Goettle und die Blutreiter - Olaf Nägele - E-Book

Goettle und die Blutreiter E-Book

Olaf Nägele

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Beschreibung

Weingarten rüstet sich für den Event des Jahres. Tausende Pilger und Reiter freuen sich auf den Blutritt. Doch hinter den Kulissen gibt es ein Problem: Die Heilig-Blut-Reliquie wurde gestohlen. Verzweifelt bittet Stadtpfarrer Seegmüller seinen Biberacher Amtskollegen Andreas Goettle um Hilfe. Goettle trifft auf Feministinnen, Tierschützer und einen geschassten Securitychef, die allesamt Motive hätten, die Veranstaltung zu verhindern. Gerade als eine Erpressermail auf eine erste Fährte führt, wird der Hauptverdächtige ermordet …

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Olaf Nägele

Goettle und die Blutreiter

Kriminalroman

Zum Buch

Blutritt in Gefahr!Der Countdown läuft: In neun Tagen soll der Blutritt, Europas größte Reiterprozession, in Weingarten stattfinden. Was niemand weiß: Die Heilig-Blut-Reliquie, um die sich beim Blutritt alles dreht, wurde gestohlen. Pfarrer Sebastian Seegmüller zieht in seiner Not den Biberacher Gemeindepfarrer Andreas Goettle zurate, der schon manchen kniffligen Fall gelöst hat. Goettle findet heraus, dass es etliche Menschen gibt, die den Blutritt gern verhindern würden. Zum Beispiel die »Grünen Minnen«, Biberachs radikale Feministinnen, die einfordern, dass Frauen mitreiten dürfen. Ferner macht eine Studentengruppe aus Tierschutzgründen gegen die Veranstaltung mobil. In den Fokus gerät auch Zacharias Stuber, Chef eines Sicherheitsunternehmens, der den Auftrag verloren hat, den Blutritt zu sichern. Als bei dessen Hauptwidersacher Christian Wollschläger, Vorsitzender des Festkomitees, eine Erpressermail eingeht, scheint die Sache klar zu sein. Doch dann wird Stuber ermordet aufgefunden. Die Zeit wird knapp, denn ohne Reliquie kann es keinen Blutritt geben …

Olaf Nägele, 1963 in Esslingen geboren, hat nach langen Aufenthalten in München, Stuttgart und Hamburg den Weg in seine Heimatstadt zurückgefunden. Dort feilt der Kommunikationswirt (KAH) an PR- und Werbetexten, verfasst als Journalist Artikel für diverse Zeitungen und arbeitet als Redakteur bei der Landeshauptstadt Stuttgart. Der Spaß, Geschichten zu erzählen, hat ihm Beiträge in Anthologien eingebracht, Hörspiele für den SWR, Kurzgeschichtenbände, Romane und Radio-Kolumnen für Neckaralb Live Reutlingen folgten. Für die Kurzgeschichte „Die Sache mit Gege“ erhielt er einen Ehrenpreis der Akademie Ländlicher Raum in Baden-Württemberg und seine Radiokolumne »Ingo lernt schwäbisch« wurde 2020 für den Medienpreis der Landesakademie für Kommunikation nominiert.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Mirjam Claus / stock.adobe.com

und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Blutritt_2011_Gruppe_Hasenweiler_1.jpg

ISBN 978-3-8392-6746-2

Neun Tage bis zum Blutfreitag

Rituale.

Sebastian Seegmüller liebte diese gleichförmige Abfolge von wiederkehrenden Handlungen, sie erfüllte ihn mit Freude und innerer Ruhe. Er ließ kurz den Blick zur Decke der Basilika wandern. Im spärlichen goldenen Abendlicht, das durch das Gloriloch oberhalb des Hochaltars fiel, sah er Schemen der Bilder und Fresken des Malers Cosmas Damian Asam. Der Stadtpfarrer Weingartens lächelte, allein das Wissen um die Anwesenheit der Figuren machte ihn glücklich. Dieser Moment des Tages gehörte nur ihm und den Himmelswesen. Feierlichen Schrittes näherte er sich dem Heilig-Blut-Altar, strich mit den Fingerkuppen über die polierte Fläche, genoss die Kälte, die der Stein ausstrahlte. Er deaktivierte die Alarmanlage, atmete tief ein und aus, um den für ihn so wertvollen Augenblick weiter hinauszuzögern. Gleich würde er die Heilig-Blut-Reliquie aus dem Glaskasten im Altar nehmen, um sie wie jede Nacht im Tresor zu deponieren. Sein Herz schlug schneller, als wolle es dieser Zeremonie Tribut zollen.

Wenige Tage trennten Seegmüller und die Teilnehmer vom Blutfreitag, an dem der Blutritt zelebriert wurde. Wie in jedem Jahr hatten sich mehr als 2.000 Reiter und Zigtausende Gläubige angekündigt, um am Tag nach Christi Himmelfahrt an Europas größter Reiterprozession teilzunehmen. Ganz Weingarten bereitete sich darauf vor. Unzählige Helferinnen und Helfer waren eifrig dabei, das Städtchen liebevoll herzurichten, an allen Ecken wurde geschmückt, gebohrt und gehämmert, Tierpensionen eingerichtet, Hindernisse entfernt, Tribünen erstellt, Rabatten bepflanzt und Schaufenster umdekoriert. Schließlich wurden namhafte Gäste erwartet, darunter der Ministerpräsident des Landes, der Erzbischof Anton Timmermann und eine Abordnung aus Weingartens italienischer Partnerstadt Mantua. Dort war vor fast 1.000 Jahren die Reliquie wiedergefunden worden, von dort aus war ein Teil nach Weingarten gelangt und die beiden Städte verband seither die Verehrung des Heiligen Blutes.

Seegmüller hob das goldene Kreuz aus seiner Tagesbehausung, in das die Ampulle mit Erde eingearbeitet war, die Jesu Christi Blut getränkt hatte. Vorsichtig, ehrfürchtig und in dem Bewusstsein dieses ganz besonderen Aktes.

Rituale.

Mit ihnen geht eine zerbrechliche Sicherheit einher. Es kann ja nichts passieren, so wie die Tage, Wochen, Monate zuvor nichts passiert war. Doch die Gleichförmigkeit der Handlungen geht zulasten der Achtsamkeit, die Monotonie narkotisiert die Sinne. Wäre Sebastian Seegmüller weniger beseelt an seine allabendliche Aufgabe herangegangen, hätte er vielleicht den Schatten bemerkt, der sich durch das linke Seitenschiff lautlos auf ihn zuschob. Und womöglich wäre er vorsichtiger gewesen, als er durch einen langen Zischlaut und das Poltern, das klang, als sei eine Dose zu Boden gegangen, aus seinen Gedanken gerissen wurde.

Stimmen, er hörte Stimmen, leise, es schien, als kämen sie von draußen. Heisere, kurz gebellte Befehle, Lachen.

»Diese Schmierfinken, das werden sie nicht wagen«, fauchte der aufgebrachte Pfarrer und starrte in die Richtung, aus der die Töne an seine Ohren gedrungen waren.

In den letzten Tagen war es immer wieder vorgekommen, dass Gegner des Blutritts ihre Parolen an den Aufgang zur Basilika gesprüht hatten. Sogenannte Tierschützer, die nicht davor zurückschreckten, fremdes Eigentum zu beschädigen, nein, die sich in gottloser Weise an einer Kirche zu schaffen machten, um ihre törichten Sprüche zu verbreiten.

Seegmüller legte die Reliquie vorsichtig zurück in den Glaskasten und stürmte zum Ausgang. Es dauerte einen Moment, bis er den Schlüssel zum Tor der Basilika fand. Mit fahrigen Fingern nestelte er ihn hervor, steckte ihn ins Schloss. Draußen hörte er Schritte, die sich eilig entfernten, unterdrücktes Gekicher. Er riss die Tür auf, konnte jedoch nur die Umrisse zweier Gestalten erkennen, die im Schutze der Dämmerung verschwanden.

»Stehen bleiben!«, keifte er, rannte den Flüchtenden ein Stück weit hinterher, trat auf einen Gegenstand, der unter seiner Sohle wegrollte und ihn zu Fall brachte. Er gab ein quiekendes Geräusch von sich, schlug hart mit dem Hinterkopf auf einer Stufe der Kirchentreppe auf und verlor das Bewusstsein.

Der Gottesmann bekam also nicht mit, wie der Schatten die Basilika eilig verließ und von der hereinbrechenden Nacht verschluckt wurde.

Als Sebastian Seegmüller Minuten später wieder erwachte, sich aufrappelte, seinen Hinterkopf betastete und ungläubig die klebrige Flüssigkeit auf seinen Fingern betrachtete, durchfuhr ein Gedankenblitz das Gewölk des Schmerzes. Benommen, hinkend und ächzend eilte er in die Kirche, hin zum Altar. Er erstarrte: Der gläserne Schrein, der normalerweise das Kostbarste beherbergte, was Weingarten besaß, war leer. Die Reliquie des Heiligen Blutes war verschwunden.

»Also, wenn ihr mi nemme brauchet, gang i jetzt.«

Polizeiobermeister Ernst Fritz legte zwei Finger an eine imaginäre Mütze, nickte seinen Kolleginnen zu, nahm seine Aktentasche vom Schreibtisch und schritt zur Tür.

»Eine gute Zeit und viel Spaß beim Blutritt. Ein bisschen neidisch bin ich, das muss ich zugeben«, erwiderte Kommissarin Laura Behrmann. Sie lächelte ihren Kollegen an, der bedauernd die Schultern hob.

»I dät mi freia, wenn Sie dabei wäret, Laura. Aber Sie wisset jo, Fraua dürfet net mitreita.«

»Wieso eigentlich nicht? Ich muss gestehen, diese ganze Blutrittgeschichte ist mir völlig fremd«, mischte sich Hauptkommissarin Greta Gerber in das Gespräch ein. Sie tippte den letzten Satz ihres Protokolls, sah vom Bildschirm auf und musterte den Kollegen. Er strahlte eine gewisse Vorfreude aus, seine sonst eher knorrige Art war einer lebhafteren gewichen. Seit Tagen sprach er mit zunehmender Begeisterung von dem Ereignis, ließ sie an seiner Freude teilhaben. Die Hauptkommissarin konnte dies nicht nachvollziehen. Obwohl sie schon mehrere Jahre in Biberach lebte, hatte sie nie genug Zeit gefunden, um sich mit diesem oberschwäbischen Brauch auseinanderzusetzen.

»So will’s die Tradition«, nuschelte POM Fritz, dem anzusehen war, wie unangenehm er das Thema fand. »Wega mir könntet Fraua mitreita, aber die katholische Kirche isch da ja a bissle oiga und vielleicht au a bissle rückständig.«

»Das kann man wohl sagen. Deswegen bekommt die katholische Kirche mächtig Druck von Institutionen wie Maria 2.0«, fiel ihm Laura Behrmann ins Wort.

»Maria 2.0? Klingt nach einem Computerspiel mit christlicher Mission. Wer die meisten Kinder unbefleckt empfängt, hat gewonnen«, spöttelte Hauptkommissarin Gerber und wandte sich dem Papierstapel zu, den sie neben ihrem Laptop angehäuft hatte. »Protokolle, nichts als Protokolle. Und ausgerechnet jetzt nehmen Sie Urlaub, Herr Fritz«, seufzte sie und öffnete eine Akte.

»Von wegen Computerspiel«, ereiferte sich Laura Behrmann und strich sich energisch eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Das sind gläubige Damen aller Altersklassen, die sich für die Rechte der Frauen in der katholischen Kirche einsetzen. Im Mai 2019 haben die sogar zum Streik aufgerufen. Die besuchten keinen Gottesdienst mehr, verweigerten Gemeindeaufgaben und haben mit Informationsständen vor den Kirchen auf ihre Anliegen aufmerksam gemacht.«

»Jaja, schon gut.« Greta Gerber winkte ab. Sie war nicht sonderlich gläubig und setzte sich wenig mit Religion auseinander. Ihr einziger Berührungspunkt mit klerikalen Belangen bestand darin, dass sich Biberachs Gemeindepfarrer Andreas Goettle ungefragt in polizeiliche Ermittlungen einmischte und immer wieder auf dem Polizeirevier auftauchte, um Missstände anzuprangern. Und auch wenn sie dem rührigen Gesellen einen gewissen Erfolg als detektivische Spürnase zusprechen musste, wäre es der Hauptkommissarin lieber, wenn er sich aus ihrer Arbeit heraushalten würde.

»Bemühen Sie sich nicht, Laura. Ich kapiere diese Diskussionen eh nicht und halte sie nicht für zeitgemäß. Und irgendwie habe ich den Eindruck, dass dem Blutritt etwas Mittelalterliches anhaftet. Klingt ein bisschen nach Kreuzzug.«

Polizeiobermeister Fritz lief rot an, die Spitzen seines Schnurrbarts zitterten vor Erregung. »Ha, so bled … So darf mr net davon schwätza. Der Blutritt isch a Prozession. Des genaue Gegateil von em Kreuzzug. Schließlich gilt die Reliquie für alle Katholika als vereinendes Symbol. Des isch an ganz großer Moment, wenn man den Sega vom Blutreiter kriagt. Des isch a Glaubensbekenntnis und macht oin au ehrfürchtig.«

»Schließlich enthält die Reliquie den mit Jesu Blut getränkten Boden von Golgatha«, ergänzte Laura Behrmann. Ihre Wangen waren gerötet, wie immer, wenn sie sich für ein Thema engagierte.

Greta Gerber sah ihre Kollegin fragend an.

»Sagen Sie bloß, Sie kennen die Geschichte nicht, die hinter dem Blutritt steckt. Also das ist eine ziemlich große Wissenslücke, wenn man hier in der Region wohnt.«

Der vorwurfsvolle Ton ihrer Kollegin ließ Greta aufhorchen.

»I erklär’s Ihne. Also ’s war ja so. Als der Jesus am Kreuz g’hanga isch …«, begann Polizeiobermeister Fritz mit seiner Erklärung, wurde jedoch von seiner Chefin schroff unterbrochen: »Bitte die Kurzfassung, Herr Fritz, ich habe zu tun.«

»Des kosch net kurz verzähla. Des isch a jahrhundertealte G’schicht«, maulte der Gemaßregelte beleidigt.

»Ich versuch es, so kurz es geht«, sprang Laura Behrmann ein. »Nachdem Jesus gekreuzigt worden war, stieß ihm ein römischer Legionär eine Lanze in die Seite, um sicherzugehen, dass er tot war …«

»Longinus hot der g’hoißa. So viel Zeit muas sei«, murrte Fritz, verstummte jedoch, als er von einer Büroklammer getroffen wurde, die Greta Gerber auf ihn abgefeuert hatte.

»Einige Blutstropfen liefen Longinus über das Gesicht und erleuchteten ihn. Er wurde gläubig. Daraufhin vermischte er einige Blutstropfen mit der Erde von Golgatha und füllte sie in ein Kästchen. Er wurde von den Aposteln getauft und reiste nach Mantua …«

»Des liegt in Italien.«

Greta Gerber sandte POM Fritz einen genervten Blick.

»Genau, er fuhr nach Mantua in Italien. Um dort die Lehre Christi zu verkünden. Das gefiel einigen Leuten nicht und so wurde er, wie viele Christen damals, verfolgt. Vor seinem Tod versteckte er das Kästchen und irgendwann entdeckte man einen Teil der Reliquie und Knochen von diesem Longinus …«

»1048 war des. Jetzt hot der Papst Leo g’sagt, des Heilige Blut g’hört nach Rom, aber die Leut in Mantua waret dagega …«

»Leute, echt«, ächzte die Hauptkommissarin. »Ich wollte die Kurzfassung. Also bitte, Laura. Wenn es möglich ist, fassen Sie die nächsten tausend Jahre in drei Sätzen zusammen.«

»Also gut: Ein Teil der Reliquie blieb in Mantua, der andere ging nach Rom. Dann kam Heinrich III. und erhielt einen weiteren Teil, vermachte ihn Balduin von Flandern, der schenkte ihn einer Verwandten, die übergab die Reliquie einem Abt des Klosters Weingarten.«

»Am Tag nach Christi Himmelfahrt war des, dem Blutfreitag. Deshalb wird an dem Tag die Prozession g’feiert.« Der sonst so zurückhaltende und förmliche Polizeiobermeister Fritz strahlte.

»Okay, verstehe. An diesem Tag kommen Tausende von Reitern und Zuschauern, um diesen Event mitzuerleben. Und unser Herr Fritz reitet mit. Na, da wünsche ich viel Spaß.« Greta Gerber lächelte ihren Mitarbeiter an, der jedoch keine Anstalten machte zu gehen.

»Letztendlich hot mr die Basilika zu Weingarten gebaut, um der Bedeutung des Heiligen Bluts gerecht zum werda. Die isch genau halb so groß wie der Petersdom in Rom. Und an der großa Orgel wurde ein Werkstück vom Teufel eingefügt, um se wie a menschliche Stimme klinga zum lassa. Der Orgelbauer Joseph Gabler hot dafür sei Seele verkauft und wäre fast zum Tode verurteilt worda.«

»Die Vox humana«, flüsterte Laura Behrmann ehrfürchtig.

»Eine Orgel, die wie eine menschliche Stimme klingt. Habe ich leider nie gehört, aber ich habe mir fest vorgenommen, das nachzuholen. Das muss gigantisch sein.«

»Des lohnt sich wirklich. 6.666 Pfeifa, do woisch, was Sache isch. Die blost dir des Hirn von älla bösa Gedanka frei.«

Greta Gerber lachte: »Ihr beide solltet euch in Weingarten anstellen lassen, um Touristenführungen anzubieten. Was ihr alles wisst. Seid mir nicht böse, auf mich warten andere Geschichten. Die von unseren Kunden, und die sind alle sehr gegenwärtig. Aber erst hole ich mir eine Tasse Kaffee.«

Sie verließ das Büro, zurückblieben der verdutzte Fritz und Laura Behrmann, die den Kopf schüttelte.

»Wie kann man an Landesgeschichte so uninteressiert sein. Das hätte ich von der Gerber nicht erwartet.«

»Da kannsch nix macha. Bloß weil du em Hennastall wohnsch, kasch no lang koine Oier lega.« POM Fritz zuckte die Schultern.

»Was soll denn das heißen?«, hakte seine Kollegin nach.

»Ha ja, sie wohnt zwar scho a paar Johr hier, kennt sich vielleicht au a bissle aus, aber am End merksch halt, dass se aus Freiburg kommt. Sie isch und bleibt a Badenerin.«

Störgeräusche.

Schrill, unverhofft und keinesfalls erwünscht überfallen sie unbescholtene Zeitgenossen und rauben ihnen die Konzentration auf das Wesentliche. Und wenn Pfarrer Andreas Goettle eines nicht leiden konnte, war es, von dem Telefon aus der inneren Einkehr gerissen zu werden. Er schreckte auf aus seiner transzendenten Meditation, die ein Unwissender Schlaf genannt hätte, und sah sich benommen um. Er saß in seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer, das Buch von Don Camillo und Peppone, der Roman von dem knitzen Pfarrer, der stets Konflikte mit dem etwas einfältigen Bürgermeister austrug, war ihm entglitten und lag mit den Seiten nach unten neben ihm. In der spärlichen Beleuchtung seiner Stehlampe erkannte er, dass die Standuhr gegenüber 22 Uhr anzeigte. Das Telefon klingelte unermüdlich.

»Wer ruft denn so spät no a?«, murmelte er und ließ ein ruppiges »Herrschaftszeita, Frau Münzenmaier, ganget Se an Ihr Telefon. Des isch ja net zum Aushalta« folgen.

Die Küchentür flog geräuschvoll auf, gefolgt von den schlurfenden Schritten seiner Haushälterin, die brabbelnd an ihm vorüberzog. »Hockt in sei’m Sessel wie der Graf Rotz ond schickt mi en der Gegend rom. Sie könntet ja au ans Telefon ganga. Des isch ja net emmer für mi.«

»Awa, mir g’hört der Apparat bloß, wenn i die Rechnung zahla darf. I woiß gar net, wie des Deng fonktioniert«, grantelte Goettle.

»Stellet Se sich no recht bled a«, maulte Renate Münzenmaier und nahm mit einem unwirschen Gruß ab. Der Pfarrer beugte sich ein wenig nach vorn, um besser hören zu können, mit wem sie sprach. Neugierde war ihm ja eigentlich fremd, aber es war nie verkehrt, Augen und Ohren offen zu halten. Der gewohnte Wortschwall seiner Haushälterin blieb aus. Ganz gegen ihre Gewohnheit verharrte sie zunächst stumm und gab dann Schreckenslaute von sich.

»Isch ebbes passiert?«, rief Andreas Goettle. Er bekam keine Antwort. Mühsam erhob er sich aus seinem Sessel und ging hinaus in den Flur. Renate Münzenmaier stand mit offenem Mund und totenblass da, presste den Hörer ans Ohr und lauschte. Als sie den Pfarrer sah, winkte sie ihn zu sich her.

»Des isch jo unfassbar. Da fehlet mir die Worte. An kloina Moment. I geb Ihnen den Herrn Pfarrer.«

Sie reichte den Hörer an ihren Dienstherrn weiter, schlug sich die Hand vor den Mund und beobachtete, wie Andreas Goettle das Gespräch übernahm.

»Hallo, wer isch denn do? Ah, der Herr Blutreiter persönlich. Gibt’s a Problem? Sen Ihne die Gäul durchganga?«, witzelte er. Frau Münzenmaier sah, wie das Lächeln in seinem Gesicht erfror und immer mehr in sich zusammenfiel, um schließlich dem Entsetzen Platz zu machen.

»Des isch jetzt net Ihr Ernschd«, keuchte Biberachs Gemeindepfarrer. »Des isch ja a Katastrophe von ungeheuerlichem Ausmaß. Da muas mr sofort die Polizei informiera …«

»Nein, keine Polizei«, tönte es schrill aus dem Hörer. Den Rest konnte Renate Münzenmaier nicht verstehen.

Andreas Goettle lauschte seinem Gesprächspartner, nickte und beendete das Gespräch wortlos. Das Gehörte schien ihn zu bedrücken, ließ ihn schrumpfen, als wäre die Nachricht tonnenschwer auf seinen Schultern abgeladen worden. Mit sorgenvollem Blick wandte er sich an seine Haushälterin.

»Sie hen’s g’hört. Der Seegmüller isch in große Schwierigkeita. Packet Se mir a paar Sacha z’samme. I fahr für a paar Tag nach Weingarta. Ond schwätzet Se bloß mit koi’m über die Sach. Des darf niemand erfahra.«

»Wenn’s sei muss, schweig i wie a Grab. Aber Sie könnet net oifach nach Weingarta fahra. Sie hen nächschde Woch die Anhörung. Wega Ihrer Amtsenthebung«, insistierte Renate Münzenmaier. Sie wusste, dass dieser Einwand Andreas Goettle nicht von seinem Entschluss abbringen konnte, dennoch war es ein gefährliches Spiel, wenn er diesen Termin bei Erzbischof Timmermann ungenutzt verstreichen ließ. Biberachs Gemeindepfarrer war beim Vorstand der Diözese Rothenburg in Ungnade gefallen, weil er nach dessen Ansicht durch seine zunehmenden detektivischen Ermittlungen seine Gemeindearbeit vernachlässigte. Außerdem war Goettle einer, der keine Gelegenheit ausließ, seinen Dienstherrn zu kritisieren und Reformen für die katholische Kirche zu fordern. Das stieß dem konservativen Fundamentalisten Timmermann sauer auf, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er Andreas Goettle am liebsten exkommuniziert.

»Des isch mir wurscht. Der Herr Erzbischof macht eh, was er will. Es gibt jetzt Wichtigeres, als über ebbes zum diskutiera, was scho längschd entschieda isch.«

Renate Münzenmaier seufzte. Sie würde den alten Querkopf vermissen, wenn es wirklich zum Äußersten kommen sollte. Und davon musste man ausgehen, wenn er diesen wichtigen Termin verstreichen ließ. Es war Goettles letzte Chance, sich zu rehabilitieren. Aber dafür hätte er sich zu mehr Linientreue verpflichten müssen und das kam für den umtriebigen Geist keinesfalls infrage. Er ließ sich nicht verbiegen, selbst durch eine drohende Arbeitslosigkeit nicht. Ihm war bisher immer etwas eingefallen, wie er sich zum Wohl der Menschen in Biberach engagieren konnte. Derzeit kümmerte er sich um den Lebensmittelnachschub des Tafelladens. Die Einzelhändler der Stadt unterstützten ihn durch Spenden, und wenn es knapp wurde, tauchte der Geistliche in die Abfalltonnen der Supermärkte, um Lebensmittel herauszufischen, die optisch kleine Mängel aufwiesen, ansonsten jedoch »pfennigguad« waren.

Schweren Herzens stieg Renate Münzenmaier die Treppe hoch, um den Koffer des Pfarrers zu packen.

Acht Tage bis zum Blutritt

Geheimnisse.

Sie schweißen zusammen oder bewirken das genaue Gegenteil. Geheimnisse gilt es, zu wahren wie Schätze, gerade, wenn sie einem nicht selbst gehören. Die Weitergabe zeugt von tiefem Vertrauen, das Wissen darum und die Exklusivität machen sie so wertvoll. Geheimnisse können ebenso eine Bürde sein. Sie verleiten zum Verrat, wenn dies dem eigenen Vorteil dient.

»Da ist ja unser Schisshase. Ich hab gleich gesagt, dass er keine Eier hat.«

»Natürlich habe ich Eier. Ich kann das beweisen.«

»Ach so, wie denn? Du wolltest doch einen Film drehen, wie du die Nacht in der Kirche verbringst. Hab ich nicht gekriegt. Weil du nicht drin warst.«

»Ich war in der Kirche, wirklich.«

»Mann, laber nicht. Wir brauchen Beweise.«

»Hat er nicht. Der pisst sich ein, wenn seine Mutter das Licht im Zimmer ausmacht. Buuuhhhuu, dann kommen die Geister und die Monster aus ihren Verstecken.«

»Quatsch, ich habe keine Angst im Dunkeln. Meine Schwester hat mir ihr Handy nicht gegeben, deswegen konnte ich keinen Film drehen. Ich kann es trotzdem beweisen, dass ich heute Nacht in der Basilika war.«

»Hör auf zu lügen, du Großmaul. Glaubst du, du kannst uns verarschen, oder was?«

»Aua. Wenn ihr versprecht, mich in Ruhe zu lassen, zeige ich euch etwas, was ihr noch nie gesehen habt.«

»Hau ihm eine rein, der tickt nicht ganz richtig.«

»Lass ihn los! Okay, zeig uns, was du mitgebracht hast. Wenn das irgendein Scheiß ist, hast du ein Problem.«

»Ich verarsch euch nicht. Hier.«

»Was ist das?«

»Dein Ernst? Du weißt nicht, was das ist? Das ist das Heilige Blut.«

»Krass. Ist das echt Gold und so?«

»Klar, ist das echt … He, Finger weg. Nur gucken.«

»Wer macht hier die Regeln, du kleiner Wichser? Boah, das ist voll schwer das Teil. Was ist das wert? ’ne Million?«

»Das werden wir bald wissen, was das wert ist. Ich kenne ein paar Leute, die sich mit solchen Sachen auskennen.«

»Ey, das ist unbezahlbar. Gib es wieder her. Bitte! Es ist nur … geliehen.«

»Scheiß drauf, geliehen. Es gehört jetzt uns. Und ich verspreche dir, dass wir dich erst mal in Ruhe lassen, okay? Das nenne ich einen fairen Deal. Was meinst du, Bruder?«

»Mehr als fair, Mann.«

»Das geht nicht. Das ist das Heilige Blut. Wir müssen es zurückgeben, sonst wird Gott uns strafen. Ich habe es mitgenommen, weil ich wusste, dass ihr mir nicht glaubt, dass ich heute Nacht in der Basilika war.«

»Machst du Witze? Es gibt keinen Gott. Also gibt es keine Strafe. Wenn hier einer straft, bin ich das. Ist dir das klar?«

»Au … Ich muss es zurückbringen … Gib her … Bitte!«

»Jetzt pass auf, mein Freund. Ich sage es nur einmal. Das Teil gehört jetzt mir! Verpiss dich. Und noch etwas: Wenn du mit irgendjemand darüber redest, bist du ein toter Mann. Das meine ich ernst, ist das klar?«

»Mach keinen Scheiß. Die stecken uns ins Gefängnis.«

»Heul nicht rum und halt’s Maul. Niemand geht ins Gefängnis, solange du die Fresse hältst. Und das würde ich dir echt raten, wenn dir dein Leben lieb ist. Zieh Leine.«

»Ich geh nicht ohne das Heilige Blut. Gib es her!«

»Er scheint es nicht zu begreifen. Okay, Bruder, halt das Teil. Ich muss deutlicher werden …«

Tumult.

Immer wenn sich Stimmen erheben, um den Choral des Widerstands anzustimmen, gibt es Abweichler, die sich nicht der Aufbruchsmelodie beugen wollen. Zu hart, zu zart, zu ideell, zu kommerziell, zu chaotisch, zu geordnet, zu primitiv, zu intellektuell, zu gemäßigt, zu radikal. Es gibt viele Möglichkeiten, seine Ablehnung kundzutun, die primäre Frage ist, ob man gehört wird.

Luis kannte das zu gut. Die letzten Versammlungen der Blutritt-Gegner im »Alibi« hatten immer in einem heillosen Durcheinander geendet, da keine Einigung darüber zu erzielen war, ob und wie die Prozession nachhaltig gestört oder gar verhindert werden konnte. Es gab eine sehr radikale Fraktion, die bereit war, sich durch gewaltsame Aktionen Gehör zu verschaffen. Viktor Zwercher war einer der Wortführer dieses Flügels, und er war es, der mit seinen Sprayaktionen in der Stadt bewies, dass er es ernst meinte.

Für die sanfte Riege um Anong Praves, zu der Luis’ Freundin Charlotte gehörte, standen solche Aktionen nicht zur Debatte. Sie setzte auf Aufklärung, verteilte Flugblätter, errichtete Informationsstände in der Stadt, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. »Überzeugen statt überfallen«, war ihr Motto. Jeden Samstag waren die jungen Frauen im Einsatz, doch nicht viele der Passanten ließen sich durch die Argumentation überzeugen, dass es sich bei dem Blutritt um ein touristisch aufgeblähtes Spektakel handele, bei dem die katholische Kirche versuche, Macht zu demonstrieren, die sie nicht mehr besaß. Der Blutritt-Tourismus gehörte zu Weingarten wie die Pädagogische Hochschule oder die Basilika, die Einwohner hatten sich an den Trubel gewöhnt und sahen in den Besuchern keine Gefährder der Ruhe, sondern eine wichtige Geldquelle der Stadt.

Luis stand ideologisch eher auf Zwerchers Seite, aber er wollte Anong und ihre Anhänger bei Laune halten. Allein Charlotte zuliebe konnte er nicht parteiisch sein, daher blieb er neutral und appellierte stets an den Zusammenhalt der Gruppe. Ungewollt war er in die Rolle des Vermittlers geraten und stand nicht selten zwischen den Fronten.

Anong hielt gerade ein flammendes Plädoyer für ihre Arbeit, sie hatte einen Journalisten überzeugen können, einen Bericht über die Bedenken der Blutritt-Gegner zu schreiben. Sie wurde immer wieder von Zwerchers Leuten unterbrochen.

»Der Schreiberling will dir an die Wäsche. Der sieht dich, dein glänzendes schwarzes Haar und deine dunklen Mandelaugen, stellt sich vor, wie es wäre, mit einer Asiatin ins Bett zu gehen, und wird geil!«, rief Carsten, ein etwas ungepflegt wirkender Hüne, der mit seinem ausgewaschenen Kapuzenpullover, seiner Camouflagehose und den schweren Doc Martens aussah wie ein aus der Zeit gefallener Hausbesetzer.

Anong zischte ihm ein »Fuck you« zu. Sie hatte Luis erklärt, dass sie oft genug mit Problemen wegen ihres asiatischen Aussehens zu kämpfen hatte, dabei war sie geborene Ravensburgerin. Ihre Eltern lebten seit mehr als 25 Jahren in Deutschland, sie selbst hatte deren Heimat Thailand nur auf Urlaubsreisen kennengelernt und konnte mit vielen Gebräuchen nicht viel anfangen. Sie fühlte sich durch und durch als Oberschwäbin und reagierte auf Vorurteile äußerst allergisch. Luis konnte das verstehen.

»Da spricht der blanke Neid aus dir«, sprang Charlotte ihrer Freundin bei. »Keine Haare, keine Mandelaugen, kein Verstand. Klar, dass der Journalist nicht mit dir sprechen will.« Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und funkelte Carsten zornig an.

»Oh, die Frau Gestütsbesitzerin wird böse«, ätzte ihr Gegenüber und verzog verächtlich den Mund. »Dabei sind es Typen wie dein Vater, die diesen Blutritt-Quatsch möglich machen. Er profitiert sogar davon. Je mehr Teilnehmer kommen, desto mehr Pferde kann er in Pension nehmen. Also halt besser dein vorlautes Maul.«

Charlotte sah ihn wütend an. Luis wusste, dass es viele nicht gern sahen, dass sie bei den Versammlungen der Gegner dabei war. Dabei versuchte sie regelmäßig, ihren Vater, den Pferdehofbesitzer Ortwin Riedle, zu überzeugen, dass es für die Tiere purer Stress war, am Blutritt teilzunehmen. Sie beschwor ihn, den Hof umzugestalten in eine Pension mit Gnadenhof. Allerdings interessierte sich ihr Erzeuger nicht für das »Öko-Gewäsch« seiner Tochter und wusste nicht, dass sie sich im »Alibi« mit seinen Gegnern traf. Er hätte es ihr mit Sicherheit verboten.

»He, jetzt beruhigt euch«, mischte sich Luis ein. »Es ist gut, wenn sich die Medien mit unseren Argumenten auseinandersetzen. Auf diese Weise erreichen wir mehr Leute. Ich finde es toll, dass Anong Kontakt mit dem Journalisten aufgenommen hat.«

Er lächelte sie an und sie erwiderte es, während um sie herum eine vielstimmige Diskussion einsetzte. Luis sah zu Viktor hinüber, der lässig auf seinem Stuhl fläzte und auf das Display seines Smartphones blickte, fast so, als ginge ihn diese Versammlung nichts an. Luis wunderte sich. Das war so gar nicht die Art des Sprachrohrs der Radikalinskis. Normalerweise war er der lauteste und ungehobelteste Gegner von Anongs »Weichspülern«. Doch an diesem Tag war nichts von seiner üblichen Aggression zu spüren, er wirkte fast unbeteiligt. Vielleicht war er wieder bekifft. Das kam in letzter Zeit hin und wieder vor, aber das machte Viktor eigentlich nur unsympathischer.

»Ruhe jetzt, verdammt noch mal!«, brüllte Luis.

Das Stimmengewirr verstummte. Luis atmete tief durch.

»Mit gegenseitigem Angezicke kommen wir hier nicht weiter. Wir haben nicht mehr viel Zeit. In acht Tagen startet die Prozession, und wenn wir unseren Protest in irgendeiner Art kundtun wollen, müssen jetzt konkrete Schritte eingeleitet werden. Wer also eine Idee hat, die umsetzbar ist, der kann sie jetzt vortragen. Verschont uns bitte mit theoretischen Konstrukten. Die helfen uns im Moment nicht.«

Er ließ seine Worte auf die rund 20 Versammelten wirken. Einige starrten auf die Tischflächen vor sich, andere veränderten ihre Sitzposition, jedoch meldete sich niemand, um einen Vorschlag zu machen.

»Was ist? Hat es euch die Sprache verschlagen? Ihr seid doch sonst so einfallsreich. Oder verlässt euch so kurz vor dem Blutritt der Mut?«

Luis blickte in die Runde. Anong schob ihr Blatt mit Notizen auf der Tischfläche hin und her, Charlotte schmollte, Carsten drehte sich eine Zigarette und Viktor tippte irgendetwas in sein Smartphone. Seine Ignoranz nervte Luis. Er ging auf ihn zu und riss ihm das Telefon aus der Hand. »Vielleicht kannst du auch etwas zu diesem Treffen beitragen, statt zu chatten.«

Viktor erhob sich und baute sich vor Luis auf. Er überragte ihn um einen halben Kopf, aber Luis war ein drahtiger Kerl und kannte keine Angst.

»Gib mir das Handy zurück«, knurrte Viktor. »Und spiel dich hier nicht so auf. Während ihr hier blöd herumlabert, arbeite ich an einer konkreten Lösung.«

Luis ließ die Hand mit dem Handy sinken. »Wie meinst du das?«

Mit einem gezielten Griff brachte Viktor sein Telefon wieder in seinen Besitz. Er wischte das Display mit einem Zipfel seines Hemdes sauber. »Mir geht dieses ganze Geschwurbel dermaßen auf den Sack. Wenn ihr denkt, ihr könntet durch euer sinnloses Geseier irgendetwas bewirken, täuscht ihr euch gewaltig. Wir brauchen einen Plan und ich habe einen Plan.«

Luis trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach ja, du Dummschwätzer? Und wie sieht dieser ominöse Plan aus?«

Viktor grinste und tätschelte Luis die Wange. »Warte es ab. Du erfährst es früh genug.«

Gewissen.

Es pikst, sticht und beißt wie ein Insekt, das sich von Zweifeln nährt. Seltsam genug, dass sich das gute Gewissen sehr viel seltener spürbar ins Bewusstsein schiebt, fast so, als gehöre es zum Standardrepertoire des Gefühlslebens.

Andreas Goettle ging das Gespräch mit seiner Haushälterin eine Weile nach. Natürlich hatte sie recht. Wenn er nicht zur Anhörung wegen seiner Amtsenthebung erschien, konnte dies als Affront gegen den Erzbischof und Desinteresse an seiner Aufgabe ausgelegt werden. Timmermann war eh nicht gut auf ihn zu sprechen, weil Pfarrer Goettle seinen detektivischen Spürsinn entdeckt und bereits dreimal eingesetzt hatte. Immer wieder war er ermahnt worden, seine Gemeindearbeit nicht zu vernachlässigen, was er seiner Ansicht nach gar nicht getan hatte. Doch unter seinen Schäfchen gab es halt einige, die nicht aufhören wollten zu blöken. Die Beschwerden rissen nicht ab und schließlich fällte der Erzbischof die Entscheidung, Goettle vorerst von seiner Arbeit freizustellen. Selbst als der Kirchenvorstand sich auf Goettles Seite geschlagen und um seine Wiedereinstellung gebeten hatte, zeigte sich Timmermann nicht diskussionsbereit. Immerhin blieb ihm das Wohnrecht im Pfarrhaus erhalten, weil sein Vertreter aus Bad Waldsee nicht bereit war, seine Bleibe aufzugeben.

Andererseits sah Biberachs Ex-Gemeindepfarrer es als seine oberste Pflicht an, dem Kollegen Seegmüller in dieser schweren Stunde beizustehen. Vor allem interessierte ihn, wie es dem Täter gelungen war, die hoch gesicherte Kostbarkeit zu stehlen. Seegmüllers Schilderungen waren wenig aufschlussreich gewesen. In seiner Aufregung hatte er von Schmierfinken, Störenfrieden, Verfolgung und einigem mehr gesprochen und diese Aufzählung ohne kausalen Zusammenhang vorgetragen. Wie konnte es also sein, dass die sonst durch eine Alarmanlage gesicherte Reliquie gestohlen worden war? Hatte die Täterin oder der Täter die Sicherungseinrichtung manipuliert oder gar außer Kraft gesetzt? Wie konnte die Diebin oder der Dieb in die abgeschlossene Kirche gelangen und entkommen? Was wollte die Person mit der Reliquie? Sie verkaufen? Andreas Goettle konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Schmuckstück einen Abnehmer finden konnte. Händler, selbst diejenigen, die Marktplätze im Geheimen beherrschten, wären sich der Brisanz des Gegenstands bewusst und würden von dieser heißen Ware die Finger lassen.

»So, da ist sie ja, die Basilika«, riss ihn der Taxifahrer aus den Gedanken. »Zwölf Euro fuffzich. Machen wir fünfzehn.«

Als er den verdutzten Blick seines Fahrgastes sah, konnte der Droschkenlenker ein Grinsen nicht unterdrücken.

»Spaß. Ich habe gedacht, ich hole mir einen Teil der Kirchensteuer wieder.«

»Wenn der Trick öfters fonktioniert, hen Se die bald wieder henna«, erwiderte Andreas Goettle, bezahlte und stieg aus.

Auf dem Münsterplatz herrschte gemächliches Treiben. Einige Passanten schlenderten vorbei, betrachteten die Auslagen der Geschäfte. Einige studierten die Plakate an der Touristeninformation. Über allen wachte die Basilika in ihrer ganzen barocken Pracht. Andreas Goettle ließ sich einen Moment von dem beeindruckenden Anblick gefangen nehmen. Die imposante Klosterkirche auf dem Martinsberg erinnerte ihn daran, dass er ein winziges Rädchen im Getriebe des Weltenlaufs war, gefangen in einer Zeit, in der die Kirche die Menschen mit ihren Botschaften immer seltener erreichte. Als die Basilika erbaut worden war, hatten die Äbte ihre Macht mit dem repräsentativen Gebäude untermauert und die Bevölkerung damit eingeschüchtert. Es war nicht so, dass er sich diese Zeit zurückwünschte. Goettle war sich bewusst, dass im Namen des Herrn nicht nur gerechte Entscheidungen gefällt worden waren. Aber ein wenig mehr Demut könnte der Gesellschaft nicht schaden, dachte er.

Der Geistliche konnte sich nicht gegen die Ergriffenheit beim Anblick des »Schwäbischen St. Peters« wehren. Langsam ging er auf das Gebäude zu, das mit jedem Schritt mehr gegen den Himmel wuchs.

Ein roter Schriftzug an der Mauer zum Aufgang erhaschte seine Aufmerksamkeit. »Bluttritt ist Tierquälerei«, war dort zu lesen.

»Aha, des isch ja interessant«, murmelte Biberachs Gemeindepfarrer und setzte seinen Weg fort.

Sebastian Seegmüller erwartete seinen Gast in seinem Büro. Er sah mitgenommen aus, die Sorgenfalte auf seiner Stirn hatte an Tiefe gewonnen und Goettle schätzte, dass sein Kollege seit dem Zwischenfall wenig Schlaf gefunden hatte. Dennoch hielt es ihn nicht auf seinem Stuhl. Unruhig umkreiste er seinen Schreibtisch und wiederholte die Worte »unfassbar«, »Katastrophe« und »Gotteslästerung« wie ein Mantra.

Andreas Goettle sah ihm eine Weile zu. »Herr Kollege, dän Sie mir oin G’falla ond setzet Se sich. Sonschd kennet Se sich heut Obend a Paar neue Schuah kaufa. So viel, wie Sie romlaufet.«

Seegmüller blieb einen Moment stehen, blickte ihn mit leeren Augen an, setzte seine Wanderung fort und warf die Arme theatralisch in die Höhe.

»Was sollen wir tun?«, presste er hervor. »Der Blutritt kann ohne die Reliquie nicht stattfinden. Außerdem ist sie Bestandteil des Altars. Die Vitrine kann nicht leer bleiben. Die Besucher werden Fragen stellen. Wir müssen sie finden! Doch wo sollen wir suchen? Was ist, wenn sie außer Landes ist? In den Händen dunkler Mächte? Es ist so furchtbar!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte.

»Jetzt no net hudla. Seit geschdern fehlt das Heilige Blut und die Prozession findet in acht Tag statt. Des isch net viel Zeit, aber mir könnet die Reliquie finda, wenn mir ganz genau nochdenket. Also, no mol von vorn. Sie waret grad dabei, des Heilige Blut aus dem Altar zum hola, um es in der Tresor zum bringa. Dann hen Se a Geräusch vor der Kirch g’hört …«

»Ja. Als ob jemand eine Spraydose betätigt. In letzter Zeit haben wir öfter Schmierereien im Umfeld der Kirche. Angebliche Tierschützer werfen uns vor, dass die Pferde bei dem Blutritt leiden müssten. An der Lautstärke der Blasmusik, zudem sei das Gehen über das Kopfsteinpflaster nicht gut für die Gelenke der Tiere und, und, und. Verquerer Unfug. Ich habe also das Geräusch gehört, habe die Reliquie zurück in den Altar gelegt und bin nach draußen gerannt …«

»Ond hen vergessa, die Alarmolag wieder eizumschalta«, unterbrach Goettle die Erzählung Seegmüllers.

Der nickte stumm.

»Des war natürlich segglbleed … also net so guad. Was isch danoch passiert?«

»Na ja, es ging alles ganz schnell. Ich bin raus aus der Kirche, sehe diese beiden dunklen Gestalten fliehen, will hinterherrennen, trete auf eine Spraydose, komme zu Fall und dann herrschte Dunkelheit. Als ich wieder aufwachte, sah ich das offene Kirchentor. Mein erster Gedanke war: Ich muss nach dem Heiligen Blut sehen. Aber da war es schon weg.«

Andreas Goettle rieb sich über das Kinn. Die Schilderung des Weingartener Pfarrers ergab nicht sehr viele Anhaltspunkte für eine Ermittlung.