Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen - Miriam Rademacher - E-Book

Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen E-Book

Miriam Rademacher

5,0

Beschreibung

Hörst du es? Das Knacken und Rascheln in der Dunkelheit, das einsetzt, sobald du das Licht gelöscht hast? Rede dir ein, dass es ganz harmlos ist, doch Ada weiß es besser. Denn vor vierzig Jahren, als dem Kindermädchen einer ihrer Schützlinge abhandenkam, ist sie ihnen begegnet: den vergessenen Kreaturen, die zwischen den Wänden lauern. Ausgerechnet in dem Haus, in dem das Unglück damals geschah, verschwindet jetzt erneut ein kleiner Junge und dieses Mal will Ada bis an ihre Grenzen gehen, um das Kind zu retten. Doch manche Geheimnisse sträuben sich dagegen, gänzlich gelüftet zu werden.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Kapitel 1 - Ein Ende und ein Anfang

Kapitel 2 - Fragen über Fragen

Kapitel 3 - Misstrauen und Vertrauen

Kapitel 4 - Aufwachen und Einschlafen

Kapitel 5 - Geheimnisse

Kapitel 6 - Freunde und Helfer

Kapitel 7 - Reden ist Silber Schweigen ist Gold

Kapitel 8 - Sichtbares und Unsichtbares

Kapitel 9 - Auswege und Einlässe

Kapitel 10 - Ausbrecher und Eindringlinge

Kapitel 11 - Von Katzen und anderen Haustieren

Kapitel 12 - Wahl der Waffen

Kapitel 13 - Risiken und Nebenwirkungen

Kapitel 14 - Große Hoffnungen und große Enttäuschungen

Kapitel 15 - Wer bist du und was bist du?

Kapitel 16 - Aus Kindern werden Monster

Kapitel 17 - Blut und keine Tränen

Kapitel 18 - Ein anderes Leben

Kapitel 19 - Vorratskammern

Kapitel 20 - Sieg und Niederlage

Kapitel 21 - Abschiede

Dank

 

Miriam Rademacher

 

 

Ada

Band 1: Die vergessenen Kreaturen

 

 

Fantasy

 

Ada (Band 1): Die vergessenen Kreaturen

Hörst du es? Das Knacken und Rascheln in der Dunkelheit, das einsetzt, sobald du das Licht gelöscht hast? Rede dir ein, dass es ganz harmlos ist, doch Ada weiß es besser.

Denn vor vierzig Jahren, als dem Kindermädchen einer ihrer Schützlinge abhandenkam, ist sie ihnen begegnet: den vergessenen Kreaturen, die zwischen den Wänden lauern.

Ausgerechnet in dem Haus, in dem das Unglück damals geschah, verschwindet jetzt erneut ein kleiner Junge und dieses Mal will Ada bis an ihre Grenzen gehen, um das Kind zu retten. Doch manche Geheimnisse sträuben sich dagegen, gänzlich gelüftet zu werden

 

 

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Januar 2020

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2020

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-113-0

ISBN (epub): 978-3-03896-114-7

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Emilia.

Weil sie diese Geschichte schon immer ganz besonders gemocht hat. Vielleicht wird sie eines Tages ja doch noch verfilmt. ;-)

 

Kapitel 1 - Ein Ende und ein Anfang

 

August 2019

 

ADA

 

Vor ihr erstreckte sich ein langer Flur, in dem es nach Bohnerwachs und Desinfektionsmittel stank. Grelles Neonlicht ließ die weißen Bodenfliesen glänzen. Ebenso weiß waren die Wände und die Gitter vor den Fenstern. Nie zuvor war Ada an einem so weißen Ort gewesen, und sie fühlte, dass dies kein guter war.

Von hinten umklammerten zwei paar Hände ihre Arme und schoben sie vorwärts. Ada hätte sich gewünscht, die Gesichter, die zu den Händen gehörten, sehen zu können, aber sie blieben stets einen halben Schritt hinter ihr und für eine Drehung des Kopfes schmerzte selbiger noch zu sehr.

Sie war diesen Leuten nicht böse. Sie wusste genau, dass sie nur ihren Job machten, aber Ada verlor hier in dieser befremdlichen Klinik wertvolle Zeit. Denn das Kind war ihr gestohlen worden und sie musste es unter allen Umständen zurückbekommen. Dieses Mal wollte sie schneller sein.

Hinter sich hörte sie jetzt eine aufgeregte und zornige Stimme, die sie ohne Probleme zuordnen konnte. Sie gehörte dem kettenrauchenden Polizisten, der in der vergangenen Stunde unentwegt auf sie eingeredet hatte. Den konnte sie nicht besonders leiden. Seine Dummheit hatte sie hierhergebracht. Ohne ihn könnte sie jetzt schon hinter den Wänden sein, um nach Paul zu suchen.

»Sie wollen diese Frau jetzt nicht einfach zu Bett bringen, oder?«, hörte sie ihn protestieren. »Ein Kind ist verschwunden. Es schwebt vielleicht in Lebensgefahr! Und so wie die Dinge liegen, ist diese alte Schachtel der einzige Mensch, der uns etwas darüber sagen kann. Ich hatte gehofft, Sie würden mir helfen, sie endlich zum Reden zu bringen.«

›Alte Schachtel‹ hatte er sie genannt. Er war also nicht nur dumm, sondern auch ungezogen, dieser Polizist. Aber in einem Punkt hatte er recht: Ada war die Einzige, die ihm etwas über den Verbleib des Kindes hätte sagen können. Doch was für einen Nutzen hatte Wissen, wenn einem niemand glaubte?

Eine zweite Stimme erklang und aus dem Augenwinkel entdeckte sie einen gut aussehenden Mann, der neben ihr herlief: groß, hager, ein wenig kurzsichtig hinter seinen runden Brillengläsern und fast so alt wie sie selbst. »Jetzt hören Sie mir mal zur Abwechslung zu, Herr Inspektor: Diese Dame ist nun meine Patientin.« Er machte einen strengen und zugleich besorgten Eindruck auf sie. »Es geht ihr offensichtlich nicht gut«, fuhr er fort. »Und meine Aufgabe ist es, ihr zu helfen. Ihre Ermittlungen werden ein paar Stunden ohne ihre Hilfe auskommen müssen.«

Ada hätte gelächelt, wenn ihre Lage ein wenig rosiger gewesen wäre. Dieser Doktor gefiel ihr. Er schien die Leitung dieses beängstigend weißen Ortes innezuhaben. Leider würde auch er ihr kein Wort glauben.

»Es könnte für das Kind aber zu spät sein, wenn die Alte aus einem künstlich herbeigeführten Nickerchen wieder erwacht«, hörte sie die eindringliche Stimme des Polizisten. »Wollen Sie diese Schuld auf sich laden?«

Ada pflichtete ihm stumm bei, diese Gefahr bestand tatsächlich. Und viel lieber hätte sie sich jetzt selbst auf die Suche nach dem Jungen gemacht, anstatt sich einem Beruhigungsmittel zu ergeben.

Doch leider war das, was sie wollte, an einem Ort wie diesem vollkommen irrelevant. Sich kooperativ zu zeigen und diesen Leuten die Wahrheit anzuvertrauen, hätte sie nur noch tiefer in Schwierigkeiten hineingeritten, in denen sie ohnehin schon steckte.

Die Stimme des netten Doktors klang verärgert, als er dem Polizisten jetzt antwortete: »Diese Frau weigert sich derzeit, mit irgendjemandem zu sprechen. Sie wurde völlig verstört und leicht verletzt im verwüsteten Vorgarten eines nicht minder beschädigten Hauses aufgefunden, und alles deutet darauf hin, dass diese Frau die Verursacherin der Schäden ist. Eine Ersthelferin aus der Nachbarschaft, die ihre Schrammen versorgen wollte, wurde von ihr angegriffen, und dann ist diese Dame hier auch noch mit der Tür eines Streifenwagens kollidiert, weil sie aufgebracht war und den Ort des Geschehens nicht verlassen wollte. Auch hier hat sie sich erst mal gegen alles und jeden zur Wehr gesetzt. Sie stellt derzeit eine Gefahr für fremdes Eigentum und sich selbst dar. Deswegen wurde sie auch in die Psychiatrie eingeliefert. In diesem Zustand kann sie Ihnen gar keine Hilfe sein. Gönnen wir ihr einfach etwas Ruhe, und morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.«

»Morgen ist mir aber zu spät und den Eltern des Kindes auch!« Der Polizist war inzwischen so wütend, dass Ada glaubte, er bräuchte eine Beruhigungsspritze nötiger als sie. Doch das behielt sie klugerweise für sich. »Seit besagte Ersthelferin meine Leute gerufen hat, ist diese Frau hier abwechselnd apathisch und dann wieder wehrhaft und unberechenbar. Sie sagt, dass sie zurück in das demolierte Haus will, aber nicht, warum. Und solange ich nicht weiß, wo das Kind abgeblieben ist, werde ich sie nicht in Ruhe lassen.«

»Oh doch, das werden Sie«, erwiderte der Arzt gelassen. »Zumindest bis morgen früh.«

Der darauffolgende unterdrückte Wutschrei des Ermittlers entlockte Ada ein flüchtiges Grinsen, da wurden ihre Schritte unvermittelt durch die Hände ihrer Begleiter gebremst. Sie hatten eine Tür erreicht, die jetzt für sie geöffnet wurde. Dahinter lag ein Raum mit vergitterten Fenstern und einem schlichten Krankenhausbett.

Ob es hier Überwachungskameras gab? Sicher würde man sie in den nächsten Stunden nicht aus den Augen lassen. Schließlich zweifelte man an ihrem Verstand, was, wie sie sich eingestehen musste, ihre eigene Schuld war. Doch hatte sie eine Wahl gehabt? Schweigen war das Klügste, das sie jetzt noch tun konnte. Schweigen und überlegen, wie sie wieder von hier fortkam.

Während sie zu dem nicht gerade bequem wirkenden Bett geführt wurde, gab der Polizist in ihrem Rücken noch immer nicht auf. »Morgen sieht alles anders aus, meinen Sie?«, wiederholte er entrüstet. »Was, wenn es dann noch schlimmer geworden ist? Was, wenn der Junge in der Zwischenzeit stirbt? Oder wenn er einfach nie wieder auftaucht? Sie wissen doch ganz genau, wer sie ist. Das ist nicht das erste Kind, das in ihrer Obhut verloren ging. Hören Sie, dieser Paul Dreyer ist erst anderthalb Jahre alt. Anderthalb Jahre! Wissen Sie, was seine Eltern gerade durchmachen?«

Ada konnte es sich vorstellen und vermutete, dass es dem Arzt auch so ging. Und ein weiteres Mal verfluchte sie stumm die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Hätte diese übereifrige Nachbarin sie nicht einfach in Ruhe lassen können? Ada hatte weiß Gott nicht um Hilfe oder die Polizei gebeten.

»Dann schlage ich vor, dass Sie nun dieses Krankenzimmer verlassen und unverzüglich mit der Suche nach dem Jungen beginnen.« Der Arzt klang jetzt genauso ärgerlich wie der Polizist. »Hier ist er nicht, und Antworten haben Sie auch keine bekommen, also suchen Sie bitte woanders und verschwenden Sie nicht länger Ihre Zeit!«

Eines der Händepaare, die sie hierhergebracht hatten, drückte sie jetzt sanft auf das Bett und zog ihr die Pantoffeln von den Füßen, während das andere Lederriemen um ihre Handgelenke schnallte.

»Das ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, Miss Lippnik.« Es war die Stimme des Arztes, die diese wenig beruhigenden Worte sprach. »Sobald wir uns davon überzeugt haben, dass Sie keine Gefahr für sich selbst sind, machen wir die wieder los.«

Reflexartig begann Ada, sich wieder zu wehren, doch es war sinnlos. Die Besitzer der Hände, zwei kräftige Männer, setzten sich wortlos und erfolgreich gegen ihren Widerstand durch. Sie konnte nichts anderes mehr tun, als sich ihrem Schicksal zu ergeben.

Ada schloss die Augen, um die Spritze in der Hand des netten Doktors nicht sehen zu müssen, und fühlte schon die kühle Feuchtigkeit des Desinfektionsmittels in ihrer Armbeuge. Gleich darauf folgte der Einstich.

Einer der Männer beugte sich über sie und sprach sie an. Sein Atem roch nach Pfefferminz und Zwiebeln. »Ada? Können Sie mich hören? Es ist alles in Ordnung. Sie werden jetzt ein wenig schlafen und sich ausruhen. Neben Ihrer rechten Hand liegt ein Klingelknopf an einer Schnur. Wenn Sie Hilfe brauchen, drücken Sie kräftig drauf, ja?«

Sie reagierte nicht auf die Worte. Da war eine bleierne Müdigkeit, die langsam von ihr Besitz ergreifen wollte. Die Erinnerung an die Ereignisse des Abends schienen plötzlich weit weg.

Ja, ein wenig Schlaf würde ihr guttun. Sie konnte auch später ausbrechen und mit ihrer Suche beginnen.

Noch einmal vernahm sie die aufgeregte Stimme des Polizisten. »Herr Doktor, dies ist nicht irgendeine alte Frau. Dies ist Ada Lippnik, das berüchtigte Kindermädchen. Es ist das zweite Mal, dass ihr ein Kind abhandengekommen ist. Und das erste wurde niemals wiedergefunden.«

»Ein Grund mehr, dass sie eine Weile in meiner Obhut bleibt, finden Sie nicht?«, erwiderte der nette Arzt. »Wir werden Miss Ada Lippnik sicher verwahren und herausfinden, wie gefährlich sie wirklich ist.«

Ada dachte noch kurz, dass sie sehr wohl gefährlich sein konnte, wenn es drauf ankam, dann spülte eine schwarze Woge ihr Bewusstsein davon.

 

 

 

August 1979 (vor vierzig Jahren)

 

ADA

 

»Bist du mein neues Kindermädchen?«, hörte sie eine hohe Kinderstimme fragen.

Ada blickte sich suchend um, konnte aber nicht ausmachen, woher die Worte gekommen waren. Das Büro, in dem sie augenscheinlich ganz allein saß, um auf ihren potenziellen Arbeitgeber zu warten, schien menschenleer zu sein.

»Ich mag deinen Hut«, ergänzte die Stimme.

Ada fasste sich instinktiv an das kecke blaue Hütchen auf ihrem Scheitel. Sie hatte es sich von ihrem letzten Bargeld gekauft. Sollte sie diese Stelle auch nicht bekommen, würde sie bis zum Monatsende von Tütensuppe leben müssen.

Noch immer war sie unsicher, woher die Stimme kam, aber nach dem Ausschlussprinzip bot der Raum, dessen Wände größtenteils mit hohen Bücherregalen zugestellt waren, nur eine einzige Versteckmöglichkeit. Ada zögerte einen kurzen Moment lang, dann ließ sie sich vom Stuhl gleiten, kniete sich in ihrem besten blauen Kostüm auf den orientalischen Teppich und spähte unter den Schreibtisch.

Es handelte sich dabei um ein spätviktorianisches Monstrum, das diesem Raum seinen Stempel aufdrückte. Er erweckte den Eindruck, als wären an ihm schon literarische Werke von großer Bedeutung verfasst worden, doch das niedliche Geschöpf, das Ada nun unter der Tischplatte erspähte, hatte nichts Nobles an sich.

Es war ein Mädchen von etwa fünf Jahren. Die Knie der Kleinen waren zerschrammt, das kurze Kleidchen verdreckt und ihre schwarzen Zöpfe in Auflösung begriffen. Als sie lachte, sah Ada, dass dem Kind beide Schneidezähne fehlten.

Ada versuchte eine möglichst würdevolle Position einzunehmen, hockte sich auf ihre Unterschenkel und machte ein ernstes Gesicht. »Guten Tag. Mein Name ist Ada. Ich bin hier, um deine Erzieherin zu werden oder auch deine Lehrerin, ganz wie gewünscht. Aber vielleicht könnten wir beide ja auch Freundinnen werden. Meinst du, dass du eine Freundin wie mich brauchen kannst?«

Die Kleine blickte genauso ernst zurück und musterte sie aus großen grünen Augen. Dabei legte sie den Kopf schief und kaute mit den Eckzähnen auf ihrer Unterlippe. »Du kannst keine Lehrerin sein, du bist viel zu jung.«

Ada holte tief Luft. Vor genau diesen Worten hatte sie sich gefürchtet. Allerdings war sie davon ausgegangen, diese von dem Vater des Kindes zu hören.

Sie war in der Tat noch sehr jung. Erst zweiundzwanzig Jahre alt. Doch sie war klug und begabt und wie ein Wirbelwind durch ihre eigene Schul- und Lehrzeit gefegt. Sie war jetzt eine Erzieherin, ausgebildet an einer der besten Schulen des Landes. Und sie fühlte sich dieser Aufgabe gewachsen.

Während Ada noch an einer passenden Antwort herumformulierte, bemerkte die Kleine: »Du hast ein lustiges Gesicht.«

Auch das stimmte. Ada schielte ein wenig, und Wangen und Stirn waren über und über mit Sommersprossen gesprenkelt. Ihr schicker Kurzhaarschnitt erstrahlte in einem feurigen Rot.

Sie schnitt eine Grimasse. »Ich finde dein Gesicht auch lustig. Besonders wenn du lachst.«

Die Kleine zog beleidigt die Oberlippe über ihre Zahnlücke. »Ich bekomme bald neue Zähne«, nuschelte sie.

»Und es werden die allerschönsten sein«, beteuerte Ada, was die Kleine noch einmal strahlen ließ, bevor sie den Mund hastig wieder schloss.

Als Ada ein Räuspern hinter sich vernahm, sprang sie auf, als wäre ein Schuss gefallen. Sie wirbelte herum und sah sich einem schlanken Mann mit Halbglatze und Hornbrille gegenüber, der einen teuer aussehenden Rollkragenpullover trug. Er strahlte so viel Ernst und Würde aus, dass sich Ada sofort sehr klein, sehr jung und sehr unerfahren vorkam.

Sie schob sich das Haar hinter die Ohren und senkte den Blick, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. »Ich bin Ada Lippnik. Ihre Köchin ließ mich ein. Wir haben einen Termin für ein Vorstellungsgespräch.«

Einen kurzen Moment lang schien ihr Gegenüber Schwierigkeiten zu haben, sich zu erinnern. Dann aber leuchteten seine Augen auf. »Oh, Miss Lippnik, jetzt weiß ich es wieder. Schön, dass Sie gekommen sind. Haben Sie eine Schwäche für orientalische Teppiche?«

Ratlos sah sie ihm ins Gesicht.

»Oder war es mein Schreibtisch, dessen Schönheit Sie in die Knie zwang? Na, ist ja auch egal. Jetzt stehen Sie wieder und sollten sich setzen.«

Noch während sie auf dem bereitstehenden Stuhl erneut Platz nahm, erholte sich Ada von ihrer Verwirrung und wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, warum er sie auf dem Boden kniend angetroffen hatte, als der Mann auch schon weitersprach.

»Ich bin Martin Holt. Und es ist richtig, dass ich eine Dame suche, die mit Kindern umzugehen weiß.« Mit diesen Worten ließ er sich in den klobigen Ledersessel auf der anderen Seite des Tisches fallen.

Ada rechnete damit, dass er das Mädchen unter dem Tisch nun selbst entdecken würde, doch dies geschah nicht. Die Kleine verhielt sich mucksmäuschenstill.

Ada hatte das Gefühl, einen schlechten Start hinzulegen, wenn sie das Mädchen verriet. Also schwieg sie, öffnete ihre mitgebrachte Aktentasche und reichte Martin Holt ihre Zeugnisse, auf denen die Tinte kaum getrocknet zu sein schien.

Lächelnd nahm er sie entgegen, warf aber nur einen flüchtigen Blick darauf. Sein Hauptinteresse lag wohl auf ihr als Person.

»Sie sind also ein ausgebildetes Kindermädchen, Miss Lippnik?«

Ada nickte. So konnte man es auch sagen.

Er legte beide Unterarme auf die Tischplatte, beugte sich vor und sah ihr direkt in die Augen. »Ich bin mir sicher, dass Sie hervorragende Zeugnisse mitbringen. Sie scheinen mir eine aufgeweckte und zielstrebige junge Frau zu sein.«

»Danke, Mister Holt«, antwortete Ada und wartete auf das große Aber. Und da kam es auch schon.

»Aber Sie sind noch sehr jung.« Er lehnte sich im Sessel zurück und sein Blick bekam etwas Abschätzendes. »Und jetzt, da Sie hier vor mir sitzen, darf ich Ihnen sagen, Sie sehen sogar noch jünger aus, als Sie tatsächlich sind.«

Ada wusste, dass es nicht als Kompliment gemeint war. Sie drückte das Kreuz durch und streckte ihr Kinn hoch, um ein wenig größer zu wirken, als sie war. »Mister Holt, ich habe, wie Sie bereits bemerkten, hervorragende Zeugnisse und bin bestens auf meine Aufgabe vorbereitet. Ich werde auch in fünf Jahren noch klein und zierlich sein, denn ich wachse nicht mehr. Doch wenn Sie mir eine Chance geben, könnte ich vielleicht an Erfahrung wachsen, meinen Sie nicht?«

»Zweifellos.« Er schien amüsiert und wirkte nun etwas entspannter auf sie.

Ada atmete noch einmal auf. Die erste Hürde war genommen. Sie war ihm sympathisch. Damit war sie dicht dran, die erste Anstellung ihres Lebens zu ergattern. Jetzt durfte sie es nicht vermasseln.

»Haben Sie zuvor schon einmal mit kleinen Kindern gearbeitet, Miss Lippnik? Ich spreche von Kindern im Vorschulalter?«, lautete seine nächste Frage.

»Ich habe zwei jüngere Schwestern. Mich um sie zu kümmern, gehörte vom Tag ihrer Geburt an zu meinen Aufgaben. Unsere Mutter kränkelte häufig. Sie sehen, ich habe schon vor Beginn meiner Ausbildung reichlich praktische Erfahrungen sammeln dürfen«, gab sie zur Antwort.

Schon wieder gepunktet. Ihr Gegenüber blickte zufrieden drein.

»Meine Tochter wächst völlig ohne Mutter auf. Ich bin Witwer.« Er machte eine kleine Pause und schien eine Reaktion von ihr zu erwarten.

Ada murmelte ein paar Worte des Bedauerns, die er mit einem Nicken quittierte.

»Ich erzähle Ihnen das, damit Ihnen bewusst wird, dass das Kind eine große Anhänglichkeit entwickeln könnte. Ich würde es also begrüßen, wenn Sie sich für länger vertraglich binden würden.« Er lehnte sich in seinem Sessel vor und blickte sie forschend an. »Wenn Sie allerdings planen, in Kürze eine eigene Familie zu gründen, was Ihnen natürlich freisteht, dann wäre dieser Arbeitsplatz wohl nicht der richtige für Sie.«

Ada schüttelte hastig den Kopf. »Derartige Pläne existieren nicht. Wenn wir uns einig werden, brauchen Sie nicht zu fürchten, mich bald wieder zu verlieren.«

Mr Holt musterte ihr Gesicht und schien nicht ganz überzeugt. Doch dann wechselte er das Thema. »Meine Tochter Valerie ist jetzt fünf Jahre alt. Ich würde sie gern bald auf eine staatliche Schule schicken, wenn ich der Meinung bin, das Kind wäre reif dafür. Aber Valerie hat den Tod ihrer Mutter nicht gut verkraftet. Ihre Fantasie, Miss Lippnik, schlägt Purzelbäume. Sie erfindet ständig Sachen, die es nicht gibt, spielt ihren Mitmenschen hässliche Streiche, stiehlt manchmal Kleinigkeiten. Sie werden Geduld mit ihr haben, aber auch streng sein müssen. Die Kleine schleicht überall herum, steckt ihre Nase in alles und kennt keine Disziplin.«

Unter dem Schreibtisch erklang ein verärgertes Schnauben.

Ada täuschte hastig ein Hüsteln vor und fragte dann laut: »Sie sind sich sicher, dass das Kind lügt und stiehlt? Vielleicht handelt es sich auch um Missverständnisse.«

Mister Holt lächelte gnädig und faltete die Hände über dem Bauch. »Glauben Sie mir. Valerie lügt so unglaublich schlecht, dass einfach jeder Erwachsene sie durchschaut. Sie weiß genau, dass sie lügt.«

Wieder schnaubte es leise unter dem Schreibtisch.

Ada klatschte spontan in die Hände und rief: »Sie haben hier ein so traumhaft schönes Anwesen. Es fiel mir gleich auf, als ich durch Ihre Pforte trat. Wollen Sie mir nicht bei einem Spaziergang durch Ihren Garten mehr von Valerie erzählen? Es ist ein so herrlicher Tag.«

»Aber gern«, erwiderte Mister Holt, der ein wenig überrumpelt schien, sich aber rasch erhob und ihr galant einen Arm anbot.

Als Ada an seiner Seite das Büro verließ, warf sie noch einen Blick über die Schulter und sah, wie das Mädchen aus seinem Versteck gekrabbelt kam. Sie zwinkerten einander verschwörerisch zu, dann schloss sich die Tür zwischen ihnen.

Ada fühlte sich sogleich etwas unwohl. Hier im Hause schien es mindestens zwei Fronten zu geben und sie hatte sich soeben spontan auf Valeries Seite geschlagen. Aber sollte ihre Loyalität nicht eigentlich ihrem Arbeitgeber gelten?

Kapitel 2 - Fragen über Fragen

 

August 2019

 

ADA

 

»Ada? Ada, sind Sie wach?« Die fremde Stimme einer Frau drang an ihr Ohr.

Ada war sich nicht sicher, ob sie wach war. Sie fühlte sich seltsam träge, so als ob ihr Körper nicht ihr eigener wäre. Doch dann spürte sie, wie jemand an ihrem Arm rüttelte.

Nur mit Mühe konnte sie die Lider heben. Der weiße Raum um sie herum wurde nun vom Tageslicht und nicht mehr von Neonröhren erhellt.

»Ada, Sie müssen jetzt aufwachen. Da sind eine Menge Leute gekommen, die mit Ihnen sprechen wollen. Es geht um das verschwundene Kind.«

Die Stimme sprach ruhig und eindringlich und sie schien einem freundlichen Wesen zu gehören. Freundlicher als jene beiden Männer, die sie kurz zuvor ins Bett verfrachtet hatten.

Kurz zuvor? Ada fuhr hoch, wurde aber von den Lederriemen an ihren Handgelenken zurückgehalten. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, konnte es etwa schon zu viel sein, um Paul zu retten?

Ada spürte das Adrenalin in ihrem Kreislauf brodeln. Je länger es andauerte, umso mehr verschlechterten sich die Chancen des Kindes auf eine Rückkehr zu seiner Familie.

»Ada?« Eine Spur von Besorgnis mischte sich in die Stimme der fremden Frau. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Ada nickte, schüttelte dann den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und schluckte einige Male trocken. Ihr Hals fühlte sich rau und entzündet an.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass ihr jemand ein Glas Wasser angeboten hatte. Und die junge Krankenschwester an ihrem Bett hatte augenscheinlich auch nicht an etwas so Gewöhnliches wie Wasser gedacht. Sie hielt Adas Hand, die noch immer ans Bett gefesselt war, und sah sorgenvoll auf sie herab.

Ada sah ein, dass sie ihr beharrliches Schweigen vom Vorabend aufgeben musste, wenn sie nicht vertrocknen wollte. »Ich bin wach, Kindchen«, murmelte sie heiser und räusperte sich. »Könnte ich bitte etwas zu trinken bekommen, ehe ich vor das Tribunal gebracht werde?«

 

 

DOKTOR WARNING

 

Im Büro des Psychiaters Dr. Warning war es an diesem Augustmorgen sehr eng geworden. Der penetrante Kommissar, der ihm schon am Abend zuvor auf den Wecker gefallen war, hatte bei seinem Eintreffen nicht nur zwei Assistenten, sondern auch die Eltern des vermissten Jungen im Schlepptau gehabt.

Der Vater des Kindes, ein rotgesichtiger Riese mit eng beieinanderstehenden Augen, lief unruhig im Zimmer auf und ab und unterbrach Warnings Ausführungen immer wieder mit wütenden Zwischenrufen.

Die Mutter hingegen saß still und blass in ihrem Stuhl und sprach von sich aus kein Wort. Sie mochte bereits Mitte vierzig sein, kleidete sich nach der neuesten Mode und hatte ihr schwarzes Haar sogar an einem Morgen wie diesem sorgfältig frisiert. Eine späte Mutter, die nun ihr einziges Kind vermisste. Warning empfand Mitleid mit ihr.

Der Kommissar, der gemeinsam mit seinen Assistenten an der Wand nahe der Zimmertür Posten bezogen hatte, entpuppte sich zunehmend als echte Plage. Er kommentierte die Zwischenrufe des Vaters mit überflüssigen Bemerkungen, was es für Warning nicht leichter machte, mit irgendeinem der Anwesenden ein vernünftiges Gespräch zu führen.

Es reizte ihn immer mehr, den Vater und die Polizisten vor die Tür zu setzen und sich nur mit der Mutter zu unterhalten. Die schien ihm noch am ehesten kooperativ zu sein. Also konzentrierte er sich ganz auf sie und fasste die Ereignisse der letzten Stunden, soweit sie ihm bekannt waren, zusammen.

»Miss Ada Lippnik, Kindermädchen, Alter zweiundsechzig Jahre, wurde gestern Abend in diese Nervenheilanstalt eingeliefert, nachdem es an ihrem Arbeitsplatz zu merkwürdigen Vorkommnissen gekommen war.«

»Merkwürdige Vorkommnisse?«, fiel ihm auch schon der Vater des vermissten Jungen ins Wort. »›Katastrophal‹ oder ›skandalös‹ trifft es wohl eher. Meine Frau und ich waren nur für ein paar Stunden ins Theater gegangen. Als wir wiederkamen, war unser Haus komplett verwüstet und darüber hinaus auch noch unser Sohn verschwunden! Und unser Kindermädchen steht im Bademantel, mit einem Golfschläger bewaffnet, im Garten und spricht nicht mit uns. Und da reden Sie von merkwürdigen Vorkommnissen? Sie haben vielleicht Nerven.«

Warning unterdrückte ein Seufzen und wandte sich noch einmal an die stumme Mutter auf ihrem Stuhl: »Ada Lippnik kam vor einem Jahr als Kindermädchen zu Ihnen, ist das richtig?«

Die Frau öffnete den Mund, als ob sie antworten wollte, schloss ihn aber wieder und beschränkte sich auf ein kurzes Nicken. Warning konnte sehen, dass sie den Tränen nahe war.

»Sie wurde auf Ihren ausdrücklichen Wunsch hin eingestellt, obwohl Ihr Mann hinsichtlich Miss Lippniks Alter Bedenken hatte, ist das auch richtig?«

Die Frau senkte den Kopf und nickte erneut.

»Ich habe ja gleich gesagt, dass sie zu alt für eine solche Aufgabe ist. Alte Menschen sind einfach zu langsam, körperlich wie geistig, um ein Kind aufzuziehen«, fuhr der Ehemann wieder dazwischen und wischte sich mit dem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn.

»Dann war ich möglicherweise zu alt, um überhaupt noch Mutter zu werden, so sehr, wie mich der Alltag mit einem kleinen Kind erschöpft hat«, begehrte seine Gattin auf. »Ada meistert noch immer spielend, wozu mir manchmal die Kraft fehlt. Also führe nicht immer ihr Alter ins Feld, für mich ist ihre Hilfe ein Segen.«

»Sie hat nichts getan, was ein junges Mädchen nicht besser gekonnt hätte«, bellte ihr Ehemann zurück.

Warning wurde dieser Mann von Minute zu Minute unsympathischer. Der Drang, ihm zu erklären, dass sein Geschrei zu nichts führte, wuchs. Doch er ahnte, dass er damit nur Zeit und Energie verschwendete. Die Person, die ihm seiner Meinung nach die interessanteren Informationen über Ada Lippnik geben konnte, war die Ehefrau.

Er verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch, stellte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Können Sie mir sagen, was Sie veranlasst hat, Miss Lippnik trotz der offensichtlichen Abneigung Ihres Mannes gegenüber ihrer Person einzustellen?«

Endlich hob die Frau den Kopf und sah ihn an. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie antwortete: »Ich habe Ada voll und ganz vertraut. Sie ist doch auch mein Kindermädchen gewesen. Ich war fünf Jahre alt, als sie in unser Haus kam. Ada war vom ersten Moment an meine beste Freundin, das beste Kindermädchen, das ich mir wünschen konnte. Meine Mutter ist früh gestorben, wissen Sie? Und mein Vater hat nur für seine Arbeit gelebt. Ada war alles für mich.«

»Sie ersetzte Ihnen also die Mutter«, stellte Warning fest.

»Mehr als das.« Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Sie war meine ganze Familie und meine Verbündete. Bei Ada fühlte ich mich sicher und geborgen.«

August 1979

 

VALERIE

 

»Aufstehen, Valerie! Es ist ein herrlicher Morgen, die Vögel singen. Auf dich wartet das Frühstück und ein bisschen Pflanzenkunde.«

Valerie zog sich die Bettdecke über den Kopf. Sie gab sich redliche Mühe, Ada weder zu sehen noch zu hören, doch im Grunde wusste sie, dass das zwecklos war. Ada konnte sehr hartnäckig sein.

Wenn ihr Vater sie morgens wecken wollte, gab er es meist nach ein paar Minuten auf, verließ das Kinderzimmer und versuchte sein Glück in regelmäßigen Abständen erneut. Vor Ablauf einer halben Stunde brauchte Valerie bei ihm nicht einmal einen Fuß auf den Boden zu stellen.

Doch seit Ada das Kommando übernommen hatte, war alles anders. Sie blieb auf der Bettkante sitzen, erst streichelnd, dann schubsend, und wenn Valerie darauf immer noch nicht reagierte, holte Ada einen nassen Waschlappen und hielt ihn drohend und tropfend über ihren Kopf.

Ihr Kindermädchen war anstrengend. Aber sie war auch das Beste, was Valerie bisher passiert war.

Von jenem Moment unter der Schreibtischplatte an, als Ada ihre Anwesenheit gedeckt hatte, war sie in Valeries Augen eine Freundin. Und eine Freundin, fand Valerie, brauchte sie weit nötiger als eine Erzieherin.

War sie von Ada nach dem Aufstehen erfolgreich ins Badezimmer getrieben worden, dauerte es meist nicht lange, bis an der Tür gepoltert und Valerie aufgefordert wurde, sich zu beeilen.

Auch am Frühstückstisch ließ sie Valerie nicht trödeln. Wann immer sie Gabel oder Augenlider sinken ließ, pikste Ada ihr mit dem Zeigefinger in die Seite.

In solchen Augenblicken konnte Valerie ihr neues Kindermädchen nicht besonders gut leiden. Erst wenn sie gemeinsam den ersten Spaziergang durch den großen Garten machten, erwachten Valeries Lebensgeister.

Draußen war sowieso alles besser. Draußen schienen die unheimlichen Geräusche weit weg. Im Garten musste Valerie keine Angst haben. Sie war sich nicht sicher, aber irgendwie hatte sie den Eindruck, es würde Ada genauso ergehen wie ihr. Draußen war das Leben leichter und heiter.

 

ADA

 

Der Garten des alten Hauses hatte fast parkähnliche Dimensionen, einen alten Baumbestand, gepflegte Kieswege und hübsch angelegte Ecken und Winkel. Er hatte es Ada vom ersten Moment an angetan. Ganz anders als das Haus. Das finstere Gemäuer aus dunklem Backstein war so ziemlich der hässlichste Klotz, den Ada je gesehen hatte. Ihr war es unbegreiflich, wie jemand ein solch dunkles Spukhaus in einen so bunten Garten setzen konnte. Wäre es nach Ada gegangen, wäre sie dem Kasten mit einem Vorschlaghammer zu Leibe gerückt und hätte mit einem Dutzend neuer Fenster dem Haus zu mehr Luft und Licht verholfen.

Doch dort drinnen regierte Mister Holt. Ein viel beschäftigter Witwer, der sich nur selten außerhalb seines Büros zeigte und sehr erleichtert war, wenn er seine kleine Tochter in guter Obhut wusste. Ein tiefergehendes Interesse für das Mädchen hatte Ada in den vergangenen Tagen bei Mister Holt nicht feststellen können. So etwas wie Vatergefühle schien ihm die Natur vorenthalten zu haben. Alles in allem wirkten Vater und Tochter ganz zufrieden, wenn sie einander nicht über den Weg liefen. Ada war das suspekt, aber auch sehr recht, so konnte sie mit ihrem Schützling viel Zeit im sonnigen Garten verbringen.

Sie streckte sich und atmete tief ein. Die Luft roch nach Blumen, und obwohl vor dem Garten eine für ein Wohngebiet typische Straße verlief, hörte sie nur das Singen der Vögel in den Bäumen. Kein Motorengeräusch, kein Kindergeschrei, nichts drang bis an ihr Ohr. Sie fühlte sich fast wie auf dem Lande, weit weg von London. Ein Spaziergang durch diesen Garten war wie ein kleiner Urlaub.

Da hörte sie Valerie an ihrer Seite verhalten gähnen.

»Warum bist du jeden Morgen so müde, Valerie?«, wollte Ada wissen. »Schläfst du schlecht? Kannst du vielleicht abends nicht einschlafen? Du hast doch nicht etwa Kummer?«

Valerie, die neben ihr über den Gartenweg lief, kaute auf ihrer Unterlippe herum und beantwortete die Frage nicht gleich. Ada konnte sich gut vorstellen, dass Valerie in ihrem jungen Leben bereits häufig Grund zum Kummer gehabt hatte. Da waren beispielsweise der Verlust der Mutter und der distanzierte Vater, um nur zwei Punkte zu nennen. Ada rechnete daher damit, dass Trauer hinter der Müdigkeit des Kindes steckte.

»Ich habe Angst im Dunkeln«, flüsterte Valerie jetzt so leise, dass Ada sie kaum verstand. »Ich kann dann viel mehr hören, als ich sehe.«

Ada lächelte nachsichtig. »Viele Kinder haben Angst im Dunkeln. Das ist nichts Besonderes. Wir können eine Nachttischlampe brennen lassen, wenn du magst. Oder ich warte abends bei dir im Zimmer, bis du eingeschlafen bist.«

»Das würdest du tun?« Valerie klang überrascht und erfreut zugleich.

»Aber sicher«, antwortete Ada. »Ich werde gut auf dich aufpassen, wenn du die Augen schließt, und alles und jeden in die Flucht schlagen, der deinem Bett zu nahe kommt.«

»Ja.« Valerie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Das wäre toll.«

»Dann hätten wir das ja geklärt. Heute Abend wache ich bei dir. Und jetzt wollen wir uns mal einige der schönen Pflanzen um uns herum genauer ansehen, ja? Ich bringe dir etwas über sie bei. Keine Angst, das wird uns Spaß machen.«

Ada wusste viel über die heimischen Pflanzen und gab sich Mühe, interessant zu erzählen. »Das hier ist ein Rhododendron.« Sie zeigte auf den Busch voller roter Blüten, in denen Hummeln eifrig am Werk waren. »Er gedeiht hier ausgesprochen gut. Weißt du, was man sich über diesen Busch erzählt?«

Valerie schüttelte den Kopf.

»Sein Name bedeutet übersetzt Rosenbaum, doch hinter einem geschenkten Rhododendron steht die Frage: Wann sehen wir uns wieder? Unter Freunden ist er so etwas wie ein Abschiedsgeschenk mit Wiedersehensversprechen. Außerdem hilft er bei Gicht und Rheumabeschwerden. Aber vor allem ist er hübsch, nicht wahr?«

Valerie nickte. Doch ihr Blick war bereits weitergeschweift und an einer niedrigen, blassrosa Blüte hängen geblieben. »Was ist denn das?«

Ada betrachtete das unscheinbare Gewächs mit seinen aufgefächerten Blättern. »Das ist ein Dachwurz«, stellte sie fest. »Aufs Dach gepflanzt, soll er vor Blitzschlag schützen.«

»Was macht er dann hier unten im Garten?« Valerie schien verwundert.

»Er wurde vermutlich gepflanzt, um das Böse fernzuhalten. Pflanzen werden oft magische Kräfte angedichtet«, antwortete Ada leichthin und betrachtete den hübschen Dachwurz mit einem Lächeln.

Valerie besah sich die kleine Pflanze eher nachdenklich. Dann legte sich ihre Hand um den Stängel samt blassrosa Blüte. Ihre Finger gruben sich in die Rosettenblätter und mit einem Ruck riss sie den Dachwurz aus der Erde.

Einen Moment lang betrachtete sie den Strunk in ihrer Hand mit finsterem Blick. Dann ließ sie ihn auf den Gartenweg fallen.

»Valerie«, rief Ada schockiert. »Warum hast du das gemacht?«

Valerie zuckte mit den Schultern. »Er taugt nichts.«

Im nächsten Augenblick hatte sie sich umgedreht und lief den Gartenweg hinab.

Ada sah ihr fassungslos nach und beobachtete Valerie dabei, wie sie mit wehendem Kleidchen und fliegenden schwarzen Haaren hinter einer Gruppe Rosenbüsche verschwand. Kopfschüttelnd hob sie den Dachwurz vom Kiesweg auf und pflanzte ihn, so gut es eben ging, an der ursprünglichen Stelle wieder ein. Dann machte sie sich auf die Suche nach Valerie und fragte sich, was das Kind wohl mit seinen Worten gemeint haben konnte.

Kapitel 3 - Misstrauen und Vertrauen

 

August 2019

 

ADA

 

Die blonde Krankenschwester mit der sanften Stimme hieß Irmgard, so viel hatte Ada bereits herausgefunden. Ein sehr hübscher, aber auch ausgesprochen altmodischer Name für einen jungen Menschen, fand sie.

Irmgard hatte ihr auf Nachfrage hin eine Zahnbürste gebracht und ein Stück Seife dazugelegt. In der durch einen Vorhang abgegrenzten Waschecke richtete sich Ada so gut wie möglich wieder her.

Der Blick in den Spiegel erinnerte sie daran, dass die Zeit nicht freundlich mit ihr umgegangen war. Das einst rote Haar war grau geworden, sie trug es kinnlang und üblicherweise hielt es ihr eine Klammer aus dem Gesicht, das noch immer sommersprossig, noch immer keck, doch schon recht faltig war. Besagte Klammer hatte man ihr allerdings aus Gründen der Vorsicht bei ihrer Einlieferung abgenommen.

Ada hatte in den vergangenen Jahren eine Vorliebe für Schokolade entwickelt, die sich denkbar ungünstig auf ihre einst drahtige Figur ausgewirkt hatte. Doch sie trug das Doppelkinn und den Hüftspeck mit Fassung.

Sie war jetzt über sechzig und sie hatte nicht vor, noch eine Modelkarriere zu starten. Und jemandem, der so viel erlebt hatte wie sie, dem mussten doch auch ein paar Schwächen gestattet sein.

Sie beendete die Morgentoilette, schob den Vorhang beiseite und trat neben Irmgard, die auf sie wartete. Trotz ihres fleckigen Morgenmantels und der ungebürsteten Haare fühlte sich Ada nun schon viel wohler.

Ihrer Meinung nach war es jetzt allerhöchste Zeit, diese Klinik wieder zu verlassen, egal ob mit oder ohne ärztliche Genehmigung. Sie musste sich schleunigst auf die Suche begeben, musste Paul vor einem grausamen Schicksal bewahren. Es würde sicher nicht einfach werden, ihn zurückzubekommen.

Schon in der vergangenen Nacht war die Gewaltbereitschaft ihrer Gegner erschreckend gewesen. Und das, vermutete Ada, sollte nur der Auftakt gewesen sein. Missbilligend betrachtete sie ihren Morgenrock: Er war voller Flecken und Risse. Kein Wunder, dass man sie weggesperrt hatte, sie sah verboten aus.

»Irmgard, Sie hätten wohl nicht zufällig Nadel und Faden für mich?«

Irmgard schüttelte ihren Pagenkopf. »Auf dieser Station bekommen Sie weder Nadeln noch Fäden. Wir wollen doch nicht, dass Sie sich selbst verletzen. Außerdem gibt es jetzt auch Wichtigeres. Da sind doch all die Menschen, die auf Sie warten und mit Ihnen sprechen wollen.«

Ada stieß einen Seufzer aus. All die Menschen, denen sie klarmachen musste, dass sie keineswegs den Verstand verloren hatte. Das aber bedeutete, dass sie die Wahrheit weiterhin verschweigen musste. Doch welche Lüge hätte ihre Situation verbessern können? Ihr fiel keine einzige ein, die sie sich selbst geglaubt hätte. So blieb ihr nur noch ein Ausweg. Der Zeitpunkt war gekommen, um Valerie ein paar Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Die erwachsene Valerie musste nun alles erfahren, was die junge Valerie vor langer Zeit vergessen hatte.

»Ada?« Irmgards Stimme klang besorgt. »Sie sind schon wieder so abwesend. Fühlen Sie sich nicht imstande, mit den Leuten zu reden?«

Ada riss sich zusammen, brachte ein Lächeln zustande und folgte Irmgard aus dem Krankenzimmer. Sie musste darauf achten, völlig normal auf ihr Umfeld zu wirken. Sie durfte weder gar nicht noch überreagieren, ganz egal, wie ihr gerade zumute war, sonst würde es sehr lange dauern, bis sie hier wieder herauskam. Aber wie war man eigentlich völlig normal? War es nicht normal gewesen, dass sie sich gewehrt hatte, als man verhindern wollte, dass sie Paul zu Hilfe eilte? War es nicht verständlich, dass sie die Einmischung der Nachbarin, der Polizei und auch die des Arztes als Behinderung, ja sogar als Bedrohung empfunden hatte? Ohne diese Leute wäre sie jetzt schon hinter den Wänden, wäre Paul jetzt vielleicht schon wieder in Sicherheit. Stattdessen war sie hier und musste sich zusammenreißen. Konnte sie auf den Arzt auch zu normal wirken? Ada wusste es nicht. Sie würde sich auf ihr Bauchgefühl verlassen müssen.

 

DOKTOR WARNING

 

»Und in all den Jahren, in denen Ada Lippnik Ihnen Erzieherin und Freundin war, kam es niemals zu außergewöhnlichen Ereignissen oder Zwischenfällen?«, fragte Dr. Warning und blickte Valerie Dreyer aufmerksam an.

Diese strich sich über das kurze schwarze Haar und schien sehr ernsthaft über seine Frage nachzudenken, schüttelte aber dann den Kopf.

Warning hob irritiert die Augenbrauen. Mit einer solchen Antwort hatte er nicht gerechnet. Sie war für ihn völlig überraschend, weil er die Zeitungsberichte über die Ereignisse vor vierzig Jahren kannte. Damals war er fast selbst noch ein Kind gewesen, doch das Medienereignis des Sommers 1979 hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben.

Er räusperte sich. »Ist es nicht so, dass Ihr Stiefbruder eines Tages spurlos verschwand?«

Valerie Dreyer sah ihn einen Augenblick lang verwirrt an. Danach blickte sie sich unsicher im Zimmer um, so als könnte ihr irgendwer auf die Sprünge helfen, schien sich aber dann plötzlich doch zu erinnern. »Ach, Sie meinen Sebastian? Also der war eigentlich nicht mein Stiefbruder, wissen Sie? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob mein Vater sich ernsthaft für seine Mutter interessiert hat. Mein Vater interessierte sich eigentlich überhaupt nicht für andere Menschen. Nur für seine Arbeit und die war streng geheim. Ganz genau verstanden habe ich nie, was er eigentlich tat. Irgendein Projekt für die Regierung, glaube ich. Inzwischen ist er über siebzig und auch heute weiß ich nicht, womit er sich beschäftigt oder was ihn bewegt.«

»Aber der Junge verschwand eines Tages aus Ihrem Haus. Genau dem Haus, in dem Sie auch heute wieder leben«, beharrte Warning.

»Wie bitte?«, mischte sich ihr Ehemann ein. »Da ist schon mal ein Kind verschwunden?«

Die Ader auf Derek Dreyers Stirn begann zu pochen. Der Mann steigerte sich offensichtlich in seinen Wutanfall hinein, und der Mediziner in ihm bescheinigte diesem Kerl einen baldigen Schlaganfall, wenn er nicht lernte, seine Gefühle im Zaum zu halten.

»Aber das hatte doch nicht das Geringste mit Ada zu tun«, verteidigte jetzt Valerie Dreyer ihr einstiges Kindermädchen. Doch ihre Stimme war zum Ende ihrer Worte hin leiser geworden, ganz so, als ob sie sich selbst nicht wirklich glauben könnte.

Dabei hatte sie nicht ganz unrecht. Warning wusste, dass damals niemand das Kindermädchen Ada Lippnik ernsthaft verdächtigt hatte, doch natürlich war auch ihr Name gefallen. Die Zeitungen hatten sich damals voller Begeisterung auf die Tragödie am Rande Londons gestürzt und detailliert über all jene berichtet, die in dem Haushalt des Wissenschaftlers Martin Holt lebten und arbeiteten.

Einer Ahnung folgend, hatte Warning den Namen seiner neuen Patientin in die Suchmaschine eingegeben und war sofort auf einige alte grobkörnige Zeitungsfotos von einer zierlichen Rothaarigen mit energischem Zug um den Mund gestoßen. Zunächst hatte er eine Weile gebraucht, um in dem Abbild der jungen Frau die wesentlich ältere Ausgabe im Morgenmantel, die sich hier in seiner Klinik aufhielt, wiederzuerkennen. Dann aber, nachdem der Bezug hergestellt war, war ihm klar geworden, warum der Name Lippnik sein Interesse geweckt hatte. Der Fall war damals wochenlang durch die Presse gegangen.

»Der Junge ist nie wieder aufgetaucht, nicht wahr?«, stellte er fest und behielt Valerie Dreyer genau im Auge.

»Ich glaube nicht, nein« war die vage Antwort. Sie machte einen zunehmend verunsicherten Eindruck auf Warning.

»Sie wissen es nicht?« Er hob die Augenbrauen. »Wie können Sie denn das nicht wissen? Oder wollten Sie nichts darüber wissen?«

Valerie Dreyer blickte ihn beklommen an. »Ich weiß es nicht, weil es mich nicht sonderlich interessiert hat. Ich war damals fünf Jahre alt.«

»Mich interessiert auch nicht besonders, was sich vor einer halben Ewigkeit in diesem Haus zugetragen hat.« Der Kommissar hatte seinen Beobachterplatz an der Wand verlassen und baute sich jetzt neben Valerie Dreyer auf. Sein verärgerter Blick ruhte auf Warning. »Ich bin heute wieder hierhergekommen, um etwas über die Ereignisse der letzten Nacht zu erfahren. Und ich habe es, ganz gegen meine Gewohnheit, Ihnen überlassen, die Fragen zu stellen. Doch bisher ist Miss Lippnik noch nicht einmal hergebracht worden, und sie unterhalten sich mit der Mutter über uralte Geschichten. So kommen wir nicht weiter.«

Warning bemühte sich, höflich und sachlich zu klingen. »Ich unterhalte mich nicht über irgendwelche Geschichten mit Misses Dreyer, sondern über einen Fall, der offensichtliche Parallelen aufweist und nie aufgeklärt wurde. Das könnte wichtig für das Gesamtbild sein, meinen Sie nicht auch? Miss Ada Lippnik werden wir noch früh genug dazubitten.«

Der Kommissar murmelte etwas Unverständliches, das Warning als Zustimmung deutete, und zog sich auf seinen Platz an der Wand zurück. Warning konzentrierte sich wieder auf die verstörte Mutter des vermissten Jungen. »Wie war das also damals, als Sie fünf Jahre alt waren? An was erinnern Sie sich noch?«

Valerie Dreyer räusperte sich. »An ziemlich wenig, wie ich zugeben muss. Miss Ada war damals der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie hat gut für mich gesorgt, auch noch lange nach Sebastians Verschwinden. Sie blieb in unserem Haushalt, bis ich alt genug war, um ein Internat zu besuchen. Als ich zu meinen ersten Weihnachtsferien nach Hause zurückkehrte, war sie fort. Danach habe ich jahrzehntelang nichts von ihr gehört. Und als sie sich im vergangenen Jahr auf die Stelle des Kindermädchens meines Sohnes bewarb, habe ich nicht einen Moment gezögert, sie ins Haus zurückzuholen.«

»In ebenjenes Haus, in dem Sie aufgewachsen sind. Jenes Haus, aus dem besagter Sebastian vierzig Jahre zuvor verschwunden ist«, stellte Warning noch einmal sicher und warf einen Blick auf ihren Gatten, der mit seinen Wurstfingern auf seinem Kugelbauch herumtrommelte.

Dieser bemerkte die Pause, die entstanden war, und beantwortete die im Raum schwebende Frage: »Mein Schwiegervater, Martin Holt, hat England verlassen. Er hat meiner Frau und mir das Haus vermacht und ist nach Australien ausgewandert. Es ist ein schönes, altes Anwesen mit großem Garten, und wir leben sehr gerne dort.«

Warning blickte zurück zu Valerie Dreyer und eine innere Stimme sagte ihm, dass das so nicht stimmte. Die Frau hatte bei der Erwähnung des Hauses das Gesicht verzogen. Mochte ihr überfütterter Gatte das Anwesen auch als sein Heim betrachten, so galt dies sicher nicht vorbehaltlos für seine Ehefrau.

»Misses Dreyer.« Warning wandte sich wieder Valerie zu. »Hat Miss Ada Lippnik Ihnen Zeugnisse vorgelegt? Zeugnisse ihrer Arbeitgeber aus den letzten vierzig Jahren, in denen Sie keinerlei Kontakt miteinander hatten?«

Valerie Dreyer nickte.

»Haben Sie diese Zeugnisse gelesen oder mit einer der Personen über Ada gesprochen?«, fuhr der Arzt fort.

Valerie schüttelte den Kopf und antwortete rasch: »Das war doch gar nicht nötig. Ich kenne Ada. Sie war mein Kindermädchen, das sagte ich doch bereits. Ich wusste, dass sie absolut vertrauenswürdig ist.«

Warning rieb sich über die Stirn. Kopfschmerzen kündigten sich an. Er fragte sich, ob der Umgang mit so vielen geistig Kranken ihm nicht doch langsam zusetzte. Diese Valerie Dreyer schien ihm auch nicht ganz normal zu sein. »Ist Ihnen denn nie der Gedanke gekommen, Ihr ehemaliges Kindermädchen könnte sich in der langen Zeit entwickelt haben? Und das vielleicht nicht im positiven Sinne?«

 

August 1979

 

ADA

 

Langsam und ohne jede Hast schlenderte Ada zurück durch den Garten, auf das dunkle Haus zu. Sie hatte entschieden, Valerie nach dem Zwischenfall mit dem Dachwurz die Chance zu geben, allein zur Ruhe zu kommen. Die Kleine war sehr impulsiv und aufbrausend. Doch sie schien über die Gabe zu verfügen, sich selbst beruhigen zu können. Ada hatte das in den vergangenen Tagen das ein oder andere Mal beobachtet.

Fast eine Woche lang lebte sie jetzt im Haushalt der Holts. Man hatte ihr ein hübsches Gästezimmer überlassen, das ganz in Grün- und Brauntönen gehalten war. Ada besaß kaum eigene Möbel und war über dieses Angebot sehr froh gewesen.

Sie war die einzige Angestellte, die im Haus wohnte. Ein Zimmermädchen lebte in der Nachbarschaft und sorgte an drei Tagen in der Woche für Ordnung und Sauberkeit. Die Köchin kam jeden Tag für ein paar Stunden, bereitete ein warmes Mittagessen zu und ließ kalte Speisen für das Dinner im Kühlschrank zurück. Gelegentlich brachte sie einen Kuchen für die Teezeit mit ins Haus. Ein Gärtner sah zwei Mal in der Woche vorbei.

Spätestens um fünf Uhr nachmittags waren alle diese dienstbaren Geister wieder verschwunden und Ada mit Valerie und deren Vater allein. Wenn sie das Mädchen dann gegen acht schlafen geschickt hatte, hatte Ada frei und konnte tun und lassen, was immer sie wollte. Meistens lag sie dann auf ihrem Bett und las. Manchmal gesellte sie sich auch zu Martin Holt und erzählte ihm von Valeries Fortschritten, doch der Wissenschaftler schien ihr nie richtig zuzuhören.

Schon nach wenigen gemeinsamen Tagen mit Valerie hatte Ada ihrem Vater recht geben müssen: Das Mädchen war noch nicht bereit für eine öffentliche Schule. Zu Beginn des Tages war das Kind oft müde, unkonzentriert und mürrisch, was Ada auf die Schlafstörungen der Kleinen schob. Nach einer Weile wich die Müdigkeit einer kurzen Phase der Aufmerksamkeit. Dann konnte man sie geradezu als pflegeleicht bezeichnen. Doch noch vor dem Mittagessen fiel Valerie dann in eine seltsame Lethargie, wurde wortkarg, gab kryptische Antworten auf simple Fragen und wich Adas Blick immer häufiger aus. Manchmal tat sie dann so seltsame Dinge wie gerade mit dem Dachwurz. Und je näher der Abend kam, desto unruhiger wurde sie wieder.

Ada hatte daraufhin mit Martin Holt über den Tod der Mutter der Kleinen gesprochen. Sie hatte herausfinden wollen, ob eine Art Trauma vorlag, doch Martin Holt hatte abgewunken. Misses Holt war sang- und klanglos an einer Lungenentzündung verstorben, Valerie hatte davon kaum etwas mitbekommen. Konnte es einen anderen Grund für ihr rätselhaftes Verhalten geben?

Ada blieb wachsam, doch sie kam nicht hinter Valeries Problem. Vielleicht war es wirklich nichts anderes als eine Schlafstörung, die sich mit einfachen Tricks und Hilfsmitteln beheben ließ.