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Bewegung gehört zu den zentralen Bildungsbereichen. Welche Bildungspotenziale von Bewegung ausgehen wird in diesem Handbuch theoretisch fundiert aber auch sehr praxisnah aufgezeigt. Psychologische und pädagogische Grundlagen der kindlichen Entwicklung werden beschrieben und methodisch - didaktische Hinweise zur Gestaltung der Bewegungserziehung gegeben. Das Standardwerk für Ausbildung und konzeptionelle Arbeit in Krippe, Kindertagespflege und Kita.
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Seitenzahl: 351
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1 Einführung: Bildung in Bewegung – Bildung durch Bewegung
2 Kindheit heute: Bewegte Kindheit
2.1 Spiel und Bewegung – elementare Betätigungs- und Ausdrucksformen des Kindes
Spiel und Bewegung ermöglichen Eigentätigkeit und aktives Handeln
2.2 Veränderte Kindheit – verändertes Spielen
2.3 Konsequenzen für die Bildung und Erziehung von Kindern
Kinder brauchen Spielraum
3 Zur Bedeutung von Körper- und Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung
3.1 Entwicklung des Selbst
Bedeutung des Selbstkonzeptes
Informationen über die sensorischen Systeme: Körpererfahrungen sind Selbsterfahrungen
Selbsterfahrungen aus dem Erleben der Wirksamkeit eigenen Verhaltens
Zuordnung von Eigenschaften durch andere
Auswirkungen des Selbstkonzeptes auf die Selbstwahrnehmung
Hilfen zum Aufbau einer positiven Selbstwahrnehmung
3.2 Soziale Entwicklung
Die pädagogische Fachkraft als soziales Lernmodell
Konsequenzen für die Praxis der Bewegungserziehung
3.3 Kognitive Entwicklung
Wie Kinder lernen
Erkenntnisse aus der Hirnforschung
Exekutive Funktionen
Erkenntnisse der kognitiven Entwicklungspsychologie
Materiale Erfahrungen
Lernen durch Erproben und Experimentieren
Sensomotorische Phase als Fundament
Sich anpassen und sich die Umwelt passend machen
Konsequenzen zur Förderung der spontanen Aktivität und Selbsttätigkeit des Kindes
3.4 Gesundheit und Wohlbefinden
Verständnis von Gesundheit
Auswirkungen der Umweltbedingungen auf die Gesundheit von Kindern
Psycho-soziale Faktoren der Gesundheit
Konsequenzen für die Bewegungserziehung im Sinne einer kindgerechten Gesundheitserziehung
Entspannung und Ruhe
4 Entwicklungspsychologische Grundlagen der Bewegungserziehung
Zum Begriff der Entwicklung
Entwicklungstheorien
4.1 Entwicklung und Bedeutung der Wahrnehmung
Die Bedeutung der Wahrnehmung
Wahrnehmungssysteme
Entwicklung der Wahrnehmung
Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit
4.2 Motorische Entwicklung
Prinzipien der motorischen Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter
Der Verlauf der motorischen Entwicklung
Motorische Entwicklung im Säuglingsalter
Die motorische Entwicklung im 1. bis 3. Lebensjahr
Die motorische Entwicklung im 4. bis 6. Lebensjahr
4.3 Sprache und Bewegung
Bedeutung der Sprache
Sprachentwicklung
Bewegungshandlungen als komplexe Sprachlernsituationen
Ganzheitliche Sprachförderung durch bewegungsorientierte Spielhandlungen
4.4 Entwicklung und Bedeutung des Spiels
Wie sich das Spielen entwickelt
Funktionsspiele
Konstruktionsspiele
Fiktions- und Illusionsspiele
Rollenspiele
Regelspiele
4.5 Wie Kinder lernen
Reiz-Reaktions-Lernen
Lernen durch Beobachtung / Lernen am Modell
Lernen durch Einsicht / Entdeckendes Lernen
Konsequenzen für die Praxis der Bewegungserziehung
4.6 Entwicklung und Bedeutung der Motivation
Die Bedeutung der Motivation für die Entwicklung und das Lernen
Wetteiferverhalten und Leistungsmotivation
Die Entwicklung der Leistungsmotivation
Leistungsmotivation und Anspruchsniveau
Differenzierung der Schwierigkeitsgrade
Leistungsvergleiche zwischen Kindern vermeiden
Konsequenzen für die Gestaltung von Bewegungsangeboten
5 Beobachtung und Dokumentation der motorischen Kompetenzen und der motorischen Entwicklung
5.1 Allgemeine Einschätzbögen und Beobachtungsverfahren
Grenzsteine der Entwicklung (Michaelis 2004)
EBD 3–48 (Petermann, Petermann & Koglin 2013)
KOMPIK – Kompetenzen und Interessen von Kindern (Mayr, Bauer & Krause 2014)
5.2 Spezifische Beobachtungsverfahren mit den Schwerpunkten Motorik und Wahrnehmung
Abenteuer der kleinen Hexe (Schönrade & Pütz 2008)
Motorik plus U3 und Ü3 (Zimmer 2020)
5.3 Screeningverfahren und Motorische Tests
DESK 3–6 (Tröster, Flender & Reineke 2004)
BIKO 3–6 (Seeger, Holodynski & Souvignier 2014)
Beispiele für spezifische Motorik-Testverfahren
5.4 Ein Portfolio für die Bewegungs- und Wahrnehmungskompetenzen: Was ich alles kann!
6 Bildungsinstitutionen – Begleitung und Förderung kindlicher Entwicklung
6.1 Die Familie
Spiel- und Bewegungsaktivitäten zwischen Eltern und Kindern
Körperliche Fähigkeiten als Symbole des »Größerwerdens«
Die Wohnung – alltäglicher Lebens-, Spiel- und Bewegungsraum des Kindes
Die Erziehungseinstellung der Eltern
6.2 Eltern-Kind-Gruppen und Spielkreise
Bewegungsangebote für das gemeinsame Spielen
Lauf- und Fangspiele, Interaktionsspiele
Kooperationsspiele mit Kleingeräten und Materialien
Sing- und Bewegungsspiele
Großgerätekombinationen und Geräteparcours
6.3 Die Kindertagespflege
6.4 Die Krippe
Situative Bewegungsgelegenheiten in der Krippe
6.5 Der Kindergarten
6.6 Der Hort / Die außerschulische Betreuung
7 Pädagogische Grundlagen der Bewegungserziehung
7.1 Ausgewählte pädagogische Handlungsansätze
Funktionsorientierter Ansatz
Disziplinorientierter Ansatz
Situationsorientierter Ansatz
Neue Formen »Offener Kindergartenarbeit«
7.2 Konzepte elementarpädagogischer Bewegungserziehung
Orientierung an der Ausbildung sportmotorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten
Orientierung an kompensatorischen Zielen
Orientierung an anthropologischen Vorannahmen
7.3 Bewegungserziehung – Querschnittaufgabe in der pädagogischen Arbeit im Kindergarten
Situationen und Anlässe für Bewegungsprojekte
Planung und Offenheit der Bewegungserziehung
7.4 Ziele und Inhalte der Bewegungserziehung
Didaktische Prinzipien der Bewegungserziehung
Inhalte der Bewegungserziehung
7.5 Methodische Aspekte
Vermittlungsmethoden
Konsequenzen für die Gestaltung der Bewegungserziehung
7.6 Offene Bewegungsangebote
Die Bewegungslandschaft
Offene Bewegungsangebote – vorbereitet und geplant
Bewegungslandschaften ermöglichen Bewegung in Sinnzusammenhängen
Bewegungslandschaften geben Gelegenheiten zum selbstständigen Bauen und Konstruieren
7.7 »Bewegungsstunden« planen und durchführen
Organisatorisches zur Durchführung der Bewegungsstunden
Altersmischung der Gruppen
Zur Gestaltung der »Bewegungsstunden«
Zur Planung und Vorbereitung von Bewegungsstunden
7.8 Die pädagogische Fachkraft als Entwicklungsbegleiterin des Kindes
Erziehungsstile
»Förderliche Dimensionen« des Erzieherverhaltens
Die pädagogische Fachkraft als Lernende
8 Bewegungsräume – drinnen und draußen
8.1 Bewegungsräume gestalten
Der Bewegungs- bzw. Mehrzweckraum
Bewegungsgelegenheiten im Gruppenraum
Flure und Nebenräume als »Bewegungsnischen«
8.2 Geräte und Materialien
Das Unfertige fordert heraus
Zweckentfremdete Gebrauchsgegenstände und Alltagsmaterialien
8.3 Draußen spielen
Das Außenspielgelände des Kindergartens
Material zum Bauen und Selbergestalten
Spielen im Freien – freies Spielen?
Spielorte außerhalb des Kindergartengeländes
8.4 Aufsichtspflicht bei Bewegungsaktivitäten
Aufsichtspflicht und Erziehung zur Selbstständigkeit – ein Widerspruch?
Bewegungserziehung als aktive Sicherheitserziehung
9 Psychomotorische Erziehung
9.1 Psychomotorik – Entwicklungsförderung durch Wahrnehmung und Bewegung
9.2 Erlebnisorientierte Angebote
Spielideen aus der Erlebniswelt der Kinder
Sinnvolle Erfahrungen
Auditive Wahrnehmung
Visuelle Wahrnehmung
Taktile Wahrnehmung
Kinästhetische Wahrnehmung
Vestibuläre Wahrnehmung
9.3 Psychomotorische Geräte
Das Rollbrett
Das Pedalo
Schwungtuch
Zeitlupenbälle
»Pezzi« Bälle
10 Bewegungserziehung und Inklusive Bildung
10.1 Vielfalt als Chance für die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen
10.2 Inklusion als Menschenrecht
10.3 Umsetzung inklusiver Bildungsziele
10.4 Ziel inklusiver Bildung: Ressourcen erkennen und unterstützen
11 Kindergärten mit dem Profil »Bewegung« – Der Bewegungskindergarten
Literatur und Medien
Medien – DVDs
Renate Zimmer
HandbuchBewegungserziehung
Grundlagen für Ausbildung undpädagogische Praxis
Überarbeitete Neuausgabe(26. Gesamtauflage)© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Verlag Herder GmbHUmschlagabbildung: Klara KilleitFotos im Innenteil: © Renate ZimmerZeichnungen: Kerstin TiesteSatz: SatzWeise, Bad WünnenbergHerstellung: Graspo CZ, A.S.Printed in the Czech RepublicISBN Print 978-3-451-38602-2ISBN EBook (PDF) 978-3-451-81880-6ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-81913-1
Vorwort
2.1 Spiel und Bewegung – elementare Betätigungs- und Ausdrucksformen des Kindes
2.2 Veränderte Kindheit – verändertes Spielen
2.3 Konsequenzen für die Bildung und Erziehung von Kindern
3.1 Entwicklung des Selbst
3.2 Soziale Entwicklung
3.3 Kognitive Entwicklung
3.4 Gesundheit und Wohlbefinden
4.1 Entwicklung und Bedeutung der Wahrnehmung
4.2 Motorische Entwicklung
4.3 Sprache und Bewegung
4.4 Entwicklung und Bedeutung des Spiels
4.5 Wie Kinder lernen
4.6 Entwicklung und Bedeutung der Motivation
5.1 Allgemeine Einschätzbögen und Beobachtungsverfahren
5.2 Spezifische Beobachtungsverfahren mit den Schwerpunkten Motorik und Wahrnehmung
5.3 Screeningverfahren und Motorische Tests
5.4 Ein Portfolio für die Bewegungs- und Wahrnehmungskompetenzen: Was ich alles kann!
6.1 Die Familie
6.2 Eltern-Kind-Gruppen und Spielkreise
6.3 Die Kindertagespflege
6.4 Die Krippe
6.5 Der Kindergarten
6.6 Der Hort / Die außerschulische Betreuung
7.1 Ausgewählte pädagogische Handlungsansätze
7.2 Konzepte elementarpädagogischer Bewegungserziehung
7.3 Bewegungserziehung – Querschnittaufgabe in der pädagogischen Arbeit im Kindergarten
7.4 Ziele und Inhalte der Bewegungserziehung
7.5 Methodische Aspekte
7.6 Offene Bewegungsangebote
7.7 »Bewegungsstunden« planen und durchführen
7.8 Die pädagogische Fachkraft als Entwicklungsbegleiterin des Kindes
8.1 Bewegungsräume gestalten
8.2 Geräte und Materialien
8.3 Draußen spielen
8.4 Aufsichtspflicht bei Bewegungsaktivitäten
9.1 Psychomotorik – Entwicklungsförderung durch Wahrnehmung und Bewegung
9.2 Erlebnisorientierte Angebote
9.3 Psychomotorische Geräte
10.1 Vielfalt als Chance für die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen
10.2 Inklusion als Menschenrecht
10.3 Umsetzung inklusiver Bildungsziele
10.4 Ziel inklusiver Bildung: Ressourcen erkennen und unterstützen
Literatur und Medien
Der Stellenwert von Bewegung und Bewegungserziehung im pädagogischen Konzept von Tageseinrichtungen für Kinder hat sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Zunehmend setzt sich die Einsicht durch, dass in einer Welt ständig wachsender Bewegungseinschränkungen sich Erziehungsinstitutionen verstärkt einer entscheidenden Frage stellen müssen: Nehmen wir alle Chancen wahr, Kindern Raum und Gelegenheit für eine ganzheitliche Entwicklung, die auch Erfahrungen mit dem Körper und mit allen Sinnen umfasst, zu geben?
Der Kindergarten als erste Stufe des Bildungssystems trägt eine besondere Verantwortung, denn hier ist es am ehesten möglich, zivilisationsbedingten Bewegungsmangel auszugleichen und Kindern einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Lebensraum zu schaffen.
Bewegungserziehung galt in den vergangenen Jahren als ein unter fachspezifischen Gesichtspunkten begründeter Erfahrungsbereich, der in Form regelmäßiger »Bewegungsstunden« in den meisten Kindergärten und Kindertageseinrichtungen berücksichtigt wurde.
Veränderte Auffassungen vom Prozess der kindlichen Entwicklung, veränderte pädagogische Leitvorstellungen und neuere Erkenntnisse aus der Sprach-, Kognitions- und Bewegungsforschung führten sukzessive dazu, Bewegung einerseits als übergreifendes Medium der Entwicklungsförderung zu sehen und andererseits als wichtigen Bildungsbereich im Kindergarten zu betrachten. Es wird gefordert, Bewegung so in den Tagesablauf des Kindergartens zu integrieren, dass über die regelmäßigen Bewegungszeiten hinaus Lernen und Erfahren durch Bewegung und Wahrnehmung zu einem allgemeinen Prinzip pädagogischer Arbeit in Tageseinrichtungen für Kinder wird.
Ein solcher Wandel in der Sicht kindlicher Erziehung erfordert auch eine veränderte Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Sie müssen dafür qualifiziert werden, die umfassende Bedeutung, die Bewegung im Rahmen frühkindlicher Erziehungs- und Bildungsprozesse einnimmt, zu erkennen und entsprechende Rahmenbedingungen im Kindergartenalltag zu schaffen.
Mit dem vorliegenden Buch soll eine Basis für die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher geschaffen werden. Hier wird ein Konzept von Bewegungserziehung vorgestellt und begründet, das sich am Kind, seinen Bedürfnissen und seiner Lebenssituation orientiert. Bewegung gilt dabei einerseits als Mittel der Welt- und Wirklichkeitserfahrung, andererseits als unmittelbarer Ausdruck kindlicher Lebensfreude.
Aufbauend auf diesen anthropologischen Vorannahmen werden die pädagogischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen für eine kindgerechte Bewegungserziehung aufgearbeitet und die Bedeutung von Körper- und Bewegungserfahrungen für die Persönlichkeitsentwicklung dargestellt. Dabei werden neue Erkenntnisse der Hirnforschung einbezogen und Ergebnisse der Säuglingsforschung integriert. Einen wesentlichen Stellenwert nimmt die Diskussion der didaktisch-methodischen Grundlagen einer kindorientierten Bewegungserziehung ein; auch hier werden praktische Konsequenzen erläutert. An verschiedenen Beispielen wird aufgezeigt, wie offene und angeleitete Bewegungsangebote gestaltet werden können. Neben dem Kindergarten werden auch andere Einrichtungen zur Betreuung und Erziehung von Kindern – Krippe, Tagespflege, Spielgruppe und Hort – angesprochen.
Meine eigenen Erlebnisse mit Kindern, meine Erfahrungen in zahlreichen Kindergruppen und Kindergärten im Rahmen von Projekten und Modellvorhaben verschiedener Bundesländer und ebenso die Rückmeldungen von Erzieherinnen und Erziehern bei Fortbildungsveranstaltungen haben mir gezeigt, dass die Aus- und Fortbildung der pädagogischen Fachkräfte die Grundsteine für eine Erziehung legen, die Kindern ganzheitliche Erfahrungen – mit Körper und Geist, mit Gefühl und Fantasie – möglich macht und entsprechende Rahmenbedingungen hierfür schafft. Das vorliegende Buch wurde daher vor allem im Hinblick auf die Ausbildung pädagogischer Fachkräfte in Tageseinrichtungen für Kinder geschrieben. Aber auch die erfahrene Erzieherin und der erfahrene Erzieher werden dieses Handbuch als Nachschlagewerk nutzen können, wenn sie sich über allgemeine Fragen der kindlichen Entwicklung oder spezifischere Bereiche, wie den Zusammenhang von Sprache und Bewegung oder die Bedeutung des Spiels in verschiedenen Altersstufen, informieren wollen.
Schließlich brauchen jede Erzieherin und jeder Erzieher im Berufsalltag Anregungen und Tipps, die die eigene Fantasie beleben und den Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen sowie auch mit Eltern und Lehrkräften anregen. Ich hoffe, dass dieses Buch Impulse für Gespräche im Team für eine am Kind und seinen Bedürfnissen orientierte Gestaltung des Kindergartenalltags gibt und die hierfür erforderlichen theoretischen und praktischen Grundlagen auch für die Ausbildungseinrichtungen liefert.
Als »Handbuch« ist dieses Buch zwar auf den ersten Blick ein »Theoriebuch«, die Praxis wird jedoch keineswegs vernachlässigt: Sie ist zum größten Teil in die Darstellung der theoretischen Grundlagen integriert. Praktische Beispiele und Anregungen sind da aufgenommen, wo sie in den thematischen Zusammenhang passen.
Dies ist kein Trick, um die mehr praxisorientierten Leserinnen und Leser dazu zu zwingen, sich auch durch die Theorie »durchzubeißen«. Es soll vielmehr eine stärkere Theorie-Praxisanbindung erreicht werden –, denn eine gute Theorie hat immer auch praktische Konsequenzen, ebenso wie jede gute Praxis theoretisch begründet ist. Zur besseren Orientierung werden im Buch folgende Gestaltungselemente eingesetzt:
1. Immer, wenn im Text das nebenstehende Symbol erscheint, ist dies ein Hinweis, dass nun Praxisbeispiele zum behandelten Thema folgen.
2. Dieses Symbol macht darauf aufmerksam, dass hier wichtige Hinweise, die bei der Gestaltung der Bewegungsangebote bedacht werden sollten, aufgeführt sind.
3. Dieses Symbol weist auf weiterführende Literatur hin.
Ich danke den vielen Erzieherinnen und Erziehern und sozialpädagogischen Fachkräften, mit denen ich bei Vorträgen und Fortbildungsseminaren die in diesem Buch angesprochenen Inhalte intensiv diskutieren und dadurch auch die Sicht der Betroffenen besser kennenlernen konnte. Zahlreiche Forschungsprojekte in Kindertageseinrichtungen erlaubten mir, Einblick zu nehmen in die alltägliche pädagogische Arbeit; dies stärkte meine Wertschätzung und Anerkennung der in der Kindertagespflege, in Krippen und Kindertageseinrichtungen tätigen Fachkräfte.
In der vorliegenden Neubearbeitung des Handbuchs sind neben einer allgemeinen Überarbeitung und Aktualisierung auch zwei neue Themen aufgenommen worden, die derzeit in der pädagogischen Diskussion eine wichtige Rolle spielen: Beobachtung und Dokumentation – bezogen auf die motorische Entwicklung und die motorischen Kompetenzen von Kindern – sowie der Schwerpunkt Inklusion.
In Deutschland hat sich zwar in vielen Bundesländern die Bezeichnung »Kindertagesstätte« für alle Einrichtungen des Elementarbereichs durchgesetzt, im internationalen Raum wird dagegen weitaus häufiger der deutsche Begriff »Kindergarten« verwendet. Diese Bezeichnung ist von China (siehe Abbildung) bis Australien gleichermaßen zu finden –, wohl auch im Gedenken an Friedrich Fröbel, der im 19. Jahrhundert den Kindergarten begründet hat. In diesem Buch werden die Begriffe »Kindergarten«, »Kindertagesstätte« und »Kita« gleichbedeutend verwendet.
Renate Zimmer
Eingangstafel in einem chinesischen Kindergarten in Hangzhou
Das Thema »Bildung« ist in Bewegung geraten. »Frühe Förderung« ist zum Schlagwort heutiger Bildungspolitik avanciert. »Investieren in die Zukunft der Kinder«, »Bildung als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben«, »Bildung von Anfang an«, so lauten die Aussagen, Appelle und Forderungen von Politikerinnen und Politikern, von Pädagoginnen und Pädagogen. Sie greifen dabei auf Erkenntnisse der Hirnforschung, der Entwicklungspsychologie und der Kognitionspsychologie zurück und betonen, wie wichtig gerade die ersten Lebensjahre für die Entwicklung sind. In keiner Lebensphase wenden sich Kinder mit so großer Begeisterung und so viel Neugierde ihrer Umwelt zu wie in den ersten sechs Lebensjahren. Nirgendwann später lernen sie so viel Neues und sind so voller Fragen.
Dementsprechend wird auch den Institutionen, die sich neben der Familie um die Bildung und Erziehung von Kindern bemühen, verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt. War es noch vor einigen Jahren vorwiegend das Thema »Betreuung«, das bei der Versorgung mit Kindergartenplätzen die wichtigste Rolle spielte, so wird heute mehr nach der pädagogischen Qualität der elementarpädagogischen Einrichtungen gefragt. Die Aufrechterhaltung der Diskussion um Qualitätsfragen im Kindergarten ist umso wichtiger, je mehr der Fokus auf die Bemühungen um die Schaffung flächendeckender Kindergartenplätze auch für Kinder unter drei Jahren gerichtet wird. Hier ist es wichtig, die Deckung des Betreuungsbedarfs nicht zulasten bereits erreichter pädagogischer Ziele umzusetzen, sondern von Beginn an Fragen pädagogischer Qualität und frühkindlicher Bildung einzubeziehen.
Mit der Diskussion um Inhalte frühkindlicher Erziehung einher geht auch die Diskussion darüber, was Bildung bedeutet und wie Bildung sich vollzieht.
Bildung galt schon zu Zeiten Wilhelm von Humboldts (1767– 1835) – einem Klassiker der Pädagogik – als Prozess, in dessen Verlauf alle Kräfte eines Menschen angeregt werden sollen, damit sich diese in der Aneignung der Welt optimal entfalten können. In der Tradition des Bildungsbegriffs Humboldts wird kindliche Bildung vorwiegend als »Selbstbildung« aufgefasst, die geprägt ist durch die aktive Aneignung der Welt, vorwiegend in Form des Spiels (vgl. hierzu auch Schäfer 2011). Dabei wird sowohl dem »Ich« als auch der »Umwelt« eine aktive Rolle zugeschrieben.
Bildung ist also kein Programm, das man auflegt, um Kinder in den drei bis vier Jahren ihres Aufenthalts in den Einrichtungen des Elementarbereichs fit für die Schule zu machen, sondern sie ist abhängig von der Eigenaktivität des Kindes, von der sozialen Interaktion mit seiner Umwelt und den Anregungen, die von dieser ausgehen.
Bildung ist mehr als Wissenserwerb, sie schließt auch emotionale, soziale, ästhetische Kompetenzen ein (von Hentig 1996). Das Kind wird als »aktiv Lernender« (Fthenakis 2003, S. 29) gesehen; die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte liegt nach dieser Auffassung darin, für Lerngelegenheiten zu sorgen und Lernbedürfnisse des Kindes zu unterstützen.
Schäfer betont in seinen Thesen zur frühkindlichen Bildung insbesondere die Bedeutung sinnlicher Erfahrungen: »Frühkindliche Bildung ist zunächst ästhetische Bildung. Frühkindliche Bildung ist auf die eigenen Wahrnehmungen des Kindes angewiesen« (2011, S. 65). An anderer Stelle macht er deutlich: »Dabei müssen kleine Kinder lernen, ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu gebrauchen und zu differenzieren, sowie ihre eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen so zu ordnen, dass sie daraus etwas erkennen können« (ebd., S. 70). Sinnliche Erfahrungen sieht Schäfer dabei als Ausgangspunkt für forschendes Lernen.
Laewen (2007) hebt ebenfalls den Aspekt der Eigenaktivität als besonders wichtigen Faktor des Bildungsprozesses hervor und beschreibt Bildung als die zentrale Aktivität des Kindes, über die es sich die Welt aneignet. Über seine Sinneserfahrungen und sein Handeln macht das Kind sich ein Bild von der Welt und entwickelt innere Strukturen, auf denen alles spätere Denken und Fühlen aufbauen wird.
Auch aus den Erkenntnissen der Säuglingsforschung lässt sich ablesen, zu welch erstaunlichen Leistungen Kinder bereits in den ersten Lebenswochen und -monaten fähig sind. Die Vertreter der Säuglingsforschung betonen dabei immer wieder die Bedeutung der Sinnesentwicklung als Anfang aller Erkenntnisse. Es sind die Sinne, durch die der Mensch seine Außenwelt wahrnimmt, mit ihr kommuniziert, auf sie einwirkt. Dornes (2015) spricht vom »kompetenten Säugling« und zeigt an vielen Beispielen auf, dass Kinder bereits in den ersten sechs Monaten sowohl in ihrer Wahrnehmungsorganisation als auch in ihrem Interaktionsverhalten aktiv und differenziert sind. Ausdrücklich verweist er dabei auf die den Bewegungshandlungen innewohnenden Rückmeldemöglichkeiten für die Einschätzung der eigenen Person – das Kind erhält über die Sinne ein sensorisches Feedback. Das »Selbst« wird als Urheber von Handlungen erlebt.
Fischer bezeichnet in diesem Zusammenhang den Körper als »Spiegel des psychischen Erlebens (personale Erfahrung), wichtiges Kommunikationsmittel (soziale Erfahrung) und Medium der kognitiven Erkenntnistätigkeit (Handlungskompetenz)« (2010, S. 118). Dabei sei die Bewegungshandlung »die kindgemäße Form, die Welt zu begreifen und ein eigenes Weltbild zu konstruieren« (ebd.).
Nach Fthenakis steht in den neuen Curricula nicht mehr die Vermittlung von Kenntnissen im Vordergrund, sondern von Lernkompetenzen: »Es geht darum zu lernen, wie man lernt und sein eigenes Wissen organisiert, um Problemsituationen zu lösen, und zwar auf eine sozial verantwortliche Weise« (2003, S. 28). Einen zweiten Schwerpunkt sieht Fthenakis in der frühzeitigen Stärkung individueller Kompetenzen. Zu den personalen Kompetenzen gehören die Stärkung des Selbstkonzeptes und des Selbstwertgefühls, die Entwicklung von Selbstvertrauen und das Erleben von Selbstwirksamkeit (Zimmer 2019c).
Das in diesem Buch vorgelegte Konzept einer Bewegungserziehung stellt diese personalen Kompetenzen in den Vordergrund. Über den Körper und über die Bewegung setzen Kinder sich mit ihrer Umwelt auseinander, sie lernen, sich einzuschätzen, und gewinnen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Sie machen Erfahrungen der eigenen Selbstwirksamkeit und gewinnen damit die Voraussetzungen für den Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes (vgl. Kap. 3.1; außerdem Zimmer 2019c).
Ausdrücklich weist auch Wehrmann auf den engen Zusammenhang zwischen verschiedenen Kompetenzbereichen und ihrer Herausbildung durch Bewegungserfahrungen hin: »Sowohl Basiskompetenzen als auch kognitive und sprachliche Kompetenzen entwickeln Kinder im Vorschulalter zum großen Teil durch Bewegung und auf der Grundlage von Bewegung. Durch Bewegungshandeln lernen Kinder, sich selbst, ihre Umwelt und ihre Bezugspersonen kennen. Durch Bewegung lernen sie, etwas zu bewirken und erhalten Rückmeldungen über das, was sie können, über Erfolg und Misserfolg. Im Handeln und Bewegen lernen sie, zu lernen« (2003, S. 300).
Bildung ist also immer an die Eigenaktivität des Kindes gebunden. Das Kind ist Konstrukteur seiner Welt und seines Selbst. Dabei ist es aber auch auf Anregung und Begleitung angewiesen. Bildung bedarf der sozialen Beziehungen, der Auseinandersetzung mit anderen, der Anregung durch den Erwachsenen.
Es ist Aufgabe des Erwachsenen, eine Umgebung zur Verfügung zu stellen, in der sich die Stärken der Kinder entwickeln können, in der ihre Kräfte angeregt werden. Die Aneignung selbst aber muss vom Kind her kommen. Sein eigenes Tun, seine Aktivität, seine sinnliche Auseinandersetzung mit der Umwelt bilden die Voraussetzung, auf der diese Anregung aufbaut.
Auch wenn die Umsetzung dieser Forderungen in der Elementarerziehung nur schwerfällig vonstattengeht und zum Teil sogar Rückschritte durch die Gefahr einer zunehmenden Verkopfung des Lernens, einer Verengung des Bildungsbegriffs auf kognitive Förderung und intellektuelle Leistungen zu verzeichnen sind, so ergeben sich für die frühkindliche Erziehung doch wesentliche Chancen für eine Aufwertung elementarer Lern- und Erfahrungsbereiche:
Lernen in den ersten Lebensjahren ist in erster Linie Lernen über Wahrnehmung und Bewegung, über konkretes Handeln und über den Einsatz aller Sinne in einem ganzheitlichen Prozess. Wenn Kinder mit allen Sinnen ihre Umwelt wahrnehmen, können sie diese auch differenzieren, strukturieren und für sich selbst rekonstruieren.
Daraus ergeben sich Erkenntnisprozesse, die das Kind wiederum befähigen, selbst gestaltend auf die Umwelt einzuwirken und sie zu verändern.
Kinder nehmen ihre Umwelt als Bewegungswelt wahr, nicht immer stoßen sie dabei bei den Erwachsenen auf Verständnis. Kindheit ist eine bewegte Zeit, in keiner anderen Lebensstufe spielt Bewegung so eine große Rolle wie in den ersten Lebensjahren. Vor allem die ersten sechs Jahre können als Zeit eines ungeheuren Betätigungs- und Bewegungsdrangs, unaufhörlicher Entdeckungen und ständigen Erprobens und Experimentierens bezeichnet werden. Das Kind eignet sich seine Umwelt über seinen Körper und seine Sinne an. Schritt für Schritt ergreift es von ihr Besitz. Dabei enthält jeder Tag aufs Neue Herausforderungen und Aufgaben: Treppen hochsteigen, eine Mauer erklettern, einen Zaun überwinden, in Pfützen springen, über Bordsteinkanten balancieren.
Das Kind entdeckt die Welt über sein eigenes Tun. Es braucht allerdings auch ausreichend Gelegenheiten, diesen elementaren Bedürfnissen nachkommen zu können. Es braucht sie in seiner familiären Lebenswelt genauso wie bei jeder Form institutioneller Bildung und Erziehung.
Die Lebensbedingungen in unserer hochtechnisierten, motorisierten Gesellschaft engen den kindlichen Bewegungsraum jedoch zunehmend ein. Ständig steigender Medienkonsum und eine Verarmung der unmittelbaren kindlichen Erfahrungswelt tragen dazu bei, dass das Kind in seinem Bedürfnis nach Eigentätigkeit und Selber-Ursache-Sein immer mehr eingeschränkt wird. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erhalten anthropologische Überlegungen zur Bedeutung von Bewegung und Spiel als elementare kindliche Betätigungsformen ein besonderes Gewicht.
Die Frage nach der Bedeutung von Spiel und Bewegung ist nur dann zu beantworten, wenn man eine bestimmte Vorstellung von Entwicklung hat. Abhängig sind solche normativen Vorgaben in erster Linie vom Menschenbild, vom Bild des Kindes, das implizit immer vorhanden ist, wenn man sich Gedanken über Erziehung, Entwicklung und ihre Förderung macht. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Kind als noch unselbstständiges, hilfsbedürftiges Wesen betrachtet wird, dessen Entwicklung durch die Erwachsenen gesteuert, gelenkt und beeinflusst werden muss, oder ob Kinder als neugierige, aktive, selbsttätige Menschen begriffen werden, die durch eigene Erfahrung und unbeirrbares Tätigsein Schwierigkeiten meistern und Unabhängigkeit und Selbstständigkeit entwickeln.
Dieser Aspekt, der auch in den derzeit aktuellen Bildungskonzepten eine wichtige Rolle spielt, wird im folgenden Abschnitt aufgearbeitet. Anschließend werden die Merkmale einer sich verändernden Kindheit, die die Aneignung der Welt durch Spiel und Bewegung begrenzen, aufgezeigt und Konsequenzen für die Bildung und Erziehung von Kindern abgeleitet.
Spiel und Bewegung stellen grundlegende kindliche Betätigungsformen, zugleich aber auch elementare Medien ihrer Erfahrungsgewinnung und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten dar.
Bewegung ist ein Grundphänomen menschlichen Lebens, der Mensch ist von seinem Wesen her darauf angewiesen. Die Bewegungsentwicklung beginnt bereits im Mutterleib, und erst mit dem Tod hört jede Bewegung auf. Der Begriff umfasst so unterschiedliche Dinge wie laufen, essen, Klavier spielen, malen und Fußball spielen, sogar Gefühle kann man als »innere Bewegung« verstehen. Bewegung bedeutet also zunächst einmal keineswegs nur sportliche Betätigung und ist auch nicht vornehmlich auf die Fortbewegung bezogen. Sogar bei absolutem Stillstand unseres Körpers sind wir dennoch in Bewegung: Das Herz klopft, das Blut kreist in unserem Körper, die Lungen atmen etc. Im Laufe der Entwicklung verändert sich nicht nur der Stellenwert, den vor allem großräumigere, ganzkörperliche Tätigkeiten einnehmen, so können ältere Menschen zum Beispiel lange Zeit entspannt in einem Sessel sitzen und das »Nichtstun« genießen, während für Kinder das »Stillsitzen« meist eine große Strafe und Belastung darstellt.
Bewegung hat in Abhängigkeit von den Lebensbedingungen, der jeweiligen Situation und dem Lebensalter auch unterschiedliche Bedeutungen. Von der Alltagswirklichkeit des Menschen ausgehend, unterscheidet Grupe (1982) vier unterschiedliche Bedeutungsdimensionen:
1. Die instrumentelle Bedeutung, indem ich mit meiner Bewegung etwas erreichen, herstellen, ausdrücken, darstellen und durchsetzen, aber auch erfahren, erproben und verändern kann. Bewegung wird im Alltag, im Sport, im Arbeitsleben, im sozialen Umgang mit anderen funktional und instrumentell benutzt, als eine Art »Werkzeug«, um etwas zu erreichen, durchzusetzen, herzustellen: Rad fahren, zur Straßenbahn laufen, tanzen, Klavier spielen … Dies alles schließt meist sehr unauffällig Bewegung ein. Erst bei Ermüdung oder Erschöpfung spüre ich meinen Körper.
2. Die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung, indem ich durch meine Bewegung etwas über meine Körperlichkeit, über die materiale Beschaffenheit der Dinge und über die Personen meiner Umgebung erfahre. Dies kann sowohl im Sinne der instrumentellen Bedeutung geschehen, indem Bewegung gezielt auf Erfahrungssuche und Erfahrungsgewinn ausgerichtet ist, als auch eher beiläufig und intuitiv erfolgen.
3. Die soziale Bedeutung, indem ich durch Bewegung Beziehungen zu anderen Menschen aufnehme (kommuniziere), oder indem ich etwas über Bewegung zum Ausdruck bringe. Jemandem zuwinken, sich umarmen gehören zu den Bewegungen, die einen Mitteilungscharakter annehmen und oft zu Ritualen werden. Ihre sozialen Bedeutungen muss man erst lernen, und ebenso sind Regeln in einem Spiel auf soziale Übereinkünfte angewiesen, damit alle Mitspieler sie in der gleichen Weise verstehen und anwenden.
4. Die personale Bedeutung, indem ich in meiner Bewegung und durch sie mich selbst erlebe und erfahre, mich aber auch verändern und verwirklichen kann.
In den jeweiligen Entwicklungsstufen und Lebensabschnitten des Menschen können diese Bedeutungsdimensionen der Bewegung durchaus ein unterschiedliches Gewicht einnehmen.
Bezogen auf die Bedeutung, die Bewegung für die kindliche Entwicklung hat, können die Funktion von Bewegung noch weiter ausdifferenziert werden. Im Kleinkindalter herrscht zum Beispiel die explorative Funktion vor: Kinder erkunden ihre dingliche und räumliche Umwelt über ihren Körper, sie schaffen »Produkte«, in dem sie Bewegungsfertigkeiten erwerben und stolz darauf sind (z. B. auf den Händen stehen zu können oder einen »Purzelbaum« zu machen). Sie vergleichen ihre Leistungen aber auch miteinander, wollen schneller laufen als andere.
Funktionen der Bewegung für die Entwicklung von Kindern
Personale Funktion:
Den eigenen Körper und damit sich selbst kennenlernen; sich mit den körperlichen Fähigkeiten auseinandersetzen und ein Bild von sich selbst entwickeln
Soziale Funktion:
Mit anderen gemeinsam etwas tun, mit und gegeneinander spielen, sich mit anderen absprechen, nachgeben und sich durchsetzen
Produktive Funktion:
Selbst etwas schaffen, herstellen, mit dem eigenen Körper etwas hervorbringen (z. B. eine Bewegungsfertigkeit wie auf den Händen stehen oder einen Ball auf ein Ziel werfen)
Expressive Funktion:
Gefühle und Empfindungen in Bewegung ausdrücken, körperlich ausleben und gegebenenfalls verarbeiten
Impressive Funktion:
Gefühle wie Lust, Freude, Erschöpfung und Energie empfinden, durch Bewegung spüren
Explorative Funktion:
Die dingliche und räumliche Umwelt kennenlernen und sich erschließen, sich mit Objekten und Geräten auseinandersetzen und ihre Eigenschaften erkunden, sich den Umweltanforderungen anpassen bzw. sich eine Situation passend machen
Komparative Funktion:
Sich mit anderen vergleichen, sich miteinander messen, wetteifern und dabei sowohl Siege verarbeiten als auch Niederlagen ertragen lernen
Adaptive Funktion:
Belastungen ertragen, die körperlichen Grenzen kennenlernen und die Leistungsfähigkeit steigern, sich selbstgesetzten und von außen gestellten Anforderungen anpassen
Bei dieser Beschreibung von Funktionen, die Bewegung im Rahmen kindlicher Entwicklung einnehmen kann, muss beachtet werden, dass es sich um unterschiedliche Sichtweisen auf ein und dieselbe Sache handelt, die allein aus analytischen Gründen getrennt worden sind. Zum Teil ergänzen sich die Aspekte, sie können sich überlagern, und oft sind mit einer Tätigkeit auch mehrere Funktionen zugleich verbunden.
Bewegungserziehung bei Kindern kann – entsprechend ihren pädagogischen Zielvorstellungen – unterschiedliche der genannten Aspekte in den Vordergrund stellen. Dies hat Konsequenzen sowohl hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise als auch im Hinblick auf die Auswahl der Inhalte: Bei stärkerer Betonung der explorativ erkundenden Funktion werden vor allem offene Bewegungsangebote, bei denen Kinder selbst Materialien ausprobieren und ihre Verwendungsmöglichkeiten herausfinden können, bevorzugt. Die komparative Funktion wird dagegen eher bei Spielen, die Wettbewerbscharakter haben, angesprochen.
In welcher Weise die Bewegungserfahrungen mit kognitiven und sozialen Entwicklungsprozessen, mit der Entwicklung des Selbst und der psycho-physischen Gesundheit des Kindes zusammenhängen und diese sogar beeinflussen, wird in Kapitel 3 näher behandelt.
Bei den Erfahrungen, die Kinder in Spiel und Bewegung machen, handelt es sich um primäre Erfahrungen. Sekundäre Erfahrungen hingegen sind Erfahrungen »aus zweiter Hand«, durch Medien oder andere Personen vermittelt. Primärerfahrungen werden unmittelbar und direkt durch das eigene Tun, die eigene Aktivität, den Einsatz des Körpers und der Sinne, durch das Erproben und Experimentieren gewonnen. Hier können Kinder das verwirklichen, was man als Selbsttätigkeit und Eigenaktivität bezeichnet und was als die intensivste Form der Aneignung von Erfahrungen gelten kann (Rolff & Zimmermann 2001).
Selbsttätigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die kindliche Entwicklung. Das Kind ist angewiesen auf die Aneignung der Umwelt über die aktive Tätigkeit. Über diese Selbsttätigkeit und über die Produkte seiner Tätigkeit kann es sich mit sich selbst identifizieren.
In einem Konzept »aktiver Erziehung« wird das Kind nicht als Objekt der pädagogischen Bemühungen, sondern als »Subjekt seiner Entwicklung« (Kautter u. a. 1998) gesehen; das Kind muss Gelegenheiten haben, sich selbstständig mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen und in möglichst vielen Situationen selbstbestimmt zu handeln. Hierzu braucht es vor allem eine Umgebung, die ihm die Entwicklung von Eigenaktivität möglich macht.
Ein solcher bewegungspädagogischer Ansatz ist den Grundgedanken Piagets und Montessoris verpflichtet, die das spontane, selbstbestimmte Handeln des Kindes als grundlegendes Element seiner Entwicklung ansehen. Bewegung und Spiel ermöglichen die Erfahrungen, selbst tätig werden zu können. Pädagoginnen und Pädagogen haben hier vor allem die Aufgabe, eine entwicklungsfördernde Umgebung zu schaffen, die Rahmenbedingungen der Erziehung so zu gestalten, dass das Kind seine Kräfte und Fähigkeiten ausbilden kann. Eine solche »vorbereitete Umgebung« (Montessori 2007) wird dann besonders wichtig, wenn die natürliche Umwelt des Kindes nicht genügend Möglichkeiten für spontanes, selbstbestimmtes Handeln enthält.
Noch nie hatten Kinder so viele Sachen zum Spielen, noch nie gab es so viele Einrichtungen, die sich um ihre Freizeit, ihre musischen und sportlichen Aktivitäten kümmern, wie heute. Noch nie waren Kinder allerdings gleichzeitig so arm an Möglichkeiten, sich ihrer Umwelt über die Sinne, ihren Körper selbstständig zu bemächtigen.
Veränderungen der sozialen und ökologischen Umwelt haben dazu geführt, dass Kindern der aktive Umgang mit ihrer Lebenswelt immer mehr verwehrt wird. Enge Wohnungen, fehlende öffentliche Spielflächen und die Zunahme des Straßenverkehrs behindern sie in ihrer körperlichen und motorischen Entwicklung. Pohl (2014) weist darauf hin, dass das freie Spielen immer weniger stattfindet.
Charakteristisch für die heutige Kindheit ist:
1.der Rückzug der Straßenspielkultur und die zunehmende Verhäuslichung des Kinderspiels (Zinnecker 2001);
2.der Verlust natürlicher Spiel- und Bewegungsgelegenheiten und der Ersatz durch künstlich geschaffene Plätze zum Spielen, die von Kindern oft nicht selbstständig erreicht werden können und wo zudem das Spielen ohne Aufsicht durch Erwachsene kaum möglich ist;
3.die Ausgliederung der Bewegungsspiele aus dem Kinderalltag in den institutionalisierten, organisierten Sport;
4.die Verinselung kindlicher Lebensräume, indem Kinder von einem Freizeitangebot zum anderen, zu entfernten Freunden, zu Schwimmbädern und Musikschulen chauffiert werden. Zwischen diesen Inseln besteht kein Zusammenhang. Kinder erleben ihren Alltag nicht als selbstbestimmbaren Freiraum und als zusammenhängende Zeiteinheit, sondern als zerstückeltes Termingeschäft, das sich in zum Teil völlig verschiedenen Welten abspielt (Zeiher 1999);
5.die vermehrte Verlagerung der täglichen Lebenswelt in ganztägige, institutionelle Betreuungs- und Lernorte. Individualität und wechselnde Bedürfnisse der Kinder können hier nur eingeschränkt, angepasst an die organisatorischen Rahmenbedingungen der Kitas, Berücksichtigung finden. Der mehrstündige Aufenthalt in der Kita, währenddessen Kinder viele Informationen aufnehmen und verarbeiten und in ihren sozialen Interaktionen intensiv gefordert sind, führt dazu, dass das Bedürfnis nach Entspannung und Geborgenheit im Elternhaus an Bedeutung gewinnt;
6.die Entdeckung der Kinder als Zielgruppe für die Konsumgüterindustrie, die selbst vor der Pädagogisierung des Spielzeugs (sog. »Lernspiele«) nicht haltmacht;
7.die Monofunktionalität des Spielmaterials, das meist nur für bestimmte Zwecke vorgesehen ist und den Kindern wenig Raum lässt für Veränderungen;
8.die Zunahme des Medienkonsums und die damit einhergehende Verdrängung vieler für die Entwicklung des Kindes wichtiger Aktivitäten.
So eignen sich Kinder die Welt heute vorwiegend aus zweiter Hand an, anstatt sie durch eigenes Handeln, durch Ausprobieren und Experimentieren zu entdecken.
Der für Pädagoginnen und Pädagogen wesentlichste Wandel der Kindheitsbedingungen betrifft den Verlust an Eigenständigkeit und die »Mediatisierung« von Erfahrungen (Rolff & Zimmermann 2001). Während Technik und Motorisierung Kinder auf der einen Seite an der unmittelbaren Erschließung ihrer Lebens- und Erfahrungsräume hindern, sind sie heute auf der anderen Seite einer unüberschaubaren Vielzahl von elektronischen Medien ausgesetzt, deren Einfluss sie sich kaum entziehen können. Die Nutzung digitaler Medien erfordert ein minimales Ausmaß an Körperbewegung, zugleich aber auch ein maximales Ausmaß an Konzentration und Aufmerksamkeit. In geistiger und körperlicher Starre sitzen Kinder oft wie gelähmt vor dem Bildschirm. Ihre Sinnestätigkeit wird auf die auditive und visuelle Wahrnehmung beschränkt. Die Qualität der medialen Sinnesreize richtet sich »mit ihren schrillen Tönen und grellen Bildern an das Unbewusste […], an die Gefühle, Bedürfnisse und Triebe der Kinder« (Spanhel 2013, S. 88). Damit können sie die »gerade im Aufbau befindlichen, bewussten, an Kriterien orientierten Auslesestrategien der Kinder beeinträchtigen und unterlaufen die Entwicklung der Fähigkeiten zu Selbstkontrolle, Selbstreflexion und regelgeleitetem Handeln als wesentliche Voraussetzungen für Identitätsbildung« (ebd.).
Das, was Kinder sehen und hören, können sie nicht – wie es für ihre Erkenntnisgewinnung wichtig wäre – fühlen, betasten, schmecken, riechen, mit ihren Händen und mit ihrem Körper erfassen. Der Verlust an unmittelbaren körperlich-sinnlichen Erfahrungen, der Mangel an Möglichkeiten, sich über den Körper aktiv die Umwelt anzueignen, trägt zur Beeinträchtigung kindlicher Entwicklung bei. Neben vielen familiären Unsicherheiten liegt der Grund psycho-sozialer und physischer Belastungen vor allem in der Art und Weise, wie sich die Welt Kindern präsentiert.
Die Folgen sind unverkennbar: Aufgrund der mangelnden Verarbeitungsmöglichkeiten der auf die Kinder einströmenden Reize und mit der Einschränkung ihrer Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten kommt es in zunehmendem Ausmaß zu Störungen in der Wahrnehmungsverarbeitung und zu Verhaltensauffälligkeiten; Krankheiten mit psychosomatischen Ursachen nehmen zu: Allergien, Kopfschmerzen, Nervosität, körperliche Auffälligkeiten. Vor allem die Kinder bezahlen den Preis fortschreitender Technisierung und Motorisierung. Viele Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder sind als Symptome für Stress zu verstehen (Hurrelmann 1997). Sie sind Anzeichen dafür, dass der Lebensalltag vielen Kindern zu wenig Raum lässt für die Erfüllung ihrer körperlich-sinnlichen Bedürfnisse.
Die veränderten Kindheitsbedingungen stellen an alle Institutionen, die sich der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern widmen, hohe Anforderungen. Sie erfordern Reaktionen vor allem hinsichtlich der tiefgreifenden Veränderungen, auf die Kinder bei der Aneignung ihrer Lebenswirklichkeit stoßen. Mehr als bisher müssen hier Raum, Zeit und Gelegenheit gegeben werden, damit Kinder sich auf eine ihren Entwicklungsvoraussetzungen entsprechende Weise mit den Umweltgegebenheiten auseinandersetzen und Erfahrungen mit sich selbst, mit ihrer dinglichen und sozialen Umwelt machen können.
Für eine gesunde, harmonische Entwicklung brauchen Kinder Spielraum in zweierlei Hinsicht: Sie benötigen Orte zum Spielen, die in ihrer architektonischen Gestaltung und materialen Ausstattung auf die kindlichen Bedürfnisse abgestimmt sind und ihnen die Möglichkeit des Entdeckens, Ausprobierens, Erkundens und »Selbertuns« eröffnen. Kinder benötigen aber auch Spielraum für eigene Entscheidungen, individuelle Sinngebungen und selbstständiges Handeln. Mit »Spielraum« sind also nicht nur die räumlichen Gegebenheiten und die materiale Umwelt gemeint, auch personale Voraussetzungen sind hier von Bedeutung: Inwieweit wird den Kindern Handlungsspielraum zugestanden, inwiefern können sie sich für Aktivitäten selbst entscheiden und deren Sinn selbst bestimmen?
Was Kindern heute fehlt, ist weniger die organisierte Spielgelegenheit, es ist vielmehr der Raum, der eigenverantwortliches Handeln möglich macht. Sie benötigen Freiraum für eigene Entdeckungen und Erkundungen: Nischen und Ecken, die sie auch einmal vor dem Zugriff durch die Erwachsenen bewahren, die sie selber gestalten und ihren Vorstellungen entsprechend definieren können. Vor allem brauchen Kinder die unmittelbare Beteiligung ihres Körpers und ihrer Sinne bei der Erfahrungsgewinnung. Verlorengegangene natürliche Bewegungsgelegenheiten sollten so weit wie möglich zurückerobert oder aber durch kindgerechte Bewegungsräume ersetzt werden.
Insgesamt sollten folgende Gesichtspunkte – unter besonderer Berücksichtigung der Chancen, die sich durch die verstärkte Beachtung von Spiel und Bewegung im Rahmen frühkindlicher Erziehung ergeben – bedacht werden:
▶ Alle Einrichtungen, die sich der Erziehung und Bildung von Kindern widmen, sollten sich auf die Bedürfnisse der Kinder nach sinnlicher Wahrnehmung und nach Bewegung einstellen. Dies betrifft die Raumgestaltung der Einrichtungen und die selbstgewählten Aktivitäten der Kinder ebenso wie die von den Pädagoginnen und Pädagogen geplanten und begleiteten Angebote.
▶ Im gesamten Tagesablauf sollte Kindern einerseits Freiraum für selbstgewählte, situative Bewegungsaktivitäten gegeben werden, andererseits sollten aber auch durch pädagogisch begleitete Bewegungserziehung die Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten der Kinder erweitert werden.
▶ Kinder sollten viele Gelegenheiten haben, sich ihre Lebensumwelt selbsttätig anzueignen. Voraussetzung hierfür sind unter anderem veränderbare Spielräume, die noch selbst gestaltet bzw. verändert werden können (z. B. Außenspielgelände der Einrichtungen), und Materialien, die eine eigene Sinngebung im Spiel möglich machen.
▶ Der Tendenz der zunehmenden Verhäuslichung des Spielens sollte entgegengewirkt werden, indem Einrichtungen für Kinder verstärkt Aktivitäten nach draußen verlagern.
▶ Als Gegenpol zu der Reizüberflutung der körperfernen Sinne sollten Kinder vor allem elementare Erfahrungen mit ihren »körpernahen« Sinnen (tasten, fühlen, sich bewegen) machen können.
▶ Primäre Erfahrungen – durch unmittelbares Tun und Handeln – sollten der durch Technik und Medien vermittelten sekundären Erfahrungswelt vorgezogen werden. Gleichzeitig sollten Kinder jedoch auch Möglichkeiten haben, die »aus zweiter Hand« gewonnenen Erfahrungen zu verarbeiten.
Die Erfahrungen, die Kinder in Bewegung und im Spielen machen können, gehen weit über den körperlich-motorischen Bereich hinaus. Das Kind setzt sich über Bewegung mit seiner materialen und sozialen Umwelt auseinander, gewinnt Erkenntnisse über deren Regeln und Gesetzmäßigkeiten; über seinen Körper macht es auch wichtige Erfahrungen über seine eigene Person, die die Grundlage seiner Persönlichkeitsentwicklung darstellen. Im folgenden Kapitel wird beschrieben,
▶ welche Rolle Körper- und Bewegungserfahrungen beim Aufbau von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen haben,
▶ wie sie mit der sozialen Entwicklung in Zusammenhang stehen,
▶ welche Bedeutung sie für die geistige Entwicklung der Kinder haben und
▶ wie sie sich auf die psycho-physische Gesundheit von Kindern auswirken.
Die Differenzierung in einzelne Bereiche bedeutet jedoch nicht, dass diese auch in der Person des Kindes getrennt voneinander gesehen werden können. Der Mensch ist nur als Ganzheit vorstellbar. Denken und Fühlen, Handeln, Wahrnehmen und Sichbewegen sind untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Bei Kindern ist diese Ganzheitlichkeit im Handeln und Erleben besonders stark ausgeprägt. Sie nehmen Sinneseindrücke mit dem ganzen Körper wahr, drücken ihre Gefühle in Bewegung aus, sie reagieren auf äußere Spannungen mit körperlichem Unwohlsein, und ebenso können freudige Bewegungserlebnisse zu einer körperlich wie psychisch empfundenen Gelöstheit und Entspannung führen.
Über die Erfahrungen, die das Kind mit seinem Körper macht, entwickelt es ein Bild von den eigenen Fähigkeiten, es erhält eine Vorstellung von seinem »Selbst« (Filipp 1993; Zimmer 2019c). Das Kind macht die Erfahrung von Können und Nicht-Können, von Erfolg und Misserfolg, von Leistung und Grenzen, von Selbstständigwerden und den hierfür erforderlichen Mitteln.
Kinder erleben durch ihre körperlichen Aktivitäten, dass sie selbst imstande sind, etwas zu leisten, ein Werk zu vollbringen (z. B. einen Turm zu errichten, der so hoch wie ein Tisch ist, oder aus Schaumstoffteilen eine Bude zu bauen, die mehreren Mitspielern Unterschlupf bietet). Dies alles sind Werke, die sie selber schaffen – ohne Hilfe der Erwachsenen – und die sie manchmal auch genauso schnell wieder zerstören, weil sie wissen, dass sie sie ja mit eigener Kraft wieder aufbauen können.
»Selber machen« ist der erste Ausdruck des Kindes im Hinblick auf sein Selbstständigkeitsstreben. Bei kleinen Kindern äußert sich das Bemühen um Selbstständigkeit am deutlichsten in körperlich-motorischen Handlungen. Sich alleine anziehen, ohne fremde Hilfe laufen, auf eine Mauer klettern und wieder hinunterspringen – dies sind körperliche Errungenschaften, die dem Kind (und auch seinen Eltern und Bezugspersonen) schrittweise die zunehmende Unabhängigkeit beweisen.
Der Aufbau des »Selbst« ist beim Kind wesentlich geprägt von den Körpererfahrungen, die es in den ersten Lebensjahren macht. Sie können damit auch als Grundlage der kindlichen Identitätsentwicklung angesehen werden.
Neubauer (1976) betrachtet Körpermerkmale und körperliche Fähigkeiten als »Ankervariablen« für die Entwicklung des Selbstkonzeptes. Unter Selbstkonzept wird dabei das Bild, das ein Kind sich von seiner Person macht, verstanden. Das Bild, das ein Kind von sich und seinen Fähigkeiten hat, entwickelt sich im Laufe der Kindheit: Im Kleinkindalter dominieren »Alles-oder-nichts«-Einschätzungen (z. B. »Ich bin schon groß« oder »Ich kann vom Turm springen«). Erst später begreifen Kinder, dass sie auch über gegensätzliche Eigenschaften (»Meistens bin ich lieb, und manchmal auch nicht«) oder differenzierte Fähigkeiten (»Ich kann vom Turm springen, und das sogar mit Anlauf«) verfügen (Mummendey 2006).
Ob sich ein Kind für »stark« oder »schwach« hält, welche Eigenschaften es sich zuschreibt, wie es sich einschätzt und welche Erwartungen es an sich stellt – dies alles hängt ab von dem Bild, das ein Kind von sich selbst hat. Es resultiert aus den Erfahrungen, die das Kind in der Vergangenheit im Hinblick auf seine Leistungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen machen konnte (Möller & Trautwein 2015). So entwickelt jeder Mensch im Laufe seiner Biografie ein System von Annahmen über seine Person, er gibt sich quasi eine Antwort auf die Frage: »Wer bin ich?«
Um zu einer solchen »Theorie« über sich selbst zu kommen, stehen ihm unterschiedliche Informationsquellen zur Verfügung (Zimmer 2019c, S. 61 ff.):
▶ Beobachtungen des eigenen Verhaltens
▶ Informationen über die sensorischen Systeme
▶ Folgerungen aus der Wirkung des eigenen Verhaltens und dem Vergleichen und Sich-Messen mit anderen
▶ Zuordnung von Eigenschaften durch andere
Da vor allem die drei letztgenannten Aspekte wesentlichen Aufschluss über die Merkmale der eigenen Person geben und die Beziehung, die ein Kind zu sich selbst gewinnt, beeinflussen, sollen sie im Folgenden näher erläutert werden (vgl. hierzu auch Zimmer 2019c).
Die ersten Erfahrungen über die eigene Existenz macht das Kind über seine Sinne, seinen Körper. Der Körper gilt als eines der elementarsten und wichtigsten Experimentiergebiete des Menschen zum Aufbau des »Selbst«: »Die ersten entscheidenden Eindrücke zur Differenzierung zwischen dem eigenen Körper als Gegenstand und den übrigen Gegenständen setzen vermutlich schon sehr früh ein. Besonders wichtig für die beginnende Unterscheidung zwischen dem eigenen Körper und allen übrigen Gegenständen sind dann vor allem die Körperempfindungen, besonders Schmerz, Kälte und Wärme« (Neubauer 1976, S. 72; vgl. auch Mummendey 2006).
Die Erfahrungen, die das Kind in den ersten Lebenswochen über seine sensorischen Systeme macht, führen zur ersten Stufe in der Entwicklung des Selbst, dem »Körper-Selbst«. Auch von seinem Körper- Selbst macht sich das Kind eine Vorstellung, die Körperbau, Stimme, aber auch Körpergrenze und Lage im Raum erfasst. Dieses »Körperkonzept« wird als unmittelbar zur eigenen Person gehörend empfunden: »Es ist mein eigenes.«
Das Körper-Selbst bildet die Basis für das Bewusstsein der eigenen Person; durch die Wahrnehmung des Körpers ist dem Säugling und dem Kleinkind die Unterscheidung von Ich und Umwelt möglich. Der Körper ist das Bindeglied zwischen dem Selbst und der Umwelt, es vermittelt zwischen »innen« und »außen«. Das Kind wird zum Objekt der eigenen Wahrnehmung – zu beobachten ist dies zum Beispiel beim Spiel des Kleinkindes, wenn es taktil den eigenen Körper untersucht, oder bei der Beobachtung der eigenen Gestalt im Spiegel.
Körpergestalt und Aussehen sind wichtige Merkmale für die Verankerung der kindlichen Identität. Gerade für Kinder im Vor- und Grundschulalter erhalten Körpergröße und -stärke eine zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis. Häufig folgt die soziale Rangordnung in der Gruppe der Gleichaltrigen diesen Merkmalen.