Hans - Nie mehr Schule! - Heike Bahr - E-Book

Hans - Nie mehr Schule! E-Book

Heike Bahr

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Beschreibung

Mein Name ist Hans Hampel. Ein blöder Name, ich weiß. Doch das ist nicht mein größtes Problem. Meine ganze Welt ist momentan Chaos, und am meisten nervt mich Mathe. Ich habe schon eine tiefe Frustrille in meinen Schultisch geschnitzt. Echt, ich weiß ja vielleicht nicht viel. Aber wenn ich etwas ganz genau weiß, dann, dass mich eine Sache sehr glücklich machen würde: Nie mehr Schule! Das klingt so verführerisch-toll, wie mein Lieblingsdöner schmeckt!

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🙂 Für alle, die einmal Schülerinnen und Schüler waren, und für alle, die es gerade sind.🙂 Außerdem in dankbarer Erinnerung an alle Mathelehrerinnen und Mathelehrer, die viele Jahre gute Nerven mit mir hatten, und für meine Eltern, denen die Schule immer wichtig war, die uns Kindern aber auch den Freiraum für Hobbys gegeben haben.🙂

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1: DIE PERFEKTE RILLE

KAPITEL 2: DIE SUPER-OMA

KAPITEL 3: TREIBHOLZ

KAPITEL 4: KÜNSTLER UNTER SICH

KAPITEL 5: DER ZWILLINGSPUNK

KAPITEL 6: SPIESSERVATER HEINZ

KAPITEL 7: MÜLLER UND MAREIKE

KAPITEL 8: DAS KUNSTPROJEKT

KAPITEL 9: ENDLICH WOCHENENDE!

KAPITEL 10: DIE TURBAN-FRAU

KAPITEL 11: NÄCHTLICHE VERWIRRUNG

KAPITEL 12: WEITERE RÄTSEL

KAPITEL 13: ZUCKERTOTENKÖPFE UND BRATKARTOFFELN

KAPITEL 14: DER BÜCHERFLUCH

KAPITEL 15: AB IN’ S FREIBAD!

KAPITEL 16: GUNNAR UND DAS LEBEN AUF DEM MARS

KAPITEL 17: SCHRECKLICHE ERINNERUNGEN

KAPITEL 18: SOMEWHERE OVER THE RAINBOW

KAPITEL 19: PARALLELWELT

KAPITEL 20: LEIDER MONTAG!

KAPITEL 21: MÜLLER MACHT MUSIK.

KAPITEL 22: ICH UND MEINE GROSSE KLAPPE

KAPITEL 23: MOTZENDER MÜLLER UND VERQUALMTE FREIZEIT

KAPITEL 24: TEURE MATHESTUNDEN UND EIN ÜBLES GESTÄNDNIS

KAPITEL 25: EIFERSUCHT

KAPITEL 26: URLAUBSPLÄNE

KAPITEL 27: SCHWIMMTRAINING

KAPITEL 28: MÜLLER MISCHT AUF.

KAPITEL 29: VANILLEEIS MIT BUNTEN STREUSELN

KAPITEL 30: 10 REGELN FÜR EIN FAST ERFÜLLTES LEBEN

KAPITEL 31: WAS IST MODERN?

KAPITEL 32: SCHRÄGE TRÄUME

KAPITEL 33: MIST GEBAUT.

KAPITEL 34: HANS – DAS LEBEN GEHT WEITER.

KAPITEL 35: NIE MEHR SCHULE!!!

KAPITEL 1

DIE PERFEKTE RILLE

(ÜBER KUNST LÄSST SICH BEKANNTLICH (NICHT) STREITEN.)

Mein gequälter Blick fällt auf die Wand hinter dem Lehrerpult. Der Minutenzeiger der Uhr scheint sich in der vergangenen Stunde viel langsamer als sonst bewegt zu haben. »Wann ist diese verdammte 6. Stunde endlich aus?«, denke ich, wobei mir ein lautes Gähnen herausrutscht. Ich halte in der Arbeit an der perfekten Rille in meinem Tisch inne, lege mein Tatwerkzeug, eine unscheinbare Münze, darauf ab und werfe einen kurzen, völlig genervten Blick nach hinten. Mareike schaut mich an, nickt mir verständnisvoll zu und streicht sich lächelnd durch ihre roten Locken. »Keine Sorge, Hans. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Keine Sorge, gleich erlöst uns der Gong«, soll ihr beruhigender Blick heißen.

Wir befinden uns am Ende des letzten Jahrhunderts und gleichzeitig am Ende des letzten Jahrtausends. Klingt schon irre lange her? Setzen wir noch eins drauf. Wir befinden uns nicht nur in einer anderen Zeit. Wir befinden uns auch an einem anderen Ort. Wir sind in einem dieser weißgestrichenen, langweiligen Klassenzimmer an einer ganz normalen norddeutschen Schule. Na ja, ganz normal ist sie doch nicht. Zumindest nicht für mich und Mareike, denn das hier ist unsere Schule und wir verbringen eine Menge Zeit an diesem seltsamen Ort. Zu viel Zeit, wenn man mich fragt. Aber mich fragt ja keiner.

Mareike ist im Unterricht fast immer hellwach, und ich, zugegebenermaßen, weitaus weniger wach als die Streberbacke.

Ach, wenn ich es mir genau überlege, dann ist das, wovon ich erzählen möchte, eigentlich gar nicht so lange her, denn Zeit ist ja bekanntlich relativ, und manche Dinge, gerade die, die die Schule angehen, ändern sich wohl auch nie. Außerdem ist das Tolle an Büchern, dass hier alles möglich ist, und das bedeutet, dass diese Zeit nicht bereits vergangen ist, sondern jetzt mit diesen ersten Seiten der Erzählung gerade erst beginnt und mit dem Lesen fortschreitet und ich wieder genauso sein darf, wie ich es damals war. Nur 1,90 m groß, 17 Jahre jung, mit blonden, langen Haaren. Aber wenn wir schon gerade bei meinem Äußeren sind, das Beste an mir sind sicher meine blauen Augen. Wenn ich die nicht hätte, wäre ich optisch vermutlich nur der halbe Hingucker. Nein, ehrlich, meine hellen Augen sind ganz cool, ich mag sie, sie sind so ein bisschen wie bei Terrence Hill, superblau eben. Der Rest von mir ist groß und schlaksig, meine langen Glieder passen gar nicht auf den kleinen Holzstuhl, auf dem ich jeden Tag gefühlt endlos Zeit verbringen muss. Diese kleinen Holzstühle sind definitiv einer der Gründe, warum ich hier endlich raus muss. Sie wachsen einfach nicht mit mir mit, sind echt üble Holzklasse. Da sitzt man in der Bahn am Boden besser! Und natürlich Mathe. Mathe ist auch ein Grund! Ich hasse Mathe! Ach was, Mathe hasst mich. Ich glaube, die Welt der Zahlen ist nur gemacht worden, um mich zu quälen. Nun, nicht nur mich, um ehrlich zu sein, sondern auch viele Millionen weiterer armer Teufel wie mich.

Später, viel später, ich war längst nicht mehr 17, kam irgendwann das Lied »Mathe ist ein Arsch« von FreshTorge raus. Kaum ein Poet hat mir je so aus meiner Seele gesprochen wie dieser Typ. Weiß gar nicht, warum ich das Lied nicht selbst erfunden, sondern ihm das überlassen habe. Aber vielleicht war ich zu dieser Zeit mal wieder mit etwas anderem beschäftigt.

Aber zurück in mein Klassenzimmer des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Noch immer gongt es nicht, die Mathestunde dümpelt nur so dahin und ich säge weiter vor lauter Mathefrust an meinem armen Tisch, während mein Mathelehrer mir den Rücken zugedreht hat und unablässig mit Kreide die Tafel von oben bis unten mit Zahlen und Zeichen beschmiert.

Ich arbeite also an meiner geliebten Rille in meinem Schultisch, die einzige Meditation, die mir hier bleibt, weil mein Mathelehrer Brandstätter schon längst mein Getuschel mit meinem Banknachbarn unterbunden hat. Sein Matheunterricht ist so öde! Ich frage mich manchmal wirklich, wie er selbst dabei wach bleiben kann. Ich jedenfalls falle vor Müdigkeit fast vom Stuhl, selbst wenn ich an meinem Tisch schnitze oder im Kopf auf meiner schwarzen E-Gitarre spiele.

Erneut gähne ich inbrünstig. Kann er nicht wenigstens ein einziges Mal ein paar Minuten früher aufhören? Mein Rücken und mein Po schmerzen inzwischen auf diesem schrecklich kleinen Holzstuhl und ich habe meine dünnen, langen Beine deshalb weit ausgestreckt. Dadurch hat sich mein Gesäß weit auf dem Stuhl nach vorne geschoben. Einem Außenstehenden muss es wie ein Wunder vorkommen, dass ich in dieser Position nicht vom Hocker falle. Doch was wie ein Wunder aussieht, ist jahrelange Übung. Die Haltung ist bombenfest, und ein Erdbeben, das daran noch etwas ändern könnte, ist in diesen nordeuropäischen Breiten glücklicherweise nicht zu erwarten.

Auf diese Weise verbringe ich nun bereits das zweite Jahr bei meinem Mathelehrer Herrn Brandstätter in der ersten Bankreihe. Wie immer versuche ich nicht, mein Gähnen zu unterdrücken. Wozu auch? Brandstätter weiß sowieso, dass Zahlen nicht meine Welt sind. Wofür soll ich dem Mann dann noch etwas vorspielen? Der Typ übersieht mein flegelhaftes Benehmen ja doch. Er mag es nicht, wenn ich mit meinem Nachbarn tuschle, nein, das nicht, da fährt er schon dazwischen. Aber Brandstätter lässt mir ansonsten meist meine Ruhe. Er weiß, dass ich ein mathematischer Volltrottel bin. Mit so dummen Kerlen hält er sich vielleicht einfach nicht gerne auf. Oder er ist auch einfach nur blind. Ich säge jedenfalls gemütlich hinter seinem Rücken weiter an meinem Tisch. Wie gesagt, entweder der Typ ist blind und taub oder es ist ihm einfach nur egal, was hier gerade bei mir abgeht. Dabei ist Brandstätter nicht immer so harmlos, wie er gerade tut. Im Gegenteil, es gehen ein paar Geschichten an unserer Schule rum, in denen er mit seinen cholerischen Anfällen nur so glänzt.

Ich weiß, dass Mareike mich mag. Aber sie hat mir schon mehrfach gesagt, dass sie es nicht fair findet, dass Brandstätter mich machen lässt, was ich will, und ich weiß auch, dass sie noch immer darauf hofft, ich würde mal vom Stuhl fallen und ihr ein wenig Lehrertheater gönnen. Echt, sie mag mich wirklich. Wir sind schon Jahre best friends, aber in dem Punkt geht sie sich selbst vor. Sie würde mir und sich tatsächlich gönnen, dass Brandstätter mich vor allen zur Schnecke macht, weil ich wie ein armes, zu groß geratenes Kindergartenkind vom Stühlchen purzle.

Da aber auch in dieser Stunde keine Reaktion von Brandstätter zu erwarten ist, setze ich also emsig meine Arbeit am Tisch fort. Die Kerbe in der Platte, die halb vom Matheheft verdeckt ist, ist schon ganz ansehnlich. Noch fast ein Jahr bis zu den Abiturprüfungen. Das ist genug Zeit, mein Werk so weit fortzusetzen, dass in dem Jahrgang danach ein ebenso gelangweilter Schüler sich angeregt fühlen wird, diese großartige Rille noch weiter auszuarbeiten. Damit wird dieses Meisterwerk ein weiteres Talent heraufbeschwören, und, was mir noch besser gefällt: Der Schüler, der nach mir an meinem Werk weiterarbeiten wird, wird sich sicher fragen, wer es gewesen ist, der dieses großartige Kunstwerk als Kampfansage gegen unvermeidbar langweiligen Unterricht begonnen hat. So wird sich die Tradition dieses Rillen-Kunsthandwerks fortsetzen und die damit verbundene Frage, wer als Erster auf die Idee dieser fast schon steinzeitlichen Tradition der Rillenkunst gekommen ist. Wer war es, der es zuerst gewagt hat, heimlich sein Taschenmesser zu zücken, um eine tiefe Kerbe in den noch jungfräulichen Holztisch zu ritzen, die wiederum andere auf die glorreiche Idee brachte, seine Arbeit mit einer kleinen, harmlos anmutenden Münze oder einem Geodreieck fortzusetzen?

Das ist tatsächlich eine Frage, die auch ich mir in den letzten schier endlos erscheinenden Monaten in Brandstätters Mathekurs schon oft gestellt habe, zumal auch ich nicht der erste Schüler gewesen bin, der an dieser perfekten Rille im Tisch gearbeitet hat, und zumal auch ich den Vorgänger dieser Rille nicht kenne.

Wann ist diese verdammte 6. Stunde endlich aus? Ich, Hans Hampel, halte in der Arbeit an der perfekten Rille in meinem Tisch inne, lege die Münze darauf und werfe einen kurzen, völlig genervten Blick nach hinten. Mareike schaut mich an, nickt mir verständnisvoll zu und streicht sich lächelnd durch ihre roten Locken.

Moment! Hatten wir das nicht gerade schon einmal? Nun, diese Mathestunde ist wohl tatsächlich langweilig und scheinbar endlos. Aber es besteht ja noch Hoffnung. Denn sicher gibt es auch heute ein Leben nach dem Matheunterricht?

»Eine schöne Furche, die du da machst«, raunt Mareike mir zu und betrachtet anerkennend meine perfekte Rille. Na ja, zu sicher darf man sich da auch nicht sein, vielleicht ist es ja doch keine echte Anerkennung, die in ihren Worten mitschwingt. Vielleicht ist es eher ein kleiner Anflug von Ironie oder gar Sarkasmus. So genau kann man das bei ihr nicht wissen. Da ich ihr nicht traue, sage ich tadelnd: »Nenne dieses Kunstwerk nicht Furche. Das klingt so profan. Das hier ist die perfekte Rille. Solch eine perfekte Rille gibt es in der ganzen Schule nicht noch einmal. Vielleicht nicht einmal in unserer ganzen großen Stadt, und die hat sicher an die 40 Schulen und damit wahrscheinlich so 400 Klassen oder auch viel mehr und mehr als 1000 Tische, vielleicht auch 2000 oder 3000, was weiß ich. Ich habe sie ja nicht gezählt. Jedenfalls ist so eine perfekte Rille schon eine ganz gute Leistung. Also nenne sie bloß nicht noch einmal Furche, Mareike. Das hier ist weitaus mehr als nur eine kleine, harmlose Furche. Das hier ist die ultimative Kampfansage an diesen schier endlosen, langweiligen Mathekack. Das hier ist Kunst und Meditation zugleich. Eine Form der inneren Emigration vermutlich. Ach, was weiß ich denn. Ich bin ja kein Psychologe.«

In meinen Worten schwingt kindlicher-trotziger Stolz mit, und wüsste man nicht, dass ich schon kurz vor dem Schulabschluss stehe, und würde man mich nicht sehen, groß und schlaksig, wie ich nun mal bin, und mich nur hören, wie ich meine perfekte Rille verteidige, so würde man mich gerade für sehr viel jünger halten, als ich es mit meinen 17 eigentlich schon bin.

Mareike sieht mich lächelnd an. In diesem Moment weiß ich wieder ganz genau, warum ich sie so mag. Es ist dieser Blick, der mir sagt, dass ich ihr bester Freund bin, dass es keinen gibt, der so cool ist wie ich. Und ich glaube, dass sie die perfekte Rille in der Tiefe ihres Herzens genauso sehr für Kunst hält, wie ich das tue. Sie schaut mich an und denkt sicher gerade, dass meine Rille im Grunde doch richtig klasse ist und dass sie noch nie einen so obercoolen Typen wie mich mit so vor Begeisterung strahlenden, großen und hellblauen Augen gesehen hat, und sie fragt sich zudem sicher zum bereits hundertsten Mal, wie ein Mensch nur solche Augen wie ich haben kann. »Blau«, denkt sie bestimmt verträumt. »Sie sind hellblau wie das Meer an dem schönsten aller Sonnentage. Wie kann jemand so freundlich-schöne Augen wie Hans haben und so ein völlig irres Gehirn?« Und diesmal ist das, was Mareike denkt, sicher durchaus ernst gemeint und kein bisschen ironisch.

Denn tatsächlich, mein Wahn mit der perfekten Rille ist noch harmlos, verglichen zu dem, was ich sonst noch so treibe. Ich habe manchmal eine Menge Blödsinn im Kopf. Aber vielleicht muss das ja auch so sein. Ich gehöre eben zu den kreativen Menschen, nicht zu den Mathespießern wie Brandstätter. So Menschen wie ich können eben nicht immer völlig normal sein. Das liegt einfach nicht in unserer Natur.

Mareike denkt gerade vielleicht das Gleiche wie ich, denn sie muss grinsen. Gerade sieht sie mich vermutlich in ihrem inneren Auge als Siebtklässler vor sich. Meine blonden Haare sind noch nicht ganz so lang wie heute, und auch sonst sehe ich natürlich einige Jahre jünger aus als mit 17.

In ihrer Erinnerung sieht Mareike Taller, den Lateinlehrer unserer damaligen Klasse, der 7 a, zur Tür hereinkommen. Mist! Er hat einen riesigen Stapel Blätter bei sich! Der Lehrer will doch nicht etwa eine unangesagte Lateinprobe in unserer Klasse schreiben? Doch, das will er!

In Mareikes Erinnerung sieht sie, wie ich einen riesigen Schreck bekomme. Das kann Taller nicht machen. Ich, Hans Hampel, habe doch gar nicht gelernt. Gestern war schließlich Sonntag! Welcher Schüler lernt schon an einem Sonntag? Nun gut, Mareike vielleicht, und mein Freund Gunnar ganz sicher auch, aber sonst doch wohl keiner, oder? Ich ganz sicher nicht! Man kann doch an einem Montag keine Prüfung schreiben! Ist das überhaupt erlaubt? Ein Test nach dem schönen Wochenende, an dem man die Schule einmal so gut vergessen konnte? Das geht doch wirklich gegen alle guten Sitten! Diesem Taller-Typen gehört die Lehrerlizens entzogen! Oder hat er die gar nicht? Vielleicht hat er sich hier illegal eingeschmuggelt und ist gar kein echter Lehrer?

In Mareikes Gedanken springe ich beim Anblick des Lehrers mit den Lateinarbeiten von meinem Platz auf. Bei dem Platz handelt es sich übrigens um den gleichen glitzekleinen hölzernen Stuhl, auf dem ich auch Jahre später noch sitzen muss. Schülerstühle wachsen nicht mit, dafür hat der Staat kein Geld! Vielleicht sollte ich später mal Geld für coole Stühle spenden, falls ich noch reich werde.

Also wo war ich? O.K., ich bin in Mareikes Erinnerung also in der 7. Klasse und springe auf, weil Taller mit den unangesagten Lateinarbeiten kommt. Latein ist übrigens auch so ein Fach, dessen Nutzen ich immer angezweifelt habe. Aber egal, das tut jetzt nichts zur Sache. Alle denken zunächst, dass ich beim Anblick der Probe aus dem Klassenzimmer fliehen möchte. Auch Mareike! Doch das mache ich nicht. Nein, natürlich nicht. Schließlich bin ich kein Feigling! Auch schon damals in der 7. Klasse nicht!

Im nächsten Moment sieht es dann so aus, als würde ich dem Lateinlehrer tatsächlich beim Austeilen der Arbeiten helfen wollen. Nein, so weit geht meine Menschenliebe in so einem Moment der Panik nun auch wieder nicht.

In Wahrheit nehme ich Taller die Prüfungen einfach ab, doch auch nur, um die Blätter sofort in die Höhe zu werfen, woraufhin sie fröhlich zu Boden segeln, was ein wahrlich schöner Anblick ist! Und ich weiß nicht, was mich plötzlich für eine Woge der Poesie ergreift, aber ich kann nicht anderes, ich muss singen. Laut und lauter und aus voller Kehle und mit ganz viel Inbrunst und Leidenschaft entfährt mir ein bekannter Werbeslogan, der momentan dauernd irgendwo zu hören ist: »Müllermilch, Müllermilch, Müllermilch, die schmeckt! Müllermilch, Müllermilch, die weckt, was in dir steckt …«

Alle Prüfungen liegen nun am Boden. Und während die Klasse mich jubelnd und johlend feiert und einfach nur riesigen Spaß hat, weil ich genau das getan habe, was sich fast alle anderen so gerne auch getraut hätten, macht Lateinfreak Taller ein Schlechtwetter-Gesicht, das wütender nicht sein könnte. So ein unverschämter Mensch, dieser Hans Hampel! Was für eine bodenlose Frechheit! Dieser Junge spinnt ja völlig! Ja, stimmt, das tue ich! Aber spinnt dieser Mann nicht mindestens genauso, weil er einen sowieso schon höllischen Montag in einen grausam-höllischen Montag verwandelt?

Hoffentlich denkt Mareike gerade nicht an den Rest der Müllermilch-Geschichte. Das Ende war nämlich nicht so toll. Es ist kein Geheimnis, dass mein Plan leider nicht aufgegangen ist. Das spontane Projekt »Müllermilchlied-stoppt-die Lateinarbeit« scheiterte. Ich bekam einen Verweis wegen »Störung des Unterrichts« und musste die Lateinarbeit genauso schreiben wie alle anderen auch. Zumal mein Vater schon damals an der benachbarten Schule Latein- und Deutschlehrer war und sowohl den Verweis als auch das Schreiben der Arbeit aus voller Überzeugung und zu ganzen 100 Prozent befürwortete. »Der alte Spießer!«, war mein einziger enttäuschter Kommentar über meinen Vater Heinz Hampel gewesen, ansonsten hatte ich versucht, den besagten Montag zu vergessen und nie wieder mit jemandem über den traurigen Ausgang meiner gescheiterten Latein-Revolution gesprochen.

Mareikes Lächeln verschwindet mit einmal aus ihrem hübschen Gesicht. Ernst betrachtet sie mich nun. Was sie wohl gerade wirklich denkt? Ihr Blick fällt erneut auf die tiefe Furche in meinem Tisch. »Die perfekte Rille? Echt, Junge, schaff du erst einmal dein Abitur«, mahnt sie auf einmal besorgt. Vielleicht hat sie plötzlich Angst, dass nicht nur das Müllermilch-Projekt, sondern auch das Abi an meinem Irrsinn scheitern könnte. In jedem Fall klingt sie auf einmal wie ihre eigene Mutter. Das nervt! Sorgenvoll fügt sie sogar noch hinzu: »Nach dem Schulabschluss kannst du noch so viele perfekte Rillen machen, wie du willst, Hans.«

Ich höre auf zu lächeln. Das begeisterte Funkeln in meinen hellblauen Augen erlischt. Ich hasse es, wenn Mareike so ernst wird und einen auf Vernünftig macht. Mensch, wie das nervt, wenn sie so furchtbar erwachsen tut.

»Bleib cool«, erwidere ich daher nur und bleibe stur. »Das ist meine erste und letzte perfekte Rille an diesem furchtbaren Ort. In ein paar Monaten ist die Zeit der Langeweile vorbei und damit auch meine Rillenkunst. Adiós Amigos! Hallo Freiheit! Bis dahin musst du meinem künstlerischen Treiben zusehen und schweigen. Ob du willst oder nicht! Schließlich bin ich dein Freund. Schluss mit der Diskussion. Ende. Aus.«

Wie aufs Stichwort ertönt der Gong. Ein Uhr. Uff. Mathe vorbei. Schule aus. Ein erleichtertes Stöhnen geht durch den Raum. – Am lautesten von allen stöhnt Brandstätter. »So, das war es für heute«, schließt er sichtlich erfreut die Stunde. »Macht heute Nachmittag die Aufgabe fertig. Wir sehen uns morgen wieder.«

»Welche Aufgabe?«, frage ich Mareike.

Mareike schüttelt genervt den Kopf und reicht mir ihr Heft: »Du machst mich noch wahnsinnig, Hans. Ich glaube, ich werde am Tag der Mathe-Abiprüfung vor Angst vor deinem Untergang sterben, so überzeugt werde ich davon sein, dass du durchfällst.«

Ich gebe mich besser betont selbstsicher, bevor ich noch über ihre Worte nachdenken muss. »Durch das Abi durchfallen? Ach, quatsch! Tu ich doch gar nicht«, sage ich lässig.

»Das sagst du jetzt, weil die Prüfung dir noch so weit weg erscheint. Aber was, wenn doch? Glaubst du, es bleibt die perfekte Rille, wenn du noch einmal ein Jahr an ihr weiterschnitzen musst? Du wirst dabei allerhöchstens den Tisch durchsägen.«

Ich stehe auf und greife nach meinen Sachen. »Mädchen, mach dir keine Sorgen«, sage ich charmant lächelnd. »In ein paar Monaten haben wir es hinter uns, und dann schmeißen wir gemeinsam die Mathehefte ins Feuer. Ich sehe uns bereits mit dem Besen darüber fliegen. Hast ja schon die passende Haarfarbe dafür, Mareikelein.«

Neckend greife ich in Mareikes Locken, zieht an einer ihrer roten Haarsträhnen und lasse sie nicht mehr los. Dabei lache ich schelmisch.

Kurz scheint Mareike zu überlegen, ob sie mir auch an meinen langen, blonden Haaren ziehen soll, doch dann hält sie sich zurück. »Warum kann ich dir nie böse sein?«, fragt sie stattdessen kopfschüttelnd und strahlt mich an, während sie sich geschickt aus meinem Griff befreit.

»Das liegt an meinen wunderschönen blauen Augen, my darling«, erwidere ich und ziehe dabei das süßeste Lächeln aus dem Hut, das ich auf Lager habe.

»Deine Arroganz ist definitiv mein Fehler«, grübelt Mareike daraufhin laut vor sich hin. »Ich hätte dich nie im Leben für deine tollen Augen loben sollen. Du hast ja schließlich nichts dafür geleistet, dass du sie hast. Und überhaupt sollte man Jungen nie für ihr Äußeres loben. Das packen die einfach nicht!«

Ich muss grinsen, antworte ihr aber nicht, sondern werfe noch einen letzten, kurzen, prüfenden Blick auf meine perfekte Rille, befördere mein Tatwerkzeug mit einer Hand in die Höhe und fange die Münze mit derselben Hand geschickt wieder auf. Auch das ist das Resultat jahrelanger Übung.

»Du bist ein Idiot«, raunzt Müller mich an, als ich pfeifend an dem Mitschüler vorbei zur Tür gehe. Er hasst mich seit der siebten Klasse, weil er sich noch immer einbildet, dass ich ihn mit dem Müllermilch-Lied gemeint habe und ihn damit hatte ärgern wollen. Dabei weiß ich ganz genau, dass Müller mit dem Müllermilchkonzern weder verwandt noch verschwägert ist. Ich bin doch nicht doof! Aber ich muss zugeben, dass ich es schon witzig finde, dass es ein Lied mit seinem Namen gibt, weil ein Hampel-Lied, das gibt es, glaube ich nicht.

Als ich nicht gleich auf seine Sticheleien reagiere, wiederholt Müller noch einmal: »Du warst schon immer ein Idiot, Hans Hampel. Das besagt schon dein alberner Name. Hampel, Hampel, Hampel! Wie kann man nur so heißen? Total bescheuert. Einmal Idiot, immer Idiot. Du bist als Idiot geboren, und du wirst als Idiot sterben. Seit ich dich kenne, bist du ein Vollidiot.«

Ich merke, wie es in mir brodelt, doch ich reiße mich zusammen und entscheide mich für ein breites, freches Grinsen. »Ich weiß. Ein Idiot. Das bin ich wohl«, sage ich erst lachend, doch dann wird meine Stimme schlagartig ernst und drohend. »Aber du bist ein noch größerer Idiot, Müller, wenn du glaubst, dass du mich kennst!«

*

»Was wollte der Kerl von dir?«, erkundigt sich Mareike neugierig, während wir gemeinsam zum Bus der Linie 5 gehen.

»Ach, nichts«, antworte ich. »Von mir will der gar nichts. Ich glaube, der will eher etwas von dir.«

Mareike schüttelt verärgert den Kopf: »Dieser Schönling von Müller. Arroganter Kerl. Der glaubt, er kann sie alle bekommen, nur weil er so gut aussieht und dazu auch noch Geld wie Heu hat. Glaub mir, Hans, der Müller könnte mich nicht einmal haben, wenn er der einzige noch lebende Mann auf dieser Erde wäre. Was für ein Idiot!«

»Du sagst es«, stimme ich ihr zufrieden zu. »Ganz meine Meinung. Er ist ein echter Idiot!«

*

Im Bus sitzen wir schweigend nebeneinander, bis Mareike aussteigen muss. »Kommst du heute Nachmittag noch in die Blattlaus?«, fragt sie und strahlt mich dabei an. »Auf einen Kaffee oder eine Cola?«

Ich schüttele den Kopf. »Tut mir leid, heute nicht. Lass uns das am Freitag machen«, schlage ich stattdessen vor. »Ich muss mein Kunstprojekt noch fertigbekommen.«

Und damit meine ich ausnahmsweise mal nicht meine perfekte Rille, sondern ein ganz legales Kunstwerk für meinen Leistungskurs. Mareike bohrt nicht weiter. Sie ist selbst eine ziemlich fleißige Schülerin und ich denke, sie ist froh, dass ich wenigstens ab und zu auch einmal etwas ernst nehmen kann und mein Leistungskurs Kunst gehört definitiv dazu. Kunst ist neben Mareike vielleicht sogar der einzige Grund, warum ich noch Zeit auf diesem kleinen Kinderholzstuhl verbringe und Brandstätter nicht längst einen Abschiedsbrief geschrieben habe und mich aus meiner kalten norddeutschen Stadt in die Karibik abgesetzt habe.

Mareike steigt wie immer vier Stationen vor mir aus. Wie immer schaue ich raus, wenn sie an meinem Fenster vorbeigeht, wie immer winkt sie, wie immer winke ich zurück. »Sie wird mir fehlen nach dem Abi, wenn wir nicht mehr gemeinsam zur Schule gehen. Wer weiß, wie oft wir uns dann noch sehen«, denke ich, während sie mir und dem abfahrenden Bus nachsieht. Als ich merke, wie meine Brust dabei bedenklich zu drücken beginnt, erschrecke ich und schiebe den seltsamen Gedanken schnell beiseite.

KAPITEL 2

DIE SUPER-OMA

(KEINE ÜBERTREIBUNG. SUPERMAN GIBT ES SCHLIESSLICH AUCH.)

Die vier letzten Stationen ohne Mareike sehe ich jedes Mal aus dem Fenster des Busses. Die Großstadt zieht an mir vorbei. Nicht irgendeine Großstadt, meine ganz eigene Großstadt. Diese riesige Stadt, die weit im Norden liegt und die direkt hinter der langen Einkaufsstraße in der Innenstadt einen Deich hat. Dort kann man am Ufer entlanggehen und auf das breite Wasser des Flusses blicken, der irgendwo in die Nordsee mündet. Und auch wenn man eigentlich an einem Fluss langspaziert, so hat man doch das Gefühl, man ist bereits direkt am Meer, obwohl man doch eigentlich mitten in der riesigen Stadt ist und nur ein paar Meter von den Geschäften und den Museen entfernt, und obwohl das Gefühlte-Meer eigentlich nichts wirklich anderes als nur ein breiter Fluss ist.

Wie so oft fahre ich also auch heute mit dem Bus von der Schule nach Hause. Die Linie Fünf fährt vorbei an immer denselben Häusern, vereinzelten Bäumen und an dem ein oder anderen Menschen. Ich habe immer das gleiche Bild vor der Nase! Jeden Tag morgens und mittags dieselbe Busstecke, dieselben Straßen. Das ist manchmal fast so eintönig wie der Matheunterricht.

Tief atmete ich ein. Es ist seltsam. Es ist wirklich immer das Gleiche. Langweilig eigentlich. Aber dennoch ist das alles auch irgendwie Heimat, und ich ahne, dass ich es irgendwann weitaus mehr als den Matheunterricht vermissen werde. Doch ist es nicht dennoch besser, schnell von hier wegzugehen, bevor auch diese Straßen hier mich irgendwann genauso sehr langweilen werden wie Brandstätters eintöniger Unterricht? Ich kann ja schlecht vor lauter Langeweile Rillen in die Straßen schnitzen.

Bei dem Gedanken daran wird mir erneut ganz trüb. »Wie planlos kann man sein, Hans Hampel?«, frage ich mich. »Wo geht deine Reise hin? Irgendwann solltest du wissen, was du vom Leben willst, denn sagen tut dir das offensichtlich keiner.«

Dann bin ich da, weit weg von der Schule und der Innenstadt, wieder in seinem Stadtteil, der nicht das Nobelviertel des Ortes ist, in meiner Straße, die sich fast so lang streckt wie die riesige Einkaufsstraße im Zentrum. Das graue Hochhaus, in dem ich wohne, ragt mit seinen elf Stockwerken weit über all die anderen Häuser des Stadtviertels. Noch höher als ich in meinen Kursen über meine Mitschüler. Viel höher. Dieses Hochhaus ist wahrlich ein Turm verglichen zum Rest der kleinen Häuschen der Gegend. Nur, dass in diesem Turm nicht Rapunzel im zehnten Stock lebt, sondern ich. Aber lassen wir das, Rapunzel trägt jetzt wirklich nichts zur Erzählung bei. Mir kam nur gerade der Vergleich mit ihr in den Sinn, weil ich fast so lange Haare wie sie habe und das Hochhaus auch etwas von einem Turm hat, in dem ich sitze und meine, dass von irgendwoher ein guter Geist kommen muss, der durch mein Fenster fliegt und mir sagt, wie es mit mir weitergehen soll – oder besser noch ein Prinz.

Aber lassen wir Rapunzel und irgendwelche Fantasy – Retter aus der Geschichte raus. Wo waren wir? Ach ja, ich war ja schon bei meinem Haus angekommen. Schnell verlasse ich den Bus der Linie 5 und überquere die Straße zum Hochhaus. Im Erdgeschoss angekommen, stehe ich vor der geschlossenen Tür und krame lange in meiner Jeansjacke, dann in der Schultasche. Wo nur ist schon wieder dieser verdammte Schlüssel?

In der Luft liegt der typische Hochhausgeruch. Muffig, aber irgendwie dennoch gut. Es riecht so muffig-bekannt hier, so wie es hier schon immer gerochen hat. Ich schnaufe einmal durch, nehme eine tiefe Prise Hochhausluft, altbekannte Heimatluft, und finde den Haustürschlüssel endlich in meiner rechten Hosentasche zwischen einer Menge Taschentuchkrümel. Erleichtert stecke ich ihn ins Haustürschloss und entscheide, die 10 Stockwerke hochzugehen. Im zweiten Stockwerk halte ich kurz an, um meiner Oma Hallo zu sagen.

Die alte Frau öffnet mir erst nach dem dritten Läuten.

»Hans, du isst doch heute bei deinem Vater, oder?«, fragt die weißhaarige Dame lächelnd, aber verwundert. Dabei ist die Oma eigentlich schwer zu irritieren. Normalerweise braucht es da schon mehr.

»Weiß ich doch«, antworte ich beruhigend. »Ich wollte nur kurz Hallo sagen«.

»Dann hallo!«, strahlt meine Oma. »Magst du später zu einem Stück Kuchen kommen?«

Kuchen klingt gut. Ich nicke und murmele irgendwas von Kunstprojekt und vielleicht so gegen 17 Uhr.

Meine Oma ist die Mutter meiner Mutter. Für eine Frau von knapp 80 Jahren ist sie noch gut in Schuss. Zwar wackelt sie inzwischen häufig hinter einem Rollator hinterher, den sie möglichst würdevoll vor sich herzuschieben versucht, und auf den sie so stolz ist wie andere auf ihren neuen Porsche, aber im Oberstübchen ist sie fit. Und was noch wichtiger für mich ist, sie ist immer supernett und akzeptiert und respektiert mich genauso, wie ich bin. Ganz coole Frau. Wenn es sie nicht geben würde, man müsste sie erfinden. Erste Sahne-Oma! Echtes Goldstück, diese Frau! Gegen die darf keiner was sagen, sonst gibt es was auf die Nase!

Bei der Oma habe ich mich schon immer wohlgefühlt. Mit ihr kann man reden oder auch schweigen. Beides ist mit ihr möglich und beides ist mit ihr schön. Das kann man wirklich nicht über viele Menschen sagen. Verglichen mit der Großmutter ist mein Vater Heinz oft ein alter Spießer. Na ja, egal. Schlechtes Thema momentan. Ganz schlechtes Thema.

Die Aussicht auf ein Mittagessen treibt mich dennoch weiter. Super-Oma hin oder her, ich habe Hunger, und wenn ich Hunger habe, dann gibt es nur ein Ziel für mich: Essen.

Von irgendwoher riecht es köstlich nach Hähnchen. In so einem großen Haus riecht es immer von irgendwoher nach Hähnchen oder anderen leckeren essbaren Dingen. Gemeine Sache für jemanden wie mich, der eigentlich immer Hunger hat und dem immer gleich der Bauch knurrt, wenn er Essbares sieht oder riecht.

Schon im 5. Stock bereue ich es, dass ich morgens noch schnell den Atlas in meine Schultasche gesteckt habe. Ich habe ihn gar nicht gebraucht. Langsam wird meine Tasche richtig schwer. Kurz bleibe ich stehen, halte mich am Geländer fest und blicke die fünf Stockwerke nach unten. Das ist von hier oben wirklich ganz schön tief. Mit einmal wird mir etwas schummrig. Ob man so einen Sturz in die Tiefe überleben kann? Der Gedanke daran ist irgendwie gruselig. Schnell wende ich meinen Blick wieder nach oben.

Jedes Stockwerk in dem Hochhaus ist anders und doch wieder sehr ähnlich. Immer die drei gleich angeordneten Türen im breiten Flur, manchmal Schuhe vor dem Eingang, manchmal Kunstblumen. Ich kenne alle Namen an den Türen, auch wenn ich längst nicht allen Namen Gesichter zuordnen kann.

Der Duft nach Hähnchen bleibt in der Luft und treibt mich hoch bis in den 10. Stock. Endlich. Ich stehe an meiner Wohnungstür. Leider wird der Hähnchenduft dort nicht stärker. Ich ziehe erneut meinen Schlüssel hervor und hoffe, dass ich trotzdem gleich etwas Warmes zum Essen bekomme. Mein Magen knurrt so fürchterlich laut vor Hunger, dass selbst ein ausgewachsener Bär kein lauteres Brummen hervorbringen könnte. Es wundert mich, dass die Nachbarn nicht vorbeikommen, um nach dem Rechten zu sehen.

Als ich den schmalen Wohnungsflur unserer kleinen Wohnung betrete, ist alles ruhig. Ich rufe nach meinem Vater. Ich rufe erneut. Keiner da. Hat er vergessen, dass ich heute bei ihm und nicht bei der Oma esse? Es ist doch Donnerstag. Am Donnerstag esse ich immer bei meinem Vater zu Mittag.

Ich werfe meine Schultasche in mein Zimmer und setze mich dann in den breiten Sessel meines Vaters im Wohnraum. Mein Blick fällt auf ein kleines Bild im Bücherregal. »Mama«, denke ich, und eine schrecklich traurige Woge aus Zärtlichkeit und Sehnsucht überkommt mich. Als ich den aufkommenden Kloß im Hals zu spüren beginne, stehe ich auf und überlegt eine Weile, ob ich das Bild verstecken soll. Nur für eine Weile. Ich will das Foto nicht ganz wegtun, nur so lange vor mir selbst verstecken, bis ich den Anblick meiner Mutter wieder ertragen kann. Nach kurzem Zögern entscheide ich mich dafür, das Bild einfach umzudrehen und das Zimmer zu verlassen.

In dem Moment, als ich den engen Flur der Wohnung erneut betrete, geht die Wohnungstür auf. Mein Vater kommt mit seiner typischen ausgebeulten, alten Lehrerledertasche unter dem einen Arm und einer Tüte an der anderen Seite schwer bepackt nach Hause. »Tut mir leid«, schnaubt er so heftig, als wäre er und nicht ich die zehn Stockwerke zu unserer Wohnung hochgelaufen. Dann beschwert er sich: »Der Peters hat mir in der 6. noch eine Vertretungsstunde eingetragen. Der denkt nie daran, dass ich alleinerziehender Vater bin und am Donnerstag kochen muss.«

Schuldbewusst streckt er mir die Tüte mit einer wohlbekannten Aufschrift entgegen. Ich ignoriere das Gestöhne meines Vaters und strahle. Döner! Gute Sache! Heute ist zwar tatsächlich Donnerstag, aber der ist im Hause Hampel eigentlich selten ein Dönertag. Das sollte man schnellstens ändern. Jeder Mensch mit einem so hervorragenden Geschmackssinn wie ich hat schließlich ein Recht auf ein bis zwei bis drei bis vier … Dönertage in der Woche.

Die Mahlzeit nehmen wir schweigend in der dem Wohnzimmer gegenüberliegenden Küche ein. Ist der Flur schon eng, dann ist es die Küche mindestens genauso. Es geht vor lauter Schrankwand, Herd, Spülmaschine und Waschbecken beim besten Willen nur noch ein kleiner länglicher Tisch hinein, der direkt vor dem Fenster steht. Wenn man sitzt und aus dem Fenster blickt, ist hier im 10. Stock nur noch der Himmel über einem. Steht man aber, so kann man direkt runter auf das Blätterdach der alten Bäume des Friedhofs sehen.

Der Friedhof. Nun ja, das ist neben der oft nervigen Spießigkeit des Vaters und der lästigen Schule auch so eines von meinen momentanen Frustthemen, denn dort unten auf dem Friedhof, unter einem der besonders alten und dicken Bäume, liegt seit einigen Wochen meine Mutter. Kein Wunder also, dass ich zurzeit ein etwas angespanntes Verhältnis zu diesem Ort habe, den ich früher eigentlich immer gemocht habe, weil wir keinen eigenen Garten haben und ich dort als Kind immer gespielt habe.

Durch den Tod der Mutter aber hat dieser ehemalige Garten eine neue, ganz andere Komponente hinzugefügt bekommen. Immer bevor ich mich nun zum Frühstück, Mittagessen oder Abendessen in der Küche setze, werfe ich erst einmal einen kurzen Blick auf das Blätterdach der Bäume und denkt an meine Mutter. Ich mache das, glaube ich, nicht bewusst, oder? Irgendwie ist es so gekommen. Seit sie gestorben ist, ist das mein tägliches Ritual. Ich weiß gar nicht, ob ich es abstellen könnte, selbst, wenn ich es wollte. Es ist wie ein Zwang, runter zum Friedhof zu schauen.

»Wollen wir lieber im Wohnzimmer essen?«, fragt mein Vater oft, wenn er meinen Blick nach unten sieht. Aber ich lehne das jedes Mal ab. Meine Eltern und ich haben früher auch meist in der Küche gegessen. Warum sollte man immer alles ändern, wenn sich im Leben sowieso so vieles schon von ganz allein ändert?

»Erstaunlich, wie wir drei immer an diesen Tisch Platz hatten«, stellt mein leicht untersetzter, fast glatzköpfiger Vater, Heinz Hampel, kauend fest, als wir nun wieder in der Küche sitzen. »Bald passen ja schon allein deine langen Beine nicht mehr unter den Tisch.«

»Bin in den letzten Monaten einige Zentimeter gewachsen«, erwidere ich knapp, weil ich nicht wirklich weiß, was ich sonst sagen soll.

»Erstaunlich«, sagt mein Vater schon wieder. Es scheint neuerdings sein Lieblingswort zu sein, und es ist mir nicht ganz klar, was er damit gerade wirklich meint. Heißt es, dass er nicht gedacht hätte, dass ich einmal so groß werde, oder heißt es, dass es erstaunlich ist, dass ich einfach so frech weiterwachsen kann, obwohl ein geliebter Mensch so plötzlich aus unserem gemeinsamen Leben verschwunden ist? Weiterleben, weiterwachsen. Alles einfach so, ohne dass man etwas dafür tut. Irgendwie läuft gerade alles so von allein irgendwohin. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.

Mein Vater sieht blass aus, aber der Döner ist in Ordnung. Etwas viel Knoblauch vielleicht und etwas viel Gemüse. Einen Teil des Krauts und der Zwiebeln habe ich gleich wortlos an den Tellerrand verfrachtet. Das, was danach noch an Grünzeug und Tomaten übriggeblieben ist, habe ich schnell gegessen. Je flotter man Gemüse isst, desto weniger bekommt man vom Geschmack mit! Das ist reine Übungssache.

Als ich wortlos darauf warte, dass mein Vater endlich aufgegessen hat, fällt mein Blick auf den Blumenkalender an der Wand, und ich bemerke einmal mehr, dass es dort immer noch Ende des Winters ist. Der Kalender zeigt weiterhin den Monat an, in dem meine Mutter gestorben ist. Es muss meinem Vater doch auffallen, dass hier die Zeit mit ihrem Tod stehengeblieben ist. Oder?

Ich traue mich nicht, Heinz danach zu fragen, und ich wage es auch nicht, die paar Monate einfach heimlich umzublättern. Manchmal frage ich mich wirklich, ob der Kalender im nächsten Jahr noch so dort hängen wird und im übernächsten und überübernächsten. Dann, wenn ich schon längst ausgezogen bin und meinen Vater besuche, wird der Kalender vielleicht immer noch so da hängen und den Monat anzeigen, in dem sich alles für unsere Familie geändert hat, die Welt stehengeblieben ist, und ich trotzdem immer weitergewachsen bin. Zentimeter um Zentimeter, so als müsste ich immer größer werden, um erwachsen werden zu können und das alles irgendwann verstehen zu können, was nicht zu verstehen ist.

Als Heinz endlich mit dem Essen fertig ist, stehe ich auf und bringe mein Geschirr zur Spülmaschine. Ich werfe wortlos die Gemüsereste weg und stelle Glas, Teller und Besteck in die Maschine. »Ab wann lohnt sich ein Geschirrspüler nicht mehr?«, frage ich mich dabei. »Ab zwei Personen, ab einer Person? Vielleicht dann nicht mehr, wenn man keine Familie mehr ist? Ab wann ist man keine Familie mehr? Ab zwei Leuten? Doch, dann ist man wohl schon noch eine Familie …, oder?«

Ich unterbreche meine Gedanken. Was soll der Quatsch? Ich will mich hinlegen. Ich will nicht mehr so viel Quatsch denken. Ich will Ruhe. Ruhe vor mir selbst und der ewigen Grüblerei. Ich will absolute Stille. Nichts in meinem Kopf. Keine Mutter, keinen Vater, keinen Brandstätter, keinen Müller – na, den schon gar nicht. Nicht einmal an Oma oder Mareike möchte ich denken. Ich will jetzt mal wieder für ein paar Minuten absolute Ruhe. Gehirnstille, wie ich es nenne. Gehirnleere. Absolutes, ruhiges, vollkommen leeres Nichts im Kopf.

Kurz nicke ich meinem Vater zu und brumme kaum hörbar: »Lege mich hin. Wir essen um 7, oder?«

»Ja«, bestätigt Heinz die Zeit, so, als handle es sich um einen unausweichlichen Termin. »Ich werde mich auch kurz hinlegen. Ja, du sagst es. Wie immer. Um 7 essen wir zu Abend.«

KAPITEL 3

TREIBHOLZ

(DAZU AUSNAHMSWEISE EINMAL KEIN BLÖDER KOMMENTAR VON MIR.)

Mein Zimmer befindet sich am Ende des kurzen Flures, rechts neben dem Elternschlafzimmer, in dem jetzt nur noch Heinz schläft. Mein Zimmer ist nicht riesig und zu meinem Bett ist es nur ein einziger Schritt durch meine Zimmertür. Das Bett steht direkt an der linken Wand. Rechts daneben ist der schmale Kleiderschrank, in dem sich nur wenige Klamotten befinden. Kleidung war mir noch nie sehr wichtig. Dem Schrank gegenüber steht mein Schreibtisch, der aus einer leichten Holzplatte auf Eisenbeinen aus dem Baumarkt besteht.

»Luftig, männlich, modern, funktional«, hatte Heinz das Teil genannt, als er bereits vor Jahren den bunten Kinderschreibtisch abgebaut hatte und stattdessen stolz den neuen Schreibtisch aufgestellt hatte. Mir hatte »der Neue« sofort gefallen, und ich hatte tatsächlich einmal keinen Widerspruch geleistet. Die Tischplatte war herrlich groß. Es war klar, dass man darauf wunderbar würde malen können.

Vor einem Vierteljahr hatte sich mein Schreibtisch noch direkt gegenüber vom Bett unter dem Fenster befunden. Doch der Blick aus dem Fenster zeigt auch von hier aus auf das Blätterdach des alten Friedhofs. Bei aller Liebe zu Licht und Fenstern, manchmal ist es besser, gegen eine Wand zu starren. Und so hatte ich den Tisch kurz nach der Beerdigung meiner Mutter vom Fenster weg und gegen die einzige noch freie Wand geschoben.

Zwei weitere Dinge außer dem riesigen Schreibtisch gibt es in dem Zimmer noch, die mir wichtig sind. Zum einen liebe ich mein Aquarium. Warum? Vielleicht, weil die Fische so herrlich ruhig sind und so zufrieden wirken. Zum anderen mag ich meine E-Gitarre. Ich übe nicht ständig, aber ihr Sound ist prima. Außerdem kann man mit ihr super Dampf ablassen. Besonders, wenn man extrem laut ACDC darauf spielt.

Aber wo waren wir? Ach ja, ich gehe nach dem Essen also in der Hoffnung auf Gehirnleere in mein Zimmer, werfe mich auf mein Bett, wickele die Tagesdecke um mich, krümme meinen langen Körper zusammen in Richtung Wand, halte meine linke Hand gegen die Mauer und streiche zart darüber. Dann presse ich meine Hand mit einmal fest gegen die Wand und lasse sie dort liegen. Auch so eines meiner Rituale.

Direkt hinter meiner Zimmerwand steht das Bett meiner Eltern. Meine Mutter hat mein Leben lang auf der anderen Seite der Wand geschlafen. Einmal, als ich noch sehr klein war, hatte ich nicht einschlafen können und immer und immer wieder nach ihr gerufen, und sie war immer und immer wieder zu mir ans Bett gekommen. Als mein Rufen gar nicht mehr aufzuhören schien, hatte sie schließlich ruhig zu mir gesagt: »Ich kann immer gut schlafen, Hans. Und ich werde dir jetzt das Geheimnis anvertrauen, warum das so ist. Wenn ich ins Bett gehe, dann lege ich nämlich immer meine Hand auf meine Zimmerwand und denke, direkt dahinter liegt mein Kind, und dann bin ich bei dem Gedanken, dass du mir so nah bist, so glücklich, dass ich sofort ganz entspannt einschlafe. Und jetzt gehe ich rüber und lege mich in mein Bett, denn wir sind beide müde. Und wenn ich drüben bin, dann legen wir beide unsere Hände gegen die Wand, sind glücklich, dass wir uns haben, und schlafen ganz schnell ein.«

Seltsam. Es funktionierte tatsächlich. Das eine Mal damals und noch viele weitere Male danach, wenn ich es wieder versuchte. Es war mir immer so, als würden die Liebe und das Glück, das ich lebte, von der Hand auf der anderen Seite durch die Wand in meine Hand und in den ganzen Hans strömen. Und dieses Gefühl machte mich zufrieden und ruhig, und ich schlief ein.

Und so liegt meine Hand auch heute wieder auf der Wand und es ist mir, als würde auf der anderen Seite der Wand auch eine Hand auf der Wand liegen. Das Gefühl ist so ähnlich, und doch so anders als das Gefühl, das ich dabei vor vielen Monaten hatte. Und das Bewusstsein, dass es so ähnlich und doch so anders ist, weil sie jetzt tot ist, treibt mir die Tränen in die Augen. Liebe mischt sich mit Sehnsucht und Sehnsucht mit Liebe. Tränen fließen mir die Wangen hinunter. Hier bin ich allein, hier kann das keiner sehen. Keiner kann mich bemitleiden, auslachen oder sonst irgendeinen blöden Kommentar dazu abgeben, etwa, dass ich mit meinen 17 Jahren und 1.90 m doch schon viel zu alt für Tränen sei oder dass die Zeit alle Wunden heilen werde, oder sonst irgendeinen bescheuerten Mist sagen.

Hier ist mein Reich, hier können die Tränen wie Regentropfen fließen. Hier in meinem Zimmer sieht mich keiner, und hier muss ich auch niemandem etwas vorspielen! Traurig lasse ich meinen Gefühlen freien Raum … Tränen können sehr befreiend sein, solange man nicht dabei beobachtet wird!

Kurz überlege ich, ob es dem Vater und der Oma manchmal auch so geht wie mir, doch dann bin ich auch schon vor Erschöpfung und mit nassen Wangen eingeschlafen.

*

In einem wilden, bunten Traum sehe ich mich nun in meinem Klassenzimmer in der ersten Bankreihe sitzen, wo ich mit einer Münze den Tisch durchsäge. Mit einmal ist der Tisch in ein so grelles Licht getaucht, dass ich mir schützend die Hände vor die Augen halten muss. Dann zerbricht das Möbel mit einem ohrenbetörenden Lärm in tausend kleine Holzstücke. Als ich die Hände von den Augen nehme, liegt überall um mich herum Holz und ich merke, dass ich mich in der Mitte des ganzen Holzes selbst in ein Stück Holz verwandelt habe. Ich will mich dagegen wehren, kann es aber nicht rückgängig machen. Machtlos muss ich miterleben, was mit mir geschieht. Ich will schreien, aber ich habe keine Stimme mehr. Und aus was soll ich auch schreien, wo ich doch gar keinen Mund mehr habe? Ich bin ja nur noch ein Stück Holz, so wie der ganze Raum nur noch aus Holzstücken zu bestehen scheint, die in großen Mengen überall chaotisch verteilt um mich herum liegen.

Plötzlich reißt die Klassenzimmertür auf, laut donnernd drückt eine gewaltige Woge Wasser durch die Öffnung des Zimmereingangs. Das Wasser strömt unaufhaltsam in den Klassenraum und überflutet alles. Ich fühle, wie die Wassermengen mich, das kleine Stück Holz, erfassen. Wild werde ich von der wütenden Flut hinund hergetrieben.

Als bereits der Großteil des Zimmers voller Wasser ist, zerbersten die Fenster mit einem lauten Knall und »Hans das Holzstück« wird mit den anderen Brettern nach draußen getrieben. Der reißende Bach nimmt mich mit, treibt mich quer durch die Stadt, durch die Fußgängerzone und bis zum Deich. Von dort aus werde ich mit den Wassermassen in den Fluss gespült, der durch die ankommende Flüssigkeit gewaltig an Wasserpegel gewinnt.

Die hohen Wellen des Flusses wirbeln die unzähligen kleinen Hölzer hoch und drücken sie dann wieder unter die

Oberfläche. Ich fühle mich hilflos, habe Angst, gleich unterzugehen und zu ertrinken, kann aber nichts dagegen tun, da ich ja nichts als ein Stück lebloses Holz bin.

Als ich schon alle Hoffnungen aufgeben will, spült mich eine besonders große Welle an Land. Dort liege ich zwischen Steinen, abgerundeten bunten Glasstücken und Muschelteilen. Die Sonne prallt auf mich hinunter. Ein kleiner Junge kommt voller Freude auf mich zu gerannt, will mich aufheben und mitnehmen. Ich spüre schon die kleine Hand. Da ruft eine erzürnte Männerstimme: »Lass sofort das dreckige Stück Holz liegen! Was willst du überhaupt mit diesem wertlosen Stück Treibholz? Das ist doch zu überhaupt nichts gut!«

Enttäuscht wirft der Junge mich in den Sand und ich werde wütend, dass der Junge mich nicht gegen die Bevormundung durch den Erwachsenen gewehrt hat, und ich werde auch deshalb wütend, weil der Mann mich als wertloses Treibholz bezeichnet hat.

Vor lauter Wut wache ich genau in dem Moment, in dem ich weggeschmissen werde, auf. Ich bin völlig erschöpft und verschwitzt. Die Tagesdecke scheint mit meiner Kleidung verklebt, mein langes, blondes Haar klebt an meinem Hinterkopf. Minutenlang muss ich über den seltsamen Traum nachdenken. Dann rapple ich mich umständlich hoch, werfe die Decke von mir ans Fußende des Bettes und setze mich auf die Bettkante, um meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Mir ist so schwindlig wie nach einer zu wilden Achterbahnfahrt.

Noch ganz benommen werfe ich einen hektischen Blick auf meinen Wecker. Es ist bereits kurz vor 16 Uhr, um 17 Uhr bin ich mit meiner Oma verabredet. Als mein Kreislauf wieder einigermaßen zu funktionieren scheint, erhebe ich mich von meinem Bett und gehe ins Badezimmer. Dort schnappe ich mir mein Handtuch und rubbele erst einmal mein nasses Haar und mein Gesicht trocken.

Als ich in den Badezimmerspiegel über dem Waschbecken blicke, habe ich das typische Gefühl von »Ich kenn dich zwar nicht, aber ich wasche dich trotzdem«. Wieder einmal bin ich erstaunt, wie unterschiedlich ein Mensch an ein und demselben Tag aussehen kann. »Mensch, Hans«, grüble ich betreten, »wie kann man nur so scheiße aussehen wie du!«

Noch einmal versuche ich, wenigstens meine äußere Würde wiederzubekommen, indem ich diesmal mein Gesicht und dann meinen Oberkörper mit kaltem Wasser wasche. Nach einem weiteren Blick in den Spiegel gebe ich endgültig auf.

Aber auch wenn ich noch immer ziemlich furchtbar aussehe, wenigstens bin ich jetzt wach. Schlagartig erinnere ich mich an das Kunstprojekt, das angefangen in meinem Zimmer in der dafür vorgesehenen Mappe neben dem Schreibtisch steht, und das bis zum nächsten Tag fertig sein soll. »Mist«, denke ich erschrocken, »das kann heute nichts mehr werden. Ich muss hier raus! Ich kann jetzt unmöglich diese Aufgabe erledigen. Das kann jetzt gerade gar nichts werden. Ich muss jetzt erst einmal raus hier! Ich brauche Luft!«

Raus. Nur raus hier! Mein Vater hat vermutlich genauso gedacht, denn als ich auf den Flur vor mein Zimmer trete, merke ich, wie still es in der Wohnung ist. Keine Schritte, keine Musik, gar nichts, einfach nur leere Stille. Das Gegenteil von erholsamer Gehirnstille. Leere, ohrenbetäubende, erschreckende Einsamkeitsstille. Für ein paar Sekunden bedauere ich, dass Heinz weg ist.

Im Wohnzimmer liegt eine kurze Notiz: Bin einkaufen. Mach deine Hausaufgaben unbedingt vor 7, und schau auch mal kurz nach Oma. Sehen uns um Punkt 7 zum Abendessen.

»Bei Mama hätte da noch Kuss und Gruß Mama gestanden«, überlege ich. »Vermutlich wäre daneben noch ein gemaltes Herz oder eines ihrer lustigen Strichmännchen gewesen.«

Mist! Wie kann man nur plötzlich so kindisch-alberne Dinge wie gemalte Herzen und Strichmännchen so schrecklich vermissen? Erwarte ich das jetzt auch von Heinz? Ich meine, dass er mir plötzlich Herzchen malt? Nein, ganz sicher nicht. Das passt doch gar nicht zu ihm. Egal. Bloß nicht wieder auf traurige Gedanken kommen. Was war, das war, was ist, das ist. Ich muss jetzt schnell raus aus der Bude! Einfach nur weit weg!

Ich schnappe mir meinen Haustürschlüssel, werfe meine Jeansjacke über, verlasse die Wohnung. Auch der große Flur vor der Wohnungstür ist still. Diesmal nehme ich den Aufzug nach unten. Im Lift riecht es wie zuvor im Eingangsbereich des Hochhauses. Tief atme ich ein. Staubig-muffige, vertraute Hochhausluft strömt durch meine Nase und meine Lunge. Sie riecht nicht wirklich gut, wirkt aber auf eine seltsame Art beruhigend.

KAPITEL 4

KÜNSTLER UNTER SICH

(O.K., KÜNSTLER IST JETZT SCHON IRGENDWIE ÜBERTRIEBEN.)

Als meine Großmutter auch nach wiederholtem Klingeln nicht öffnet, schließe ich die Tür mit meinem eigenen Schlüssel, den ich für diese Zwecke von meiner Oma bekommen habe, auf.