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Er liebt seine Freiheit, jettet als Reisejournalist um den ganzen Erdball. Keine Frau wird Joe Daugherty je dazu bringen, eine Familie zu gründen! Wenn überhaupt, dann nur Hannah und ihre süße Tochter Isabella … Warum träumt der Abenteurer Joe jetzt von einem Leben zu dritt?
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Seitenzahl: 173
IMPRESSUM
Hannahs Weg ins große Glück erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2008 by Cathy Gillen Thacker Originaltitel: „Hannah’s Baby“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRABand 61 - 2018 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Anna-Pia Kerber
Umschlagsmotive: "AntonenkoS / Shutterstock"
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733727239
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Hannah Callahan stand im Morgenlicht auf der Veranda ihres Elternhauses und ließ sich von der sanften Brise verführen, die einen perfekten Sommertag versprach. Ihr Blick verharrte auf den zartroten Strahlen der Morgendämmerung und schweifte dann über die mächtige Bergkette, deren Spitzen in der frühen Sonne erstrahlten.
Hier war sie aufgewachsen, in Summit, Texas, und die unermesslich weite Landschaft vermochte ihr noch immer den Atem zu rauben. Nachdem sie das College abgeschlossen hatte, war sie jahrelang berufsbedingt gereist und hatte hauptsächlich aus dem Koffer gelebt, von einem Hotel zum nächsten.
Zum ersten Mal war sie froh, dass dieses Leben als Nomadin nun ein Ende hatte. Froh darüber, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
Ein dunkelgrüner Land Rover näherte sich auf der stillen Landstraße.
Hannah erkannte den Fahrer, nahm ihren Koffer hoch und trat die breiten, hölzernen Verandastufen hinunter.
Der fünfunddreißigjährige Joe Daugherty ließ den Motor laufen, stieg aus und kam auf sie zu. Er war lässig und zugleich zweckmäßig gekleidet, in eine weit geschnittene Cargohose und ein leuchtend-gestreiftes Shirt, das die grüne Farbe seiner Augen intensiv zur Geltung brachte.
Wie üblich kam sie sich neben seiner beeindruckenden Ein-Meter-neunzig-Statur ziemlich klein vor. Gegen seine beinahe einschüchternd breiten Schultern wirkte sie zierlich und zerbrechlich – und zerbrechlich war ein Wort, das ihr überhaupt nicht gefiel. Davon abgesehen passte es auch nicht zu ihr, denn sie hatte ihr Leben sehr wohl im Griff.
Vor fünf Monaten waren sie und Joe sich zum ersten Mal begegnet. Er war in den Gemischtwarenladen ihres Vaters spaziert, und sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. Die gegenseitige Anziehungskraft ging wohl über Sympathie hinaus, doch von Anfang an war klar, dass zwischen ihr und diesem aufregenden Abenteurer nichts laufen würde.
Denn ganz gleich, ob er ihr Interesse erwiderte oder nicht, sie befanden sich an völlig gegensätzlichen Punkten in ihrem Leben.
Hannah wollte endlich ankommen und sich dauerhaft niederlassen, Joe dagegen plante bereits die nächste Reise. Sein Aufenthalt in Summit war begrenzt, und zwar auf die Dauer der Recherche, die er für sein neues Buch benötigte. Danach würde er ein anderes Projekt angehen.
Hannah scheute sich vor einer kurzen Affäre, daher hatte sie innerlich sehr schnell eine Grenze gezogen und beschlossen, dass sie und Joe nichts weiter als Freunde seien.
Dass sie nun gemeinsam diese wichtige Reise antreten würden, war ein Glücksfall, mit dem Hannah nicht gerechnet hatte. Joe tat ihr damit einen großen Gefallen. Sie würde sich vor Augen halten, dass es genau das war: ein Gefallen.
Die Erregung und Freude, die sie an diesem Morgen verspürte, hatten auch gar nichts zu tun mit seinen strahlenden Augen. Oder der Tatsache, wie schön sich das Licht in seinem kurzen blonden Haar fing, das sich so gut von der gebräunten Haut abhob.
Sie hatte auch nichts zu tun damit, dass sie die kommende Woche mit diesem Mann verbringen würde.
Ihr rasender Puls war vielmehr darauf zurückzuführen, dass es zwischen ihr und dem einzigen verbleibenden Familienmitglied andauernd Spannungen gab. Spannungen, die sich nach den kommenden Ereignissen vermutlich noch verschärfen würden.
Nichts von ihren Gedanken ahnend, schob Joe die Hand unter ihre und nahm ihr das kompakte Köfferchen ab. „Ist das all dein Gepäck?“
Hannah nickte und versuchte zu ignorieren, dass ihre Haut prickelte – an der Stelle, wo seine Hand sie berührt hatte. Sie drückte den roten Leinenbeutel an ihre Brust, in dem sie alle wichtigen Papiere aufbewahrte. „Ich muss nur noch schnell beim Mercantile vorbei und mich von meinem Dad verabschieden.“ Und ein letztes Mal versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen.
Joe verstaute ihr Gepäck im Kofferraum. „Kein Problem.“ Er glitt hinter das Steuer, während sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm. „Wir haben ausreichend Zeit dafür.“
Aber nicht genug Zeit, um die Meinung ihres Vaters zu ändern. Hannah schluckte und rutschte unruhig auf ihrem Sitz nach vorn. „Danke, dass du mitkommst.“
Joe hob die Schultern und schenkte ihr ein anziehendes, schiefes Grinsen. „Hey, es passiert ja nicht jeden Tag, dass mir jemand einen Trip nach Taiwan schenkt.“
„Ich meine es ernst …“
„Ich auch.“ Sein Blick enthielt all das Verständnis, das er von Natur aus für andere Menschen aufzubringen schien. „Du brauchst eben jemanden mit einem gültigen Reisepass und ausreichend Erfahrung mit Fernreisen. Jemanden, der sich in dieser bestimmten asiatischen Region auskennt, die Sprache beherrscht und sich durchschlagen kann. Und jemand, der frei und ungebunden genug ist, um kurzerhand alles stehen und liegen zu lassen und mitzufliegen, sobald du alle nötigen Papiere hattest.“
Denn genau diese Voraussetzungen hatten das Feld der möglichen Reisebegleiter deutlich eingeschränkt. Hannah war froh, dass Joe nicht mehr in das Angebot hineininterpretierte. Sie begann sich zu entspannen und ließ sich rücklings in den bequemen Sitz gleiten. „Hach, die Vorzüge des Lebens als Reiseschriftsteller“, neckte sie ihn.
Joe trat auf die Bremse, als ein Gürteltier in Sicht kam. Er wartete geduldig ab, bis das Tier die Straße passiert hatte. Währenddessen wandte er sich Hannah zu und grinste. „Die Vorzüge deines Unternehmer-Daseins sind auch nicht zu verachten. Wie ist das, wenn man vom Marketing-Ass zur Geschäftsführerin wird?“
Das Lob machte sie verlegen – vor allem, da es von ihm kam. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und spielte das Kompliment ein wenig herunter. „Geschäftsführerin darf ich mich noch gar nicht nennen“, ruderte sie zurück. „Schließlich gibt es da noch meinen Dad. Und ob der sich jemals aus dem Geschäft zurückzieht, ist fraglich. Er ist so stolz darauf, dass es unseren Laden bereits seit der Gründung von Summit gibt. Seit diesem Jahr – 1847 – ist er in Familienbesitz.“ In der Zwischenzeit hatte sich das idyllische Städtchen am Fuß der Berge bedeutend verändert: vom verschlafenen Siedlungspunkt für Rancher und Farmer hin zum attraktiven Kur- und Touristenort.
Das Gürteltier wackelte gemächlich in die Böschung, und Joe fuhr wieder an. „Ich finde es gut, dass du Änderungen vornehmen wirst.“
Er gehörte zu den wenigen, denen Hannah von ihren Plänen erzählt hatte, das Ladenkonzept zu erweitern. Der süße Duft nach Zimtbrötchen drang in den Wagen, als sie die Bäckerei passierten. Hannah liebte diesen Duft, doch gerade beschäftigte sie etwas anderes. „Erzähl das mal meinem Dad“, erwiderte sie finster.
„Das habe ich versucht. Mehrmals.“ Joe verzog den Mund, als würde er bereuen. „Aber warum sollte er auf einen Großstadttrottel von der Ostküste hören?“
An einer roten Ampel kam der Wagen zum Stehen. Hannah rutschte auf ihrem Sitz nach vorn. Die Nervosität hatte erneut von ihr Besitz ergriffen. Sie konnte es kaum erwarten, nach Taipei zu kommen. Ihr neues Leben war zum Greifen nah. „Du bist doch in Texas aufgewachsen.“
„Meine ersten zehn Lebensjahre“, stellte Joe richtig. Er winkte einem Rancher in einem schweren Pick-up-Truck. „Aber ich bin in Connecticut zur Schule gegangen.“
Hannah wusste, dass er eine Elitehochschule besucht hatte. Doch das war es nicht, was ihn so anziehend machte. Es war vielmehr seine offene, freundliche und kollegiale Art, die sie an ihm mochte. Für jeden hatte er ein nettes Wort.
Wenn er sich dazu entschlossen hätte, länger in diesem großartigen Landstrich im Westen Texas zu bleiben, dann wäre sie versucht gewesen, sich auf mehr als eine Freundschaft einzulassen.
Natürlich wusste sie es besser. Im Herzen war er genau jener Vagabund, der sie selbst jahrelang gewesen war. Und genau wie sie hatte auch er sicher seine ganz eigenen, schwerwiegenden Gründe dafür.
Seit dem Tod ihrer Mutter und dem Herzanfall ihres Vaters war ihr bewusst geworden, dass die Zeit begrenzt war: die Zeit, in der man sich alten Verletzungen stellen und Frieden schließen durfte. Oder es zumindest versuchen.
Ihre Mutter hatte sich immer gewünscht, dass Hannah sich mit ihrem Vater aussöhnen sollte. Das würde sie nun angehen – ob er nun kooperierte oder nicht!
Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie lange geschwiegen hatte. „Wann wird dein Buch fertig?“, schlug sie ein leichteres Thema an. Im vergangenen Frühling hatte Joe sich eine Blockhütte außerhalb des Städtchens gemietet und dort sein Basislager für die Recherche über Süd-West-Texas eingerichtet.
„Im Grunde ist es bereits fertig. Ich möchte nur noch einmal nach Big Bend fahren und mir einige Hotels ansehen. Dann werde ich die Artikel schreiben, mit denen ich für das Buch werben möchte, und dann geht es schon nach Australien. Zum nächsten Projekt.“
„Also gehst du am …?“
„Einen Tag nach Labor Day. Anfang September.“
Das bedeutete, sie würde Joe vermutlich niemals wiedersehen. Es blieben in etwa noch drei Wochen. Danach würde er nicht mehr im Mercantile vorbeischauen, um sich mit den Kunden über ihre Lieblingsorte in Summit zu unterhalten. Er würde sie nicht mehr necken und keine höfliche Konversation mit ihrem Vater führen.
Und er würde sie nicht mehr zum Mittagessen einladen, weder alleine noch mit einem der zahlreichen neuen Freunde, die er in Summit gefunden hatte und die ihm alles über das Leben hier berichten sollten.
Sie bogen in die Hauptstraße ein. Zuvorderst befanden sich Rathaus und Polizeistation gegenüber dem Stadtpark. Entlang der Straße folgten einige neue Cafés und Restaurants, die in die hübschen alten Gebäude aus Ziegelstein eingezogen waren.
Das von den Touristen am meisten fotografierte Haus war aber noch immer Callahan Mercantile & Feed, der Nahrungsmittel- und Gemischtwarenladen von Hannahs Familie, der an die alten Wildwestfilme erinnerte.
Die weitläufige Fassade trug den typischen Blockhaus-Stil, und die gemütlichen Schaukelstühle auf der Veranda luden zum Verweilen ein – selbst nachdem man seine Einkäufe erledigt hatte.
Joe lenkte den SUV geschmeidig in eine Parklücke vor dem Laden. „Ob dein Dad wieder das leckere Gebäck besorgt hat?“, überlegte er, während er den Motor abstellte.
„Mit Sicherheit. Er geht jeden Morgen zuerst in die Bäckerei, bevor er den Laden öffnet. Nimm dir, was du möchtest. Ich werde ihn suchen gehen.“
Gus war im Lagerraum, wie sich gleich darauf herausstellte.
Auch mit über siebzig Jahren war er ein attraktiver Mann mit ausdrucksstarken, dunkelbraunen Augen, die Hannah von ihm geerbt hatte. Sein dichtes graues Haar war seit dem Tod ihrer Mutter schneeweiß geworden.
Gus Callahan war zeitlebens kein einfacher Mensch. Er ging stur seinen Weg, und wenn er einmal eine Meinung gefasst hatte, war es nahezu unmöglich, ihn davon abzubringen. Er hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und war nie bereit, dem zuliebe Ausnahmen zu machen – auch nicht für seine Tochter.
Mit einem Mal fühlte sich Hannahs Kehle an wie zugeschnürt. Wann würde sie jemals damit aufhören, um seine Anerkennung zu ringen? Immerhin war sie längst erwachsen und hatte in ihrem Leben viel erreicht. Warum war es ihr so wichtig, seine Zustimmung zu haben, wenn sie doch längst für sich selbst entschieden hatte, was das Richtige war?
„Dad?“ Es war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, sodass sie sich wiederholte. „Dad?“ Da fand sie ihn über den alten Schreibtisch gebeugt, mit einem Stapel Kontoauszüge vor sich auf der Tischplatte. „Es ist Zeit. Ich muss zum Flughafen“, erklärte sie – in der Hoffnung, es möge ein Wunder geschehen und Gus seine Meinung ändern.
Gus hob den Kopf und legte die Stirn in unschöne Falten. Sein Blick war schwer zu lesen. Dann sagte er tonlos: „Noch kannst du absagen.“
Es war überhaupt nicht Joes Absicht zu lauschen. Schon gar nicht einem Familienstreit, der ihn nichts anging. Aber Hannahs frustriertes Seufzen hallte voll Hoffnungslosigkeit durch das Mercantile und ließ ihn aufhorchen.
„Dad.“ Ihrer Stimme waren die Tränen anzuhören – Tränen, die sie noch nie vor ihm und vermutlich auch niemand sonst gezeigt hatte. „Bitte.“
Gus erhob sich abrupt und stürmte in den Verkaufsraum, auf die langen Ladenzeilen zu, die sich unter Produkten bogen. Entweder hatte er Joe nicht bemerkt, oder es war ihm herzlich gleich, dass dieser den unschönen Familiendisput mitanhörte.
Mit einem grimmigen Zug um die Mundwinkel marschierte Gus in die Ecke des Ladens, wo eine vorsintflutliche Kaffeemaschine auf einem wackeligen Beistelltisch thronte. Er lupfte einen Plastikbecher von dem Stapel und hielt ihn mit wilder Entschlossenheit unter den Spender. Es war erstaunlich, dass er den Becher dabei nicht einfach zerquetschte. „Ich werde nicht so tun, als ob ich das für eine gute Idee hielte, Hannah.“ Finster starrte er über den Rand des Kaffeebechers. „Du willst ein Baby? Es gibt bessere Wege, sich eins zu beschaffen.“
Ihr entfuhr ein leises Schluchzen. „So einfach ist das nicht.“
„Natürlich nicht, verdammt noch mal!“ Er kippte den Kaffee hinunter, wie andere ein Glas Whiskey geleert hätten. „Da draußen gibt es eine Menge Cowboys und Geschäftsmänner und weiß der Teufel wer, die nur darauf warten, dich auszuführen. Von hier bis Austin würden sie Schlange stehen, um dich zu heiraten.“
Hannah hob abwehrend die Hände. Nun glomm Wut in ihrem Blick. „Die liebe ich aber nicht.“
Gus hob eine struppige Braue. „Woher willst du das wissen, wenn du ihnen nicht einmal eine Chance gibst? Du lässt dich nicht mal auf ein Date ein.“
Hannahs Mund bildete eine schmale Linie. Ihre Mimik erinnerte plötzlich auffallend an die ihres jähzornigen Vater. „Ich werde mich bestimmt nicht auf jemanden einlassen, nur um nicht alleine zu sein.“
„Wenn deine Mutter noch hier wäre …“
Das war ein Tiefschlag, entschied Joe, der genau wusste, wie es sich anfühlte, seine Eltern zu verlieren.
„Mom würde mich unterstützen. Sie fände es gut, dass ich adoptieren will“, schoss Hannah zurück.
„Deine Mutter – Gott hab sie selig – hätte damit allerdings unrecht“, erwiderte Gus heftig.
Hannah schüttelte wortlos den Kopf. Ihr Blick verharrte auf dem Fußboden – ganz so, als würde sie innehalten und innerlich um Kraft beten. Kraft für das letzte Gefecht. Daraufhin hob sie den Kopf. Sie wirkte gefasst. „Wenn ich zurückkehre, werde ich Isabella mitbringen. Und ich werde deine Unterstützung brauchen.“
Dass sie die nicht bekommen würde, war klar und deutlich im Raum zu lesen.
Der Schmerz in ihrem Gesicht war mehr, als Joe ertragen konnte. Völlig entgegen seiner Regel, sich aus anderer Familien Angelegenheiten herauszuhalten, trat er vor, zwischen die beiden Kampfhähne. „Wenn wir unseren Flug nicht verpassen wollen, müssen wir jetzt los, Hannah.“
Gus musterte ihn geringschätzig. „Wenn du meiner Tochter wirklich ein Freund sein willst, dann solltest du sie davon abhalten, in dieses Flugzeug zu steigen.“
Seine Worte schienen Hannah wie Schläge zu treffen. Sie erblasste. Ihre Augen schimmerten verräterisch, doch dann blinzelte sie die Tränen entschlossen weg. „Auf Wiedersehen, Dad“, sagte sie rau. Sie trat vor, gab Gus eine mehr als flüchtige Umarmung und wandte sich ab – mit einem verletzten Ausdruck im Gesicht, der Joe scharf ins Herz schnitt.
Wortlos kehrten sie zum Auto zurück und stiegen ein.
Er fühlte mit ihr. Nur zu gut kannte er das Gefühl, um Anerkennung und Liebe zu kämpfen. Bei Familienmitgliedern, die es besser wissen müssten und die im entscheidenden Augenblick zu einem stehen sollten.
Zugegeben, seine Ablehnung war etwas höflicher erfolgt. Subtiler. Doch das machte sie nicht weniger schmerzhaft. Joe startete den Motor und fädelte sich in den Verkehr ein. Wenig später fuhren sie auf den Highway.
„Tut mir leid, dass du das miterleben musstest.“ Hannahs Hände zitterten.
Das braucht es nicht, dachte Joe. Er wurde von einer unerwarteten Welle des Verständnisses und der Zuneigung erfasst, die ihn überraschte. Mehr als alles verspürte er das Bedürfnis, ihr Trost zu spenden. „Ich bin schon in solchen Waisenhäusern gewesen, Hannah.“
Vierzig und mehr Kinderbettchen in einen Raum gepfercht, ein Säugling nach dem anderen, manchmal sogar zwei in ein Bettchen gequetscht. Alptraumhafte Zustände, mit nicht mehr als ein oder zwei Frauen, denen es unmöglich war, sich um alle Kinder gleichzeitig zu kümmern.
„Diese Kinder hätten keine Chance, wenn es nicht Menschen wie dich gäbe“, erklärte er. Seine Stimme wurde rau, als er sich an die hageren, traurigen kleinen Gesichter erinnerte. „Menschen, die bereit sind, für diese Kinder ihr Heim zu öffnen. Und ihr Herz.“
Hannah atmete hörbar aus. „Mein Dad …“
„Wird sich einkriegen, sobald das Baby da ist“, prophezeite Joe. Dieser neue, verletzliche Zug in ihrem hübschen Gesicht gefiel ihm gar nicht.
„Glaubst du wirklich?“ Sie sah ihn forschend an.
Nach all seinen eigenen Erfahrungen? Wenn Joe ehrlich gewesen wäre, hätte seine zynische Seite gesiegt, und er hätte … Nein gesagt. Aber ein Nein war nicht das, was Hannah jetzt brauchte.
„Sicher“, entgegnete er stattdessen. Und das musste vorerst ausreichen.
„Das kann nicht sein“, empörte sich Hannah, der die Frustration deutlich anzusehen war. Sie lehnte sich an die marmorne Theke der Rezeption – wie um Halt zu suchen, während der Englisch sprechende Hotelangestellte noch einmal die Reservierung im Computer überprüfte.
Vierunddreißig nervenzehrende Stunden hatte die Reise gedauert, bis sie das Fünf-Sterne-Hotel in Taipei erreicht hatten. Hannah war so müde, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, einem sauberen Pyjama … und einem gemütlichen Bett.
Sie hielt Zeige- und Mittelfinger deutlich in die Höhe. „Ich habe zwei Zimmer reserviert. Nicht eins.“
Der Mann am Empfang wirkte verwirrt und verlegen. Noch einmal studierte er den Bildschirm, kniff die Augen zusammen und sagte dann sehr langsam, jede Silbe betonende: „Zwei Erwachsene.“ Er nickte höflich. „Zwei Betten.“
„Zwei Erwachsene, zwei Betten, zwei Zimmer“, verlangte Hannah. „Ich brauche zwei Karten“, betonte sie und wedelte mit der elektronischen Schlüsselkarte, die sie bereits erhalten hatte.
Der Mann blickte sie bloß entgeistert an.
Joe dagegen wirkte gelassen. So, als ob er bereits damit gerechnet hätte, dass bei einer Reise dieses Ausmaßes Pannen passieren könnten. Er kam Hannah zu Hilfe und wandte sich in fließendem Mandarin-Chinesisch an den Hotelangestellten. Dieser schien sich deutlich zu entspannen.
Zwei Minuten verstrichen, während die beiden sich höflich – und für Hannah völlig unverständlich – auf Chinesisch unterhielten. Daraufhin sah Joe sie an. „Die Adoptions-Agentur hat für jede ‚Familie‘, die sich angemeldet hat, ein Zimmer gebucht. Da du offenbar nach getrennten Betten gefragt hast, haben sie uns ein Zimmer mit zwei Doppelbetten besorgt.“
Nachvollziehbar. Irgendwie. „Können wir noch ein Zimmer bekommen?“, fragte Hannah dennoch.
Joe schüttelte den Kopf. „Das Hotel ist für den Rest des Sommers komplett ausgebucht. Wir könnten es in einem anderen Hotel versuchen, aber da besteht wohl wenig Hoffnung. Die schönen Unterkünfte sich schon vergeben.“
Hannah ließ den Kopf in den Nacken fallen. Nach einer vierstündigen Autofahrt zum internationalen Flughafen in El Paso, einer zweistündigen Warte- und Eincheck-Zeit, sechsundzwanzig Stunden im Flieger und schließlich drei weiteren Stunden vom Flughafen Taipei bis hier fühlte sie sich mehr tot als lebendig.
Joe war während des Fluges hin und wieder eingeschlafen, doch Hannah war viel zu aufgeregt gewesen.
„Ein Zimmer ist in Ordnung“, sagte Joe.
Sich mit Joe ein Zimmer teilen zu müssen, verlieh der Reise eine Intimität, mit der sie nicht gerechnet hatte. „Aber …“, begann sie zu protestieren.
Zum ersten Mal zeigten sich auch in Joes Gesicht winzige Fältchen der Erschöpfung. „Wir werden es überleben, Hannah. Außerdem werden alle Familien, die wegen einer Adoption angereist sind und mit deiner Agentur gebucht haben, auf der fünften Etage wohnen. Du wirst also ohnehin hier im Hotel sein müssen, wenn die Babys morgen Nachmittag gebracht werden.“
Hannah wusste, dass er recht hatte. Sie musterte sein Gesicht. Immerhin hatte auch er sich diese Reise anders vorgestellt. „Es tut mir wirklich leid.“
Er nahm beide Koffer auf und strebte den Aufzügen entgegen, vorbei an dem spektakulären Springbrunnen aus Marmor, der die Hälfte der Lobby einnahm. „Ich wünsche mir nichts als eine Dusche und einen Platz zum Schlafen“, ließ Joe sie wissen. „Alles andere wird sich finden.“
Zu Hannahs endloser Erleichterung war ihre Unterkunft wunderschön und luxuriös. Das Zimmer war sehr großzügig geschnitten und bot eine breite Fensterfront, dank der man eine unglaubliche Aussicht auf die Stadt hatte. Die breiten Betten waren mit blütenweißen Bezügen versehen, Bettzeug und Kissen sogar mit Daunenfedern gefüllt. In der Suite gab es außerdem einen Plasma-Fernseher, einen Schreibtisch und natürlich Internetverbindung.
Im angrenzenden Badezimmer befanden sich zwei Waschbecken, eine Dusche mit Marmorsockel und eine Badewanne.