Banshee Livie (Band 5): Klauen für Könner - Miriam Rademacher - E-Book

Banshee Livie (Band 5): Klauen für Könner E-Book

Miriam Rademacher

5,0

Beschreibung

Ein blaues Plüschtier entführt die Banshee der Harrowmores direkt aus ihrer heimatlichen Dachkammer und liefert sie einem unheimlichen Tribunal aus. Unschuldig verurteilt, findet sich Livie plötzlich in der Ewigen Bibliothek zwischen Unmengen von Büchern wieder. Wem hat sie all das zu verdanken? Steckt etwa ihr guter Freund, der Zauberer Zach, dahinter? Und was ist das für ein Buch, nach dem gesucht wird? Livie muss das Rätsel lösen, obwohl ihr neuer Vorgesetzter Feuer spuckt, wenn sie sich ihm widersetzt …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 404

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (2 Bewertungen)
2
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Dank

Miriam Rademacher

Banshee Livie

Band 5: Klauen für Könner

Fantasy

Banshee Livie (Band 5): Klauen für Könner

Ein blaues Plüschtier entführt die Banshee der Harrowmores direkt aus ihrer heimatlichen Dachkammer und liefert sie einem unheimlichen Tribunal aus.

Unschuldig verurteilt, findet sich Livie plötzlich in der Ewigen Bibliothek zwischen Unmengen von Büchern wieder. Wem hat sie all das zu verdanken? Steckt etwa ihr guter Freund, der Zauberer Zach, dahinter? Und was ist das für ein Buch, nach dem gesucht wird? Livie muss das Rätsel lösen, obwohl ihr neuer Vorgesetzter Feuer spuckt, wenn sie sich ihm widersetzt …

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

1. Auflage, Juni 2020

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2020

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-138-3

ISBN (epub): 978-3-03896-139-0

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Diese Geschichte ist für jene unter uns,

die manchmal nicht wissen,

ob sie zu den Guten oder zu den Bösen gehören.

Niemand ist perfekt. ;-)

Prolog

Unter der venezianischen Rialtobrücke dümpelte Irgendjemand im Kielwasser einer Gondel und sah hinauf zu dem steinernen Bogen über seinem Kopf. Den Namen Irgendjemand hatte er sich selbst gegeben, denn er liebte ein gewisses Maß an Verwirrung und Chaos rund um seine Person, von der er selbst der Meinung war, dass Schönheit zu ihren hervorstechendsten Merkmalen gehörte.

Irgendjemand war ein Wassergeist, ein Mummel, um genau zu sein. In den Gewässern der Welt schwammen viele Mummel, Wassergeister, die, wie allgemein angenommen, ihren Ursprung vermutlich in einem See gleichen Namens hatten.

Doch nicht immer glich ein Mummel dem anderen. Manche, wie Irgendjemand beispielsweise, waren mit einer nahezu menschlichen Physiognomie gesegnet. In seinem Falle mit dichtem schwarzen Haar, einem markanten Gesicht und einem muskulösen Körper, den er gern zur Schau stellte.

Aber es gab natürlich auch andere. Manche von ihnen glichen Ottern, Schnabeltieren oder im schlimmsten Falle, wie Irgendjemand fand, schwimmenden Plüschkarotten. Diese armseligen Mummel hatten kaum die Chance, jemals Achtung ihrer Artgenossen zu erringen, ihre Erfahrungen trugen selten etwas zu dem kollektiven Erinnerungsvermögen der Mummel bei, ihre Existenz erlangte nie Bedeutung.

Ganz anders war es um Irgendjemand bestellt. Er war beliebt, wurde bewundert und man holte oft seinen Rat ein. Nicht nur Wasserwesen, nein, fast jede magische Lebensform griff gern auf den großen Wissensschatz der Mummel zurück. Diese Wassergeister sammelten Erinnerungen. Ihr Gedächtnis, das ihnen allen gemein war, war wertvoller als jede menschliche Bibliothek und schlug sogar das Internet um Längen, wenn man denn mit Mummelerinnerungen umgehen konnte.

Auch jetzt spürte Irgendjemand, dass er gerufen wurde. Während hier sein Körper vom Wasser des Kanals gestreichelt wurde, fühlte er ganz deutlich, dass irgendwo auf der Welt eine Einladung für einen Mummel ausgesprochen worden war. Dafür ließ ein magisch begabtes Wesen gerade zwischen seinen Handflächen ein gut befülltes Aquarium entstehen und bat auf diesem Wege um baldiges Kommen und Hilfe.

Irgendjemands Interesse war geweckt. Er hatte sich stets seine Neugier bewahrt. Ein Ruf bedeutete Abwechslung, neue Kontakte, neue Geschichten. Es war fast wie ein Blind Date und manchmal genauso aufregend. Irgendjemand liebte diese Art der Kontaktaufnahme. Er wusste, dass es Mummel gab, die einem solchen Ruf folgten und sogar für immer blieben, kleine Wassergeister, die auf der Suche nach lebenslangen Bindungen waren. Doch das traf auf ihn nicht zu. Für Irgendjemand waren Einladungen eine willkommene Abwechslung, danach aber setzte er seine endlose Reise durch die Gewässer fort.

Jetzt lauschte er aufmerksam dem lauter werdenden Ruf, spürte, wie sein Körper Venedig und all seine Schönheit hinter sich lassen wollte, um an einem anderen Ort neu zu entstehen. Er entspannte sich, seine Gedanken trieben dahin wie das Wasser. Gleich würde er dort sein, wo auch immer es war. Er spürte, dass er erwartet wurde …

Tropfen stoben aus seinem Haar, als Irgendjemand die Wasseroberfläche durchbrach und sich am Rand des großzügigen Aquariums hochzog, um die neue Umgebung in Augenschein zu nehmen. Es war ein prächtiges Mummelbecken, fast schon ein kleiner Swimmingpool. Man hatte sich seinetwegen große Mühe gegeben.

Umso verwirrender fand er die Dunkelheit, die ihn und sein Behältnis umgab.

Wo steckte denn der Rufer? Warum stand er nicht am Beckenrand, um ihn zu begrüßen?

»Hallo?« Irgendjemand kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Hatte sich da nicht gerade etwas in der Dunkelheit bewegt? »Ist da jemand?«

Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Lautlos bewegte sich ein noch dunklerer Schatten in der Schwärze, die ihn umgab, und jetzt flammte eine Deckenlampe über ihm auf.

Die schmucklose Neonröhre tauchte seine neue Umgebung in kaltes Licht. Es war ein bis zur Decke in abstoßendem Gelb gefliester Raum von geringen Ausmaßen. Fast eine Zelle.

Neben dem Lichtschalter, nahe einer geschlossenen Tür, entdeckte Irgendjemand drei Gestalten, die ihm menschlich erschienen. Ganz sicher war er sich allerdings nicht, denn die drei waren von Kopf bis Fuß in dunkelblaue Kutten gehüllt, deren Kapuzen sie sich tief in die Gesichter gezogen hatten.

Ein ganz neues Gefühl ergriff von Irgendjemand Besitz. Er vermutete, dass es sich um so etwas wie Beklemmung handelte.

»Ich bin eingeladen worden«, rief er den Kuttengestalten zu und konnte einen Anflug von Furcht in seiner eigenen Stimme hören.

»Das ist richtig«, antwortete ihm die mittlere der seltsamen Gestalten. »Wir sind sehr erfreut, dass es uns tatsächlich gelungen ist, einen Mummel herbeizurufen. Es klappt also wirklich, das ist sehr befriedigend.«

»Möchtet ihr auf das Wissen der Mummel zurückgreifen?« Irgendjemand fühlte sich noch immer sehr verunsichert. Er wünschte sich meilenweit weg. Dies hier versprach gar nicht lustig zu werden. »Dann müsst ihr zuerst eine Vermutung äußern, die ich euch mit einer Vision auf dem Wasserspiegel bestätigen kann. Befindet ihr euch allerdings im Irrtum, bleibt das Wasser klar und wird nichts preisgeben. So sagt die Regel.«

Irgendjemand hielt es für angebracht, seinen Gastgebern dies zu erläutern, da er den Eindruck hatte, dass sie im Umgang mit Mummeln noch recht unerfahren waren.

Die mittlere Kuttengestalt gab ein Grunzen von sich, das Irgendjemand als Lachen interpretierte. »Nur zu gern würde ich einmal in den Genuss eines echten Mummelkinos kommen, doch ich fürchte, wir haben gar keine Fragen. Im Gegenteil: All unsere Fragen wurden soeben beantwortet.«

»Dann kann ich ja wieder gehen«, erwiderte der Mummel, dem immer mulmiger wurde. »Hätte jemand mit mentalen Kräften bitte die Güte, dieses Bassin zu einem Wasserweg schweben zu lassen, damit ich mich verabschieden kann? Ein Fluss wäre nett, aber zur Not gleite ich auch durch ein Abflussrohr. Ich bin sehr anpassungsfähig.«

»Davon haben wir gehört.« Der Sprecher der Gruppe trat näher, wobei ihm die anderen beiden lautlos folgten. »Aber es ist uns leider nicht möglich, dich einfach wieder gehen zu lassen, zumindest noch nicht. Nicht solange du etwas besitzt, das wir haben möchten.«

Irgendjemand sah an sich hinab. Eitel, wie er war, verzichtete er auf jedes unnötige Kleidungsstück und trug wie immer nur eine weiße knielange Jeans mit ausgefranstem Saum. Sie war alles, was er besaß. Er war ein Mummel, ihn interessierten nur Erinnerungen, die er eifrig sammelte.

»Ich besitze nichts außer Wissen«, versicherte er schnell. »Etwas anderes kann ich euch nicht bieten.«

»Oh, doch. Das kannst du.« Diese Worte klangen unheilvoll, und Irgendjemand spürte deutlich die Gefahr, in der er sich jetzt befand.

Es schien der richtige Zeitpunkt gekommen, um eine Warnung auszusprechen. »Es ist nicht klug, einem Mummel Böses zu wollen. Wir vergessen nie, und die Rache des Wassers wäre euch gewiss.«

Irgendjemand bemerkte die winzigen Wellen, die sein zitternder Körper jetzt im Bassin erzeugte. Noch nie hatte er sich in einer Situation wie dieser befunden. Wer würde sich auch einen Mummel zum Feind machen wollen? Niemand, das hatte er bis jetzt zumindest geglaubt.

Nun beobachtete er, wie sich die linke der Gestalten von seinen Gefährten entfernte und zielstrebig ein metallenes Tischchen ansteuerte, das seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. Auf ihm lagen eine Reihe schlanker silberner Gegenstände, die Irgendjemands ungutes Gefühl deutlich verstärkten.

»Was ist das hier für ein Ort? Was habt ihr mit mir vor?«

Die Gestalt am Metalltisch hob einen der Gegenstände in die Höhe. Es war eine Spritze von beeindruckender Größe mit auffallend gebogener Nadel. »Legst du Wert auf eine Betäubung, Wassermann?«

Die Verachtung, die in den Worten mitschwang, ließ keinen Zweifel daran, dass Irgendjemand hier an diesem Ort nicht mehr als Individuum, als lebendiges, fühlendes Wesen, angesehen wurde. Er war nur ein Wassermann.

»Aber ich habe doch gar nichts, was ich euch geben könnte.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Oh, doch«, sagte nun wieder die Gestalt, die das Gespräch begonnen hatte. »Und es hat gar keinen Zweck, es zu leugnen. Wir wissen alles über dich und deine Art. Mit euch bricht für uns die Zukunft an. Du bist der Erste, der uns geben wird, was wir wollen. Andere wie du werden folgen.«

Irgendjemand tat das Einzige, was ihm noch blieb: Er tauchte ab. Doch als die drei Kuttenträger furchtlos über den Rand des Aquariums zu ihm ins Wasser stiegen, wusste er schon, dass er ihrer Überzahl nicht gewachsen sein würde. Zwar befanden sie sich hier in seinem Element, doch wohin sollte er fliehen?

Was hätte er jetzt darum gegeben, von einem freundlichen Wesen erneut gerufen zu werden, dann wäre er diesem Bassin problemlos entkommen. Doch kein Ruf rettete ihn, und eine Flucht zu Fuß war für einen Mummel eine lebensgefährliche Sache.

Wie weit war das nächste fließende Gewässer von diesem Becken entfernt? Länger, als er es auf dem Trockenen aushalten würde? Das würde seinen sicheren Tod bedeuten. Doch was erwartete ihn hier?

Als gleich mehrere Hände nach ihm griffen, an ihm zerrten und ihn an die Bassinwand drängten, stellte Irgendjemand das Denken ein.

Von blinder Panik erfüllt, schlug er um sich, versuchte zu entkommen. Notfalls würde er die Flucht auf dem Landweg wagen müssen, alles war besser als das hier.

Schon hörte er das Glas in seinem Rücken gefährlich knacken, doch es brach nicht. Und die Hände seiner Gegner waren jetzt überall, machten ihn bewegungsunfähig.

Sein einziger Erfolg bestand darin, einem seiner Angreifer die Kapuze vom Kopf zu reißen. Was er sah, ließ seinen Herzschlag vor Entsetzen stolpern.

Kapitel 1

»Oh, Verzeihung! Das ist mir unendlich peinlich. Ich wollte nicht …«

Ich wusste natürlich, dass all mein Rumgestotter sinnlos war, denn Cameron Harrowmore, der Erbe eines Dreiviertelschlosses und Teil der Familie, für die ich als Banshee zuständig war, konnte mich zwar sehen, wie ich da am Fußende seines Bettes stand, aber leider nicht hören.

Ich hatte mich an diesem Sonntagmorgen für einen visuellen anstelle eines akustischen Auftritts entschieden, um ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass seine Mutter Claire in Kürze über einen herrenlosen Wäschekorb stolpern und eine Treppe hinunterstürzen würde, wenn sie nicht jemand aufhielt.

Und das hatte ich nun davon: den freien Blick auf alles, was ich niemals hatte sehen wollen. Mein Gott, war mir das unangenehm.

Aber natürlich hatte ein noch recht junger Witwer wie Cameron ein Recht auf ein Liebesleben. Und diese Blondine war wirklich hübsch und gut gebaut und hatte ein niedliches Schmetterlingstattoo auf dem Steißbein.

»Cameron, wer ist die Frau dort, die uns anstarrt?«, hörte ich sie jetzt entgeistert fragen.

Aus reiner Rücksicht wurde ich gleich einmal unsichtbar. Nur machte mich das nicht blind. Leider.

»Das war unsere Banshee, der Schlossgeist, wenn du so willst.« Camerons Gesicht lief dunkelrot an. Ob vor Ärger oder Scham, war mir nicht ganz klar. »Dana, Liebling, es tut mir furchtbar leid, ich bin gleich wieder da.«

Mit diesen Worten sprang er von Dana und seinem Bett, zerrte einen Morgenmantel aus dem Schrank und lief, sich hastig anziehend, zur Zimmertür. »Folge mir, wir besprechen das draußen.«

»Ich gehe doch nicht nackt raus auf den Flur«, protestierte die Frau namens Dana.

»Ich meine auch nicht dich, du wartest hier. Ich spreche mit meiner Banshee.« Camerons Stimme hatte einen leicht grollenden Unterton angenommen.

Schuldbewusst und noch immer unsichtbar folgte ich ihm aus seinem Schlafzimmer. Konnte ich etwa was dafür? Nein, ganz sicher nicht. Ich machte hier schließlich nur meinen Job.

»Ich bin doch nicht einfach nur ein Schlossgeist«, maulte ich, obwohl ich wusste, dass ich in ihm keinen Zuhörer hatte. »Ich bewahre dich und die deinen vor tödlichen Unfällen.«

Cameron, offensichtlich noch immer sehr verlegen, knotete am Gürtel seines Bademantels herum und hielt nach mir Ausschau. Also erschien ich ihm erneut, um stumm zu klagen, wobei ich ihm zunächst einmal mit ausladenden Gesten versicherte, wie peinlich mir dieser Vorfall war.

»Schon gut, schon gut, du kannst ja nichts dafür.«

Genau das hatte ich von ihm hören wollen.

»Verrätst du mir jetzt auch, was überhaupt los ist? Brennt das Kinderzimmer?«

Ich schüttelte den Kopf und forderte ihn zum Weiterraten auf, wobei ich ihm den ersten Hinweis servierte: Ein imaginäres Buch in den Händen haltend, taumelte ich vorwärts.

»Meine Mutter liest schon wieder Schundromane im Gehen?«, riet Cameron tapfer drauflos.

Ich hob beide Daumen und strahlte ihn an. Cameron kannte seine Familie eben genau.

»Vermutlich ist sie im Begriff, mit dem Kopf voran eine lange, steile Treppe hinabzustürzen?«

Er war grandios. Ich belohnte ihn mit einem improvisierten Cheerleaderinnen-Auftritt.

»Na, dann werde ich eilen und ihr den Hals retten.« Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und rannte davon, pfeilgerade den Wohnräumen seiner Eltern entgegen.

Am Ende des Flures prallte er fast mit seiner jüngeren Schwester Millie zusammen, murmelte hastig eine Entschuldigung und verschwand um eine Ecke.

Millie sah ihm kopfschüttelnd nach, dann entdeckte sie mich. »Oh, ist schon wieder etwas passiert?«

»Nein, ist es nicht«, widersprach ich. »Und wird es wohl auch nicht, dank mir.«

Bei Millie konnte ich mir die alberne Scharade verkneifen. Ihr Druidenerbe ermöglichte es ihr, mich mit allen Sinnen wahrzunehmen. Sie war meine beste Freundin hier auf Schloss Harrowmore und erst kürzlich Mutter zweier äußerst begabter Zwillinge geworden. Selbige saßen für gewöhnlich quengelnd auf ihren Hüftknochen, doch an diesem Herbstmorgen fehlten sie.

Ich hob fragend die Augenbrauen. »Du wirkst irgendwie unvollständig. Wo sind die kleinen Tyrannen geblieben, die dich für gewöhnlich belagern? Du wirst sie doch nicht in einem Moment des Hormonmangels ertränkt haben.«

Auf Millies Gesicht breitete sich ein sonniges Lächeln aus. »Ob du es glaubst oder nicht: Sie schlafen. Beide gleichzeitig. Ich schätze, das ist das erste Mal seit ihrer Geburt.«

»Herzlichen Glückwunsch.« Ich meinte es ehrlich. Ich wusste nur zu gut, wie sehr ihr die letzten Monate zugesetzt hatten. Obwohl ich ihr, so oft ich konnte, wenigstens ihre Tochter Allison abgenommen hatte, wirkte Millie zusehends schmaler und blasser auf mich. Der Rest ihres Babybauches war in den letzten Monaten schneller dahingeschmolzen als Vanilleeis in der Sommersonne. »Dann hätte ich mit meiner Warnung ja auch zu dir kommen können, anstatt deinem Bruder einen Coitus interruptus zu bescheren.«

Vor Überraschung ließ Millie die Bücher, die sie unter den linken Arm geklemmt mit sich herumtrug, fallen. Wir bückten uns gleichzeitig, um sie wieder einzusammeln. Ich allerdings mehr aus einem alten, sehr menschlichen Reflex heraus, denn ich konnte seit meinem Tode keine gewöhnlichen Gegenstände mehr berühren und sie nur mithilfe telepathischer Kräfte bewegen.

»Cameron hat ein Mädchen auf seinem Zimmer?« Millie klang ehrlich verblüfft.

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, erwiderte ich. »Sie heißt übrigens Dana.«

»Ach herrje. Ausgerechnet die Liebe zu seiner Sandkastenfreundin Dana musste er wieder auffrischen? Na ja, solange sie nur Spaß miteinander haben, soll es mir egal sein. Aber wehe, ich muss sie eines Tages als neue Schwägerin im Schloss willkommen heißen.«

»Nicht ganz dein Typ?« Ich sah sie mitleidsvoll an, als mein Blick auf ein goldenes Büchlein fiel, das Millie noch nicht wieder auf ihren Stapel gelegt hatte. »Hey, das kenne ich doch.« Ich streckte die Finger nach dem Büchlein aus und war kein bisschen überrascht, als ich es berühren konnte. »Das ist eines der Tagebücher von Hyronimus Maplefit, das mir Zach aus der Bibliothek mitgebracht hat. Ich habe es schon überall gesucht.«

»Diese Dana ist eine furchtbare Person«, fuhr Millie eine Spur zu hastig fort. »Seit ihrer Geburt weiß sie alles besser und lässt dich unaufgefordert an ihrem Wissen teilhaben. Egal ob es um die richtige Ernährung, die richtige Kleidung oder die richtige Lebensplanung geht. Dana weiß immer Rat, ob du ihn hören willst oder nicht.«

»Wie kommst du an dieses Buch?«, unterbrach ich sie ungehalten. »Ich hatte es unter meinem Sofakissen versteckt.«

»Ja, und genau dort habe ich es gefunden«, gab Millie verlegen zu.

»Kannst du mich nicht wenigstens fragen, bevor du dir das einzige Buch ausleihst, das ich in Händen halten kann?« Ich nahm Maplefits Werk an mich und erhob mich aus der Hocke.

Auch Millie richtete sich wieder auf und schob sich den Bücherstapel unter den Arm. »Es tut mir leid, okay? Ich fand es durch Zufall, als ich allein mit meinen beiden nervigen Kindern auf dich in deiner Dachkammer wartete. Als du einfach nicht auftauchtest, ließ ich Allison auf deinem Sofa zurück, quasi im Tausch gegen das Buch. Ich wollte es ja zurückbringen, aber ich habe es vergessen. Es muss schon seit Wochen auf dem Stapel neben meinem Bett gelegen haben. Ich komme einfach nicht zum Lesen, weißt du?«

»Du hast deine Tochter gegen ein Buch eingetauscht?« Ich sah sie vorwurfsvoll an. »Findest du das nicht etwas bedenklich?«

Millie zuckte mit den Schultern. »Bücher liegen mir eben mehr. Und Allison schläft nirgendwo besser als auf deiner Couch.« Sie deutete auf das Buch, das ich besitzergreifend an meine Brust presste. »Stammt es wirklich aus der Ewigen Bibliothek? Wann muss es zurückgegeben werden?«

»Weiß ich nicht«, gestand ich. »Wie schon gesagt, hat Zach es mitgebracht und es dann bei mir liegen lassen. Ich selbst war noch nie in dieser sagenhaften Bibliothek. Du etwa?«

Millie schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß noch nicht einmal, wie man dort hinkommt. Aber ich habe mal gehört, dass mit den Bibliothekaren dort nicht gut Kirschen essen ist. Du solltest Zach das Buch besser bald zurückgeben.«

Ich stieß ein unwilliges Grunzen aus. Zach, der kleine Zauberer, den ich für einen meiner besten Freunde außerhalb Harrowmores hielt, hatte sich bei mir schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr blicken lassen. Ebenso wenig wie mein Mummel Sniff, der etwa zeitgleich mit Zach und mitsamt seinem Mummelglas aus meiner Dachkammer verschwunden war.

Ich hatte also seit geraumer Zeit zwei Abgänge zu beklagen und wurde allmählich ärgerlich. Zachs Ausbleiben war ja noch vertretbar. Der kleine Magier reiste durch Zeit und Raum, gut möglich, dass er gerade wieder etwas Wichtiges zu erledigen hatte.

Aber meinen Mummel Sniff betrachtete ich eigentlich fast als mein Eigentum. Von meinem ersten Banshee-Tag an war er an meiner Seite gewesen. Es fühlte sich ungewohnt an, ihn nicht in meiner Nähe zu wissen, und er fehlte mir schrecklich.

In diesem Moment kehrte Cameron von seinem Rettungseinsatz zurück, einen Korb mit dreckigen Stramplern vor sich hertragend. »Millicent Harrowmore. Kann es sein, dass du etwas am oberen Ende der Treppe vergessen hast? Und zwar genau im Laufweg?«

»Oh.« Millie sah schon wieder verlegen drein. »Das tut mir leid. Ich bin in letzter Zeit so zerstreut, ich schätze, das liegt noch immer an meinem Hormonhaushalt.«

Mit einem unwilligen Schnauben hielt Cameron seiner Schwester den Wäschekorb hin, die ihren Bücherstapel obenauf legte und die Dreckwäsche ihrer Zwillinge entgegennahm.

»Deine Kinder wurden im April geboren.« Cameron verschränkte die Arme vor der Brust. »Jetzt haben wir bereits Oktober. Ich kann nicht glauben, dass ein Hormoncocktail so lange für Gedächtnislücken sorgt. Auf mich haben Hormone übrigens nie diese Wirkung.«

»Du hast also nicht vergessen, dass du in deinem Schlafzimmer erwartet wirst?«, feixte Millie, und Cameron öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen.

Mit erstaunlicher Geschwindigkeit verschwand er kommentarlos hinter seiner Zimmertür. Millie und ich sahen einander an und kicherten.

Doch dann packte meine Freundin ihren Korb mit Dreckwäsche fester und meinte: »Ich werde wohl besser mal meinen mütterlichen Pflichten nachkommen und diesen Berg hier in die Waschmaschine schmeißen.«

»Achte darauf, dass du keines der Bücher mitwäschst«, erwiderte ich und trat den Rückweg in meine Dachkammer an.

Wieder einmal hatte ich ein Mitglied der Familie vor dem Tod bewahrt. Ich fand, dass ich mir jetzt eine kleine Pause verdient hatte. Eine Lesepause.

Maplefits Werk noch immer fest an mich gedrückt, wandte ich mich zum Gehen.

Noch auf den Stufen zu meinem Domizil hörte ich es zum ersten Mal. Es klang, als würde eine sehr hohe Stimme sehr schräg singen oder heulen. Und je näher ich meiner Dachkammer kam, desto lauter wurden die misstönenden Klänge.

Vor meiner Tür blieb ich stehen und lauschte.

»Walt?«, rief ich und schalt mich im selben Moment eine Närrin.

Walt, mein Todesbote und zugleich der Mann, dem mein Herz gehörte, sang nicht. Schon gar nicht hoch und schief. Nein, eigentlich konnte es für diese Beleidigung meiner Ohren nur einen Grund geben: Sniff, mein Mummel, musste endlich heimgekehrt sein. Ja, kein Zweifel. Das klang nach einer Mummelstimmlage.

Freudig riss ich die Tür zur Dachkammer auf, trat ein und blieb überrascht stehen. Was dort auf dem improvisierten Wickeltisch vor dem großen Rundfenster hockte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit meinem Mummel. Es schien sich eher um einen fußballgroßen himmelblauen Koala zu handeln.

Ratlos betrachtete ich den Neuankömmling, der jetzt das Heulen eingestellt hatte und mich aus großen Knopfaugen neugierig anstarrte. Um was für ein Wesen es sich auch handeln mochte, ich sah ein derartiges Geschöpf heute zum ersten Mal.

»Hallo.« Es war das erste freundliche Wort, das mir in den Sinn kam.

Gleichzeitig löste ich den Blick von meinem Besucher und schaute mich in meinem Reich um, in der Hoffnung, Walt irgendwo zu entdecken. Doch der Todesbote von Schloss Harrowmore glänzte durch Abwesenheit.

Das niedliche Tierchen auf dem Wickeltisch indes antwortete auf meine Begrüßung mit einer schrägen Tonfolge. Eine richtige Sprache beherrschte es wohl nicht, jedenfalls nicht meine. Trotzdem versuchte ich mein Glück noch einmal.

»Wer bist du denn, du niedlicher kleiner Kerl? Hast du auch einen Namen?«

Der blaue Koala lächelte und entblößte dabei eine Reihe sehr spitzer Zähne.

»Wie bist du denn überhaupt hierhergekommen?«

Die Antwort bestand aus einem fröhlichen Winken mit schneeweißen Tatzen. Ich näherte mich dem kleinen Burschen langsam.

Nein, gefährlich schien mein Besucher nicht zu sein. ›Niedlich‹ traf es eher. Aber konnte ich dem äußeren Eindruck wirklich trauen?

Da kam mir ein Gedanke: Vielleicht war der Kleine ja ein Geschenk von Walt und sollte mich über das lange Ausbleiben meines Mummels hinwegtrösten. Ja, so konnte es sein. Der Koala glich so sehr einem niedlichen Haustier, dass er vermutlich genau das war.

»Bist du denn zahm?«, fragte ich vorsichtig, machte ein paar Schritte auf ihn zu und streckte zögernd eine Hand nach dem blauen Fellball aus.

Mein Gast verhielt sich abwartend, ließ meine sich ihm nähernde Hand aber nicht aus den Augen. Sein Grinsen wurde eine Spur breiter.

Mutig legte ich zwei Finger auf den Scheitel des Wesens und streichelte es sanft zwischen den Ohren. Für einen kurzen Moment schlossen sich seine Augenlider und ich sah meinen Verdacht bestätigt: Es war ein kuschliges, fluffiges Haustier.

Doch nur einen Wimpernschlag später griffen die weißen Pfötchen nach meinen Fingern und umklammerten sie fest.

Überrascht schaute ich dem Kerlchen in die Knopfaugen, die jetzt einen farbigen Schimmer annahmen, der mit jeder Sekunde intensiver wurde.

»Was zum …«

Zu spät bemerkte ich, dass der farbige Schimmer gar nicht von den Knopfaugen selbst ausging. Sie spiegelten nur das Licht wider, das uns umgab und sich jetzt zu einem gleißenden Strudel entwickelte.

»Das ist ein Teleport«, stellte ich fest. »Ich werde wegteleportiert. Aber wozu?«

Der blaue Koala vor mir auf dem Wickeltisch kicherte boshaft und drückte meine Hand noch fester. Da begriff ich, wie das Ding in meine Dachkammer gekommen war und dass es Anstalten machte, diese auch auf dem gleichen Weg wieder zu verlassen. Nur dass es diesmal entschlossen schien, mich mitzunehmen.

Energisch zog ich meine Hand zurück, wobei der Fellball vom Tisch rutschte. Aber losgelassen wurde ich nicht. Schon schwanden die Umrisse meiner Dachkammer, der Strudel wurde noch stärker und eine wohlbekannte Kraft riss mich fort.

Mein letzter Gedanke vor dem endgültigen Teleportieren war, dass ich gerade einen äußerst dummen Fehler begangen haben musste.

Kapitel 2

Als der Strudel von Farben verblasste, fand ich mich an einem sehr eigenartigen Ort wieder. Einem fensterlosen Ort, einem steinernen Gewölbe gleich, nur erhellt von lustig flackernden Fackeln an den dunklen Backsteinwänden.

Ich stand inmitten des Geschehens, und vor mir erhob sich eine Art Richtertisch, hinter dem ich zwölf Gestalten in dunkelblauen Roben zählte. Kapuzen verdeckten ihre Gesichter vollständig.

In der Hoffnung, es könnte sich bei ihnen um Todesboten handeln, bemühte ich mich, unter ihren Kapuzen den Lichtschimmer ihrer Augen auszumachen. Doch dort schimmerte gar nichts.

In diesem Moment ließ das blaue Wesen, das noch immer an meiner Hand baumelte, meine Finger los und fiel zu Boden. Mit einem Kichern verschwand es hinter dem Richtertisch und damit aus meinem Blickfeld.

»Willkommen, Banshee Livie. Es war klug von dir, unseren Boten hierher zu begleiten.«

Ich versuchte, herauszufinden, welcher der Kuttenträger zu mir gesprochen hatte, doch ich war mir nicht völlig sicher, ob ich bei meinem folgenden Protest auch die richtige Person im Blick hatte.

»Ihr Bote, wie Sie diese Plüschkugel nennen, hat mich entführt, das wollen wir doch mal festhalten. Und ich verlange, augenblicklich zu erfahren, wo ich mich hier befinde.« Meine Worte klangen weit mutiger, als ich mich fühlte. Und der letzte Rest Mutes schwand dahin, als sich jetzt unter den Kuttenträgern vor mir unwilliges Gemurmel erhob.

Mit einem Holzhammer, den er auf den Richtertisch niedersausen ließ, sorgte eine Gestalt nahe der Mitte für Ruhe. Und als ich jetzt erneut angesprochen wurde, war ich mir sicher, dass die Worte von der Person mit dem Hammer stammten.

»Entführt? Hast du dem Boten etwa nicht deine Hand gereicht?«

»Gereicht? Ich wollte ihn streicheln!« Entrüstet stemmte ich die Hände in die Seiten.

Ein Hüsteln war die Antwort. Wurde da etwa über mich gelacht?

»Ich denke, das können wir als Einwilligung ebenfalls gelten lassen«, erwiderte mein Gesprächspartner gelassen.

»Ich denke das nicht«, entgegnete ich und war mir des Kratzens in meiner Stimme nur allzu bewusst. »Ich will sofort wieder nach Hause.«

Verzweifelt klammerte ich mich an das Gefühl der Wut, das mich jetzt zu verlassen drohte, um der namenlosen Angst Platz zu machen, die dieser Situation angemessen war.

Zwar konnte ich mir nicht völlig sicher sein, doch dies hier war offensichtlich kein sehr freundlicher Ort. Er war zu kalt und zu finster. Trotz der Fackeln an den Wänden blieb ein Großteil des Gewölbes im Dunkeln.

Als ich mich verstohlen umsah, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass dieser Ort nicht nur fensterlos, sondern auch türenlos war.

Führte nur ein Teleport hierher? Ich hatte mich seit meiner Ankunft kaum bewegt, musste mich also noch in einer Teleportzone befinden. Wenn ich mir jetzt ein wenig Mühe gab, dann konnte ich diesen ungastlichen Ort auch wieder verlassen.

Ich schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen, die Teleportation zuzulassen, wobei ich mir meine eigene Dachkammer vorstellte.

Doch das für einen Teleport typische Gefühl blieb aus. Nichts zog mich weg, nichts ließ mich verschwinden.

»Gib dir keine Mühe, Banshee. Du wirst den Verhörsaal erst verlassen, wenn wir es dir gestatten«, hörte ich den Gesichtslosen mit dem Holzhammer sagen.

Das entsprach wohl der Wahrheit. Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich nicht selbst zurückteleportieren.

Was war das nur für ein seltsamer Ort und was waren das für eigenartige Gestalten?

»Ich habe nichts getan«, brachte ich heraus und konnte hören, dass meine Stimme quietschte wie eine Gummiente. »Warum wurde ich hierhergebracht?«

Unter den Kutten schien eine leichte Unruhe zu entstehen. Dann rief eine Stimme, die von rechts außen kam: »Bist du denn nicht Livie, die Banshee von Schloss Harrowmore? Und ist nicht Walt, der Todesbote, dein direkter Vorgesetzter?«

»Schon«, gab ich zu. »Aber das allein kann wohl kaum der Grund sein, um mich ohne Vorwarnung in einen Verhörsaal zu verfrachten.«

»Ja, hast du denn nicht die AGB gelesen?«, fragte dieselbe Stimme weiter.

Jetzt wurde mir so richtig flau in der Magengrube. Zu meinen Lebzeiten hatte ich unzählige Richtlinien, Bestimmungen und AGB nicht gelesen und ihnen trotzdem mit einem kleinen unscheinbaren Häkchen zugestimmt. Las denn wirklich irgendjemand diese endlosen klein gedruckten und höchst langweiligen Regeln?

»AGB? Welche denn?« Oh Heiland, meine Stimme war jetzt so leise geworden, dass ich mich selbst kaum noch hören konnte.

Unter den Kutten mussten sich jedoch sehr gute Ohren befinden, denn meine Worte lösten erneut ein unwilliges Gemurmel aus. Wieder verschaffte sich der mittlere meiner Ankläger mit seinem Holzhammer Gehör, und das Stimmengewirr schwoll ab.

Dann wandte er sich an mich. »Banshee Livie. Sagt dir die Nummer 26220 irgendetwas?«

Das war jetzt schon die zweite Frage, die ich so nicht hatte kommen sehen. Hilflos zuckte ich mit den Schultern und fuhr mir mit den Fingern durch die schwarzen Locken. »Ist das Ihre Telefonnummer, Euer Ehren?« Was wusste denn ich, wie der Kerl angeredet werden wollte?

Der schwere Seufzer, der die nächsten Worte begleitete, machte mir klar, dass ich mit dieser Bemerkung jeden Glauben an meine Intelligenz restlos beseitigt hatte. »Es ist die Nummer deines Büchereiausweises, Banshee.«

»Ääääh …« Es war das längste ›Äh‹ meiner bisherigen Existenz und brachte mir überhaupt nichts. Ich konnte mein Gedächtnis von vorn nach hinten umkrempeln, ich hatte keine Ahnung, wovon hier die Rede war. »Ich habe gar keinen Büchereiausweis«, brachte ich schließlich hervor. »Das müsste ich doch wohl wissen, oder?«

»Und was hältst du da in deiner linken Hand, Banshee?«

Diese Frage schien mir weniger schwer. Ich sah einfach nach und stellte überrascht fest, dass ich noch immer das goldene Buch bei mir trug, das ich Millie nur wenige Minuten zuvor auf dem Flur in Schloss Harrowmore abgenommen hatte.

»Oh, das ist eines der Tagebücher von Hyronimus Maplefit. Ein Freund hat es sich in der Ewigen Bibliothek ausgeliehen und dann bei mir vergessen.« Noch während ich sprach, rutschten zwei Informationsschnipsel, die ich erhalten hatte, an den richtigen Platz: die Ewige Bibliothek, von der ich nichts wusste, außer dass sie existierte, und die Frage nach einem Büchereiausweis, den ich definitiv nicht besaß.

»Und wer soll dieser Freund gewesen sein, der das Buch bei dir vergessen hat, Banshee?«, unterbrach ein weiterer Kuttenträger meinen Gedankengang.

»Der größte kleine Magier der ganzen Welt«, verkündete ich. »Zacharias Biggs.« Nicht ohne Stolz rief ich den Namen meines lieben Freundes und wartete darauf, dass er seine Wirkung tun würde. Ich erhielt tatsächlich eine prompte Reaktion, doch es war nicht ganz die, die ich erwartet hatte.

Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, einige der Gestalten sprangen von ihren Stühlen auf, trommelten auf den Tisch, und überall erklangen wütende Zischlaute, denen ich erst nach und nach einen Sinn entnehmen konnte.

»Unwürdig, sie hat den Namen des Unwürdigen genannt.«

»Sie ist mit einem Dieb befreundet, sie wird selbst eine Diebin sein.«

»Bestraft sie, bestraft die Banshee.«

»Sie muss eine Strafe bekommen. Aber sie muss uns auch sagen, wo sich der Dieb aufhält.«

Noch während ich mir die Zeigefinger in beide Ohren stopfte, wusste ich, dass ich vermutlich soeben einen schweren Fehler begangen hatte.

Nur zu gern wäre ich jetzt einfach davongelaufen, doch wie floh man aus einem Raum ohne Tür, wenn Teleportieren nicht möglich war?

Mir war nach Weinen zumute. Ich hatte gar nichts getan, ich wusste ja nicht einmal, wovon hier die Rede war. Für einen kurzen Moment senkte ich den Kopf und sah hinab auf die Spitzen meiner Turnschuhe, die unter meinem blauen Banshee-Samtkleid hervorlugten. Seit damals, als ich im Internet versehentlich eine Wagenladung Tampons bestellt hatte, war ich mir nicht mehr so dumm, klein und hilflos vorgekommen.

Da polterte der Holzhammer des Vorsitzenden erneut, und nach einer Weile trat wieder Ruhe ein. Vorsichtig zog ich die Finger aus den Ohren und beobachtete, wie das kleine blaue Koalamonster den Richtertisch erklomm, sich darauf niederließ und mir eine Grimasse schnitt.

»Banshee Livie. Ich glaube nicht, dass du das Ausmaß deines Handelns oder deiner Worte auch nur erahnen kannst«, sagte nun der Kerl mit dem Hammer. »Du scheinst mir noch sehr jung, sehr unerfahren und nahezu gefährlich ahnungslos zu sein.«

Ich nickte erleichtert. Endlich bemühte sich mal jemand darum, die Dinge aus meiner Perspektive zu sehen.

»Sie ist noch nicht sehr lange Banshee«, rief ein anderer Kuttenträger, der diese Information einem gelben Pergament zu entnehmen schien, das er in Händen hielt. »Sie starb 2017 durch einen Blitzschlag. Seitdem ist sie dem Todesboten Walt unterstellt, mit dem sie eine recht intime Beziehung führt.«

Ich runzelte die Stirn. Was für ein Dokument enthielt denn bitte schön derartige Informationen über mich und mein Leben nach dem Tod?

»Sie pflegt zweifelhaften Umgang mit Inkubussen und ähnlichem Pack«, fuhr der Redner fort. »Ihren Banshee-Job erledigt sie allerdings zufriedenstellend. Weltweit ist seit ihrem Dienstantritt noch kein Harrowmore ernstlich zu Schaden gekommen. Ihre Warnungen erfolgen prompt und zuverlässig.«

Ich streckte meinen Rücken ganz leicht und hob vorsichtig das Kinn. Na bitte. Das klang doch so, als hätte ich bisher nicht auf ganzer Linie versagt.

»Doch Unwissenheit schützt vor Strafe nicht«, erklärte nun der Vorsitzende mit donnernder Stimme. Hatte ich es doch geahnt. Was immer hier über mich hereingebrochen war, es würde nicht gut für mich ausgehen. »Es sei denn, sie ist bereit, uns den Aufenthaltsort des Diebes Zacharias Biggs zu nennen.«

Nie hätte ich einen Freund verraten, schon gar nicht an diese finsteren Gestalten vor mir. Was immer Zach auch getan haben mochte – dass er ein Dieb sein sollte, glaubte ich keine Sekunde. Ich würde ihn nicht ausliefern. Konnte ich auch gar nicht. Denn ich hatte Zach seit Wochen nicht mehr gesehen.

»Ich weiß doch nicht, wo er ist«, warf ich kläglich ein. »Er hat ja nicht einmal das Buch bei mir abgeholt.«

»Dann wird dich die Strafe mit voller Härte treffen, kleine Banshee. Es tut mir leid, aber jemand hätte dich besser auf deinen Tod vorbereiten sollen. Du scheinst nicht viel zu wissen, weder über deine angeblichen Freunde noch über die Regeln, an die du dich zu halten hast.« Die Stimme des Hammermannes klang jetzt sanfter als zuvor.

»Es tut mir leid«, murmelte ich und senkte den Blick erneut.

Entschuldigte ich mich gerade wirklich für meine eigene Unwissenheit? Als ob ich etwas dafür könnte! Mir sagte ja niemand etwas. Walt hatte mir meinen Job erklärt, aber mehr auch nicht. Hätte ich etwa eine Art Todesschule besuchen sollen? Oder wo wurde man sonst auf Momente wie diesen vorbereitet? Wenn ja, forderte ich hiermit meine nachträgliche Einschulung und die feierliche Überreichung meiner Schultüte.

»Tritt vor, Banshee, und nimm deine Strafe in Empfang.«

Oh nein, das wollte ich ganz sicher nicht. Vielleicht stand auf das, was ich unwissentlich verbrochen hatte, ja die Todesstrafe. Vielleicht musste ich mich hier vor aller Augen in ein Schwert stürzen.

Erst allmählich erinnerte ich mich daran, dass ich bereits tot war, mein Leben also kaum mehr verlieren konnte.

Und so gab ich mir einen Ruck und setzte einen Fuß vor den anderen. Eine halbe Ewigkeit verging, bis ich mich ganz nah vor dem Tisch meines Richters wiederfand. Neben dem Holzhammer saß der kleine Koala und hielt ein zusammengerolltes Pergament zwischen den spitzen Zähnen.

»Dein Bußgeldbescheid.« Die Stimme klang nun sehr kühl und reserviert. »Du darfst mir das Corpus Delicti jetzt übergeben. Kennst du das Ende der Geschichte, dann schließe das Buch.«

Im ersten Moment wusste ich nicht, wovon er redete, doch dann legte ich das goldene Büchlein von Hyronimus Maplefit auf dem Tisch vor mir ab, woraufhin mir der Koala das gerollte Pergament vor die Finger spuckte.

Noch während ich es an mich nahm, fühlte ich, wie meine Beine plötzlich unter mir nachgaben und sich ein Farbenstrudel um mich herum entspann. Wieder einmal wurde ich ungefragt wegteleportiert.

Wohin würde meine Reise gehen? In ein Strafgefangenenlager für ungebildete Schutzgeister? Verbannte man mich etwa in unwirtliche Sümpfe? Was immer mich auch erwartete, ich fühlte mich hilflos ausgeliefert.

Und mit einer Mischung aus Ärger und Sehnsucht dachte ich an den einzigen Mann, der das hier hätte verhindern können und der mir jetzt noch helfen konnte.

»Walt«, flüsterte ich. Dann schwand das Licht der Fackeln an den Wänden.

»Da bist du ja endlich«, hörte ich eine vertraute Stimme sagen. »Wo hast du denn bloß gesteckt?«

Es war kaum zu fassen, aber ich war wieder zu Hause und stand mitten auf meinem Couchtisch in der Dachkammer von Schloss Harrowmore. Das seltsame Tribunal hatte mich ziemlich genau zu meinem Ausgangspunkt zurückgeschickt. Vor mir auf dem durchgelegenen Troddelsofa, das mir als Bett diente, saß Walt, mein Todesbote.

Noch so ein Kuttenträger. Ehrlich gesagt, hatte ich für den Moment die Schnauze voll von allen gesichtslosen Feiglingen dieser Welt. Eigentlich war es doch eine Unverschämtheit, sich einfach selbst zu verstecken und damit sein Gegenüber zu verunsichern.

Doch das vertraute Rotbraun der Todesbotenkapuze hatte bei längerer Betrachtung schon fast eine beruhigende Wirkung auf mich. Oder vielmehr hätte sie gehabt, wenn mich nicht gerade jetzt eine Stinkwut gepackt hätte.

»Ich wurde entführt«, stieß ich hervor. »Von einem blauen Plüschmonster mit spitzen Zähnen. Ich wollte ihm nur über den Scheitel streicheln, da packt es mich und verschleppt mich an den schlimmsten Ort, an dem ich je gewesen bin. Wieso hast du mich nicht gewarnt, dass so etwas passieren kann?«

Auch wenn ich Walts Gesicht nicht sah, so hörte ich seine Überraschung am Klang seiner Stimme. »Was hätte ich dir denn sagen sollen? Geh nie mit einem Fremden mit? Ist es für solche Ratschläge nicht ein wenig zu spät? Ich dachte, die hättest du schon vor Jahren von deiner Mutter bekommen.«

»Ich wurde gerade entführt, Walt!« Meine Stimme wurde schrill.

»Ja, das hab ich verstanden.« Walts Tonfall klang beschwichtigend. »Aber jetzt bist du wieder da, nicht wahr? Und jetzt wirst du dir merken, dass man einem Fremden nicht einfach die Hand geben sollte. Jedenfalls nicht in unserer Welt. Meine Güte, ich dachte, das hättest du längst begriffen. Ich hab dich doch schon so oft auf einen Teleport mitgenommen.«

»Ich habe aber niemals darüber nachgedacht, dass es auch gegen meinen Willen passieren kann«, rief ich und breitete mit einer dramatischen Geste die Arme aus.

»Dann denk eben ein bisschen mehr und hör auf, mich anzubrüllen!«, brüllte Walt zurück.

Das war mal wieder typisch. Ich kehrte heil und gesund aus den Fängen meiner Entführer zurück, und einen Augenblick später hatten wir auch schon den schönsten Beziehungskrach.

»Ich will einen anderen Todesboten«, rief ich. »Einen, der nicht nur zufrieden ist, wenn ich meinen Job gut mache, sondern der auch auf mich achtgibt.«

»Pass bloß auf, dass ich nicht plötzlich eine andere Banshee will. Im Zweifelsfall bist es nämlich du, die ihre Koffer packt und das Schloss verlässt, klar?« Unter seiner Kapuze hatte es blau zu leuchten begonnen, was mir verriet, dass Walts Emotionen gerade hochkochten.

Ich schluckte. So böse hatten wir noch nie miteinander gesprochen, nicht einmal damals, als ich noch neu in meinem Tod und völlig überfordert gewesen war.

»Entschuldige«, brachte ich heraus. »Aber ich habe gerade schreckliche Angst ausgestanden und bin so wütend.«

»Wut und Angst geht nicht zusammen, du musst dich schon entscheiden, Livie.« Erfreulicherweise schien der blaue Lichtschimmer seiner Augen an Intensität nachzulassen.

»Ich bin wütend auf dich, weil ich Angst hatte!« Dieser Mann machte es einem manchmal nicht leicht. Ich sprang vom Couchtisch und warf ihm die Pergamentrolle in den Schoß. »Hier. Erklär mir wenigstens, was das ist und was es für mich bedeutet.«

Walt entrollte das Pergament geschickt und las, was darauf geschrieben stand. Seine Stimme klang ungläubig, als er das Blatt sinken ließ. »Du hast einen Büchereiausweis für die Ewige Bibliothek beantragt? Wann denn das?«

»Das habe ich doch gar nicht«, widersprach ich heftig. »Ich war noch niemals dort, ich habe nichts unterschrieben und niemand, wirklich niemand hat mir irgendwelche AGB vorgelegt.«

»Aber du hast ein Buch entliehen, das steht hier auf diesem Zettel. Und du hast die Ausleihfrist um mehrere Wochen überschritten.« Walt tippte mit dem Zeigefinger auf das Pergament, als wollte er es perforieren. »Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen, Livie? Weißt du denn nicht, was passiert, wenn man ein entliehenes Buch nicht innerhalb der Frist zurückgibt?«

»Woher soll ich so etwas denn wissen? Du hast es mir ja nicht erzählt!«

»Ich wusste auch gar nicht, dass du in der Ewigen Bibliothek einen Ausweis beantragt hast!« Er schrie jetzt noch lauter als ich, und das Leuchten unter der Kapuze wurde wieder stärker.

»Hab ich ja auch gar nicht!« Ich fühlte mich wie kurz vor einem Schlaganfall. Was musste ich denn noch sagen, damit ich endlich verstanden wurde? »Jemand muss mich reingelegt haben«, stieß ich schließlich hervor. »Jemand, der mir Böses will.«

Walt schwieg einen Moment. Dann erwiderte er mit ruhiger und beherrschter Stimme: »Laut diesem Bescheid hast du ein Buch von einem gewissen Hyronimus Maplefit entliehen. Und jetzt fehlt es in der Ewigen Bibliothek.«

»Ich habe es gerade zurückgegeben«, klärte ich ihn auf.

»Also hast du es doch auch ausgeliehen.« Walt klang ärgerlich.

»Zach hat es ausgeliehen. Es ist das Buch, das Zach hier bei seinem letzten Besuch vergessen hat. Er hat es nie wieder bei mir abgeholt.« Ich dachte nach. »Aber warum bekommt dann nicht Zach diesen Ärger, der gerade über mich hereinbricht?«

»Weil du als Entleiher eingetragen wurdest.« Walt zerknüllte das Pergament zu einer kleinen Kugel und warf sie durchs Zimmer. »Du hast sogar eine Ausweisnummer: 26220. Zach muss ihn in deinem Namen beantragt haben. Er muss deine Unterschrift gefälscht haben.«

Vor Überraschung setzte ich mich, wo ich gerade stand, auf den staubigen Fußboden. »Aber warum sollte Zach denn so etwas tun? Er ist doch mein Freund? Meinst du, er hat einfach vergessen, mir davon zu erzählen?«

»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Walt. »Ich meine eher, dass hier irgendetwas vor sich geht, das wir beide nicht ganz verstehen. Aus irgendeinem Grund wollte Zach, dass du den Bibliothekaren in die Hände fällst.«

Wie gut, dass ich sowieso schon saß, sonst wäre ich spätestens jetzt vor Überraschung auf den Hintern geknallt. »Diese Irren in den blauen Kutten, vor denen ich mich rechtfertigen musste, waren Bibliothekare? Du machst Witze. Mir kamen sie eher vor wie die Spanische Inquisition.«

»Da besteht wohl kein großer Unterschied.« Walt schüttelte seine Kapuze und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Sie haben mich zu Tode erschreckt«, fauchte ich. »Und sie sind nichts weiter als Bibliothekare?«

»Sie sind die Bibliothekare der Ewigen Bibliothek«, korrigierte mich Walt und begann eine seiner Wanderungen durch die Dachkammer, wie er es immer tat, wenn er angestrengt nachdachte. »Ich glaube nicht, dass du ermessen kannst, wie weit ihre Macht reicht. Und jetzt haben sie dir eine Mahngebühr aufgehalst, Livie. Du bist quasi vorbestraft.«

»Vorbestraft? Weil ich ein Buch nicht rechtzeitig zurückgegeben habe? Das ist ja wohl ein Witz.« Ich tippte mir vielsagend gegen die Stirn.

Walt kam mit schnellen Schritten auf mich zu und baute sich gefährlich nah vor mir auf. »Wissen zu stehlen, indem man ein Buch unterschlägt, ist ein Verbrechen, Livie. Viele Bücher, die du in dieser Bibliothek entleihen kannst, gibt es nur wenige Male auf der ganzen Welt. Manche sogar nur ein einziges Mal. Kannst du dir vorstellen, was der Welt und jedem lesenden Wesen dadurch verloren gehen könnte? Wissen ist Macht. Sag nur nicht, den Spruch hast du noch nie gehört.«

»Doch. Schon«, räumte ich ein. »Aber ich habe das bisher nicht so wörtlich genommen.«

»Was in Büchern geschrieben steht, kann Kriege auslösen, Krankheiten heilen oder sogar noch bedeutender sein!«, rief Walt und griff nach meinem Arm. »Bücher sind die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ein Buch kann den Lauf der Geschichte verändern.«

»Ist ja schon gut, ich hab’s verstanden«, beteuerte ich. »Aber ich möchte noch einmal betonen, dass ich völlig unschuldig in diese Situation hineingeraten bin.« Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Das muss sich doch irgendwie wieder in Ordnung bringen lassen. Ich will nicht vorbestraft sein. Was bedeutet es überhaupt für mich, vorbestraft zu sein? Kann ich jetzt keine Ober-Banshee mehr werden? Ist meine Karriere im Eimer?«

»Das ist wirklich nicht lustig, Livie.« Walt ließ meinen Arm los und sank vor mir in die Hocke nieder. »So etwas kann dir noch Jahrhunderte nachhängen.«

Jahrhunderte? Meine Güte, konnten diese Bibliothekare nachtragend sein.

Doch noch während ich darüber nachdachte, wie grundlegend sie sich von den Bibliothekaren meiner lebendigen Tage unterschieden, kam mir der rettende Gedanke. »Walt, ich weiß, was wir tun: Wir reisen einfach zurück durch die Zeit und machen es ungeschehen.«

»Livie …«

»Ja, ich weiß, dass man nicht in der Zeit herumpfuschen soll, aber was kann es schon schaden, wenn ich das Buch rechtzeitig wieder abgebe?«

»Es wird nur leider nichts nützen.« Walt klang betrübt. »Vorstrafen, wie die versuchte Unterschlagung von Bibliothekseigentum, werden rückwirkend eingetragen. Es tut mir leid, aber auch im ältesten Register der Weltgeschichte ist dieser Vorfall jetzt schon festgehalten. Es ist passiert, Livie. Und das bedeutet, dass du die Mahngebühren zahlen musst, wenn du nicht noch mehr Ärger mit der Ewigen Bibliothek und den Bibliothekaren haben willst.«

Vor Entsetzen bekam ich den ersten Schluckauf seit meinem Tod. »Ich will … hicks, diese Kerle nie wiedersehen, verstanden? Wie … hicks, hoch ist denn diese Strafe?« Da durchzuckte mich ein weiterer Schreck und machte dem Schluckauf ein Ende. »Aber ich habe doch gar kein Geld. Ich hab seit meinem Tod nichts mehr verdient, überhaupt nichts! Meinst du, dass mir die Bank von England einen Kredit gewähren wird? Irgendwie hab ich das Gefühl, dass ich da ganz schlechte Karten habe.«

Walt seufzte und ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Die Währung der Bibliothekare hat nichts mit herkömmlichem Geld zu tun, mein Liebling.«

»Da bin ich aber froh.« War ich auch, aber nur ganz kurz. Dann wurde mir bewusst, dass Walt mich gerade ›Liebling‹ genannt hatte, und das kam extrem selten vor. Jetzt wurde mir fast schlecht vor Angst, aber ich musste ihm die nächste Frage einfach stellen. »Auf welche Weise muss ich also bezahlen?«

»Mit Zeit, Livie.« Er griff nach meiner Hand. »Auf dem Mahnbescheid steht, dass du der Ewigen Bibliothek zwölf Jahre schuldest.«

»Zwölf Jahre?« Ich lachte erleichtert auf. »Zwölf Jahre meines Todes. Die können sie gern haben, ich hab ja noch Jahrhunderte davon oder noch mehr. Wer weiß das schon? Soll ich sie ihnen überweisen oder per Post schicken?«

»Du wirst sie abarbeiten.« Walt ließ meine Hand los. »Und dein Dienst beginnt unverzüglich. Sie haben dich nur hierher zurückkehren lassen, damit du deine persönlichen Angelegenheiten regeln, also mich informieren kannst.«

Einen Moment lang war ich wie vor den Kopf geschlagen. Dann sprang ich auf und begann nun meinerseits in der Dachkammer auf und ab zu laufen. »Aber das geht doch gar nicht. Ich bin die Banshee dieser Familie, ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Aufgabe? Ach, was rede ich denn da? Ich habe unzählige Aufgaben zu erfüllen.« Demonstrativ hob ich die Hand, um Walt alle Verpflichtungen anschaulich an den Fingern abzuzählen. »Ich warne die Familie vor tödlichen Gefahren, kümmere mich um Millies Zwillinge und versuche aus der dahinten ein besseres Gespenst zu machen!« Jetzt wies ich mit dem dritten abgezählten Finger anklagend in eine Ecke der Dachkammer. Dort saß, wie so oft in den letzten Wochen, das namenlose Gespenstermädchen, dessen ich mich angenommen hatte, auf einer Schaukel und blätterte versonnen in einem Bilderbuch.

Die Kleine Miss 56, wie sie für uns hieß und wie die ganze Welt sie nannte, da ihre Leiche niemals identifiziert worden war, hob nicht einmal den Kopf. Seit ich diese Schaukel im Gerümpel meiner Dachkammer gefunden und für sie montiert hatte, liebte sie das schwingende Brett über alles.

»Es ist nicht einmal erwiesen, ob Spunkies überhaupt lernfähig sind«, gab Walt zu bedenken und blickte ebenfalls zu dem sanft pendelnden Kind hinüber. »Zudem hat dieses Geisterkind kein Anrecht auf dich. Die Ewige Bibliothek schon. Die Kleine Miss wird also zwölf Jahre auf dich verzichten müssen. Doch was noch viel schlimmer ist: ich auch.«

Kraftlos fiel mein Arm mit dem ausgestreckten Finger herab. »Das kann einfach nicht wahr sein«, flüsterte ich. »So etwas geht doch nicht.«

Kapitel 3