass darin Alkohol enthalten ist«, sage ich nach eingehender Überprüfung des Etiketts.
»Ja, aber nicht genug«, sagt Clarissa, zieht eine kleine Flasche Wod-ka aus ihrer Jackentasche und füllt die Flaschen ihrer Freunde auf.
Ich versuche, meine eigene Jugend in Erinnerung zu rufen. Vielleicht hätten ich und meinesgleichen genauso gehandelt, wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten. Statt im Supermarkt Schnäpse zu kaufen, haben wir mitten in der Nacht den Getränkehändler im Heimatdorf aus dem Schlaf geklingelt, wenn uns das Bier ausging.
Den Kasten haben wir später wieder abgegeben, vom Pfand konnten wir noch eine Schachtel Zigaretten ziehen. Als Zwölfjährige konnten wir wirklich nicht mehr vom Leben verlangen.
Die Handlung des Films ist vorhersehbar. Eine Schulklasse der Senior High aus Wasweißichnichtwo begibt sich auf Klassenfahrt.
Der Bus hat eine Panne, bleibt mitten in der Pampa stecken, ein Trupp Schüler erkundet die Umgebung, findet eine einsame Villa in einem angrenzenden Wäldchen und muss allen Warnungen zum Trotz hineingehen. Die Warnungen kommen aus dem Zuschauerraum des Kinos, genauer gesagt von mir, denn es ist doch offensichtlich, dass in einem einsamen Gebäude mitten im Wald das Grauen wohnt. Allein die dunkel dräuende Musik setzt meine Nerven unter Hochspannung, doch das hält die Halbwüchsigen im Film nicht davon ab, die Abwesenheit des Lehrers auszunutzen und wild miteinander zu knutschen und herumzufummeln. Als eines der Mädchen das T-Shirt über den Kopf zieht, ist es mit der Zurückhaltung des Squads vorbei.