Hasenherz und Sorgenketten - Beate Felten-Leidel - E-Book

Hasenherz und Sorgenketten E-Book

Beate Felten-Leidel

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Beschreibung

»Hasenherz und Sorgenketten« ist der kluge, genaue aber auch augenzwinkernde Blick einer Frau auf ihr Leben mit einer generalisierten Angststörung. Beate Felten-Leidel berichtet von Phobien, Panikanfällen, Hochsensibilität, von kleinen und großen Ängsten und Sorgen, vom Scheitern aber auch vom Gelingen. Lange Zeit lebt sie mehr oder weniger unbehandelt mit ihrer Angststörung, sucht nach körperlichen Ursachen, versucht es mit Medikamenten. Erst im Alter von 37 Jahren begibt sich die Autorin in psychotherapeutische Behandlung. Ihren ersten Panikanfall hatte sie bereits mit sechs Jahren. In ihrer Erinnerung ist die Angst während der gesamten Kindheit allgegenwärtig. Die besondere familiäre Konstellationen und das spezielle Klima im Deutschland der Nachkriegszeit waren dabei nicht unwichtig. Heute kann sie vieles besser verstehen, im Laufe der Jahre wird sie zur Expertin für ihre Ängste. Beate Felten-Leidel gibt mit ihrem Buch Antworten auf viele drängende Fragen, die Menschen mit Ängsten und Hochsensibilität beschäftigen: Wie findet man den richtigen Therapeuten? Die richtige Therapiemethode? Kann mir überhaupt jemand helfen? Das Buch ist auch ein kleines Plädoyer für die Ängstlichkeit. Ängstliche und hochsensible Menschen, die sich ihrer »Schwäche« schämen und unter ihrer Dünnhäutigkeit leiden, werden sich darin sicher gut wieder finden, aber auch Angst-Opfer, die nicht wissen, wie sie ihre zahlreichen Probleme angehen sollen. Viele Ängste kann man lindern und einige sogar loswerden.

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Seitenzahl: 250

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Beate Felten-Leidel

Hasenherz und Sorgenketten

Mein Leben mit der Angst

Menü

Buchlesen

Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Erbsenprinzessin

Spezifische Ängste

Schwarzmeer und Schaukelsturz

Kriegstrauma und delegierte Angst

Liebeskummer und Espenlaub

Unwetter und Tornados

Prüfungsangst und Klaustrophobie

Klassenkämpfe und Lampenfieber

Zwangsjacke und »Kummerbund«

Therapie und ferne Ziele

Körperängste

Fährfrau und Schreibhemmung

Vorhöllen und Altersschwächen

Sterben und Tod

Kobolde und Sorgenketten

Tiger im Vorzimmer

Kleines Schlussplädoyer

Danke

Literatur

Für Jan,

der sich der bleichen Schwester

so liebevoll annimmt,

für meinen Vater,

der im Krieg gewaltsam von seiner Angst

getrennt wurde,

und für meine Mutter,

die Nacht für Nacht ihre

quälenden Sorgenketten ertragen musste.

Erbsenprinzessin

Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen hätte.

»Oh, schrecklich schlecht!«, sagte die Prinzessin. »Ich habe kein Auge zugetan! Gott weiß, was in dem Bett gewesen ist!

Ich habe darauf so hart gelegen, dass ich braun und blau am ganzen Körper bin. Es ist entsetzlich!«

Hans Christian Andersen, »Die Prinzessin auf der Erbse«

Als Kind schämte ich mich, weil ich so schüchtern und ängstlich war. Ich wollte kein Angsthase, kein Feigling, keine alte Unke und kein Sensibelchen sein. Erst recht keine überzarte Prinzessin, die durch zwanzig Eiderdaunenbetten und Matratzen eine winzige Erbse spürt und bloß deshalb nicht schlafen kann. Ich wollte genauso stark und mutig sein wie die anderen Kinder. Immer fürchtete ich mich, nie traute ich mich. Manchmal braucht ein ängstliches Kind mehr Tapferkeit, um den Tag durchzustehen, als ein nervöser Aushilfsdompteur, der vor vollen Rängen erstmals einem brüllenden Raubtierrudel entgegentritt. Ängstliche Kinder sind mutig, denn nur wer Angst hat, kann mutig sein.

An meine Sensibilität und Ängstlichkeit habe ich mich nach über fünfzig Jahren gewöhnt. Sie gehören zu mir wie meine Freude am Schreiben und mein Humor. Ich verstehe sie als Wesensmerkmal, als Teil meiner persönlichen Art, die Welt wahrzunehmen. Sensibilität und Ängstlichkeit färben meine Empfindungen, Einstellungen, Sorgen und Hoffnungen. Manchmal ist die Ängstlichkeit hinderlich oder lästig, doch sie ist auch ein Geschenk, denn sie macht achtsam: für die eigene Person, für andere, fürs Leben. Ängstliche sehen und spüren oft mehr als Nichtängstliche. Ihnen fallen Dinge auf, die andere gar nicht bemerken: klitzekleine Erbsen und feinste Nadeln im Heuhaufen. Sie können zwischen den Zeilen lesen, Unsichtbares sehen und Ungesagtes hören.

Leider ist meine ängstliche Veranlagung auch eine Schwachstelle, eine offene Pforte für weitere, oft quälende Ängste. Im Angstbereich ist meine Psyche besonders verwundbar, hier reagiere ich am heftigsten. Oft nehme ich Dinge verzerrt wahr, schätze Gefahren falsch ein, befürchte gleich das Schlimmste, vermeide vieles, obwohl es gar nicht nötig wäre, und spüre den ganzen Stress auch noch körperlich. Als Kind war ich meinen Ängsten hilflos ausgeliefert, heute kann ich sie oft kreativ verwandeln. Dann schlüpft die Angst aus ihrem Kokon, fliegt als Schmetterling davon oder verwandelt sich in Geschichten und Bilder.

Ein wenig erinnert mich meine dünne Seelenhaut an meine empfindliche Körperhaut, die bei Stress mit Ekzemen reagiert, und an all meine Allergien und Unverträglichkeiten. Schon ein Tropfen Alkohol in einem Glas Wasser genügt, um bei mir unangenehme Symptome auszulösen! Inzwischen kenne ich die meisten Angstund Stressauslöser, die körperlichen Symptome und die Namen der kleinen und großen Störungen. Ich versuche vor allem, Ruhe zu bewahren. Akute Angstschübe bekomme ich am besten medikamentös in den Griff. Glücklicherweise gehöre ich nicht zu den Menschen, die leicht süchtig werden. Im Notfall sorgen die Tabletten zuverlässig dafür, dass mein System herunterfährt, ohne Angst machen sie mich nur müde.

Sobald die Erbsenprinzessin Brennnesseln berührt, spielt ihre Haut tagelang verrückt. Ähnlich reagiert meine Psyche, die leider eine Hotline zur Haut besitzt, wenn ich ein Krankenhaus betrete. Innerhalb von Sekunden läuft mein System auf Hochtouren. Ich werde zum schwitzenden Leuchtkörper mit roten Flecken an Gesicht und Hals. Es ärgert mich, dass meine Angst so sichtbar ist, was den Stress nur noch erhöht, doch ich versuche, tapfer Haltung zu wahren. Verwandte und Freunde werden selbstverständlich trotzdem im Krankenhaus besucht, auch wenn die Konfrontation für die Erbsenprinzessin schlimm ist. Dummerweise mutiere ich auch in Arztpraxen sofort zu einer Art Pocahontas mit Korallenhalsbändern. Das passiert mir sogar in Tierarztpraxen, wo ich oft übler dran bin als meine Katzen. Es kommt noch schlimmer: Der bloße Gedanke an operative Eingriffe versetzt mich in gefährliche Nähe eines anaphylaktischen Seelenschocks. Als Sorgenauslöser reichen OP-Standbilder oder Filmszenen. Krankenhausserien sind für mich tabu, selbst wenn Beaus wie George Clooney darin harmlos über den Flur schlendern. Ich gehe offensiv damit um: OP-Szenen schaue ich mir nicht an, und in Anamnesebögen trage ich vorsichtshalber sofort ein, dass ich eine Angststörung habe. Wenn ich einem Arzt meine Angst gestehe, verhält er sich hoffentlich einfühlsamer und erklärt mir genauer, was er als Nächstes tun wird. Leider klappt es nicht immer. Viele Ärzte schütteln verständnislos den Kopf, wenn sich das rotglühende Häufchen Elend vor ihnen auf dem Stuhl windet. Glücklicherweise habe ich nicht vor allen Ärzten Angst: Ich bin überaus glücklich mit einem Virologen verheiratet, und in unserer Verwandtschaft wimmelt es von Ärzten, die bei Familientreffen von ihrer Arbeit erzählen. Eine Härteprüfung, die ich inzwischen ganz gut bestehe.

Es gibt viele unterschiedliche Ängste und Angststörungen, und manchmal denke ich, dass ich sie alle kenne. Einige habe ich ausgetrickst, andere sind von selbst verschwunden, bei wieder anderen habe ich resigniert. Manche Ängste bekam ich durch Übung in den Griff, andere durch kreative und kognitive Verwandlung, direkte Konfrontation oder therapeutische Hilfe. Die allgemeine Anfälligkeit wird mir wohl erhalten bleiben, doch inzwischen erhole ich mich nach den Angstschüben immer recht schnell. Ich stehe zu meiner Ängstlichkeit und zu meinen vergangenen und gegenwärtigen Ängsten. Sie machen mir zwar oft zu schaffen, einige waren echte Stolpersteine oder sogar Mauern auf meinem Lebensweg, aber ich habe auch viel von ihnen gelernt. Ich hoffe, dass meine persönlichen Erfahrungen und Lösungsstrategien auch anderen dabei helfen können, ihren Ängsten ins Gesicht zu blicken, sich besser in ihrer inneren Welt einzurichten, Auswege aus ihrem Angsterleben zu finden.

Es gibt Hilfe! Niemand sollte zulassen, dass seine Ängste ihn krank machen! Viele kann man lindern, manche sogar für immer los werden. Die Ängstlichkeit als Charakterzug kann man wohl nur liebevoll annehmen. Die Neigung, relativ leicht »auf alles« mit Angst zu reagieren, ist eine Eigenschaft, die einen zwar anfällig macht, mit der man aber trotzdem erfüllt und glücklich leben kann. Menschen völlig ohne Angst wären mir persönlich übrigens äußerst unheimlich. Natürlich können auch nicht ängstliche Menschen Angststörungen entwickeln, etwa während einer Lebenskrise, nach Katastrophen oder bei Dauerstress. Im Grunde kann es jeden jederzeit treffen. Wahrscheinlich gibt es mehr Menschen mit Angst als man glaubt. Der Angstforscher Borwin Bandelow hält unsere bewussten und unbewussten Ängste sogar für eine wichtige Triebfeder von Erfolg und Kreativität.

Dies ist kein Fachbuch, kein Ratgeber und auch kein Selbsthilfebuch. Ich bin weder Ärztin noch Psychologin. Bei mir gibt es keine Ausführungen über neurobiologische Prozesse im Gehirn, keine Tests zur Selbsteinschätzung, Anti-Angst-Programme oder Angaben über Medikamente. Ich bin keine Angstforscherin, sondern Schriftstellerin und Übersetzerin. Trotzdem bin ich Expertin für Ängste, denn sie haben mein Leben von klein auf begleitet. Als Übersetzerin von psychiatrischen Fachbüchern habe ich mich sogar jahrelang theoretisch mit ihnen beschäftigt. Ich habe mein Buch in einer für mich besonders schwierigen Lebensphase geschrieben, aber während ich sie hautnah erlebte, konnte ich die Angst besonders gut anschauen. Es ist ein ehrliches, persönliches Buch über mein Leben mit Ängstlichkeit und Angststörungen, Phobien, Panikattacken, Angstanfällen und Sorgenketten. Sie werden sehen, dass ich einige Ängste nicht ernst nehme, andere dagegen nur vorsichtig angehe. Ich habe dieses Buch auch als Vertreterin einer Generation geschrieben, deren Eltern die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocausts erlebt haben, und als Tochter eines Mannes mit einer unbewältigten Posttraumatischen Belastungsstörung. Für meinen Vater ist der Krieg bis heute nicht zu Ende. Ich kenne viele Familien, in denen die Traumata mit nachhaltigen Folgen unbewusst an die Kinder weitergegeben wurden, selbst wenn die Eltern nicht über das Erlittene sprachen. Viele Söhne und Töchter tragen bis heute schwer an diesem Schweigen. Doch auch das Gegenteil, die Überschwemmung der Kinder mit Kriegserinnerungen, schafft oft Kinderleid. Meine »Kriegsängste« haben sich erst gebessert, seit ich sie mit eigenen Bildern bannen konnte.

Ich würde mir wünschen, dass mein Buch anderen dabei hilft, sich ihren Ängsten und deren Wurzeln zu nähern und neue Sichtweisen zu entwickeln. Es ist nicht immer leicht, den Zugang zu verschütteten und abgespaltenen Angstbereichen zu finden, doch es lohnt sich. Gehen Sie Ihre Ängste ruhig an! Verleugnete und verdrängte Ängste geben keine Ruhe, und so schrecklich, wie sie auf den ersten Blick scheinen, sind sie oft gar nicht. Manche sind nur »Scheinriesen«, je näher man ihnen kommt, desto kleiner werden sie. Andere lösen sich auf, wenn man sie mit Humor betrachtet oder sich mit ihnen anfreundet. Jeder Mensch hat starke innere Heilkräfte, die nur darauf warten, aktiviert zu werden. Haben Sie Mut, sich therapeutische Hilfe zu holen. Ich selbst habe mich dagegen viel zu lange gesträubt, weil ich dachte, ich könnte meine Probleme allein bewältigen. Ich hielt es früher für eine Niederlage, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Hätte ich damals gewusst, wie befreiend es ist, sich jemandem anzuvertrauen, bei dem man Schutz und Verständnis findet, wäre mein Lebensweg sicher anders verlaufen. Die mitfühlende Distanz eines Therapeuten kann Wunder bewirken. Manchmal genügt ein kleiner »Twist« bei der Bewertung eines Problems, und schon öffnen sich neue Fenster mit ungeahnten Ausblicken.

Spezifische Ängste

Menschenmengen, Spinnen und Aufzüge

Ängste können in allen Abstufungen von mild bis schwer und leider auch in Kombination miteinander oder mit anderen Störungen, etwa Depressionen oder Zwängen, vorkommen. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Angststörungen sind oft fließend. Zudem gibt es auch unzählige »normale« und »realistische« Ängste, die jeder kennt und gelegentlich hat, ohne dass sie uns einschränken. Sie warnen uns vor echten Gefahren und können lebensrettend sein oder bereiten uns auf schwierige Situationen vor und führen dazu, dass wir uns besonders viel Mühe geben. Doch auch sie können gelegentlich aus dem Ruder laufen. Die bekanntesten Ängste sind sicher die Phobien, also die Furcht vor bestimmten Situationen oder Objekten. Zu ihnen zählt die Agoraphobie oder Platzangst mit all ihren Untergruppen, die sich vor allem als Furcht vor Menschenmengen, öffentlichen überfüllten Plätzen, aber auch vor Reisen manifestiert. Zu den Hauptsymptomen gehören Herzrasen, Schwindel, Beklemmungsgefühl, Mundtrockenheit und Übelkeit. Agoraphobie tritt oft zusammen mit einer Panikstörung auf. In diesen Bereich gehört auch meine früher sehr lästige »Einkaufsangst«. Heute habe ich sie gut im Griff, aber mich kriegen immer noch keine zehn Pferde in ein Kaufhaus, in dem gerade Schlussverkauf ist. Meine Schwester dagegen stürzt sich fröhlich ins Gewühl und kommt mit tollen Schnäppchen nach Hause. Ihr macht das Gedränge auch noch Spaß! Ich empfinde schon beim Gedanken daran Unbehagen. Seltsam ist, dass ich problemlos in volle Buchläden gehen kann, da setzt meine Bücherliebe das Unbehagen offenbar außer Kraft. Platzangst kann überall auftreten, wo viele Menschen versammelt sind, im Kino, in der Kirche, bei Versammlungen oder Festen. Am meisten fürchtet man in diesen Situationen wohl, keine Fluchtmöglichkeit zu haben. Subjektiv hat man Angst, zu ersticken oder erdrückt zu werden. Wenn die Hauptangst darin besteht, zwischen fremden Menschen in Ohnmacht zu fallen oder einen Panikanfall zu bekommen, verringert sich der Stress, wenn ein vertrauter Mensch bei einem ist.

Ich kenne mein Problem und versuche daher, mich bei größeren Veranstaltungen möglichst in der Nähe eines Ausgangs aufzuhalten. Will jemand mich von meinem sicheren Eckplatz vertreiben, sage ich einfach: »Tut mir leid, aber ich habe Platzangst.« Bisher hat das immer geklappt. Einige Orte machen mich beklommener als andere. Überfüllte Züge ertrage ich gut, überfüllte Busse hasse ich und meide sie, wo ich kann. Aber auch hier gibt es Ausnahmen: Die Londoner Doppeldecker machen mir nichts aus, obwohl sie schrecklich schaukeln.

Bei den spezifischen Phobien fürchtet man sich vor bestimmten Objekten oder Situationen. Es gibt verschiedene Untergruppen, etwa die Tier-Phobien, z. B. die Angst vor Schlangen, Mäusen oder Hunden, und die situativen Phobien, etwa die Angst vor dem Fliegen, vor Höhen, Tunneln oder Aufzügen. Wohlbekannt ist die Klaustrophobie, die Furcht vor geschlossenen Räumen, bei der man ebenfalls Angst hat, zu ersticken oder ohnmächtig zu werden. Zu den spezifischen Phobien zählen auch die mir allzu vertrauten Verletzungsphobien, die Angst vor Ärzten, Krankenhäusern, Spritzen, medizinischer Behandlung oder Blut, und die Natur-Phobien, z. B. die Angst vor Wäldern oder Gewitter. Meine Freundin Karla hat so schreckliche Gewitterangst, dass sie sich schon aufregt, wenn sie davon erzählt. Diese Angst hat auch ihre Mutter, sodass sie möglicherweise erlernt ist.

Wahrscheinlich hat jeder Mensch irgendeine Phobie, zumindest in abgemilderter Form. Leichte Phobien kann man als harmlose Macken ansehen, doch schwere Phobien können sehr quälend sein. Wenn sich jemand vor lauter Angst, dauernd zur Toilette zu müssen, nicht mehr vor die Tür traut, ist das alles andere als lustig. Dann ist eine Phobie keine Macke mehr, sondern eine Störung. Wenn Phobien so schlimm werden, dass man an nichts anderes mehr denken kann, können sie einem das Leben sehr erschweren. Schlimmstenfalls münden sie sogar in Panikanfälle. Die gute Nachricht: Die meisten Phobien wird man durch Verhaltenstherapie los. Phobien können übrigens auch bei Menschen auftreten, die überhaupt nicht ängstlich sind. Ich hatte eine äußerst selbstbewusste Tante, die beim Anblick von Katzen kreischend auf den Stuhl sprang. Unsere Topsi entwickelte sehr rasch eine Tantenphobie. Keine Ahnung, warum Tante Finchen eine Ailurophobie hatte. Übrigens soll auch Napoleon Furcht vor Katzen gehabt haben. Meine Freundin Kirsten leidet an Musophobie. Außer in Horrorfilmen habe ich noch nie jemanden so gellend schreien gehört. Auslöser war eine verirrte Waldmaus. Es war nicht leicht, sie zu fangen, denn sie saß hinter der Schrankwand. Ich musste erst die Sockelleisten abmontieren, bevor ich den Nager stolz nach draußen tragen konnte. Für einen ängstlichen Menschen eine schöne Erinnerung, von der er lange zehren kann! Kleiner Tipp: Nicht am Schwanz tragen, dann beißen sie.

Einige Phobien erwachsen aus unangenehmen Erfahrungen oder werden dadurch verstärkt. Eine Kommilitonin von mir fürchtete zu ersticken, wenn sie sich nicht in der Nähe eines geöffneten Fensters aufhielt, und fuhr auch bei Eiseskälte mit offenen Autofenstern. Die Störung trat erstmals auf, nachdem sie nach einem Unfall ein Gipskorsett tragen musste. Auch Fahrstühle machten ihr Angst. Ich kenne viele Menschen mit Aufzugphobie. Meine Freundin Britta stiefelt jeden Tag die vielen Stockwerke zum Büro zu Fuß hoch. Angst verspürt sie dabei keine, denn sie tut ja nur was für ihre Gesundheit! Bisher konnte ich sie nicht überreden, mit mir Aufzug zu fahren, nicht mal in einem wirklich üblen Parkhaus. Mit Aufzügen habe ich keine Probleme, obwohl ich schon mehrfach stecken geblieben bin. Mein schlimmster Steckenbleiber passierte in der Prä-Handy-Zeit an einem heißen Sommertag, zusammen mit einer jungen Frau, die eine Tragetasche mit benutzten Pampers und ein brüllendes Baby bei sich trug. Wir konnten nur den Alarmknopf betätigen und warten. Die Mutter stand zitternd in der Ecke, umklammerte ihr Kind, hyperventilierte und war überzeugt, jeden Moment sterben zu müssen. Ich tat mein Bestes, um sie zu beruhigen. Es war hart, aber es hat an meiner Nichtphobie nichts geändert. Auch die Paternoster-Fahrten im Kölner Hansa Hochhaus, in dem ich einige Jahre unterrichtete, machten mir Spaß, während viele meiner VHS-Schüler das Ding offenbar für lebensgefährlich hielten. Genau wie die Waldmaus gab mir der Paternoster das kostbare Gefühl, endlich mal keine Angst zu haben. Mit Mut hat das nichts zu tun, hier klappt einfach die realistische Einschätzung von Gefahren, die mir sonst oft nicht gelingt. Wer sich für die vielen schönen Phobie-Fachausdrücke interessiert, dem sei Wolfgang Schmidbauers »Das Buch der Ängste« ans Herz gelegt. Auch im Internet gibt es spannende Phobienlisten.

Zu den bekanntesten Tier-Phobien gehört sicher die Arachnophobie, die Furcht vor Spinnen. Ich kenne jede Menge Opfer. Selbst meine ansonsten angstfreie Schwester stürmt sofort aus dem Zimmer, wenn sie eins dieser Tierchen entdeckt, und leider werden auch immer wieder zum Teil schwere Autounfälle durch Spinnenpanik verursacht. Viele Menschen haben Angst vor eigentlich harmlosen Dingen, doch sie leiden nicht besonders darunter, sonst würden sie wahrscheinlich etwas daran ändern. Personen mit Spinnenphobie lassen die Biester halt von anderen einfangen, Personen mit Aufzugphobie nehmen die Treppe. Sie schaffen es, ihrem Furchtobjekt aus dem Weg zu gehen, ohne dabei aufzufallen: Vermeidung statt Konfrontation. Nur wenn man sich nichts sehnlicher wünscht, als einen Tarantel-Züchter zu heiraten, sieht die Sache anders aus. Wenn der Leidensdruck groß genug ist, wird man versuchen, die Phobie los zu werden, etwa mithilfe einer Therapie oder mit guten Selbsthilfe-Ratgebern. Die meisten spezifischen Phobien lassen sich eigentlich ganz gut behandeln. Durch Konfrontation oder Exposition, also dadurch, dass man sich dem Gefürchteten bewusst aussetzt, kann man sie sich abtrainieren. Schlimmstenfalls fährt man den ganzen Tag Aufzug oder setzt sich in einen Raum voller Schlangen. Das nennt man Flooding, Überflutung. Irgendwann wird der Angsthöhepunkt überschritten, und die Angst nimmt von selbst ab. Mit etwas Glück ist man danach für immer gefeit. Ich kenne mehrere Leute, bei denen diese Methode wunderbar funktioniert hat. Es gibt zwei Arten der Exposition: die langsame, allmähliche Desensibilisierung, bei der man schrittweise vorgeht, sozusagen vom Spinnlein zur Tarantel, und die brachiale Methode, bei der man sich von Riesenspinnen bekrabbeln lässt. Angeblich wirkt die zweite Methode besser und nachhaltiger, auch wenn sie höchst unangenehm ist. Als Angstcharakter tendiert man eindeutig zur ersten Variante. Lieber erst zaghaft probieren! Doch halbherzige Versuche können im Gehirn als Versagen abgespeichert werden, und dann hat man die Störung nur verstärkt statt sie loszuwerden.

Ärzte und Pockenviren

Ich habe, was Phobien betrifft, großes Pech. Meine stärksten Ängste gehören in den Bereich der medizinischen Phobien. Ich fürchte mich vor Intensivstationen, Operationen, Krebs, Alzheimer, Schlaganfällen, Sterben und Tod. Die Furcht vor Ärzten heißt Iatrophobie, und ich finde sie genau wie die Nosokomephobie, die Furcht vor Krankenhäusern, äußerst realistisch und kein bisschen übertrieben. Vor Impfungen dagegen fürchte ich mich nicht. Ich bin komplett durchgeimpft, selbst gegen Schweinegrippe, denn ich finde die Krankheiten viel schlimmer als den kleinen Piks. Furcht vor Spritzen kann übrigens zu eindrucksvollen Kreislauf-Synkopen führen, das heißt, die Patienten fallen tatsächlich in Ohnmacht. Dann hat auch der Arzt Stress, obwohl er auf der richtigen Seite der Nadel steht. Ich habe nur mit der Pockenimpfung ein Problem. Die bekam ich als Kind nicht, weil meine Mutter Angst davor hatte, und für Erwachsene ist sie in der Tat nicht ungefährlich. Ich hoffe daher inbrünstig, dass es in Zukunft keinen neuen Pockenausbruch gibt!

So richtig kann ich mir bei meinen Kernängsten leider weder Exposition noch Flooding vorstellen. Ich kann Operationen nicht üben, und ich kann auch nicht durchspielen, dement oder tot zu sein. Ich glaube nicht, dass es mir helfen würde, eine Woche im Operationssaal oder im Sezierraum zu verbringen, mir stundenlang OP-Filme anzusehen oder jemanden an mir herumschnippeln zu lassen. Das wäre Folter!

Ich habe bisher nur eine medizinische Phobie deutlich lindern können: meine Dentophobie. Meine jetzige Zahnärztin ist so gut, dass ich im Laufe einer langwierigen Behandlung meine Extremfurcht verloren habe. Den roten Kopf, das Korallenhalsband und die Krampfschultern habe ich zwar immer noch, und ich muss auch das Spülglas noch dauernd austrinken, doch ich fühle mich besser. Ich rase vorher nicht mehr nonstop aufs Klo und schrecke auch nachts nicht mehr hoch, weil ich den Bohrer im Mund spüre. Als Kind war meine Angst so groß, dass ich jahrelang mit faulen Schneidezähnen herumlief. Vom Schulzahnarzt bekam ich immer nur die rote Karte. Ich wurde entweder in der Schule zwangsbehandelt oder mit Gewalt zum Dorfzahnarzt geschleift. Auf dem Stuhl aalte ich mich sofort in den Fußbereich. Wahrscheinlich wird man deshalb immer so weit nach hinten gekippt? Mein persönliches Flooding fand im Rahmen einer Wurzelbehandlung statt. Es war zwar scheußlich, stundenlang mit zwirbelnden Instrumenten im Mund dazusitzen, doch die neue, sehr einfühlsame Zahnärztin erklärte mir alles genau, und sobald es mir zu viel wurde, hob ich die Hand, und sie machte eine Pause. Mit meiner Zahnarzt-Odyssee könnte ich Bücher füllen. Offenbar geht es vielen Menschen ähnlich: 60 bis 80 Prozent der Allgemeinbevölkerung geben zu, unter dieser Angst zu leiden, 5 bis 20 Prozent haben sogar eine echte Phobie. Für Zahnarztfürchter gibt es eine tolle Website, auf der man sich alles Angstmachende ansehen und anhören kann. Am Anfang reagierte ich schon auf die Geräusche mit Stress. Probieren Sie es mal, die Website heißt »Aubacke«. Mir ist in über fünfzig Jahren nur ein Mensch begegnet, der gern zum Zahnarzt ging: Marita hatte kerngesunde Zähne und war unsterblich in ihren Zahnarzt verliebt. Ich fürchte zwar, dass meine Dentophobie jederzeit wieder aufflammen kann, doch momentan bin ich zufrieden mit mir. Mittels professioneller Zahnreinigung »übe« ich jetzt drei Mal im Jahr, mich »behandeln« zu lassen. Nur zu empfehlen!

Als ängstlicher Mensch habe ich eine meterhohe Schmerzgrenze. Erst wenn die Qualen unerträglich werden, begebe ich mich in die Höhle des Löwen. Unbedingte Voraussetzung für die Überwindung jeder Arzt-Phobie ist leider ein guter, einfühlsamer Arzt, was die Störung schwer behandelbar macht. Einen Orthopäden mit angstlindernder Wirkung habe ich trotz intensiver Suche bisher nicht gefunden. Den Fachbegriff für Orthopäden-Furcht kenne ich nicht. Orthophobie heißt sie jedenfalls nicht, das ist die Angst vor Eigentum, unter der ich überhaupt nicht leide. Selbst den ruppigsten Orthopäden gegenüber zeige ich meine Gefühle deutlich, doch offenbar halten sie mich nur für zickig. Vor Spritzen ins sterile Kniegelenk bin ich tagelang krank. Manchmal schöpfe ich Hoffnung: Die Praxis von Nr. 6 war nobel, die Wartezeit akzeptabel, die Patienten erstaunlich jung. Doch zwischen den durchtrainierten Sportlern war die nicht privat versicherte, glühende Person mittleren Alters völlig fehl am Platz. Wenn Nr. 6 gewusst hätte, wie viel Mut ich benötigte, um freiwillig in seine Praxis zu kommen, hätte er mir die hohen IGeL-Zahlungen bestimmt sofort erlassen. Als Angstopfer lässt man sich zu diesen individuellen Gesundheitsleistungen, die von den Krankenkassen nicht erstattet werden, natürlich besonders leicht überreden. Nr. 7 ist mitleidslos, daher suche ich weiter. Meine Selbstdisziplin in Orthopädiepraxen ist übermenschlich! Das bedauernswerte Wesen, das nach drei Stunden Warten auf der Liege zittert, ist tougher als Superwoman!

Die Zeiten sind hart. Aids, EHEC, SARS, Schweine- und Vogelgrippe, heimtückische Viren und multiresistente Keime lauern überall. Vielleicht schaffe ich es ja mit sehr viel Glück, ohne Operationen, Krebs und Demenz durchs Leben zu kommen, aber ich werde es todsicher nie schaffen, nicht zu sterben. Die Furcht, unheilbar krank, im Alter oder sogar schon vorher zum hilflosen Pflegefall zu werden, in wirtschaftliche Not zu geraten oder meinen Partner zu verlieren, werde ich auch nicht so richtig los. Diese lästigen Ängste kann man sich nicht abtrainieren wie eine Geckophobie, man kann nur versuchen, sie weniger ernst zu nehmen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte einige Ängste umtauschen. Gern gegen eine Tierphobie! Ich fasse selbst die fetteste, haarigste Spinne an. Unser Haus ist enorm spinnenfreundlich. Ich entferne die Tiere nur, wenn mein extrem kurzsichtiger Mann sie mit bloßem Auge erkennt, also etwa bei Handtellergröße. Das einzige Tier, das mich irritieren würde, wäre ein geifernder Kampfhund im Schlafzimmer. Aber das wäre eine angemessene Reaktion auf eine real existierende Gefahr. Auch gegen eine Aufzugphobie würde ich meine medizinischen Ängste gern eintauschen. Ich würde schon allein wegen meiner kaputten Knie alles tun, um diese Phobie schnell wieder loszuwerden.

Gelegentlich überrasche ich mich übrigens selbst. Die Terrorwarnungen im letzten Winter konnten mich nicht davon abhalten, meine geliebten Weihnachtsmärkte zu besuchen, auch wenn sämtliche Freundinnen partout nicht mitkommen wollten, weil sie Anschläge fürchteten. Auch mit Dioxin in Lebensmitteln habe ich nichts am Hut. Die Mengen, die ich verzehren müsste, um wirklich ein Problem zu bekommen, sind immens. So viele Eier und Hühnchen kann kein Mensch essen! Auch sämtliche Ängste, die mit Aberglauben zu tun haben, machen mir nichts. Ich bezog schon als Studentin freiwillig das schöne Zimmer 13, unsere Hausnummer ist 1313, und Freitag, der 13., schwarze Katzen oder aufgestellte Leitern tun mir auch nichts. Ein Kommilitone klinkte mal völlig aus, als ich meinen Schirm in seinem Flur aufspannen wollte: »Das bringt Unglück!« Es ist zum Auswachsen. Ich habe offenbar genau die falschen Phobien.

Fahren, Fliegen und Reisen

Dummerweise habe ich eine hartnäckige Fahrphobie, obwohl ich eine Konfrontation hinter mir habe, die höchst vielversprechend begann. Nach dem Ende einer unglücklichen Beziehung war ich so außer mir, dass ich meinem Ex beweisen wollte, dass ich alles konnte. Die Wut setzte meine Furcht sozusagen außer Kraft. Ich meldete mich in der Fahrschule an und tat genau das, was ich mich bisher nie getraut hatte. Ich fuhr den Fahrschul-Golf nicht zu Schrott, verursachte keinen Unfall und knallte gegen keinen Baum. Ich überholte Laster, parkte ein und aus, bewältigte Autobahnen, Tunnel und Stadtverkehr. Mein geduldiger Fahrlehrer hatte Nerven aus Stahl und wirkte wie ein doppelter Angstlöser. Sowohl die theoretische als auch die praktische Fahrprüfung bestand ich beim ersten Anlauf. Der Prüfer war ein sehr unangenehmer Kerl. Ich war als Zweite dran, was mir zunächst ganz lieb war. Doch meine selbstsichere Vorgängerin übersah eine rote Ampel, fiel durch und saß danach laut schluchzend hinter mir. Keine Ahnung, wieso sie versagte und nicht ich.

Doch es war kein echter Sieg. Ohne Fahrlehrer geriet ich so in Panik, dass ich es außer einer einzigen Albtraumfahrt nie wieder versuchte. Diese Furcht hat viele Namen: Autofahrphobie, Fahrphobie, Fahrangst und Amaxophobie. Möglicherweise ist sie eine häufige Störung, doch man spricht nicht gern darüber. Betroffene fürchten sich vor ganz unterschiedlichen Dingen. Manche werden sofort ruhig, wenn jemand mitfährt. Andere fürchten vor allem Autobahnen, Tunnel, Parkhäuser, unbekannte Strecken, Schnee, Eis oder Fahren im Ausland. Bedrohliche Situationen, wie Fahren bei Nebel, Dunkelheit, Stau, Hitze, in Großstädten oder einsamen Gegenden, werden tunlichst vermieden. Schlimmstenfalls wird das Fahren ganz eingestellt, wie bei mir. Dummerweise halte ich meine Angst für absolut berechtigt: Autos sind potenzielle Mordwaffen, und ich kann damit nicht umgehen! Könnte ja sein, dass ich Gaspedal und Bremse verwechsle und eine Massenkarambolage verursache. Und was ist mit all den Betrunkenen, die gerade mit der eifersüchtigen Freundin telefonieren und mich rammen? Ich habe diese Phobie leider (noch) nicht in den Griff bekommen. Mein Stress beginnt schon, wenn ich mir vorstelle zu fahren. »Vorausschauende Angst« nennt man das. Im Grunde habe ich Angst davor, die Kontrolle zu übernehmen, und fühle mich überwältigt von all den vielen Dingen, die man beim Fahren gleichzeitig beachten muss. Ich weiß, dass es Fahrschulen gibt, die auf Problemfälle wie mich spezialisiert sind, und dass die Verhaltenstherapie bei Fahrangst meist erfolgreich ist. Trotzdem habe ich keine Hilfe gesucht. Mein Leidensdruck ist offenbar nicht groß genug. Zudem werde ich immer älter und langsamer, und auch meine Gonarthrose wird durchs Fahren bestimmt schlimmer.

Vielleicht bin ich genetisch vorbelastet, denn meine Mutter setzte sich selbst als Beifahrerin nur unter Zwang ins Auto. Meistens stehe ich zu meiner Angst, doch manchmal schäme ich mich. Erst neulich kreischte eine Bekannte: »Wie, du kannst nicht fahren? Das kann doch jeder! Da musst du dich zusammenreißen! Wenn du genug Fahrpraxis hast, geht das schon!« Sie sah mich an wie ein ekliges Insekt. Ich falle wohl nur auf, weil ich meine Phobie zugebe. Es gäbe genug Notlügen: Autos sind zu teuer! In der Stadt kommt man auch so überall hin! Das Schlimme ist, dass ich weiß, dass ich es könnte, sonst hätte ich die Fahrprüfung ja nicht bestanden. Tröstlich, dass es auch prominente Opfer gibt, z. B. Ray Bradbury, Quincy Jones und Albert Einstein. Wahrscheinlich gibt es viele Leidensgenossen, aber alle mir bekannten Nichtfahrer haben Gründe: Sie sind sparsam, zu alt, sehbehindert, Ökos oder fahren lieber Fahrrad. Auch nicht das sicherste Verkehrsmittel, aber über Fahrradphobie finde ich nichts.

Ausgerechnet der Science-Fiction-Autor Ray Bradbury litt zur allgemeinen Verwunderung auch an Aviophobie und bestieg erst mit 63 sein erstes Flugzeug. In seinen Mars-Chroniken schickt er Menschen mit Raketen ins All! In einem Interview berichtete er, dass seine Flugphobie früher oft zu unschönen Szenen führte, weil er die Stewardessen förmlich auf Knien anbettelte, ihn aussteigen zu lassen. Später soll er gern geflogen sein. Seine Autoangst dagegen blieb bestehen. Übrigens ist Autofahren statistisch wirklich viel gefährlicher als Fliegen. Flugangst ist eine weitverbreitete Angst. Angeblich leiden daran etwa 20 Prozent der Deutschen. Die besten Gegenmittel: immer wieder fliegen oder eine Verhaltenstherapie machen. Mich schrecken Flugzeuge auch nach mehreren unangenehmen Erfahrungen nicht. Auf dem Rückflug aus den USA geriet unsere Maschine plötzlich in ein Unwetter. Ich bemerkte erstaunt, dass ich keinerlei Panik empfand. Vielleicht, weil ich an der Situation nichts ändern konnte? Ich gab die Verantwortung einfach ab. Auch der Flug, bei dem wir wegen eines ausgefallenen Triebwerks umkehren und die Frau hinter mir sich mehrfach übergeben musste, hat an meiner positiven Haltung nichts geändert. Seitdem habe ich allerdings Angst, dass es jemandem hinter mir schlecht werden könnte. Ich kenne viele Menschen mit Aviophobie. Mein Schwager fliegt nur vollgestopft mit Beruhigungsmitteln, und einer meiner Professoren hatte so große Panik, dass er vorzeitig aus dem Kino wankte, als er sich mit der Familie »Die Möwe Jonathan« ansehen wollte. Unser Freund Bernd verlor seine Flugangst schlagartig, als ihm der Pilot im Cockpit glaubhaft versicherte, dass auch er heil den Zielflughafen erreichen wolle. Bernd hat auch sonst eher ein Problem damit, die Kontrolle abzugeben, während ich wie gesagt ein Problem damit habe, die Kontrolle zu übernehmen. Besonders übel wird es, wenn Höhenangst und Flugangst zusammentreffen. Ich hoffe, dass ich weiterhin von beiden verschont bleibe. Mir reichen meine anderen Ängste! Ich stelle mich daher auf steilen Klippen gern ganz nah an den Rand und starre berauscht in die Tiefe und genieße beim Fliegen vor allem den Start mit allen Sinnen. Diese absolut angstfreien Momente sind die positiven Entsprechungen zu den oft so schmerzhaft erlebten Panikanfällen. Manchmal stelle ich mir sogar vor, wie ein Adler zwischen den Wolken zu gleiten und aus sicherer Entfernung auf meine Probleme herabzublicken. Als Pilotin wäre ich eine Katastrophe. Als Selbstfahrerin auch.