Handbuch Sinneswahrnehmung - Renate Zimmer - E-Book

Handbuch Sinneswahrnehmung E-Book

Renate Zimmer

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Beschreibung

Sinnliche Erfahrungen stellen die Grundlage des kindlichen Handelns dar. Das Buch gibt einen fundierten Einblick in die Bedeutung und das Zusammenwirken der wichtigsten sieben Sinne. Die Entwicklung und der Aufbau der Sinnessysteme werden erklärt, an Beispielen wird ihre Funktion für die Wahrnehmung der Umwelt beschrieben. Ausgewählte pädagogische Ansätze der Sinnesbildung werden vorgestellt. Zahlreiche Spielideen verdeutlichen, wie lustvoll eine "Schule der Sinne" in der Praxis gestaltet werden kann. Mit seiner gelungenen Integration von Theorie und Praxis gehört dieses Handbuch zu den Standardwerken der Frühpädagogik.

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Überarbeitete Neuausgabe

(23. Gesamtauflage)

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

Umschlagabbildung: © Kindergarten St. Barbara, Freiburg

Fotos: Renate Zimmer; Zeichnungen: Kerstin Tieste, Ulla Licher-Rüschen

E-Book-Konvertierung: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim

ISBN Print 978-3-451-38570-4

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-81805-9

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-81932-2

Inhalt

Einleitung

1 – Sinnliche Erfahrungen – die Grundlage kindlichen Handelns

1.1 Zur Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung

1.2 Ein Blick in die Geschichte: Lernen mit Kopf, Herz und Hand

1.3 Die Bildung der Sinne in einer unsinnigen Zeit

1.4 Kinder nehmen ganzheitlich wahr

1.5 Leben und Lernen mit allen Sinnen – Ansatzpunkte für ein didaktisches Konzept

2 – Entwicklung und Verlauf der Wahrnehmung

2.1 Das Zentralnervensystem

2.1.1 Funktion und Aufbau des Gehirns

2.1.2 Die Nervenzellen und ihre Verbindungen

2.1.3 Die Entwicklung des Gehirns

2.1.4 Plastizität und Selbstorganisationsfähigkeit des Gehirns

2.2 Der Prozess der Wahrnehmung

2.2.1 Grundbegriffe der Sinneswahrnehmung

2.2.2 Der Weg vom Reiz zur Reaktion

2.2.3 Wie die Wahrnehmung beeinflusst wird

2.2.4 Die Entwicklung der Wahrnehmung

2.3 Wie viele Sinne hat der Mensch?

3 – Aufbau und Funktion der Sinnessysteme

3.1 Das visuelle System – der Sehsinn

3.1.1 Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung

3.1.2 Das Auge

3.1.3 Aufgaben und Leistungen des visuellen Systems

3.1.4 Die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung

3.1.5 Vom Einblick zum Durchblick – Sehspiele

3.2 Das auditive System – der Hörsinn

3.2.1 Die Bedeutung der auditiven Wahrnehmung

3.2.2 Das Ohr

3.2.3 Bereiche der auditiven Wahrnehmung

3.2.4 Die Entwicklung der auditiven Wahrnehmung

3.2.5 Von Krachmachern und Ohrwürmern – Hörspiele

3.3 Das taktile System – der Tastsinn

3.3.1 Die Bedeutung der taktilen Wahrnehmung

3.3.2 Die Haut

3.3.3 Bereiche der taktilen Wahrnehmung

3.3.4 Die Entwicklung der taktilen Wahrnehmung

3.3.5 Wer nicht hören will, darf fühlen – Tastspiele

3.4 Das kinästhetische System – der Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn

3.4.1 Die Bedeutung der kinästhetischen Wahrnehmung

3.4.2 Bereiche der kinästhetischen Wahrnehmung

3.4.3 Die Propriozeptoren

3.4.4 Die Entwicklung der kinästhetischen Wahrnehmung

3.4.5 Roboter und Hampelmann – Spiele mit dem Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn

3.5 Das vestibuläre System – der Gleichgewichtssinn

3.5.1 Die Bedeutung des Gleichgewichtssinns

3.5.2 Der Vestibularapparat

3.5.3 Bereiche der vestibulären Wahrnehmung

3.5.4 Die Entwicklung der vestibulären Wahrnehmung

3.5.5 Bis die Welt sich um mich dreht – Spiele mit dem Gleichgewicht

3.6 Das olfaktorische System – der Geruchssinn

3.6.1 Die Bedeutung des Geruchssinns

3.6.2 Die Nase/Nasenhöhle

3.6.3 Geruchsqualitäten

3.6.4 Entwicklung des Geruchssinns

3.6.5 In alles seine Nase stecken – Riechspiele

3.7 Das gustatorische System – der Geschmackssinn

3.7.1 Die Bedeutung des Geschmackssinns

3.7.2 Die Mundhöhle

3.7.3 Geschmacksqualitäten

3.7.4 Die Entwicklung des Geschmackssinns

3.7.5 Alles Spaghetti – Schmeckspiele

3.8 Mit allen Sinnen leben und lernen – zur Integration der Sinneswahrnehmungen

4 – Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsfähigkeit

4.1 Ursachen von Wahrnehmungsstörungen

4.2 Typische Störungsbilder

4.3 Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung und das schulische Lernen

4.4 Förderung von Kindern mit Wahrnehmungsstörungen

5 – Pädagogische Konzepte und Ansätze der Sinnesbildung

5.1 Die »Sinneserziehung« bei Montessori

5.2 Das Kind als »Sinnes- und Erfahrungswesen« in der Waldorf-Pädagogik

5.3 Das »Erfahrungsfeld der Sinne« (Hugo Kükelhaus)

5.4 Sinnliche Begegnungen mit der Welt in Reggio Emilia

5.5 Ästhetische Erziehung

5.6 Snoezelen – Sinnesanregung mit therapeutischer Wirkung

6 – Projekte zum Spielen und Lernen mit allen Sinnen

6.1 Spiele mit Licht und Schatten

6.2 Ein Festival der Sinne

Und wenn das Fest zu Ende ist …

Literatur

Über die Autorin

Einleitung

Kinder sind eigensinnig, können mit ihrem Frohsinn anstecken und manchmal auch leichtsinnig sein, erkennen scharfsinnig, lieben den Blödsinn und sind für jeden Unsinn zu haben. Wo Kinder sind, da sind auch die Sinne im Spiel!

Kinder sind sinnenreiche Wesen. Sie haben Spaß an körperlichen Herausforderungen und eine besondere Antenne für alles, was ihre elementaren Sinneswahrnehmungen betrifft. Auf den ersten Blick scheinbar sinnloses Tun kann zugleich sehr sinnvoll sein, wenn man sich als Erwachsener auf die Erlebnisebene der Kinder einlässt.

Aber: Kinder wachsen auf in einer sinnesfeindlichen Umwelt. In unserer »verkopften« Gesellschaft verschwindet das körperlich-sinnliche Erleben immer mehr, und so besteht schon bei Kindern die Gefahr, dass ihre sinnliche Wahrnehmung sich vorwiegend auf das Sehen und Hören reduziert. Körpernahe Wahrnehmungen geraten dagegen immer mehr in den Hintergrund. Alle Sinnesorgane brauchen jedoch Anregung, um zu funktionieren. Sie brauchen Training, um sich weiterentwickeln zu können. Sie müssen benutzt werden, um nicht zu verkümmern. Selbst das Sehen und Hören bleiben diffus, wenn nicht auch andere – körpernähere – Systeme an der Informationsgewinnung beteiligt sind. Die Sinne sind in Gefahr, aus der Übung zu kommen, und je weniger sie im Alltag gebraucht werden, umso mehr Aufmerksamkeit müssen ihnen die Einrichtungen widmen, die sich für die Erziehung und Bildung von Kindern verantwortlich fühlen.

Diesem Anliegen widmet sich das vorliegende Buch. Es will auf die Missachtung der Sinnlichkeit und der körperlichen Betätigungsbedürfnisse von Kindern in unserer – zunehmend von Medien bestimmten – Welt aufmerksam machen. Es will Wege aufzeigen, wie Kindertagespflegeeinrichtungen, Krippen, Kindergärten und Grundschulen zu Stätten sinnlicher Wahrnehmung, lust- und sinnvollen Spielens und Lernens werden können.

Mit allen Sinnen die Welt begreifen

Widersprüche

Es ist ein Widerspruch an sich, ein Buch über die Vielfalt sinnlicher Wahrnehmung zu schreiben. Ein Buch, das man nur über die Augen aufnehmen, im Kopf verarbeiten und eben nicht mit allen Sinnen erfassen kann. Bereits das Schreiben des Buches ist ein einseitiger Akt.

Wie viel geht an Sinnlichkeit verloren, wenn sinnliche Erfahrungen beschrieben, analysiert, systematisiert, korrigiert, gesetzt, gedruckt und gebunden worden sind? Wenn in die Welt der Worte gedrängt ist, was doch aus der Welt des Erlebens, Fühlens, Spürens kommt? Wenn die Sinne erst verwissenschaftlicht, kategorisiert, auf ihre Funktion hin analysiert worden sind? Es besteht die Gefahr, dass sie zu einer Sache werden, zu einem Organ, dass Rezeptoren und Sensoren in den Vordergrund rücken und der Sinn verlorengeht.

Diesen Widerspruch aufzulösen gelingt nur, wenn das hier Geschriebene als Hilfe für das Verstehen von Zusammenhängen, vor allem aber als Impuls für das Selbertun verstanden wird. Es soll Ein-sichten ermöglichen, An-stöße geben, damit Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen und auch Eltern die Lebenswelt ihrer Kinder in neuen Zusammenhängen wahrnehmen.

Ein weiterer Widerspruch liegt in der Aufspaltung einzelner Sinnesbereiche. Wahrnehmung ist ein ganzheitlicher Prozess – schließt dies nicht von vornherein aus, die Vorgänge des Sehens, Hörens, Tastens oder Sichbewegens getrennt zu beschreiben, ihre Funktionsfähigkeit einzeln zu erläutern?

Für das Verständnis der Sinneswahrnehmung ist es notwendig, die Besonderheiten der jeweiligen Wahrnehmungsvorgänge zu betrachten, um anschließend ihr Zusammenwirken besser nachvollziehen zu können. Die Entwicklung der kindlichen Wahrnehmung kann als Prozess zunehmender Differenzierung der Sinnesleistungen beschrieben werden, der einhergeht mit ihrer gleichzeitigen Integration. Der gleiche Weg soll auch in diesem Buch gegangen werden, indem neben der Darstellung der jeweiligen Sinnessysteme immer auch auf ihr Zusammenspiel hingewiesen wird.

Schließlich kann auch die Frage gestellt werden, ob Kinder überhaupt eine »Schulung« der Sinne brauchen. Sind angeleitete Spiele, vorbereitete Spielsituationen, Tastpfade und Riechsäckchen notwendig, um Kindern sinnliche Erfahrungen zu vermitteln?

Hierzu gilt ganz allgemein: Je mehr Entdeckungsräume den Kindern im Alltagsleben zur Verfügung stehen, umso weniger bedarf es der angeleiteten Beschäftigung. Gehen die Anregungen für vielseitige Sinneserfahrungen bereits von der räumlichen Gestaltung der Umwelt, von den »Dingen« selber aus, sind weniger Impulse durch die Erwachsenen notwendig, um Kindern ein Erproben und »Üben« ihrer Sinne zu ermöglichen. Da in der heutigen Lebenswelt diese Voraussetzungen jedoch meist nicht mehr vorhanden sind, ist es wichtig, das »Training« der Sinne anzuregen und damit die Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder und der Erwachsenen zu erweitern.

Bei alledem ist es jedoch auch wichtig, den Kindern Freiraum für eigene Entdeckungen zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, eigene Erfahrungen zu sammeln. So können Erwachsene am ehesten den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden, ihre Umgebung mit allen Sinnen in sich aufzunehmen, sie zu erfassen und zu begreifen.

Anliegen

Scheinbare Widersprüche aufzulösen, Gegensätze zu vereinen, gehört zu den Anliegen dieses Buches. Es verfolgt das Ziel:

die Bedeutung der Sinne für die kindliche Entwicklung bewusst zu machen und die Leistungen der Sinne bei der Wahrnehmung und dem Verstehen der Welt zu verdeutlichen,die Grundlagen der Verarbeitung von Informationen aus der Umwelt und dem eigenen Körper zu erläutern und damit auch Einsicht in die Bedeutung sensorischer Erfahrungen für das Lernen zu geben,in verständlicher Form in die Funktionsweise der Sinnesorgane, die Entwicklung der Wahrnehmung und des Zusammenspiels der Sinne einzuführen,auf Gelegenheiten hinzuweisen, wie im Alltag sinnliches Erleben und ein Lernen mit allen Sinnen möglich ist,Orte und Anlässe im Rahmen institutionalisierter Erziehung (Kindertagespflege, Krippe, Kindergarten, Grundschule) zu beschreiben, in denen das Entdecken, Erweitern und Bewusstwerden sinnlicher Wahrnehmungsprozesse möglich wird,zu ungewohnten Sichtweisen, Hörerlebnissen, Tastwahrnehmungen und Körpererfahrungen herauszufordern,auf die mit einer Beeinträchtigung der Wahrnehmungsfähigkeit verbundenen Probleme hinzuweisen, ihrer Entstehung vorzubeugen und Wege aufzuzeigen, wie den betroffenen Kindern geholfen werden kann,und schließlich die Beschäftigung mit den Sinnen zu einem freudvollen, sinnvollen Tun werden zu lassen, bei dem auch Pädagoginnen und Pädagogen in ihrem eigenen Erleben angesprochen werden.

Das Buch soll Anregungen geben und zum Mitmachen herausfordern. Zwar gibt es eine Vielzahl von Literatur zur Sinnesbildung und zur Förderung der sinnlichen Wahrnehmung. Meist handelt es sich hierbei allerdings um rein praktische Anleitungen und Spielesammlungen, bei denen die theoretische Grundlegung (z. T. bewusst) außer Acht gelassen wird und auch der pädagogische Zusammenhang nicht ausdrücklich Erwähnung findet.

Auf der anderen Seite gibt es auch eine Reihe meist psychologischer oder medizinischer Nachschlagewerke, die den Aufbau und die Funktionsweise der Sinnesorgane detailliert beschreiben und den Ablauf der Wahrnehmungsprozesse erklären. Für den Laien ist diese Art der Beschreibung jedoch schwer verständlich, sie zeigt auch keinerlei Konsequenzen auf für die Umsetzung der theoretischen Erkenntnisse in die Praxis frühkindlicher oder schulischer Bildung und Erziehung.

Hier versucht das vorliegende Buch eine Lücke zu schließen: Die Bedeutung der Sinne und der Prozess der Sinneswahrnehmung werden in verständlicher Sprache aufgezeigt, gleichzeitig ermöglichen konkrete Beispiele ein Sicheinlassen auf das »Reich der Sinne«.

Die praktischen Beispiele reichen von einfachen Spielvorschlägen, die im Kita- und Schulalltag leicht zu verwirklichen sind, über Übungsbeispiele, die eine gezielte Förderung spezifischer Sinnesbereiche ermöglichen, bis hin zu größeren Projekten, die auch in Zusammenarbeit mit Eltern durchgeführt werden können.

Die meisten Spielvorschläge sind für Kinder im Kindergarten- oder Grundschulalter gedacht. Mit einigen Abwandlungen können jedoch auch jüngere Kinder zum Bespiel in der Krippe oder in der Kindertagespflege und ebenso ältere Kinder begeistert werden, sich auf die Experimente und Spiele »mit allen Sinnen« einzulassen. Und auch Erwachsene haben die Chance, ihre Sinne neu zu entdecken und dabei vielleicht sogar ganz ungewohnte Erfahrungen zu machen.

Die in diesem Buch enthaltenen Spielideen können problemlos in den pädagogischen Alltag eingebaut werden – entweder geplant und vorbereitet oder indem sie sich ganz einfach aus dem alltäglichen Spiel ergeben. Keinesfalls sollen sie zum Programm, zum täglichen Muss werden. Sie sollten vielmehr dazu beitragen, dass Kinder möglichst viele Gelegenheiten haben, sich spielerisch in der sinnlichen Wahrnehmung zu üben und einen sinnenreichen Alltag zu genießen. Es geht auch darum, neue Möglichkeiten vor allem dort zu schaffen, wo ihr Lebensalltag keine entsprechenden Gelegenheiten mehr bereithält. Durch die Einbindung der Spielideen in größere Zusammenhänge (Projekte) soll den Kindern darüber hinaus aber auch sinnvolles Handeln ermöglicht werden.

Kinder sind von ihrem ersten Lebenstag an aktiv und wollen ihre Umwelt erkunden. Erwachsene können sie dabei begleiten und unterstützend wirken, indem sie eine entsprechende Umgebung schaffen, Sinneserfahrungen zulassen und sogar bewusst machen und den Kindern damit Chancen für ein Leben und Lernen mit allen Sinnen geben.

Wichtig ist, dass bei allem Üben und Ausprobieren der Spaß und die Freude am lustvollen Tun im Vordergrund bleiben, denn nur dann werden die Sinne wirklich geweckt, und nur dann wird aus den sinnreichen Handlungen ein sinnvolles Spiel. Mit allen Sinnen die Welt erfahren und genießen – dies könnte der Leitspruch sein, der diesem Buch zugrunde liegt.

1 – Sinnliche Erfahrungen – die Grundlage kindlichen Handelns

Die Sinne sind unsere Antennen, über die wir mit der Umwelt kommunizieren. Durch sie nehmen wir Kontakt mit der Umwelt auf, über die Sinne lassen wir die Umwelt in uns hinein. Sie sind die Nahtstelle zwischen innen und außen, zwischen dem Menschen und der Welt. Durch die Sinne nehmen wir unsere Umwelt wahr und können gleichzeitig auf sie einwirken, sie – in bestimmten Grenzen – gestalten.

Für Kinder stellt die sinnliche Wahrnehmung den Zugang zur Welt dar. Sie ist die Wurzel jeder Erfahrung, durch die sie die Welt jeweils für sich wieder neu aufbauen und verstehen können.

In diesem Kapitel soll die Bedeutung sinnlicher Erfahrungen als Grundlage kindlichen Handelns diskutiert werden. Sinneserfahrungen galten bereits in der Antike als Basis jeglichen Lernens, ein Blick in die historischen Quellen gibt Hinweise auf die lange Tradition des Themas. Seine besondere Aktualität zeigt sich jedoch erst bei der Betrachtung der Lebensbedingungen, unter denen Kinder heute aufwachsen. Sie sollen der Ausgangspunkt für Überlegungen sein, die Forderung nach einem Leben und Lernen mit allen Sinnen zum Ansatzpunkt eines didaktischen Konzeptes in Kindertageseinrichtung und Grundschule zu machen.

1.1 Zur Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung

Wahrnehmen ist ein aktiver Prozess, bei dem sich das Kind mit allen Sinnen seine Umwelt aneignet und mit ihren Gegebenheiten auseinandersetzt. Durch die Sinne begegnet es den Lebewesen und Dingen, es kann sie sehen, hören, befühlen und anfassen, kann sie schmecken und riechen, sich mit ihnen bewegen.

Die Sinne liefern dem Kind viele Eindrücke über seine Umwelt und über sich selbst in Zusammenhang mit ihr. Das Greifen ist immer auch ein Be-greifen, das Fassen ein Er-fassen. Das Kind gewinnt – bevor es sich sprachlich mitteilen kann – bereits ein Wissen über räumliche Beziehungen, und es besitzt dieses Wissen aufgrund seiner Erfahrungen durch Wahrnehmung und Bewegung, durch die sich diese Zusammenhänge erschließen.

Um solche Erfahrungsprozesse zu ermöglichen, brauchen Kinder eine Umwelt, die ihrem Bedürfnis nach Aktivität und selbstständigem Handeln entgegenkommt. Sie brauchen vielfältige Möglichkeiten für den Einsatz und die Erprobung ihrer Sinne.

Kinder wollen ihre Umwelt mit allen Sinnen in sich aufnehmen, auf sie einwirken, sie sich einverleiben, sie wollen selbst tätig sein:

Sie wollen hören, was in der Umwelt vor sich geht, sie wollen Geräusche produzieren, schreien, stampfen, Krach machen. Hin und wieder wollen sie jedoch auch Ruhe haben, jemand anderem zuhören, den Geräuschen der Natur oder der Stimme des Erwachsenen lauschen.Sie wollen sehen: Farben, Formen, Dinge, die sich unterscheiden und die sich ähneln.Sie wollen spüren: Dinge berühren, sie anfassen, empfinden, ob sie warm oder kalt, glatt oder rau, weich oder hart sind. Sie wollen jedoch auch berührt werden, zärtlich gestreichelt und fest gedrückt, warm gehalten und vertrauensvoll umarmt.Sie wollen riechen und schmecken, lieben den Geruch von Weihnachtsgebäck oder Mandarinen, schütteln sich, wenn sie auf dem Fischmarkt sind oder auf den Wiesen Jauche ausgefahren wird. Ihr Geschmack hat schon früh Vorlieben: für Süßes, manchmal auch für Salziges.Sie wollen sich bewegen, ihre Kraft spüren, ihre Geschicklichkeit auf die Probe stellen: klettern und springen, balancieren und rutschen, sich verstecken, weglaufen und gefangen werden.

Kinder brauchen den konkreten Umgang mit den Dingen, damit sie aus dem Tun innere Bilder aufbauen können. Sie wollen ihre Umgebung und die Dinge nicht einfach nur ansehen, sondern sie möglichst genau erforschen. Sie brauchen sinnlich wahrnehmbare Welterfahrungen, Gelegenheiten zum Staunen, Suchen, Zweifeln, Ausprobieren und Erleben.

Für Kinder ist es eben noch nicht selbstverständlich, dass aus einer Wasserpfütze über Nacht eine spiegelglatte Eisfläche wird. Das Eis muss sinnlich erfasst, auf vielfältige Weise begriffen werden: vorsichtiges Betasten, drauftreten, rutschen, stampfen, um die Festigkeit zu ergründen … Und da Kinder nichts wirklich glauben, was sie nicht auch nachvollziehen können, stellen sie am Abend ein Gefäß mit Wasser vor die Tür oder schütten in ein Rinnsal eine neue Pfütze, um sich am Morgen zu vergewissern, ob sich das flüssige Wasser tatsächlich in eine harte, kalte Eisfläche verwandelt hat.

Eisplatten aus dem Fluss – oder dem Eimer – werden vorsichtig nach Hause transportiert, eingepackt, aufgehoben, vielleicht sogar geschmeckt, und welche Enttäuschung, wenn sie am nächsten Tag einfach verschwunden sind und nichts als eine Wasserlache zurückgelassen haben! Die nächste Eisplatte kommt in die Gefriertruhe und soll mindestens bis in den Sommer halten.

Die Welt muss gespürt, Ereignisse müssen nachvollzogen, Phänomene überprüft, Zusammenhänge selbst entdeckt werden, denn nur so können Kinder die Welt verstehen und ihren Aufbau für sich selbst rekonstruieren. Sie schaffen sich damit die Welt jeweils für sich wieder neu.

Sinnlich und sinnvoll

Das leib-sinnliche Sich-Einlassen auf die Welt ist für die Kinder immer auch eine sinnvolle Handlung – für den Erwachsenen ist der Sinn jedoch nicht immer erkennbar bzw. verstehbar. So ist das Matschen in einer Pfütze nicht nur ein sinnliches Vergnügen, sondern auch mit elementaren Fragen verbunden: Was ist unter dem Wasser? Sinkt der Fuß immer tiefer und tiefer in die matschige Schlammschicht oder kommt er irgendwann auf festen Grund? Wenn man die Pfütze mit Erde auffüllt, verschwindet dann das Wasser oder vertreibt man es? Wie tief kann man in die Pfütze hineinwaten, ohne dass Wasser in die Stiefel hineinläuft – und was passiert, wenn das Wasser »überläuft«? Ist die Pfütze jetzt im Stiefel? Wie viel Wasser bleibt drin, wie viel draußen?

Dem Matsch auf den Grund gehen

Solche Fragen entstehen beim Spiel, sie lassen sich nur beantworten, wenn man ausprobiert und experimentiert. Erwachsene würden hierbei nur stören, denn ihnen wäre der Sinn des Spiels mit Wasser, Erde und Schlamm nicht einsichtig. Sie interessieren weniger die beim Experimentieren gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse, ihre Sinne sind vielmehr auf die Hygiene, die Sauberkeit, auf mögliche gesundheitliche Risiken durch Bakterien, Kälte und Nässe ausgerichtet.

Wahrnehmung ist also durchaus subjektiv, und jeder an einer Begebenheit Beteiligte nimmt die Situation oft aus einer anderen Perspektive, mit einer unterschiedlichen Bewertung wahr.

Je anregender die Umgebung für die Sinne des Kindes ist, umso stärker wird es zur Aktivität, zum Handeln herausgefordert. Seine Neugierde – der Motor der Entwicklung – wird geweckt. Es möchte mit den Dingen seiner Umwelt umgehen, sie begreifen und kennenlernen. Aus diesen Tätigkeiten ergeben sich Erfahrungen, die für die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit von Bedeutung sind. Intensive, vielfältige Eindrücke werden über die Sinne aufgenommen, gespeichert, verarbeitet und entwickeln sich so zu Erfahrungen und Erkenntnissen, auf die das Kind in späteren Situationen wieder zurückgreifen kann.

Dies zeigt sich dann auch in der Sprachentwicklung des Kindes, wenn es sich aufbauend auf seinen Bewegungs- und Sinneserfahrungen ein Bild – und letztlich einen Begriff – von den Dingen machen kann. Sinneserfahrungen stellen eine wichtige Voraussetzung für den Spracherwerb dar. So muss das Kind zum Beispiel über seinen Hörsinn Klänge und Geräusche wahrnehmen, Laute unterscheiden und nachahmen oder gelangt aufgrund seiner taktil-kinästhetischen Wahrnehmung zu »greifbaren Erfahrungen«, die in Verbindung mit Sprache zu Begriffen werden (Zimmer 2019 b, S. 84).

Sinnliche Wahrnehmung ist Besinnung

Wie stark die Sinne auch in uns Erwachsenen verankert sind, merken wir, wenn wir uns an Begebenheiten aus unserer Kindheit erinnern: Ereignisse werden am deutlichsten wach, wenn sie mit Sinnesempfindungen verbunden sind. Barfuß durch den weichen, aber eisigen Schnee laufen, den Duft von frischem Heu in sich aufnehmen, zischendes Brausepulver auf der Zunge spüren, dem Rufen des Kuckucks lauschen – was die Sinne intensiv anspricht, hat oft etwas mit sinnlich Erlebtem aus Kindheitstagen zu tun. Lange war es überlagert, schlummerte im Unterbewusstsein und wird – plötzlich, durch die Sinne – wieder hervorgerufen.

Das Wahrnehmen solcher Situationen führt einen zurück zu sich selbst, zumeist in ferne Erlebnisse und Erinnerungen. »Sinnliche Erfahrung ist in dieser Sicht, sich mit dem Bestand der eigenen Erfahrungen verbinden zu können. Sinnliche Vergegenwärtigung schafft Erinnerungen aus der eigenen Lebensgeschichte« (Homfeldt 1993, S. 7). Diese steht auch in der Ausbildung und Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften immer mehr im Vordergrund. Sich der eigenen Geschichte, den eigenen Vorlieben und Abneigungen bewusst werden, schafft einen reflektierten Umgang mit Kindern und verringert ein mögliches Konfliktpotenzial für den Pädagogen selbst (Musiol 2007, S. 296).

Mit allen Sinnen wahrnehmen heißt deswegen auch Besinnen – sich besinnen auf frühe Erlebnisse, auf intuitiv Erfahrenes.

Die Sinne brauchen Übung

Die Sinne brauchen Übung, um sensibel wahrzunehmen. Wenn sie nicht benutzt werden, stumpfen sie ab. An den erstaunlichen Sinnesleistungen gehörloser, blinder oder Gliedmaßen amputierter Menschen ist erkennbar, wie flexibel die Entwicklung der Sinne ist. Dabei sind nicht die Sinnesorgane in dem Bereich, der nicht geschädigt ist, besser ausgebildet, sondern die betroffenen Menschen nehmen durch vermehrtes Üben der verbleibenden Sinnesfunktionen oftmals sensibler und feiner wahr.

Kükelhaus und zur Lippe (1997, S. 45) berichten von Versuchen, die in den USA im Zusammenhang mit der Astronauten-Ausbildung durchgeführt wurden. Man wollte herausfinden, wie die Organe auf Nichtbeanspruchung ihrer Funktionen reagieren. Unter der Erdoberfläche war ein erschütterungsfreies Bassin angelegt worden, gefüllt mit Wasser, das die gleiche Temperatur hatte wie das Blut der Testperson. Der Körper war in Watte gepackt, um alle Hautempfindungen zu unterbinden. Hinzu kamen absolute Licht- und Lautlosigkeit. Monitore verzeichneten die Reaktionen aller lebenswichtigen Organe.

Die Versuche mussten bereits nach einer Viertelstunde abgebrochen werden, da sich bei den Testpersonen schon nach wenigen Minuten beklemmende Halluzinationen einstellten und ein Verlust der raum-zeitlichen Maßstäbe registriert wurde. Nach circa 10 bis 15 Minuten begann durch Störungen des Zwischenhirns die Versorgung des Nervensystems mit Hormonen zu versagen. Die weißen Blutkörperchen vermehrten sich sehr schnell, und die Tests mussten beendet werden, um die Versuchspersonen vor lebensbedrohlichen Schäden zu bewahren. In Ermangelung der Auseinandersetzung mit einer herausfordernden Außenwelt wären die Beteiligten zugrunde gegangen, ihre Organfunktionen hätten sich gegen sie selbst gerichtet.

1.2 Ein Blick in die Geschichte: Lernen mit Kopf, Herz und Hand

Dass vielfältige Sinneserfahrungen die Grundlage jeglichen Lernens bilden, ist keine neue Erkenntnis von Lernpsychologen oder fortschrittlichen Pädagogen. Schon in der Antike sind bei Aristoteles (384–322 v. Chr.) Hinweise auf die Bedeutung sinnlicher Wahrnehmungen zu finden. Auch eine ganz aktuelle didaktische Forderung wird aufgestellt: »Die beste Methode dürfte … sein, dass man die Gegenstände verfolgt, wie sie sich von Anfang an entwickeln« (Aristoteles zit. in Gigon 2006, S. 64).

Johann Amos Comenius (1592–1670) wies darauf hin, dass jedes Wissen von der Sinneswahrnehmung ausgeht. »Daher ist die goldene Regel für alle Lehrenden: Alles soll wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch, was schmeckbar dem Geschmack, was fühlbar dem Tastsinn« (zit. nach Merkle 1991, S. 56).

Der Philosoph John Locke (1632–1704), der Hauptbegründer der Erfahrungsphilosophie, prägte den Grundsatz: »Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war.« Danach sollte alle Erkenntnis ihren Ursprung in den Wahrnehmungen der einzelnen Sinne haben. Diese als »Sensualismus« bezeichnete Richtung ging allerdings von einer Zweiteilung des Menschen in sinnliche und geistige Fähigkeiten aus.

Jean Jacques Rousseau (1712–1778) sieht ebenfalls die geistige Entwicklung im Zusammenhang mit der sinnlichen Wahrnehmung. Wahrnehmungserfahrungen betrachtet er als erste Bausteine der Erkenntnis. Das Kind »will alles berühren, alles betasten; widersetzt euch dieser Unruhe nicht; es verdankt ihr höchst notwendige Kenntnisse. Auf diese Wiese lernt es die Wärme und Kälte, die Härte und Weichheit, die Schwere und Leichtigkeit der Körper kennen, lernt sich über ihre Größe, ihre Gestalt und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften ein Urteil bilden, indem es diese anschaut, betastet, behorcht, vor allen Dingen aber die Wahrnehmung seines Gesichtssinns mit denen seines Tastsinns vergleicht und sich gewöhnt, mit dem Auge schon im Voraus die Wirkung abzuschätzen, welche sie auf seine Finger ausüben müssten« (Rousseau 2010, S. 74). Rousseau hält ein Training der Sinne für notwendig. Der »Übung der Organe und Sinne« widmet er einen ganzen Abschnitt seines pädagogischen Hauptwerkes »Emile«, mit folgender Begründung: »Die ersten Fähigkeiten, die sich in uns bilden und vervollkommnen, sind die Sinne. Diese sollte man deshalb auch zuerst pflegen. … Die Sinne üben heißt aber nicht nur von denselben Gebrauch machen, sondern auch durch sie richtig urteilen lernen, es heißt gleichsam wahrnehmen lernen, denn wir verstehen nur so zu fühlen, zu sehen, zu hören, wie wir es gelernt haben« (ebd. 2010, S. 216).

Von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) stammt die heute noch häufig zitierte Forderung nach einem »Lernen mit Kopf, Herz und Hand«.

Sinnesschulung hat in diesen historischen Quellen allerdings den Charakter eines Trainings, sie wird als »Schärfung« der Sinnesorgane gesehen; von Spaß oder Lust an der sinnlichen Betätigung ist nicht viel zu spüren. Ziel war vielmehr die Funktionstüchtigkeit der einzelnen Sinnesorgane zum Zwecke einer besseren Erkenntnis durch den Verstand.

Fortgesetzt werden die Versuche einer Veranschaulichung des Lernens vor allem durch die Reformpädagogen. Sie werfen der Erziehung »Verkopfung« vor und prangern eine einseitige Forderung des Verstandes und damit einhergehende Vernachlässigung der sinnlichen und emotionalen Kräfte des Kindes an. Dabei werden auch hier Rationalität / Vernunft einerseits und Sinnlichkeit / Emotionalität andererseits als weitgehend unvereinbare Gegensätze gesehen (Aissen-Crewett 2000, S. 153).

Zwar ist es als großes Verdienst der reformpädagogischen Bestrebungen zu werten, dass die Bedeutung der Sinne wieder in Erinnerung gebracht wurde, allerdings muss auch bedacht werden, dass sinnliche Erfahrungen und geistige Erkenntnis nicht als zwei unterschiedliche Vorgänge betrachtet werden dürfen.

Sinnlichkeit und Vernunft, Sinne und Verstand sind vielmehr als aufeinander angewiesene Bestandteile einer Einheit zu verstehen, die gleichermaßen in der Erziehung und Bildung von Kindern berücksichtigt werden sollten.

1.3 Die Bildung der Sinne in einer unsinnigen Zeit

Auch wenn schon vor Jahrhunderten Philosophen und Pädagogen die Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung hervorgehoben und in ihren Schriften vielfach belegt haben, hat dies dennoch nicht zu einer nachhaltigen, entscheidenden Veränderung der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen geführt.

So war es denn auch noch nie so wichtig wie in heutiger Zeit, auf den zunehmenden Verlust an unmittelbaren körperlich-sinnlichen Erfahrungen bei Kindern hinzuweisen und die daraus entstehenden Gefahrenquellen aufzuzeigen. Zwar wird auch heute die sinnliche Erfahrung als grundlegende Erkenntnisform menschlicher Existenz allgemein anerkannt, das reibungslose Funktionieren der Sinne wird jedoch als selbstverständlich betrachtet.

Die sinnliche Wahrnehmung wird weder bewusst geübt noch erweitert, da sie als gegeben vorausgesetzt wird. Der Gestaltpsychologe Rudolf Arnheim (1979) behauptet sogar, dass uns schon als Kind die Anschaulichkeit der Welt ausgetrieben wird. Sinnliche Erfahrungen würden mehr und mehr von Funktionalität und Rationalität beherrscht, eine verkopfte Kultur, die sich in die Welt der Worte zurückziehe, sei die Folge: »Unsere Sinne leiden an einer Mangelkrankheit – Auswirkungen einer Verarmung der sinnlichen Erfahrungen« (Arnheim 1979, S. 23). Diese bereits vor Jahrzehnten getroffene Aussage ist auch heute noch höchst aktuell – vielleicht sogar weitaus aktueller und zutreffender als in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Das Kind, das zur Erfassung seiner alltäglichen Welt des Einsatzes möglichst vieler Sinne bedarf, wird heute oft mit einer Überflutung durch optische und akustische Reizeinwirkungen konfrontiert. In seinem Bedürfnis nach ganzheitlichem Erfassen, nach körperlich-sinnlicher Aneignung, wird es immer mehr eingeschränkt.

Rumpf (1994, S. 43) beschreibt das Heranwachsen des Kindes als einen »Kurs in einer besonderen körperlichen Askese: Es muss lernen, seine sinnlichen Welt-Resonanzen auf bestimmte Kanäle zu reduzieren und dort zu kontrollieren.«

Veränderungen der Lebensbedingungen

Ein Grund für die Notwendigkeit, die sinnliche Wahrnehmung stärker zum Ausgangspunkt des Lebens und Lernens in Kindertageseinrichtung und Schule zu machen, liegt in der Veränderung der kindlichen Lebensbedingungen. Kinder wachsen heute auf

in einer mediatisierten Welt, in der Erfahrungen vorwiegend aus zweiter Hand gewonnen werden. Passives Konsumieren steht vor aktivem Tun. Eine Bilderwelt, die sich durch schnelle Bildfolgen auszeichnet, lässt kaum Zeit zum Verarbeiten der Informationen, zum Erinnern und Verknüpfen;in einer technisierten und motorisierten Welt, in der es immer schwieriger wird, Zusammenhänge wirklich zu begreifen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Türen öffnen sich, ohne dass man sie berührt, Automaten lassen aus derselben Öffnung Kaffee, Kakao und Fleischbrühe fließen, je nachdem, welche Taste man gedrückt hat. Ursachen und Wirkungen können nicht mehr unterschieden werden, die Einwirkungsmöglichkeiten der Kinder werden auf einen Knopfdruck oder gar das reine Berühren und »Wischen« eines Displays reduziert;in einer körper- und leibfeindlichen Welt, in der Bewegung nicht als Ausdruck kindlicher Lebensfreude, sondern als Störung empfunden wird. Schule gilt gemeinhin als Ort der Disziplinierung körperlicher Bedürfnisse, Lernen scheint untrennbar mit Sitzen verbunden zu sein und Konzentration von körperlicher Unbeweglichkeit abzuhängen; auch im Kindergarten beherrschen Sitzmöbel und Tische die Einrichtung des Gruppenraumes – für Kinder, die am liebsten am Boden spielen, herumlaufen, Bewegungsraum brauchen;in einer Welt voller einseitiger Sinneserfahrungen, in der sie einer Überflutung mit optischen und akustischen Reizeinwirkungen ausgesetzt sind. Mit der Zunahme des Medienkonsums bereits bei Kindern im vorschulischen Alter erleben sie ein Überangebot in spezifischen Sinnesbereichen, das mit ihrer erfahrungsbezogenen Verarbeitung oft nicht im geringsten Schritt hält. Demgegenüber erleben sie in elementaren, körpernahen Sinnbereichen ein Unterangebot. Erkenntnisse aus der Hirnforschung verweisen sogar auf die Gefahr negativer Auswirkungen auf die Vorstellungskraft und Kreativität von Kindern und Jugendlichen durch intensiven Fernsehkonsum. Der US-amerikanische Soziolinguist Barry Sanders verweist in seiner Untersuchung »Der Verlust der Sprachkultur« (1995) auf Forschungsergebnisse, denen zufolge intensiver Fernsehkonsum erhebliche Auswirkungen auf die Vorstellungskraft und Kreativität von Kindern und Jugendlichen besitzt. Dieser schwäche das limbische System, was dazu führt, dass Kinder in einer zugeschnittenen Bilderwelt aufwachsen, in der eigene Vorstellungen und Fantasie keinen Raum mehr haben (Sanders 1995, S. 61 f.).

Veränderte Lebensbedingungen engen die Erfahrungsspielräume der Kinder ein. Einem scheinbar größeren Anregungspotenzial – durch Medien, technisches und elektronisches Spielzeug – steht eine Reduzierung an unmittelbarem Tätigsein gegenüber.

Gerade die zunehmende Digitalisierung und Mediatisierung der Lebenswelt führen zu einer Verarmung an Aktivitäten, die den Kindern unmittelbare, nachvollziehbare Erfahrungen ermöglichen. Der Kuchen kommt fix und fertig aus der Kühltruhe auf den Tisch, sie erleben nicht mehr den Prozess des Teigknetens, Ausrollens, den Duft beim Backen, das Warten, bis er endlich abgekühlt ist und angeschnitten werden kann. In der Gefriertruhe sind alle Kuchen bereits fertig, sie werden nach Abbild gekauft und bedürfen nicht der langandauernden, viele Sinne ansprechenden Vorbereitung.

Besonders auffällig ist bei Kindern heute der Verlust an Eigentätigkeit. Durch die medialen Möglichkeiten, die schon recht früh in das Kinderzimmer einziehen, verlieren Kinder immer mehr ihre primären Erfahrungsfelder. Fernsehen, Tablets, Smartphones oder ähnliche technische (Spiel-)Geräte lassen Kinder in ihrem Bewegungsverhalten immer inaktiver werden. Sitzend verbringen oft schon Kleinkinder Stunden in einer digitalen Welt. Symbolische Erfahrungen treten an die Stelle primärer, sinnlicher Erfahrungen und lenken die Eigentätigkeit und Selbstwirksamkeit auf vorgegebene Bahnen. Die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten wird durch vorgegebene Spielstrukturen begrenzt – das freie Spiel verliert an Bedeutung. Die eigentätige, sinnenreiche Aneignung der Welt durch eigene, primäre Erfahrungen wird zusehends durch vorgegebene, digitale Erfahrungen ersetzt.

Folgen der unausgewogenen »Sinneskost«

Die Zahl der Kinder, die von pädagogischen Fachkräften, Lehrern und Lehrerinnen und auch von den Eltern als unruhig, hyperaktiv bezeichnet werden, wächst von Jahr zu Jahr. Immer mehr Kinder scheinen mit der Überflutung von Reizen – speziell aus der Welt des Sehens und des Hörens – nicht zurechtzukommen. Flüchtige Eindrücke, unverarbeitete Erlebnisse führen zu einer Art Stress-Symptom, das sich bei Kindern häufig in Bewegungsunruhe, Nervosität und Konzentrationsmangel äußert. Mehrere Studien von Heinemann und Höpfner (1996 bis 2002) zum Thema Kommunikationsstörungen zeigten, dass fast jedes vierte Kind in den untersuchten deutschen Kindergärten von Sprachstörungen bzw. Entwicklungsverzögerungen des Sprechverhaltens betroffen ist, und das mit ansteigendem Trend. Neben den vielfältigen sozialen Faktoren werden von den Forschern auch der täglich mehrstündige Fernsehkonsum und mangelnde Schulung der Sinne als ursächlich für die wachsenden Sprachentwicklungsverzögerungen gesehen (vgl. Heinemann & Höpfner 1992, 2002).