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Hiddensee im Winter. Die Insel ist von der Außenwelt abgeschnitten. Viele Touristen sitzen fest. Die Eismassen bringen das alte Hotelschiff „Caprivi“ im Hafen von Vitte zum Sinken. Im Wrack machen die Feuerwehrleute eine schreckliche Entdeckung: In der ehemaligen Schiffsbar sitzt die Leiche eines Hoteliers. Inselpolizist Ole Damp ist nach seiner Rettung aus der Ostsee gerade erst nach Hiddensee zurückgekehrt. Gemeinsam mit seiner jungen Kollegin Nelly Blohm soll er nun den Mörder finden. Obwohl die beiden schnell herausbekommen, dass sich der Hotelier durch den Umbau der alten Vogelwarte zum Luxushotel viele Feinde gemacht hat, kommen die Ermittlungen nicht voran. Blohm versucht auf eigene Faust den Fall zu lösen und gerät auf gefährliche Abwege. Damp kämpft mit den Schatten der Vergangenheit. Dann verschwinden zwei Kinder …
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Seitenzahl: 376
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Tim Herden
Harter Ort
Ein Hiddensee-Krimi
mitteldeutscher verlag
Cover
Titel
Über den Autor
Widmung
Prolog
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
XXX
XXXI
XXXII
XXXIII
XXXIV
XXXV
XXXVI
XXXVII
XXXVIII
XXXIX
XL
XLI
XLII
XLIII
XLIV
XLV
XLVI
XLVII
XLVIII
XLIX
Weitere Bücher
Impressum
Tim Herden, geboren 1965 in Halle (Saale), arbeitete nach dem Studium der Journalistik in Leipzig zunächst als wissenschaftlicher Assistent und Journalist, ehe er 1991 Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk in Dresden wurde. Heute ist er Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio Berlin. „Gellengold“ war sein erster Hiddensee-Krimi, 2012 und 2014 erschienen mit „Toter Kerl“ und „Norderende“ zwei Fortsetzungen.
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Katinka
Ein Schrei. Es war ein Schrei gewesen. Er hatte einen Schrei gehört. Oder hatte er sich getäuscht? Hatte er diesen Schrei nur geträumt?
Stefan Rieder drehte den Kopf hin und her. Nein, da war nichts. Wieder starb ein Stück Hoffnung. Denn nun war wieder nur das Glucksen des Wassers zu hören, wie es an der Bootshaut leckte. Als wolle es sich Appetit holen, bevor es das leichte Boot in die Tiefe ziehen würde. Das Paddelboot antwortete mit dem Knarren der hölzernen Spanten. Je tiefer die Wellentäler, umso lauter stöhnte der Bootskörper. Noch hielt er stand.
Um sich herum sah Rieder nur tiefe Dunkelheit. Kein Blinken eines Leuchtfeuers. Keine Bojen. Keine Positionslichter eines Schiffes. Das Meer glitzerte nicht, sondern erschien wie ein wogender dunkelgrauer Sumpf. Hier draußen gab es keine Wellenkämme. Nur Wasser. Beständig bewegte es sich auf und ab. Darüber lag ein grauer Nebelschleier.
Wie lange hatte er geschlafen? Ein paar Minuten? Ein paar Stunden? Rieder wusste es nicht. Auch nicht, wie lange Damp und er jetzt schon über die Ostsee trieben. Er war froh gewesen, als endlich der Schlaf über die Angst gesiegt hatte. Das nährte seinen Wunsch, den Tod nicht zu spüren. Den nassen Tod. Hier auf dem offenen Meer. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, so hatte er den Glauben an eine Rettung längst aufgegeben.
Er rief nach Damp. Doch von hinten kam keine Antwort. Umdrehen konnte er sich nicht. Das verhinderten die straffen Fesseln an seinen Unterarmen. Was war mit Damp? Noch einmal rief er den Namen seines Kollegen. Doch wieder blieb es still. Schlief Damp? War er bewusstlos? Oder vielleicht schon tot? Immerhin hatten sie ihn mehrmals mit einem Elektroschocker traktiert.
Rieder verfiel ins Grübeln. Es war auf alle Fälle seine Schuld gewesen, dass sie jetzt hier auf der Ostsee trieben. Zwischen Hiddensee und dem Nirgendwo. Aber was brachte ihm diese Erkenntnis jetzt noch? Er senkte den Kopf. Sein Nacken schmerzte. Eine lähmende Müdigkeit überkam ihn aufs Neue, aber die Angst vor einem Todeskampf mit dem Wasser hielt ihn noch wach. Er stellte sich vor, wie es mit salzigem Geschmack in seinen Mund spülen würde. In seinen Rachen. Sein Körper würde sich ein letztes Mal aufbäumen. Der letzte Versuch zu überleben. Er schüttelte sich. Es war doch sinnlos, darüber nachzudenken. Es war doch besser, sich durch das monotone Anschlagen der Wellen am Boot und das Rauschen des Wassers betäuben zu lassen. Langsam döste er wieder ein.
Da war es wieder! Untrüglich! Ein Schrei! Ein Rufen! Er öffnete die Augen. Grelles Rot blendete ihn. Was war das? Das Licht des Jenseits? Raste er in diesen letzten Tunnel vom Leben zum Tod? Das wollte er nicht sehen. Er kniff die Augen zusammen.
Stimmen drangen an sein Ohr und waren doch weit weg. Sie klangen dumpf. Sein Kopf schien von Watte umhüllt. Er verstand kein Wort. Wer hatte auch gesagt, dass man im Jenseits seine Sprache sprechen würde? Gleichzeitig begann jemand, an ihm zu zerren. Er schrie auf! So laut hatte er sich noch nie schreien hören! Der Schmerz hatte sich einen Weg durch seinen Körper gebahnt und war durch seine Kehle als Urschrei nach außen gedrungen. Von den Schultern ins Herz. Er versuchte sich zu wehren, wollte seine Arme bewegen. Doch er spürte sie nicht mehr. Er spürte seine Arme nicht mehr. Seine gefesselten Arme fühlten sich taub und schwer an. Ein Griff unter seine Achseln hob seinen Körper an. Er glaubte, seine Schultern würden brechen. Der erneute tiefe Schmerz ließ ihn ohnmächtig werden. Stefan Rieder empfand das als letzte Gnade, die ihm gewährt wurde.
Er lehnte den Kopf an die kühle Scheibe. Trotzdem wurde ihm nicht kälter. Er schwitzte in seinem gefütterten Anorak und der dicken Allwetterhose. In dem überfüllten Bus mussten fast dreißig Grad sein. Trotzdem war es wohl die richtige Entscheidung am Morgen gewesen, nicht nach Stralsund, sondern nach Bergen auf Rügen zu fahren. Rechtzeitig hatte er noch erfahren, dass die Silvesterfährlinie zwischen Stralsund und Hiddensee wegen Eisgangs eingestellt worden war. Die Fahrrinne war zugefroren, nachdem es seit Weihnachten fast ununterbrochen geschneit hatte und die Temperaturen beständig unter null gefallen waren. Auch jetzt schneite es wieder. Doch den Schnee sah er nur durchs Fenster, wenn der Bus an einer Straßenlaterne vorbeifuhr und in ihrem Licht der Flockenwirbel zu sehen war. Von Schaprode, dem kleinen Fährort auf Rügen, ging eigentlich immer ein Schiff nach Hiddensee. Dort gab es auch die einzige Fähre, die zum Eisbrechen taugte. Sie hatte zwar schon einige Jährchen auf dem Buckel, aber in den letzten Jahren immer ihren Dienst getan. Auch bei Eis und Schnee. Das Schiff war jetzt das Ziel nicht nur für ihn, sondern auch für zahlreiche Urlauber, die Hiddensee bis zum Abend erreichen wollten, um dort den Jahreswechsel zu feiern. Ein paar Raketen schauten aus seiner Tasche, die er unter dem Sitz verstaut hatte.
Der Bus hielt in Trent, dem vorletzten Ort vor Schaprode. Er schaute kurz auf, um zu sehen, wer zustieg. Aber es war kein Platz mehr für neue Fahrgäste. Vorn diskutierte lautstark der Busfahrer mit einem Wartenden. Dann rief er ein paarmal in den Bus, ob man nicht zusammenrücken könnte. Doch mehr als ein ärgerliches Raunen und Brummen bekam er nicht zur Antwort. Niemand bewegte sich. Der Fahrer schloss die Tür, der Bus fuhr an und er konnte im Schein des Wartehäuschens einen Mann und eine Frau erkennen, die über ihr Zurückbleiben miteinander in Streit gerieten. Sicher wäre noch Platz für die beiden gewesen, wenn der eine oder andere Fahrgast in Bergen bereit gewesen wäre, seinen Rollkoffer im Laderaum des Busses zu verstauen. Doch keiner wollte Zeit verlieren beim anstehenden Wettlauf von der Bushaltestelle zum Ticketschalter der Fähre. Die Zeit bis zur Abfahrt der Fähre war knapp. Er konnte gelassen sein. Er besaß eines der billigen Insulaner-Tickets für die Einwohner Hiddensees.
Sein dicker Nachbar auf der Sitzbank drückte ihn immer mehr an die Bordwand des Busses. Schmerzhaft stießen nun die Kanten der Langlaufski gegen seine Knie. Er hatte sie samt Schuhwerk und Stöcken kurz entschlossen in Bergen erworben. Bei mittlerweile über fünfzig Zentimetern Schnee auf der Insel würde er damit gut vorankommen und müsste nicht zu Fuß durch den Schnee stapfen. Wenn es weiter so schneite, würde über kurz oder lang der Inselbus seine Fahrten einstellen.
Endlich Schaprode. Die Passagiere wurden kurz durchgeschüttelt, als der Fahrer heftig vor dem Schneeberg bremsen musste, der an der Endhaltestelle aufgetürmt worden war. Er wartete, bis sich die meisten schon durch die enge Bustür geschoben hatten, bevor er sich aus seinem Sitz schälte. Draußen schlug ihm ein eisig kalter Wind entgegen. Er zog sein Basecap aus braunem Cord tiefer ins Gesicht. Nicht ohne Genugtuung marschierte er am Reederei-Gebäude vorbei. Es hatte sich eine lange Schlange gebildet. Wie nicht anders zu erwarten, war nur ein Ticketschalter geöffnet. Die „Vitte“ lag schon da. Ansonsten waren die Schiffe im Hafen Schaprode vom Eis eingeschlossen. Bis es Tauwetter gäbe, würde also der Eisfahrplan gültig sein und nur die „Vitte“ zwischen Hiddensee und Rügen verkehren. Fünfmal am Tag. Sonst gab es selbst im Winter zehn Verbindungen. Er ging über die Gangway, zog seinen Fahrschein aus der Tasche und hielt ihn dem Matrosen hin, der einen Abschnitt abriss. Doch als er weiterwollte, hielt ihn der Mann in der blauen Wattejacke mit der Aufschrift „Reederei Hiddensee“ auf.
„Frachtschein?“, fragte er und zog dabei das Wort mit dem typischen norddeutschen Zungenschlag in die Länge.
„Was für ein Frachtschein?“
Der Mann der Reederei zeigte auf die Langlaufskier und wiederholte: „Frachtschein?“
„Dafür?“, antwortete er verwirrt.
„Genau.“
„Aber die gehören doch zu meinem Gepäck.“
Der Matrose schüttelte den Kopf. „Das ist ein Fortbewegungsmittel. Dafür braucht’s einen Frachtschein.“ Damit war die Diskussion für das Besatzungsmitglied der Fähre offenbar beendet.
Er schob ihn zur Seite und winkte den nächsten Fahrgast heran.
So einfach wollte er sich nicht verdrängen lassen. Er trat wieder nach vorn und versperrte den Weg, was sofort mit einem ärgerlichen Murren der Nachfolgenden beantwortet wurde. Solidarität war hier nicht zu erwarten.
„Und kriege ich den Frachtschein hier bei Ihnen?“, fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Sie wurde dann, statt mit Worten, durch zwei Gesten gegeben. Der Matrose deutete einmal mit dem Arm zum Reederei-Gebäude und wedelte ihn dann noch mal kurz mit der Hand zur Seite. In ihm kam das alte Kindergefühl auf, wenn er beim „Mensch ärgere Dich nicht“ mit seiner Figur nur noch einen Schritt vom Ziel entfernt gewesen war, ihn aber sein Bruder noch abgefangen und rausgeworfen hatte. Seine Wut hatte dann innerhalb von Sekunden den Siedepunkt überschritten und das Spielbrett war vom Tisch geflogen.
Mit dieser Wut im Bauch marschierte er zum Fahrkartenschalter und reihte sich in die Schlange ein. Immer wieder ging sein unruhiger Blick auf die Uhr an der Wand. Noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt und noch knapp ein Dutzend Leute vor ihm. Er war nicht der Einzige, der mit seiner Geduld am Ende war. Jemand brüllte durch den Raum: „Macht mal einen zweiten Schalter auf?“ Der Ruf schien ungehört zu verhallen. Dann schob sich aber doch noch in Zeitlupe und mit Kaffeetasse in der Hand eine Angestellte aus einem Nebenraum, stellte die Tasse betont langsam an einem zweiten Schalter ab, setzte sich und winkte den nächsten Kunden heran.
Endlich war er dran. Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt.
„Ich brauche einen Frachtschein“, fauchte er die Frau am Ticketschalter an.
Sie schaute ihn ratlos an. „Wofür?“
Statt zu antworten, hielt er ihr die Skier entgegen. Sie zuckte mit den Schultern. „Skier hatten wir noch nicht.“ Sie wandte sich an ihre Nachbarin. „Petra, hatten wir schon mal Skier?“
Petra stellte ihre Arbeit ein. Verständnislos blickte sie ihre Kollegin an und schüttelte dann den Kopf. „Nö, hatten wir noch nicht.“
„Aber der Mann auf der Fähre verlangt einen Frachtschein“, versuchte er den Vorgang zu beschleunigen. „Die Skier seien ein Fortbewegungsmittel.“
„Ach so“, meinte nun die Frau, tippte in ihren Computer etwas ein und stoppte dann aber wieder. „Petra, meinst du Fahrrad- oder Handwagenkarte.“
Jetzt zuckte Petra mit den Schultern.
„Ich nehme die teurere, dann bin ich auf der sicheren Seite“, schlug er völlig entnervt vor.
„Also Fahrradkarte.“
Er hatte im Inneren der Fähre weder einen Sitzplatz noch einen Stehplatz gefunden. Er stand mit einigen anderen Fahrgästen auf der offenen Stellfläche für die Fahrzeuge. Er hatte sich hinter den Traktor gestellt, der immer auf der Fähre mitfuhr, um Hänger an Bord zu ziehen oder an Land zu schieben. Er versuchte, sich so ein wenig gegen den frostigen Fahrtwind zu schützen. Hinten am Heck konnte er beobachten, wie der Schiffskörper das gebrochene Eis zur Seite drängte. Die Schollen waren schon gut zehn Zentimeter dick. Als er endlich auf die Fähre gelangt war, hatten einige der anderen Gäste abfällig auf die Raketen in seinem Rucksack geblickt.
„Also ich finde es nicht gut, wenn die Ruhe im Biosphärenreservat nun auch noch durch diese Knallerei gestört wird“, ereiferte sich eine Frau so laut, dass er es hören musste. „Wir sind doch extra aus Berlin hierhergekommen, um diesem Krach zu entfliehen. Ich finde diese Knaller müssten auf Hiddensee verboten werden.“
„Mir egal“, antworte ihr Mann, „ein bisschen Feuerwerk ist doch ganz nett.“
In Vitte stürmten die Menschen von Bord. Auf dem Kai warteten Vermieter mit Handwagen und Schlitten auf ihre Gäste. Einige Passagiere gingen gezielt auf die wartenden Hiddenseer zu. Wahrscheinlich waren es Stammgäste oder Verwandte. Pferdekutschen standen bereit, um Touristen nach Kloster im Norden und nach Neuendorf im Süden zu bringen. Beide Orte wurden bei Eisgang nicht von der Reederei angefahren. Ihn beachtete keiner, als er die Fähre verließ, obwohl er auch den einen oder anderen kannte.
Er überlegte kurz, gleich die Skier auszuprobieren. Doch das Hafengelände war gut geräumt. So strömte er mit den meisten am Kai entlang, beobachtete dabei, wie sich Leute mit einem Nicken wiedererkannten, sich manche freudig in die Arme fielen, andere überrascht schienen, wen sie auf Hiddensee trafen und, wie er zu erkennen glaubte, nicht unbedingt hatten treffen wollen.
Der Deichweg war nicht geräumt. Er schnallte die Skier an, griff die Stöcke, machte ein paar gleitende Bewegungen mit jedem Fuß. Dann stieß er sich kräftig ab. Obwohl er wohl über zwanzig Jahre nicht mehr auf Skiern gestanden hatte, kam er gleich gut voran und verschwand in der Dunkelheit.
Malte Fittkau schreckte hoch. Das Geräusch einer Kreissäge hatte ihn geweckt. Er schaute auf seinen Wecker. Kurz nach drei Uhr. Nachts. Selbst auf Hiddensee benutzte um diese Zeit niemand eine Kreissäge. Eigentlich. Da hörte er wieder dieses hohe Kreischen. Vielleicht balgten sich zwei Kater. Aber dafür war es eigentlich zu kalt. Sein eigener grauer Kartäuser, der abends immer auf der Pirsch war und keinen Kampf scheute, um sein Revier zwischen Wiesenweg und Sprenge zu verteidigen, hatte es in den letzten Tagen vorgezogen, die Nacht vor dem warmen Ofen zu verbringen. Draußen war es einfach zu kalt.
Malte schwang sich aus dem Bett, ging zum Fenster und hob vorsichtig die Gardine. Auf der Sprenge, dem Weg hinter dem Boddendeich in Vitte, war kein Mensch zu sehen. Es war tiefe Nacht, nur durch den weißen Schnee etwas heller als sonst. Da war es wieder! Diesmal ein ganz hohes Sirren, als schneide jemand Metall. Am Ende gab es einen dumpfen Klang. Wie ein tiefer Gong. Jetzt ahnte Malte, was gerade geschah. Er riss seine Sachen vom Stuhl, sprang in seine Latzhose, zog sein Hemd und seinen dicken Wollpullover darüber. Er rannte die Treppe hinunter. Aus den Augenwinkeln sah er seinen Kater auf dem Fensterbrett sitzen, nach draußen schauen und heftig mit dem Schwanz schlagen. Auch ihn beunruhigten diese seltsamen Töne.
Malte schnappte sich seine Stiefel und die Wattejacke. Die Schapka stülpte er sich auf den Kopf. Der Kater folgte ihm bis zur Schwelle und trat dann beim ersten Kontakt seiner Pfoten mit dem Schnee den Rückzug in die warmen Gefilde des alten Reetdachhauses an.
Malte rannte durch den tiefen Schnee den Deich hinauf. Er schaute nach rechts. Wie er es erwartet hatte: Die „Caprivi“, ein alter Dampfer aus DDR-Zeiten, hatte Schlagseite. Immer mehr neigte sie sich nach Steuerbord. Wahrscheinlich hatte das Eis die stählerne Schiffshaut durchbohrt. Daher das kreischende Geräusch. Stählern war allerdings an dem alten Kahn schon lange nichts mehr. Der Rost fraß sich seit Jahren Stück für Stück durchs Schiff. Der Gong war dann das Platzen des Schiffskörpers gewesen. Nun drang Boddenwasser in das Leck ein. Malte hörte das Wasser unter der Eisfläche rauschen und glucksen. Das Schiff drohte zu sinken. Die Taue am Festmacher waren gespannt. Die Frage war nur, wer stärker war, die Hafenmauer oder die Taue. Wurden die Taue nicht gekappt, könnte auch noch ein Teil der Hafenanlage zerstört werden und sich das Wasser seinen Weg in den Deich bahnen. Würde es dort zu Eis, drohte eine Katastrophe. Das Eis konnte den Deich sprengen und dann würde sich der Bodden über die tieferen Grundstücke von Vitte ergießen.
Was tun? Malte lief hin und her. Er brauchte ein Beil, um die Taue zu zerschlagen. Warum hörte denn kein Mensch, was hier vorging? Er stürmte zurück, lief zu seinem Schuppen, riss die Tür auf und griff sich ein Beil. Dann sprintete er zum Anleger der „Caprivi“, zerschlug das Tau vorn am Bug. Knapp an seinem Kopf vorbei zischte es auf die vordere Bootsplattform. Dann rannte er zum Heck. Dort brauchte er drei Schläge, um das Tau zu kappen. Nun krängte das Schiff noch mehr aufs Eis. Malte erschrak. Die „Caprivi“ drohte seitwärts zu sinken. Doch dann blieb das Schiff plötzlich in der Bewegung stehen. Das Rauschen wurde leiser und langsam bewegte sich das Schiff wieder in Richtung Kai zurück. Malte sah es auf sich zukommen. Er wich Schritt um Schritt zurück. Das Schiff kam wieder in die Waagerechte und brach durchs Eis. Fontänen schossen nach oben. Dann sank die „Caprivi“ auf den Boden des Boddens, der hier allerdings nicht tiefer als höchstens einen Meter war. Malte war wie vom Donner gerührt. Wie erstarrt blickte er auf das gesunkene Schiff.
Vorsichtig ging er bis an die Kante des Kais. Da lag die „Caprivi“, als wäre nichts geschehen. Allerdings jetzt einen Meter tiefer. Aus der Tiefe drang wieder das Gurgeln des eindringenden Wassers. Die Eisschollen färbten sich langsam schwarz. Malte sammelte sich. Er rannte, so schnell er konnte, auf dem Deichweg vor zum Feuerwehrhaus. Dort schlug er die kleine Scheibe neben dem Tor ein und drückte den Knopf für die Sirene. Langsam begann sie zu heulen und weckte die Insel.
Barnhöft kam angerannt. Er knöpfte sich im Laufen noch die Uniform zu. Er stutzte, als er Malte am Feuerwehrschuppen sah. „Was soll denn das?“
„Die ‚Caprivi‘ ist gesunken“, brachte Malte japsend hervor. Er war noch völlig aus der Puste.
Barnhöft schaute den Deich hinab.
„Die liegt doch da.“
„Ja, aber einen Meter tiefer.“
Jetzt sah es der Feuerwehrmann auch. Er kratzte sich am Kinn.
„Das ist vielleicht ein Scheiß. Aber da kann man nun auch nichts mehr machen.“
„Muss man aber“, erwiderte Malte, „Öl tritt aus. Oder was weiß ich. Jedenfalls ist das ganze Eis drum herum schon schwarz.“
„Was?“, brüllte ihn Barnhöft ungläubig an, um dann seinen heranstürmenden Kameraden zuzurufen: „Ölalarm!“
Doch die Feuerwehr konnte nicht ausrücken. Der Schnee lag in der Sprenge zu hoch. Gut einen Meter. Hier war auch in den letzten Tagen nicht geräumt worden. Das Fahrzeug würde sofort stecken bleiben. Barnhöft überlegte. Sie mussten Ölsperren auslegen. Sie bis zum Schiff zu bugsieren, war den Männern nicht zuzumuten. Er hatte eine Idee. „Ich hol den Schneepflug und ihr fahrt dann gleich hinterher.“
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