Harrowmore Souls (Band 4): Herbst 2040 - Miriam Rademacher - E-Book

Harrowmore Souls (Band 4): Herbst 2040 E-Book

Miriam Rademacher

5,0

Beschreibung

In einer Zukunft, die es gar nicht mehr geben dürfte, sitzt Conny Bligh für den Mord an sich selbst im Gefängnis. Wie konnte ein solches Durcheinander überhaupt entstehen? Die Kanzlei ›Harrowmore Souls‹ sucht nach einer Antwort, und die Spur führt die Beteiligten zurück zu einem scheinbar alltäglichen Fall von Spuk …

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Dank

 

Miriam Rademacher

 

 

Harrowmore Souls

Band 4: Herbst 2040

 

 

Fantasy

 

 

 

Harrowmore Souls (Band 4): Herbst 2040

In einer Zukunft, die es gar nicht mehr geben dürfte, sitzt Conny Bligh für den Mord an sich selbst im Gefängnis. Wie konnte ein solches Durcheinander überhaupt entstehen? Die Kanzlei ›Harrowmore Souls‹ sucht nach einer Antwort, und die Spur führt die Beteiligten zurück zu einem scheinbar alltäglichen Fall von Spuk …

 

 

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Oktober 2022

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2022

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-251-9

ISBN (epub): 978-3-03896-252-6

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Cora

Ohne unsere endlosen Spaziergänge

würde es diese Geschichte nicht geben.

 

Prolog

 

Herbst 2040

 

Jeffrey Hawkins sah sich selbst als eine Art Wanderpokal. Er kannte mittlerweile viele britische Gefängnisse und ihre Zellen von innen. Immer neue Fehlentscheidungen, die er selbst als Pech bezeichnete, hatten ihn auf diesen Lebensweg geführt.

In knapp dreißig Lebensjahren war es Jeffrey bisher lediglich gelungen, anderen Ärger zu machen und sich selbst welchen einzuhandeln.

Inzwischen fühlte er sich zu alt, um daran noch etwas zu ändern. Er legte mehr Wert auf eine saubere und moderne Zelle als auf die Chance, dieser rasch wieder zu entkommen.

Am liebsten saß er in Dartmoor ein. Allein der Name hatte Stil, und auch das Essen war gut. Den Knast, welchen er hingegen am meisten verabscheute, war dieses brandneue Gebäude am Londoner Western Way, das irgendein bescheuerter Architekt unter die Erde verlegt hatte. Als ob es Frischluft und Aussicht, sei es auch nur durch Gitterstäbe, in London nur noch für die Reichen und Privilegierten gäbe.

Einfache Gauner wie er sollten unterirdisch verrotten oder wahlweise auch gern ersaufen. Denn wenn der berüchtigte Starkregen, den der Klimawandel ihnen allen eingebrockt hatte, die Hauptstadt traf und alle Keller und U-Bahn-Schächte flutete, wurde es auch am Western Way unangenehm feucht und es roch aus allen Rohren nach Moder.

All das hatte dazu beigetragen, diese futuristisch anmutende Unterkunft, in der das Tageslicht nur durch milchglasige Bullaugen in der Decke hereinfiel, auf den letzten Platz seines persönlichen Knast-Rankings zu verbannen.

Dieser Aufenthalt entwickelte sich noch schlechter als üblich, denn Jeffrey wurde soeben von zwei Wachhabenden in eine andere Zelle verlegt. Der Grund war eine kleine Rauferei mit seinem Zellengenossen, die er zugegebenermaßen selbst angefangen hatte.

Eigentlich war er der geborene Einzelgänger, und es fiel ihm schwer, einen Mitbewohner zu akzeptieren. Diesbezüglich gab er sich gar keine Mühe. Auch das war ein Nachteil dieses Gefängnisses, es verfügte nämlich nicht über Einzelzellen.

Selbst einem Menschenfresser hätte man hier einen Bettnachbarn zum Geschenk gemacht. Im menschenüberlaufenen London der Vierzigerjahre mussten eben alle ein wenig zusammenrücken. Aber konnte die Gefängnisleitung deswegen von ihm verlangen, so etwas wie angemessenes Sozialverhalten zu entwickeln? Ganz sicher nicht.

So musterte er beim Eintreten in seine neue Unterkunft nur kurz die auf dem linken Schlafplatz zusammengerollte Gestalt und wandte sich dann an den Wärter, der ihn hierhergebracht hatte.

»Ihr lernt auch nicht dazu, oder? Ich komme mit meinen Mitmenschen einfach nicht klar.«

»Es tut uns entsetzlich leid, dem Herrn keine Suite bieten zu können, aber wir sind derzeit ziemlich gut belegt«, sagte der Uniformierte und verzog keine Miene. »Ich würde dir in diesem Fall allerdings raten, dich besser nicht mit diesem Mann anzulegen, der ist ein Schwerverbrecher. Nicht so ein kleiner Querulant wie du. Zeig ihm gegenüber ein bisschen Respekt, sonst könnte er den Versuch starten, dir Benimm beizubringen.«

»Und wenn ich ihm stattdessen Benimm beibringe?«, erwiderte Jeffrey aufmüpfig, während er sich die übertrieben stabil wirkenden Handschellen abnehmen ließ.

»Wenn du auch hier nicht zurechtkommst, bleibt für dich als Zellengenosse nur noch der verrückte Mörder in Zelle 42 übrig«, brummelte der zweite Aufseher. »Das solltest du dir gut überlegen, der Mann ist wirklich völlig schräg. Es heißt, er hat die Identität seines Opfers angenommen, bevor er es erschossen hat. Ganz so, als wollte er Selbstmord an einem Fremden verüben. Von so einem Psychopathen habe ich zuvor noch nie gehört. Und es gib keine Garantie, dass er nicht auf die Idee kommt, einmal Jeffrey Hawkins werden zu wollen, um dann erneut die Vorlage abzumurksen.«

Jeffrey zeigte sich von dieser Drohung nur mäßig beeindruckt. Was scherte ihn ein Mann, dem er mit etwas Glück nicht so schnell begegnen würde?

Während sich die Zellentür geräuschvoll zwischen ihm und den beiden Wärtern schloss, starrte er erneut auf die Gestalt des Mannes, der jetzt schon seit geraumer Zeit vorgab, tief und fest zu schlafen. Er schien Jeffrey wesentlich älter als er selbst zu sein und wirkte ein wenig verwildert. Der aus der Decke herausschauende Haarschopf sah verfilzt aus, und das gerade noch sichtbare Ohr war braun gebrannt, als ob er für gewöhnlich viel Zeit an der frischen Luft zubrachte. Vermutlich handelte es sich bei ihm eben doch nur um einen Penner, wie Jeffrey selbst einer war. Ein armer Tropf, den man bei einem kleinen Diebstahl erwischt hatte.

Gegen seine sonstige Gewohnheit beschloss Jeffrey, der Sache eine Chance zu geben. Wenn nach dieser Zelle nur noch eine Wohngemeinschaft mit einem Irren auf ihn wartete, würde er diesem Kerl hier den Vorzug geben. Verrückte Mörder waren nicht nach seinem Geschmack. Wer saß schon gern mit einem Psychopathen in der gleichen Zelle fest?

»Hey«, rief Jeffrey und trat mit dem Fuß gegen den Sockel der Schlafstatt des anderen. Es war seine Art eines Versuchs, ein Gespräch in Gang zu bringen. Schließlich konnte es nicht schaden, zu wissen, mit wem man es zu tun hatte. »Hey, du da.«

Die Antwort bestand aus einem Grunzen, bevor sich der Alte zur Wand drehte, um sein Desinteresse an dieser Unterhaltung zu bekunden.

»Dann eben nicht.« Jeffrey zuckte mit den Schultern und widmete sich anderen Dingen. Ausdauer gehörte ebenfalls nicht zu seinen Stärken.

Er inspizierte den zweiten Schlafplatz, einen fest gegossenen Sockel, auf dem eine dünne Matte und eine ebensolche Decke für ihn bereitlagen. So modern dieses Gefängnis auch tat, letztendlich war es doch nur Holzklasse. Ohne Holz.

Da er ahnte, dass in Kürze das Licht ausgeschaltet werden würde und man ihn auf diese Weise zur Einhaltung der Nachtruhe zwingen wollte, schlüpfte Jeffrey aus seinen Schuhen und versuchte, es sich leidlich bequem zu machen. Gerade hatte er alles, was ihm zur Verfügung stand, passend zurechtgeknautscht, damit die Nacht erträglich zu werden versprach, als die in die Wand integrierte Lichtleiste kurz zuckte und verlosch.

»Gute Nacht, Jeffrey«, sagte er zu sich selbst, schloss aber nicht die Augen, sondern starrte in die Dunkelheit.

Selbige währte nur einen kurzen Augenblick, dann flackerte etwas vor ihm auf. Es war ein geisterhaftes blassrosa Licht, in dessen Mittelpunkt die Gestalt einer Frau sichtbar wurde.

Jeffrey hielt den Atem an und beobachtete, wie der rosige Schimmer wich und dem grellen Licht einer Stabtaschenlampe Platz machte, deren Kegel genau auf ihn gerichtet war.

Rasch hob er den Arm und bedeckte seine Augen, um nicht geblendet zu werden. Doch da war der Lichtkegel auch schon weitergewandert. Noch immer völlig verwirrt ließ Jeffrey den Arm wieder sinken. Keinesfalls wollte er verpassen, was als Nächstes geschah.

So musste er mit ansehen, wie die Fremde, bekleidet mit einem taschenbesetzten Overall und Stiefeln, sich mit schnellen Schritten seinem Zellengenossen näherte und auch ihm brutal ins Gesicht leuchtete.

»Verdammter Mist«, hörte er die Frau, die es seiner Ansicht nach gar nicht geben durfte, fluchen. »Schon wieder die falsche Zelle.«

Ihre Stimme klang so real, dass Jeffrey vorsichtig die Möglichkeit einer Sinnestäuschung ausschloss. Geräuschlos setzte er seine Füße auf den Zellenboden, erhob sich und näherte sich langsam der Besucherin von hinten.

Diese schien seine Bewegung trotz aller Vorsicht irgendwie wahrgenommen zu haben. Sie fuhr herum und fauchte: »Was willst du denn?«

Jeffrey schluckte, durchforstete sein Gehirn nach einer Antwort und fand sie nicht. Stattdessen hob er eine Hand, um die Fremde zu berühren. Er wollte noch immer sichergehen, keiner Täuschung aufgesessen, nicht verrückt geworden zu sein.

In diesem Moment erhob sich zwischen ihm und der Fremden erneut ein rosa Lichtschimmer, und Jeffrey zuckte instinktiv zurück. Fassungslos beobachtete er, wie der Körper der Frau vor seinen Augen zu verschwinden begann.

»Ach, verpiss dich«, waren ihre letzten Worte, die noch im Raum hingen, als die Gestalt bereits nicht mehr zu erkennen war.

»Ja, aber wie soll ich mich denn verpissen?«, flüsterte Jeffrey und sah sich ratlos in der dunklen Zelle um.

Jetzt, da die Frau fort war und mit ihr die einzige Lichtquelle, lag der Raum wieder in Dunkelheit.

Nur langsam löste sich seine Erstarrung, und er tastete nach der Schulter seines Mitgefangenen, um sie kräftig zu schütteln. »Hey«, flüsterte er noch einmal, zuerst leise und dann etwas lauter: »Hey, wach auf. Hier war gerade eine Frau, Mann.«

Mit einem unwilligen Grunzen gab ihm der andere zu verstehen, dass er jetzt zwar nicht mehr schlief, aber nach wie vor keineswegs an einer Unterhaltung interessiert war. Jeffrey erzählte ihm trotzdem alles, was sich in den letzten Minuten ereignet hatte.

»Sie kam aus dem Nichts oder vielmehr aus einem rosa Nebel und trug eine Taschenlampe bei sich. Das Haar reichte ihr bis zum Hintern und war pechschwarz. Sie trug einen Overall wie eine Agentin oder eine Kämpferin aus einem Actionfilm und sah aus, als ob sie zu einer Sondereinheit gehören würde.«

»Und dann hat sie uns ins Gesicht geleuchtet, laut geflucht und ist im selben Nebel wieder verschwunden«, grunzte sein Zellengenosse unwillig.

Zum ersten Mal hörte Jeffrey die Stimme des anderen. Sie klang tief und rau und trotz der spektakulären Ereignisse ziemlich gelangweilt.

»Genau so war es«, beteuerte er und konnte es noch immer nicht fassen. »Sie kam nicht etwa zur Tür herein, sie war einfach da. Von einer Sekunde zur anderen.«

»Und wieder weg«, ergänzte sein Gesprächspartner. »Krieg dich ein, das ist nichts Besonderes.«

»Nein?« Noch vor einem Augenblick hatte Jeffrey geglaubt, dass seine Verwirrung kaum größer werden konnte. Jetzt musste er einsehen, sich diesbezüglich geirrt zu haben. Die Reaktion seines Zellengenossen gab ihm den Rest.

»Nein. Die kommt jetzt schon seit ein paar Tagen, manchmal mehrmals pro Nacht«, lautete die Erklärung. »Viele Gefangene haben sie schon gesehen und während des täglichen Freigangs davon berichtet. Hörst du nie zu, wenn die Leute reden?«

Jeffrey gab tatsächlich nicht viel auf das Geschwätz der Gefängnisinsassen. Schon gar nicht auf das, was während des Freigangs, der in einer geschlossenen Halle stattfand und deswegen keiner war, einander zugeflüstert wurde.

Was sollten diese Leute auch schon zu erzählen haben? Hier drinnen passierte doch immer nur dasselbe. Jetzt erkannte er, dass ihm, dank dieses Vorurteils, etwas entgangen sein musste.

»Man nennt sie das Knastgespenst. Sie kommt aus dem Nichts, blendet die Leute mit ihrer Lampe und verschwindet wieder. Ganz offensichtlich sucht sie jemanden. Da sie enttäuscht abgezogen ist, bist es demnach nicht du, und ich erst recht nicht. Vergiss sie und schlaf weiter.«

»Das Knastgespenst?«, wiederholte Jeffrey und fühlte, wie ihm ein Schauer über den gesamten Körper lief und die Härchen im Nacken sich steil aufrichteten.

Bis zu diesem Tag hatte er nicht an Geister oder Spukgestalten geglaubt. Jetzt aber, in dieser dunklen Zelle, kurz nach einer unheimlichen Begegnung, hielt er plötzlich alles für möglich.

Da sein Gesprächspartner nun wieder ein Schnarchen von sich gab, zog Jeffrey sich auf sein Bett zurück. Der Kerl war offensichtlich ein Idiot, und Jeffrey beschloss, ihm gleich morgen eine Abreibung dafür zu verpassen. Bis dahin war an Schlaf überhaupt nicht zu denken. Er würde hier sitzen und darauf warten, ob das Knastgespenst noch einmal zu ihm zurückkehrte.

Jeffrey Hawkins wickelte sich in seine Decke und starrte wie zuvor in die Finsternis. Kein Auge wollte er in dieser Nacht zutun. Allein der Gedanke, einzuschlafen, um mitten in der Nacht vom Lichtstrahl ihrer Taschenlampe geweckt zu werden, versetzte ihn in Panik.

Was, wenn es sich bei der Frau um einen rächenden Geist handelte? Was, wenn dieser Geist einen Fehler beging, Jeffrey mit irgendwem verwechselte und für etwas bestrafte, das er gar nicht verbrochen hatte?

Je länger er im Dunkeln saß, desto überzeugter war er, einer echten Geistergestalt begegnet zu sein und gerade die gruseligste Nacht seines Lebens durchzumachen. Er sollte sich irren.

Kapitel 1

 

November 2018

 

»Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren«, rief Allison und knallte die Stabtaschenlampe auf Nigels Schreibtisch.

Der gut gekleidete Geist, der sich ganz hervorragend als Empfangssekretär der Anwaltskanzlei Harrowmore Souls schlug, stets alles im Griff hatte und für ein ansprechendes Ambiente in den Geschäftsräumen sorgte, sah sie missbilligend an.

»Du willst mir damit sagen, du hast ihn noch immer nicht gefunden?«

»Dieses Gefängnis ist riesig! Du hast ja keine Ahnung, wie viele Leute dort unten einsitzen«, fauchte sie ihn an, im vollen Bewusstsein, dass sie Nigel mit diesem Tonfall unrecht tat.

Ihr Freund und Angestellter konnte schließlich nichts für die Situation, in der sie sich befanden. Ihm war nicht anzulasten, dass Conny Bligh, ihr Partner, im Jahre 2040 über seine eigene Leiche gestolpert war und nun unter dem Verdacht stand, die ältere Ausgabe seiner selbst erschossen zu haben. Nun saß der Mann, den sie liebte, seit drei Nächten in einer dieser vielen Zellen am Western Way fest, was seine Rettung zu einer Art Ostereiersuche werden ließ. Wieder und wieder war sie nun schon an diesen Ort zurückgekehrt, aber nie in der richtigen Zelle gelandet. Es war eine Katastrophe.

Das alles hatte sie natürlich sich selbst zuzuschreiben, sie war schließlich die Zeitreisende. Und nun war es an ihr, die Dinge wieder irgendwie in Ordnung zu bringen. Oder zumindest halbwegs.

»Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Zellen ich mittlerweile abgeklappert habe. Der ganze Bau ist voller schräger Figuren, aber Conny ist einfach nirgendwo zu finden.«

»Du brauchst eine Strategie«, schlug Nigel vor, erhob sich von seinem Platz und brachte ihr kurz darauf eine Tasse sehr schwarzen Kaffees, mit dem man vermutlich Tote wie ihn locker wieder hätte ins Leben rufen können. »Brich nicht in die Zellen, sondern in die Verwaltung ein. Dann kannst du herausfinden, wo du nach ihm suchen musst.«

»Oh, das ist wirklich clever, danke für den Tipp«, höhnte Allison. »Zu dumm nur, dass Informationen im Jahre 2040 nicht mehr in altmodischen Aktenschränken stecken wie bei uns. Diese winzigen, in die Tische integrierten Computer reagieren nur auf dafür autorisierte Personen, und das bin ich nun einmal nicht. Und einfach zu den Bürozeiten auftauchen, mich als Allison Harrowmore vorstellen und darum bitten, den mutmaßlichen Mörder von Sir Conrad Bligh sprechen zu dürfen, das geht schon dreimal nicht. Du weißt doch, wie es im Herbst 2040 um mich bestellt ist? Ich bin die heimliche Geliebte eines ermordeten Politikers. Und jetzt will ich seinen Mörder sprechen? Die Klatschblätter werden sich auf eine solche Neuigkeit stürzen. Sie würden denken, ich sei in Sir Conrad Blighs Tod irgendwie verwickelt, vielleicht sogar die Auftraggeberin. Weiß der Teufel, was man sich noch alles zusammenspinnen wird.« Sie warf sich auf den frei gewordenen Stuhl Nigels, legte den Kopf auf sein parfümiertes Briefpapier und schloss die Augen. »Es ist alles so hoffnungslos.«

»Es ist niemals hoffnungslos.« Die Vierte und Letzte im Bunde, Miranda Banks, zuständig für Sauberkeit und Fabelwesen in der Kanzlei Harrowmore Souls, tauchte in Allisons Blickfeld auf. Miranda, die erst vor wenigen Tagen ihre Stimme zurückbekommen hatte, nachdem selbige durch einen schweren Schock Monate zuvor verloren gegangen war, sah sie vorwurfsvoll an. Im Arm hielt sie Hng, die zahme Stockente, eine Art Therapie-Tier, das ihr durch die schwere Zeit geholfen hatte. Die Augen der Ente schienen Allison kaum weniger vorwurfsvoll zu mustern.

»Du musst Conny wiederfinden und zurückbringen, du bist seine einzige Hoffnung«, konstatierte sie. »Was soll er in einer Zeit, die nicht die seine ist und in der zudem seine mehr als zwanzig Jahre ältere Ausgabe gerade ermordet wurde? Nur du kannst ihn zurückholen, denn hier gehört er ja hin.« Miranda seufzte. »Obwohl ich zugeben muss, die Geschichte noch nicht so wirklich verstanden zu haben.«

»Das ist wie mit deinem blöden Facebook-Status: Es ist kompliziert«, äffte Allison Mirandas Stimme nach. »Dein Leben mag ja kompliziert sein, weil du dich gerade dazu entschlossen hast, einen Toten zu lieben.« Allison wies auf Nigel. »Aber das ist, ganz ehrlich gesagt, ein Witz gegen das Chaos, das gerade bei mir herrscht. Und das Schlimmste daran ist: Ich kann absolut niemand anderem außer mir dafür die Schuld geben, ich bin am Arsch.«

Allisons Kopf ruhte noch immer auf der Schreibtischplatte. Der Duft nach Rosen stieg von Nigels Briefpapier auf und ging ihr auf die Nerven. Alles nervte sie. Wie war es ihr nur gelungen, Gegenwart und Zukunft so gründlich zu verbocken? Jeder einzelne ihrer Pläne war schiefgegangen, und sie konnte noch nicht einmal genau sagen, warum.

Vermutlich lag es einfach daran, dass sie eine Harrowmore war. Der Familienfluch der Tollpatschigkeit lastete offensichtlich schwerer auf ihr als bisher angenommen.

»Hast du deinen Kaffee ausgetrunken?«, hörte sie Nigel sagen.

Irritiert blickte sie ihn an. Der sehr präsente Geist wirkte wie immer, trug einen eleganten cremegelben Anzug mit Weste und sah sie mit seinen wachen Augen an.

Wie konnte ihm entgangen sein, dass sie hier, an seinem Schreibtisch, vor Erschöpfung sterben wollte, anstatt Kaffee zu schlürfen?

»Du willst ihn nicht?« Er nahm die volle Tasse wieder an sich. »Dann lunger hier nicht länger rum und such weiter. Dein Selbstmitleid hilft niemandem und schon gar nicht Conny. Der sitzt jetzt gerade in einer Gefängniszelle und fragt sich ebenfalls, wie das alles passieren konnte. Flitz los und bring ihm Antworten. Du hast ihn schon viel zu lange hingehalten.«

»Ich habe die drei aufeinanderfolgenden Nächte seit seiner Verhaftung inzwischen so oft bereist, dass ich Gefahr laufe, von der Zeit selbst ausgeschlossen zu werden. Du weißt, wie es ist, Nigel. Wenn man immer wieder im selben Moment herumstochert, reagiert die Zeit wie auf eine entzündete Wunde und bildet eine undurchdringliche, schützende Kruste. Ich werde ab sofort die vierte Nacht seit Connys Verhaftung zum Ziel nehmen müssen. Und er wird mich dafür hassen, dass ich ihn so lange habe schmoren lassen. Er weiß ja nicht, dass ich seit Stunden im Dauereinsatz bin und seine Tage und Nächte in Rekordzeit abarbeite.«

»Dann sorg dafür, dass es für ihn nicht noch mehr von diesen Tagen und Nächten im Gefängnis werden, und finde ihn. Er ist unschuldig«, ließ sich nun wieder Miranda vernehmen.

Allison gab ein Stöhnen von sich. Als ob sie das nicht wüsste. Conny Bligh, der Anwalt der Kanzlei Harrowmore Souls, der gerade zweiundzwanzig Jahre weit weg in der Zukunft festsaß, hatte definitiv keinen Mord begangen und verdiente etwas Besseres. Trotzdem saß er nun in einer Zelle und verstand vermutlich die Welt nicht mehr.

Drei übersinnliche Fälle der Kanzlei Harrowmore Souls, erfüllt mit Geistern und Spuk, hatte Conny an ihrer Seite bereits gelöst, ohne seinen eigenen Fall auch nur begriffen zu haben. Es war für sie an der Zeit, Klarheit zu schaffen und mit offenen Karten zu spielen. Aber dafür musste sie ihn erst einmal wiederfinden.

So stocherte Allison mittlerweile länger als erhofft in der Zukunft herum, bereiste wiederholt denselben Ort und suchte nach Connys Zelle, stets bemüht, nicht in einem Gang zu landen und somit einem Wachhabenden begegnen zu können. Wie sie Nigel soeben ins Gedächtnis gerufen hatte, war es dafür nötig, ihre Suchaktionen über einen größeren Zeitraum zu streuen. Immer wieder exakt den gleichen Moment heimzusuchen, wagte selbst sie nicht.

Obwohl die Zeit stets gnädig mit ihr umgegangen war, konnten auch ihre Besuche in einem zu kurzen Zeitraum gewissermaßen zum Vernarben führen. So entstanden blinde Flecken, in deren Folge sich diese überhaupt nicht mehr von Zeitreisenden aufsuchen ließen.

Das durfte sie nicht riskieren. Nicht bevor sie nicht die bestmögliche Zukunft für sich und Conny herausgeholt hatte.

»Okay.« Allison streckte ihre schmerzenden Muskeln. »Möglicherweise brauche ich einen besseren Plan. Hat jemand eine Idee?«

Erst jetzt, da sie ihre Mitarbeiter musterte, bemerkte sie, wie abgespannt diese wirkten. Auch sie litten unter der aktuellen Situation, obwohl Nigel und Miranda gerade diese ersten Tage ihrer jungen Liebe genießen sollten.

Allison selbst spürte ebenfalls, wie wenig Ruhe sie ihrem Körper in der letzten Zeit gegönnt hatte. Sie litt nahezu durchgehend an einem schweren Jetlag, hervorgerufen durch über zwanzig Jahre, die zwischen diesem Moment und Conny in seiner Zelle lagen. Es war zum Verzweifeln.

»Womöglich sollten wir jemanden um Hilfe bitten«, schlug Nigel vor.

»Wen denn? Die Polizei vielleicht?« Allison verzog das Gesicht. »Die sperren mich umgehend weg, und zwar in die Zelle mit den besonders weich gepolsterten Wänden. Nein, ich breche wohl besser wieder auf. Dieser Knast kann ja nicht unendlich viele Zellen haben. Irgendwo muss er stecken, also werde ich ihn auch finden.«

Sie entschied, ihre Suche tatsächlich eine Nacht später als die letzte fortzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Conny dann bereits mehrere Tage in Haft verbracht und war vermutlich völlig verzweifelt. Doch das ließ sich nicht mehr ändern. Sie konnte ihm alles erklären, wenn er erst einmal in ihren Armen lag.

Allison nahm die Stabtaschenlampe an sich und konzentrierte sich auf Ort und Zeit ihres Ziels, während sie sich gleichzeitig, so gut sie konnte, entspannte. Nigels und auch Mirandas Gesicht verschwammen in dem sie umgebenden farbigen Licht, das sie einhüllte und mit sich nahm, wo immer es sie hintrieb.

Allison war Zeitreisende mit Leib und Seele. Lange bevor man ihr erzählt hatte, dass sie in einem solchen rosigen Strudel gezeugt worden war, hatte sie bereits gewusst, dass die Zeit und sie eine besondere Freundschaft verband. Schon als ganz kleines Kind war es ihr möglich gewesen, schöne Momente öfter zu erleben. Das Weihnachtsfest von 2024 beispielsweise, damals war sie gerade sechs Jahre alt gewesen, hatte sie mehr als ein Dutzend Mal besucht, hatte sich selbst durch Fenster oder von der Galerie des Schlosses aus beobachtet und sich an ihrer eigenen Freude ergötzt.

Dann aber war genau das geschehen, was jeder Zeitreisende fürchtete: Bei ihrem letzten Versuch, besagten Tag noch einmal mitzuerleben, war sie von undurchdringlicher Schwärze umhüllt gewesen und schließlich voller Angst in die Gegenwart geflohen.

Erst Jahre später hatte ihr Zach, der Zauberer, erklärt, dass sie selbst diesen blinden Fleck durch ihre häufigen Besuche erschaffen hatte. Ihr liebstes Weihnachtsfest war von da an für immer verloren. Seitdem ging sie sorgfältiger mit ihrer Vergangenheit und Zukunft um.

Als der rosige Farbstrudel verblasste und Allison wieder einmal in einer der tristen Gefängniszellen stand, wurde sie von zwei verängstigten und ihr völlig fremden Männern angestarrt.

»Verdammter Mist!«, entfuhr es ihr, woraufhin beide vor ihr zurückwichen. »Entschuldigung. Sie können ja nichts dafür.«

Da fasste sich einer der Knastbrüder ein Herz und flüsterte: »Wie kommen Sie hier herein? Ist es Zauberei?«

»Quatsch.« Allison vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Zauberei ist … oh!« Ein Gedanke schoss durch ihr Gehirn, und jetzt, da er da war, fragte sie sich verblüfft, warum sie so lange gebraucht hatte, um ihn zu entwickeln. Sie schob es auf den Stress und die Müdigkeit. »Ich sollte besser gehen«, rief sie den beiden sich noch immer unsicher anstarrenden Herren zu. »Es sei denn, einer von Ihnen beiden weiß, in welcher Zelle ein gewisser Conny Bligh sitzt und wie man dorthin kommt.«

Die aus einem Schulterzucken bestehende Antwort überraschte sie kaum. Dies war keine Gegend, in der man seinen Nachbarn kannte.

Erneut schloss sie kurz die Augen, konzentrierte sich auf ihr Ziel und ließ den Teleport zu. Endlich wusste sie, was sie zu tun hatte.

Kapitel 2

 

»Bligh? Raustreten!«, donnerte die Stimme des Wachhabenden, kurz nachdem sich laut krachend die Bolzen des Schlosses bewegt hatten und die Zellentür aufgeschwungen war.

Conny erhob sich, trat auf den Mann zu und streckte ihm schon gewohnheitsmäßig die Handgelenke entgegen. Gleich darauf schnappten futuristische Handschellen zu, die ihn an das Bügelschloss seines alten Fahrrads erinnerten.

Schon öfter hatte der Anwalt der Geister beobachtet, wie auch andere Häftlinge von Wärtern eingesammelt und zu einem Verhör oder zu einem Besucher geführt wurden. Längst nicht allen wurden dabei Handschellen angelegt. In seinem Fall aber wurde auf diese Sicherheitsmaßnahme niemals verzichtet.

Conny begann sich zu fragen, ob er in irgendeiner Form gefährlich aussah. Vielleicht sollte er es in Erwägung ziehen, dieses alberne Bärtchen abzurasieren und sich bei der Gelegenheit mal einen ordentlichen Haarschnitt verpassen zu lassen. Leider fiel es ihm derzeit schwer, einen Friseurtermin zu vereinbaren.

Während er willig durch die langen Gänge der Einrichtung lief, überlegte er, was man nun wieder mit ihm vorhatte. Verhöre waren schon unzählige geführt worden, zumeist mit einem Mann, der sich ihm als Inspektor Walter Higgins vorgestellt hatte und eine nicht unerhebliche Ähnlichkeit mit einem Äffchen aufwies.

Keines dieser Gespräche hatte seine Situation verbessert, im Gegenteil. Das lag vor allem daran, dass die Wahrheit zu unglaublich war und seine Ausreden allesamt nichts taugten. Er war in der Zukunft gestrandet und dabei rein zufällig über die Leiche seines ermordeten Selbst gestolpert. Die Mordwaffe, eine Duellpistole, war Eigentum des Opfers gewesen, die darauf befindlichen Fingerabdrücke nicht nur mit denen des Opfers, sondern auch mit denen des mutmaßlichen Täters identisch. Und als ob das nicht schon verwirrend genug gewesen wäre, hörten beide Personen laut ihren Papieren auf denselben Namen.

Selbstmord möchte man nun meinen oder eben doch nicht. Auf jeden Fall handelte es sich um einen Justizirrtum, doch das galt es zu beweisen, und Conny wusste nicht, wie.

»Hier hinein«, brummte der übergewichtige Wärter. »Ihr neuer Anwalt möchte mit Ihnen sprechen.«

»Ich habe schon wieder einen neuen Anwalt?« Conny konnte nicht umhin, sich zu amüsieren. Die Pflichtverteidiger der Zukunft schienen von Pflichterfüllung nicht mehr allzu viel zu halten. Dies war nun schon der Dritte seiner Art, den Conny kennenlernen durfte. Und das in nur fünf Tagen.

Doch der Anblick des Mannes, der hinter dem Tisch in dem fensterlosen Raum auf ihn wartete, überraschte ihn. Er war klein, seine Füße berührten im Sitzen nicht den Boden. Sein eisgraues Haar war so kraus wie Stahlwolle, und in seinen Augen blitzte etwas auf, das Conny nur als pures Vergnügen bezeichnen konnte.

»Gestatten, dass ich mich vorstelle? Ich bin Zacharias Biggs, Ihr neuer Anwalt. Könnte es sein, dass wir beide uns schon einmal begegnet sind, Mister Bligh?« Der kleine Mann zwinkerte ihm zu.

Conny beschloss, das Spiel mitzuspielen, welches zweifellos für den Wärter inszeniert wurde, der sich extrem viel Zeit dabei ließ, den Raum zu verlassen, um ihnen ein Gespräch unter vier Augen zu ermöglichen.

»Allerdings.« Conny räusperte sich. »Ich glaube, wir zwei trafen vor einiger Zeit auf einem Schloss nahe der schottischen Grenze aufeinander. Wie hieß es doch gleich? Harrowmore, meine ich mich zu erinnern.«

»Harrowmore, ganz recht.« Der kleine Mann ließ den Wärter nicht aus den Augen, welcher nun auf den Flur hinausschlenderte. »Demnach haben wir beide vermutlich gemeinsame Freunde. Sagen Ihnen die Namen Livie oder Allison etwas?«

»Ich denke, ich habe sie schon einmal gehört.« Conny setzte sich und verfolgte mit einem Blick über die eigene Schulter, wie sich die Tür der Besucherzelle endlich schloss.

Augenblicklich veränderte sich das Verhalten seines Gegenübers. »Gut, wir sind allein. Kommen wir zur Sache. Haben Sie eine Ahnung, wie die Zimmernummer Ihres derzeitigen Aufenthaltsortes lautet, Mister Bligh?«

»Nennen Sie mich bitte Conny«, erwiderte er. »Und an meiner Zellentür steht 42. Auch wenn ich sie deutlich häufiger von innen sehe als von außen, bin ich mir da ganz sicher.«

»Dann nennst du mich Zach.« Der kleine Mann notierte sich etwas auf dem vor ihm liegenden Zettel. »Kannst du mir sagen, auf welcher Ebene sich deine Zelle befindet und wie man, ausgehend von diesem Raum, am schnellsten dorthin gelangt?«

Conny beschrieb seinen Weg zu diesem Treffen, so gut er es vermochte, und sein Gegenüber schrieb fleißig mit.

»Das sollte uns helfen, deinen Aufenthaltsort besser zu bestimmen. Halte noch etwas aus, Hilfe ist unterwegs«, beteuerte der kleine Mann und nickte ihm aufmunternd zu.

Conny atmete erleichtert auf. »Ich kann es gar nicht erwarten, in das gute alte Jahr 2018 zurückzukehren.«

»Das solltest du hingegen nicht tun. Noch nicht zumindest«, widersprach Zacharias Biggs, von dem Conny nur wusste, dass er eine Art Zauberer sein musste und nicht nur zu Allisons Freundeskreis gehörte, sondern auch zu dem ihrer Mutter Millie und Livie, der Banshee der Familie Harrowmore.

»Warum denn nicht?«, hakte Conny nach. »Ich gehöre hier nicht her, und meine Anwesenheit hat die Zukunft ganz bestimmt nicht zu einem besseren Ort gemacht.«

Der kleine Zauberer legte den Stift aus der Hand und beugte sich vor. »Diese Zukunft, mein Lieber, dürfte es streng genommen überhaupt nicht mehr geben. Ist dir das nicht klar?«

»Heißt das, ich werde nicht erschossen?«, fragte Conny hoffnungsvoll.

»Das kann ich nicht genau sagen«, räumte Zach ein. »Sterben müssen wir alle einmal, es ist gut möglich, dass dein Leben im Jahr 2040 durch ein Stück Blei beendet wird. Völlig unmöglich sind nach meinem derzeitigen Kenntnisstand aber die näheren Umstände.«

»Das verstehe ich nicht«, gab Conny zu und sah den Zauberer erwartungsvoll an.

»Deine Freundin Allison hat das Jahr 2040 nach deinem Tod verlassen und ist nie in diese Zeit zurückgekehrt. Sie suchte nach dir, fand dich in der Vergangenheit und lebt seitdem dort mit dir zusammen. Wie also soll sie im Jahr 2040 deine heimliche Geliebte sein, eine Affäre unterhalten, die allem Anschein nach bei ihrer Entdeckung noch nicht allzu lange dauerte? Man kann sich nicht zweimal zum ersten Mal treffen, das ist nicht möglich. Die Zukunft muss inhaltlich schon mit der Vergangenheit harmonieren, sonst würden sich alle Menschen völlig zu Recht darüber bei ihrem Schöpfer beschweren. Die Zeit ist ein Wenn-dann-Spiel. Sie folgt, zumindest meistens, logischen Gesetzen. Dass diese Zukunft sich durch Allisons Eingreifen in die Geschehnisse nicht verändert hat, ist einfach Blödsinn. Die Realität ergibt keinen Sinn mehr.«

»Ja, aber wir beide sitzen doch hier, während mein älteres Ich tot im Leichenschauhaus liegt, angeblich von mir selbst ermordet. Willst du etwa behaupten, dies wäre eine Art Traum?« Conny klopfte provozierend auf die Platte des zwischen ihnen stehenden Tisches.

Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Nein, ich vermute eher, es handelt sich um zwei parallel existierende Zukunftsszenarien. Dieses hier hätte durch die stattgefundenen Veränderungen in deinem Lebenslauf eigentlich verschwinden müssen, ist aber geblieben.«

»Wie kann das sein?«, wollte Conny wissen.

»Das ist die große Frage.« Zach beugte sich noch etwas weiter vor und sah ihm in die Augen. »Ich stelle es mir so vor: Jemand hat gewissermaßen einen Kugelschreiber in den Spalt einer Tür gelegt, Deswegen lässt sich diese nun nicht mehr schließen. Der Weg in diese falsche Zukunft wird offen gehalten. Nur weiß ich nicht, von wem und warum.«

»Es steckt eine Absicht dahinter?«, fasste Conny für sich die Gedanken des anderen zusammen.

»Davon gehe ich aus.« Zach schien sehr zufrieden darüber, verstanden worden zu sein. »Und deswegen kannst du nicht einfach in die Vergangenheit abrauschen und so weitermachen wie bisher. Wir müssen diese Tür zukriegen.«

»Du kriegst die Tür also nicht zu?«, hakte Conny nach.

»Nein, ich habe zu wenige Informationen.« Der kleine Mann lehnte sich zurück und baumelte mit den Beinen. »Dies hier ist deine Geschichte und natürlich Allisons. Ihr beide müsst dafür sorgen, dass sie zu Ende erzählt wird und die falsche Zukunft ad acta gelegt werden kann.«

»Gut.« Conny war nachdenklich geworden. »Es klingt nach einer großen Verpflichtung, diese Aufgabe zu erledigen. Und ich werde mich nicht drücken, schließlich geht es um mich.«

»Allison wird sich drücken wollen.« Zach sah ihn ernst an. »Das ist es, was sie gern tut, das hat diese Situation erst möglich gemacht. Sie wollte deinen Tod nicht akzeptieren, vor ihrer Trauer und einem Leben ohne dich fliehen. Auch jetzt kann sie es kaum erwarten, dich hier herauszuholen, um danach einfach euer Leben weiterzuführen, als ob nichts wäre. Sie bevorzugt das Jahr 2018, will eure Kanzlei und das Leben, für das sie sich entschieden hat, einfach weiterführen. Aber ein Happy End wird es nur geben, wenn diese verrückte kleine Harrowmore endlich hinter und vor sich aufräumt.« Zach sprang vom Stuhl, lief um den Tisch herum und legte seine Hand auf Connys. »Ich zähle auf dich, mein Freund. Du darfst ihr diese Bequemlichkeit, oder sagen wir ruhig Feigheit, nicht durchgehen lassen. Ihr müsst den Kugelschreiber finden, der in der Zarge steckt, herausbekommen, von wem er warum dorthin gelegt wurde, und ihn schlussendlich entfernen.«

»Ich bin kein Zauberer«, gab Conny zu bedenken.

»Das weiß ich.« Zach schnitt eine Grimasse. »Aber so manch großes Rätsel bedarf keines Zauberers. Nur eines aufmerksamen Menschen mit wachem Verstand und großem Herzen.«

»Ich verspreche, alles zu tun, was in meiner Macht steht. Und falls es nötig sein sollte, auch noch mehr«, verkündete Conny feierlich, denn so war ihm tatsächlich zumute.

»Gut.« Zach nickte. »Dann richte dich darauf ein, dass dein Aufenthalt hier bald recht abrupt enden könnte.«

Als Conny kurz darauf in seine Zelle zurückgeführt wurde, fühlte er zum ersten Mal seit Tagen so etwas wie Hoffnung in sich aufsteigen.

Doch als man ihm die Handschellen abnahm und die Schlösser hinter ihm einrasteten, bemerkte Conny eine wesentliche Veränderung in dem kleinen Raum. Eine zweite Person war eingezogen. Ein Mann mit strähnigem Haar und missmutigem Gesichtsausdruck.

»Guten Tag, mein Name ist Conny Bligh.«

»Der verrückte Mörder, ja, ich weiß«, maulte der andere. »Ich hoffe sehr, du wirst mich am Leben lassen, es ist schon Strafe genug, sich mit dir eine Zelle zu teilen.«

»Und wie komme ich zu der zweifelhaften Ehre?« Conny setzte sich auf seine Bettkante.

»Hab meinem letzten Zellengenossen eine reingehauen, weil er sich über mich lustig gemacht hat.«

Conny unterdrückte ein Grinsen. »Dann bin wohl eher ich es, der sich in Acht nehmen muss.«

»Wieso? Ich bin ja zumindest nicht verrückt. Ich habe die Frau wirklich gesehen«, begehrte der andere auf.

»Frau? Was denn für eine Frau?«, wollte Conny wissen.

»Das Knastgespenst«, flüsterte der andere. »So nennen sie sie. Sie erscheint aus dem Nichts und leuchtet einem mit einer Taschenlampe ins Gesicht, wenn man schläft.«

Conny schwante etwas. »Und du bist ihr begegnet? Wie hat sie ausgesehen?«

»Wie Lara Croft auf dem Kriegspfad«, lautete die prompte Antwort. »Sie war wirklich da, so wahr ich Jeffrey Hawkins heiße.«

Conny verspürte eine tiefe Zufriedenheit. Jetzt konnte er sicher sein, dass seine Haftzeit ihrem Ende entgegenging.

Kapitel 3

 

Als Allison zu ihrem hoffentlich finalen Besuch im Gefängnis aufbrach, orientierte sie sich völlig an den Berechnungen und Einschätzungen ihres Freundes und langjährigen Lehrmeisters Zach. Bei ihrer Ankunft stellte sie zunächst fest, dass die Zelle, in der sie gelandet war, von zwei Männern bewohnt wurde. Und den einen, der nachdenklich an seinem mausbraunen Bärtchen zupfte, kannte sie nur allzu gut.

»Conny!«, rief sie und fiel ihm um den Hals. »Ich suche dich schon seit einer Ewigkeit!«

Gleichzeitig erklang ein spitzer Schrei, und der picklige Mann mit dem strähnigen Haar, der auf dem gegenüberliegenden Bett saß, drückte sich panisch an die hinter ihm befindliche Wand.

»Ich weiß von deiner Suchaktion«, flüsterte ihr Geliebter in ihr Ohr. »Ich habe auf dich gewartet.« Dann deutete Conny auf seinen verstörten Zellengenossen. »Darf ich vorstellen: Das ist Jeffrey. Er ist sich derzeit nicht ganz sicher, wen er mehr fürchten soll. Mich, den verrücktesten Mörder des Traktes, oder dich, die Spukgestalt mit der Taschenlampe.«

»Weiche von mir!« Jeffrey bebte am ganzen Körper und umklammerte einen Zipfel seiner Bettdecke, unter die er wohl am liebsten gekrochen wäre.

Stirnrunzelnd betrachtete Allison das Schauspiel. »Konntest du dir nicht eine hübsche Erklärung für ihn einfallen lassen? Der Typ ist ja völlig fertig.«

»Natürlich habe ich das versucht«, klärte Conny sie auf. »Was dabei rausgekommen ist, siehst du ja selbst. Die Wahrheit hielt er übrigens für völlig abwegig. Seitdem steckt er sich die Finger in die Ohren, wann immer ich versuche, mich mit ihm zu unterhalten.«

Prompt schob dieser Jeffrey seine beiden Zeigefinger tief in den Gehörgang und begann, laut und falsch zu singen.