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Ein Mädchen verschwindet aus der Badi Bichelsee und der Bademeister steckt tot im Kamin. Unfall, Zufall, Mordfall, fragt sich Noldi. »Mord«, sagt sein kleiner Sohn, der früh in die Fußstapfen des Vaters tritt. Als plötzlich auch noch der Dorfmetzger eine Leiche in der Tiefkühltruhe entdeckt, wird der Fall für Noldi zur tödlichen Gefahr.
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Seitenzahl: 506
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Kuhn Kuhn
Hasensterben
Noldi Oberholzers zweiter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von:
© Martin Schlecht / Fotolia.com
© suze / photocase.de
ISBN 978-3-8392-4628-3
Noldi (Arnold) Oberholzer, Kantonspolizist, 55
Meret, seine Frau, 51
Verena, Tochter, 26, schwanger
Richard, Schwiegersohn, 29
Mark, deren erstes Kind, 2
Peter, Sohn, 24, in Amerika
Felizitas, Tochter, 18
Paul, Sohn, 13
Hans Hablützel, Wildhüter, 60
Betti, seine Frau, Merets Schwester, 56
Koni Ambühl, Bademeister, 22, der Tote im Kamin
Ronald Speiser, 60, genannt Veilchenfrosch
Fides, 47, seine Frau
Marian, Sohn, genannt Goldmarie, Freund von Koni Ambühl
Tashi Tsering, Pflegesohn, Mönch im Kloster
Slavko Petkovski, genannt Tschusch, Freund von Koni Ambühl
Dickie Dhidugong, Freundin von Ambühl
Nadine Zimmermann, Opfer, 13
Hugo Zimmermann, Bruder, 16
Maria Zimmermann, Mutter, 41
Oskar Schläfli, Metzger, 52
Ingrid, seine Frau, 50
Mani Rindlisbacher, fanatische Buddhistin
Lewi, ihr Sohn, 10, klaut wie ein Rabe und ertrinkt in der Töss
Globi Fink, 46, Besitzer der Vogelberingstation
Yasmina, 38, seine polnische Frau, sehr katholisch
Franz Notter, 58, Noldis Freund, Polizist in Dussnang
Hans Beer, Noldis Chef
Markus Eidenbenz, Ruedi Rathgeb, Andreas Hubacher, Polizeikollegen von Noldi
Khandro Wangmo, genannt Käthi, 41, Tibeterin
Bayj, der bayrische Gebirgsschweißhund, 5
Im Morgengrauen geht eine Frau zum Sieben-Uhr-Zug Richtung Bauma. Es ist Anfang Oktober, das Wetter fast sommerlich mild. Über dem Spiegel, wie die Anhöhe im Osten heißt, kündigt sich mit einem ersten hellen Streifen der Sonnenaufgang an. Im Tal dagegen ist es noch Nacht. Die Frau zieht ihre Strickjacke enger um sich. Sie fürchtet sich im Freien, wenn es finster ist, doch heute muss sie so früh nach Turbenthal. Da und dort sieht sie Leute, die ebenfalls dem Bahnhof zustreben. Sie geht über die Brücke. Automatisch schaut sie talabwärts auf die Töss. Der Fluss rauscht. In den Wassermassen ist die Sandbank unterhalb der Schwelle kaum zu erkennen. Da nimmt etwas an ihrem Rand den Blick der Frau gefangen. Im schwachen Licht kann sie nicht erkennen, um was es sich handelt. Neugierig läuft sie den Velo-Weg auf dem anderen Ufer entlang, um näher an die Stelle zu gelangen. Doch auch bei genauerem Augenschein findet sie nicht mehr heraus. Da beginnt das Signal an der Barriere zu läuten, das heißt, gleich wird sie heruntergehen und der Zug nach Winterthur einfahren. Die Frau hastet zurück zur Straße, das rote Licht blinkt, man hört bereits das schnarrende Geräusch, mit welchem die Balken sich senken. Sie rennt über die Geleise, dann den schmalen Weg zwischen dem Trassee und den eingezäunten Gärten entlang zum Bahnhofplatz. Der Kiosk dort ist um diese Zeit bereits geöffnet. Sie drängt sich durch die Leute, die, bevor der Zug kommt, noch etwas kaufen wollen. Atemlos sagt sie zum Besitzer:
»Sie, in der Töss da liegt etwas. Können Sie nicht einmal nachschauen? Ich muss jetzt auf den Zug.«
Der Kioskbesitzer, ein Pakistani, nickt nur, er hat alle Hände voll zu tun. Die Pendler in der Früh mit Kaffee und Gipfeli zu versorgen, ist sein Hauptgeschäft, denn tagsüber verkauft er nicht mehr viel. Der Tösstaler Richtung Winterthur fährt beinahe lautlos ein, und gleichzeitig geht auch die Barriere am unteren Ende des Bahnhofs herunter. Jetzt muss die Frau los. Sie winkt, rennt den Weg wieder zurück, um hinüber auf die andere Seite zu gelangen, wo der Gegenzug hält. Die Verhältnisse im Bahnhof Rikon sind kompliziert, denn es wird gebaut. Daher muss sie diesen weiten Umweg machen. Ängstlich suchen ihre Augen die Sandbank im Fluss. Der dunkle Fleck ist jetzt noch deutlicher zu sehen.
In Rikon kreuzen die Züge, einer Richtung Winterthur und der andere nach Bauma. Sind beide wieder abgefahren, wird es ruhig um den Bahnhof. Die Perrons liegen in ihrer ganzen Länge leer da, und auch auf dem Vorplatz ist kein Mensch mehr zu sehen. Der Kioskbesitzer weiß, bis zum nächsten Zug in 20 Minuten kann er seinen Stand ohne Weiteres verlassen, um nachzuschauen, wovon die Frau gesprochen hat. Er springt rasch über die Geleise. Das ist zwar verboten, aber wer soll ihn schon sehen. Vom Velo-Weg aus stellt er fest, da liegt tatsächlich etwas in der Töss, ein Bündel Kleider oder ein Tier. Er steigt ans Ufer hinunter, kneift die Augen zusammen, beschattet sie mit der Hand, schaut lange. Dann ist er sicher, da liegt ein Mensch, klein, aber ein Mensch. Ein Kind. Zitternd holt er sein Handy hervor und ruft den Polizisten Arnold Oberholzer an, der für Rikon zuständig ist.
Noldi ist jedoch kurz vorher, ungewaschen und ungekämmt, schon ausgerückt. Er muss im Kehlhof, einer kleinen Siedlung im Neubrunnertal, ein prügelndes Ehepaar auseinanderreißen. Dabei handelt es sich fast um einen Routine-Einsatz. Die beiden Leute sind schwer alkoholabhängig. Wenn sie Geld haben, saufen sie, ist keines mehr da und die Flaschen alle geleert, gehen sie aufeinander los. Meist bleibt es bei wüsten Beschimpfungen, aber von Zeit zu Zeit läuft die Situation aus dem Ruder. Dann rufen Nachbarn die Polizei.
Der Tatbestand ist auch diesmal klar. Noldi sieht, dass der Frau bereits ein Auge zuschwillt. Er lässt sich mit dem Eingreifen Zeit, welche sie prompt dazu benützt, ihrem Eheliebsten eine Bratpfanne über den Schädel zu ziehen. Danach sind beide derart benommen, dass er sie ohne große Anstrengung in der Ausnüchterungszelle in Winterthur abliefern kann. Erst auf dem Polizeiposten dort erfährt er, dass sich in seinem Revier ein tödlicher Unfall ereignet hat. Der kleine Lewi Rindlisbacher, heißt es, sei in der Töss ertrunken.
Noldi wirft sich sofort ins Auto. Als er in Rikon ankommt, hat man die Leiche bereits weggebracht, und die Kollegen, die den Einsatz übernehmen mussten, packen zusammen. Sie sind wortkarg und mürrisch. Noldi weiß, wie ihnen zumute ist. Eine Leiche zu bergen, und erst noch die eines Kindes, ist immer eine schwere Belastung. Er fragt, was passiert sei. Andreas Hubacher, der Ältere von ihnen, deutet ans andere Ufer.
»Er ist ins Wasser gefallen. Wahrscheinlich dort drüben.«
Dann stopft er seine Gummistiefel in den Kofferraum des Einsatzfahrzeuges. Zuletzt entfernen sie die Absperrung vom Veloweg. Auf dem Asphalt zeigt eine feuchte Stelle an, wo sie die kleine Leiche abgelegt haben.
Noldi fährt über die Brücke, stellt das Auto auf den Parkplatz, klettert den tief ausgetretenen schmalen Pfad zur Töss hinunter. An dieser Stelle treiben die Reiter regelmäßig ihre Pferde ein Stück ins Wasser, um sie zu tränken.
Nachdenklich betrachtet er den Fluss. An diesem Morgen ist er für die Jahreszeit relativ hoch. Irgendwo in den Bergen muss es geregnet haben. Trotzdem, ein Erwachsener wäre bei dem Wasserstand vermutlich kaum ertrunken, doch für ein Kind reicht es allemal. Vor allem, wenn es über die Schwelle ein paar Meter weiter unten abgetrieben worden ist. Es passiert nicht selten, dass Leute in der Töss zu Schaden kommen. Sie, die ›Tosende‹, wie ihr Name lautet, war lange ein unberechenbarer Fluss, der das Land überschwemmt und verwüstet hat. Erst nachdem sie endlich reguliert wurde, ist damit Schluss. Doch die Schwellen, welche alle hundert Meter ihr Gefälle brechen, bedeuten eine tückische Gefahr. Unter ihnen bilden sich Wasserwalzen. Immer wieder geraten Leute dort hinein, vor allem beim Versuch, ihren Hund zu retten. Am Ende ist dann der Herr tot, und der Hund kommt davon, wenn er Glück hat. Aus einer Wasserwalze, die einen umso heftiger hinunterdrückt, je mehr man versucht, nach oben zu kommen, kann man sich nur befreien, indem man unter ihr wegtaucht. Das schaffen die wenigsten. Und sicher kein Kind.
Nachdenklich und bedrückt fährt Noldi die kurze Strecke in die Sunnematt, wie das Quartier hinter dem Bahnhof heißt. Er lässt den Wagen in der Einfahrt stehen, steigt aus, dehnt die Glieder und betrachtet aufatmend das behäbige Haus, in dem er mit seiner Familie lebt. Vor fast 30 Jahren haben er und Meret, damals noch seine Braut, sich zu dem Kauf entschlossen und ihn seither keine Sekunde lang bereut. Sie wollten nie irgendwo anders hin. Das Haus ist still, er steigt die drei Stufen zum Eingang hinauf, öffnet die Tür und ruft nach seiner Frau.
»Ich bin da«, antwortet sie, »in der Küche. Ich koche frischen Kaffee.«
Noldi geht in das obere Stockwerk, wo ihr gemeinsames Schlafzimmer liegt. Die Betten sind aufgedeckt, die Fenster offen. Als Erstes wirft er die Kleider, welche er bei dem Einsatz im Kehlhof getragen hat, in den Wäschekorb. Dann stellt er sich unter die Dusche, dreht das Wasser auf und bleibt lange unter dem warmen Strahl stehen. Er muss diesen Gestank von Dreck, Suff und Trostlosigkeit abspülen, aber auch die Beklemmung, welche ihn erfasst hat, als er vom Tod des Jungen hörte. Obwohl er nicht fromm ist, dankt er bei solchen traurigen Anlässen Gott besonders innig, dass alle seine Kinder gesund und munter sind.
Meret und er haben zwei Söhne und zwei Töchter: Verena, ihre Älteste, 26, verheiratet und selbst bereits Mutter, dann Peter, 24, die 18-jährige Felizitas und ihren Nachzügler Pauli, der gerade 13 geworden ist.
Noldi zieht frische Kleider an, dann geht er in die Küche und nimmt seine Frau in den Arm, die für ihn den Frühstückstisch neu gedeckt hat. Die Kinder sind schon weg, Felizitas im Gymnasium Rychenberg in Winterthur und Pauli in der Schule hier in Rikon. Meret, seine Frau, die seit Neuestem wieder als Lehrerin arbeitet, hat zum Glück heute keinen Unterricht. Sie gießt sich ebenfalls einen Kaffee ein, um ihm Gesellschaft zu leisten. Mitleidig fährt sie ihm über die noch nassen Haare. Sie hat von dem Unfall gehört und ist genau so erschüttert wie er.
»Eine schlimme Geschichte, das mit dem kleinen Lewi.«
Mehr sagt sie nicht und lässt Noldi frühstücken. Dabei gäbe es genug zu reden über Mani Rindlisbacher, die Mutter, die sich, als ihr Sohn noch am Leben war, kaum um ihn gekümmert hat.
Noldi kaut und würgt an seinem Käsebrot. Er weiß, es ist wichtig, dass er etwas isst. Das hat ihm seine Frau beigebracht. Früher konnte er in solchen Situationen nicht einmal daran denken. Doch Meret predigt der Familie ständig, ein leerer Magen mache eine schlimme Sache auch nicht besser.
Bald muss Noldi wieder los. Der Chef der Kantonspolizei in Winterthur will über den Tod des Jungen umfassend Bescheid wissen. Deshalb hat er zu der Sitzung mit den Kollegen, welche den Unfall aufgenommen haben, auch Noldi bestellt, weil dieser für Rikon zuständig ist.
Auf dem Polizeiposten Winterthur gibt es seit Noldis letztem großen Fall einige Veränderungen. Der ewig missmutige Oskar Kohler ist inzwischen krankheitshalber ausgeschieden und macht jetzt irgendwo Innendienst. Er lebt nach einer Operation nur mehr mit einem halben Magen. Franz Notter, Noldis Freund, hat sich versetzen lassen, weil er es nicht ertrug, dass ihm seine geschiedene Frau in Winterthur alle paar Tage über den Weg lief. Sie streiten immer noch um die Kinder. Und wie Noldi befürchtet, trinkt der gute Franz aus Kummer mehr, als ihm bekommt. Das ist genau das Falsche. Damit verspielt er jede Möglichkeit, seine Kinder öfter zu sehen. Die Frau verteidigt ihr alleiniges Sorgerecht mit eben der Begründung, dass der Mann ein Alkoholproblem habe. Wenn Noldi ehrlich ist, wäre ihm auch nicht wohl bei dem Gedanken, Franz könnte mit Sohn und Tochter saufend durch die Lokale ziehen. Das Mädchen ist 13, genauso alt wie sein Pauli, der Junge zehn. Franz hat sich zur Kantonspolizei Thurgau versetzen lassen und leistet jetzt auf dem Posten Dussnang Dienst. Noldi hat ihn seither nur einmal getroffen und versucht, ihm ins Gewissen zu reden. Vergeblich. Franz hörte ihm nicht einmal zu. Er bestritt, dass er mehr als hin und wieder ein Glas trinke. Das ist eine neue Entwicklung. Früher hat er noch ein schlechtes Gewissen gehabt. An der Stelle von Franz ist jetzt ein gewisser Hubacher im Team, Familienvater, aufrecht, bedächtig, meist wortkarg, der sich noch etwas abseits hält. Offensichtlich ist er keiner von der Sorte, die schnell mit jedem warm wird. Aber ein Bier zum Einstand hat er wenigstens ausgegeben. Ruedi Rathgeb musste mit ihm die Leiche aus der Töss bergen. Der junge Kollege ist immer noch wachsbleich. Er hat selbst drei kleine Kinder daheim, eines davon erst ein paar Wochen alt. Hubacher spielt den Abgebrühten. Er ist der Älteste unter ihnen. Immerhin kennen sie ihn inzwischen so gut, dass sie wissen, wie sehr auch ihm solche Fälle zusetzen. Deshalb reagieren sie gar nicht auf die dummen Sprüche, die er von sich gibt.
Hans Beer, der Chef, kommt, und der Rapport über den Tod von Lewi Rindlisbacher beginnt. Auf diese Weise erfährt auch Noldi jetzt die Einzelheiten.
Der Notruf ging morgens um 7.10 Uhr ein. Telefoniert hat der Kioskbetreiber vom Bahnhof Rikon. Die Frau, die den leblosen Körper auf einer Sandbank in der Töss entdeckte, heißt Khandro Wangmo und wohnt am Tobelsteig in Hinterrikon.
Ah, das Käthi, denkt Noldi. Er kennt sie gut, sie ist eine sichere Informantin, wenn es um Tratsch und Klatsch in Turbenthal oder Rikon geht. Bei seinem letzten Fall hat sie ihm durch ihre Spintisierereien den Kauf einer Cremeschnitte vermiest.
Khandro Wangmo teilt ihre Beobachtung dem Kioskbetreiber mit, der dann die Polizei verständigte. Da man Noldi nicht erreichen konnte, rücken die Kollegen Andreas Hubacher und Ruedi Rathgeb vom Posten Winterthur aus. Sie nehmen Staatsanwalt und Doktor gleich mit. Letzterer stellt Tod durch Ertrinken fest. Hinweise auf Fremdverschulden gibt es nicht. Der Todeszeitpunkt liegt nach Aussage des Arztes zwischen 22.00 und 24.00 Uhr. Wie es scheint, ist der Junge an der Pferdetränke in den Fluss gefallen oder gestiegen. Spuren sind keine vorhanden. Der Boden ist dort knochentrocken. Bei der Schwelle ein paar Meter unterhalb ist er in eine Wasserwalze geraten. Seine Leiche weist blaue Flecken und Abschürfungen auf. Sonst konnten keine Verletzungen festgestellt werden. Gesehen hat den Jungen offenbar niemand.
»Wer hat ihn identifiziert?«, will Beer als Nächstes wissen.
Das, antwortet Rathgeb, sei zunächst der Mann vom Zeitungskiosk gewesen.
»Woher kennt er den Jungen?«, fragt Beer mit gerunzelter Stirn.
Er verkaufe in der Pause vor der Schule Weggli und Obst an die Schüler. Dort habe er den Jungen öfter gesehen.
»Wie kommt das Kind in der Nacht allein an die Töss? Wo waren die Eltern? Wer hat sie informiert?«
Hubacher seufzt. Es gebe nur die Mutter, Mani Rindlisbacher. Er sei bei ihr in Hinterrikon gewesen und habe sie nach ihrem Sohn gefragt. Die Frau habe den Eindruck erweckt, als wisse sie nicht, wovon er rede. Er glaube, sie sei eben erst nach Hause gekommen.
»Das würde einiges erklären«, kommentiert Beer trocken.
Der Beamte fährt fort, als er die Frau gebeten habe, nach dem Kind zu sehen, sei sie ins obere Stockwerk gegangen. Dort habe sie völlig hysterisch zu schreien begonnen.
»Ich ihr nach«, sagt Hubacher und seufzt wieder. »Konnte sie gerade noch daran hindern, sich das Gesicht mit den Fingernägeln zu zerkratzen.«
Sie habe geweint und geschrien. Aber urplötzlich sei sie dann ruhig geworden, habe ihn mit einem verdrehten Blick angesehen und gesagt, der Junge komme wieder. Das wisse sie. Er habe sich nicht anders zu helfen gewusst und die Spitex gerufen, damit jemand die Frau begleite, um die Leiche zu identifizieren.
»Irgendwer«, sagt er unglücklich, »hat das machen müssen.«
Und Vater oder andere nahe Verwandte seien offenbar keine vorhanden. Zum Glück sei der Spitex-Frau die Idee mit dem Klassenlehrer des Jungen gekommen, der in Rikon wohne. Wenn man eine Ausnahme mache und er die Identifizierung vornehme, hätte man der Mutter die Tortur ersparen können. Doch das sei ihr nicht recht gewesen. Sie habe darauf bestanden, mitzukommen, und bestätigt, dass es sich bei der Leiche um ihren Sohn Lewi handle.
Nach dieser Schilderung herrscht im Besprechungsraum Stille. Endlich sagt Beer betont sachlich, »hast du sie gefragt, wo sie in der Nacht war? Wenn sie keine Ahnung hatte, dass ihr Sohn nicht im Bett lag, kann sie nicht zu Hause gewesen sein.«
Hubacher schnäuzt sich.
»Sie sagt, bei der Vollmondmeditation im Kloster.«
»Stimmt das?«, will Beer wissen.
Hubacher hebt die Schultern. »Habe ich noch nicht überprüft.«
»Wenn die Mutter wirklich die ganze Nacht nicht zu Hause war, bedeutet das eine grobe Verletzung der Sorgfaltspflicht«, stellt Ruedi Rathgeb aufgebracht fest.
»Das ist sicher. Noldi, du kümmerst dich darum. Alibi und so weiter.«
»Mache ich«, sagt Polizist Oberholzer ohne große Begeisterung.
Beer schaut ihn an.
»Übrigens, du hattest auch einen Einsatz? Wo?«
»Im Kehlhof, das Übliche«, antwortet Noldi wortkarg. Die Kollegen kennen das Ehepaar, und er ist nicht der Einzige, der dort schon eingreifen musste.
»Wo sind sie jetzt?«
»Da, in der Ausnüchterungszelle. Vielleicht kann man doch endlich eine Trennung erwirken. Was die treiben, ist Verschwendung öffentlicher Ressourcen.«
Beer lacht kurz und trocken auf. Damit ist die Sitzung beendet.
Um die ihm unangenehme Begegnung mit Mani Rindlisbacher hinauszuschieben, fährt Noldi erst ins Büro nach Turbenthal. Der Posten ist eigentlich geschlossen, doch seit seine Frau nach einem Kurs für Quereinsteiger als Sekundarschullehrerin in Turbenthal tätig ist, meidet er sein leeres Haus, wo er kann. Er versteht, dass Meret, nachdem die Kinder groß sind, wieder arbeiten will, und hat sie in ihrem Entschluss unterstützt. Nur, glücklich ist er damit nicht.
In der Familie gibt es neben der Berufstätigkeit seiner Frau noch andere Veränderungen, von denen ihm einige Unbehagen bereiten. Fitzi, seine Zweitjüngste, hört es nicht mehr gern, wenn man sie mit ihrem Kosenamen aus der Kindheit ruft. Lieber will sie jetzt Felizitas heißen. Sie ist bald 18 und macht dieses Jahr die Matura an der Kantonsschule Rychenberg. Dass sie es mühelos schaffen wird, daran zweifelt niemand in der Familie, nicht einmal sie selbst. Trotzdem erscheint sie dem Vater in der letzten Zeit zu ernst. Beklommen fragt er sich, ob sie vielleicht unglücklich verliebt ist. Verena, seine Älteste, ist wieder schwanger. Sie erwartet Zwillinge, was die ganze Familie in helle Aufregung versetzt. Alle freuen sich, am meisten wahrscheinlich er, der Großvater. Die Schwangerschaft verläuft problemlos, aber die letzten Wochen sind mühsam. Verenas erstes Kind, Mark, ist gerade zwei. Auf seinen äußerst strammen Beinchen erkundet er die Welt und zeigt bereits eine auffallende Begabung für komplizierte Wörter. Sein Lieblingsausdruck heißt Orangenschnitz, vermutlich, weil er für sein Leben gern Orangen isst. In der alltäglichen Kommunikation verlässt er sich vorläufig noch aufs Deuten.
Peter, Noldis Zweitgeborener, hat sich noch weiter von der Familie entfernt. Nachdem er seine Lehre bei einer Bank abgeschlossen hat, ließ er sich für ein Jahr an eine Filiale in den USA versetzen. Zwar schreibt er regelmäßig begeisterte Ansichtskarten, nur werden seine Eltern aus ihnen ebenso wenig schlau wie früher aus den mündlichen Berichten über sein Leben und die beruflichen Erfolge in Zürich.
Pauli, der Nachzügler, entwickelt sich zu einer echten Forschernatur. Seit er acht war, will er Kriminalist werden. Zurzeit ist er nachdenklich, seltsam geschäftig und nicht sehr mitteilsam. Der Vater meint, wenn er die Zeichen richtig deutet, verfolgt der Junge so etwas wie einen eigenen Fall. Noch immer empfindet er große Zuneigung zu Bayj, dem Jagdhund seines Onkels, doch die innige Kinderfreundschaft ist vorbei. Sie sind beide älter geworden. Was aber nicht heißt, sie würden weniger Zeit miteinander verbringen. Im Gegenteil. Pauli hat angefangen, dem Hund kleine Kunststücke beizubringen, und Bayj erweist sich als eifriger Schüler. Der Onkel, Jagdaufseher Hans Hablützel, sieht die Dressur mit gemischten Gefühlen. Bayj ist sein Schweißhund, er muss eine Fährte verfolgen können, nicht Männchen machen und solch dummes Zeug. Andererseits will er seinem Lieblingsneffen die Freude nicht verderben.
Je länger Noldi den Besuch bei der Mutter des ertrunkenen Jungen vor sich her schiebt, desto mehr graut ihm davor. Was soll er ihr sagen? Sie hat ihr Kind verloren, ob durch eigene Schuld oder nicht, macht da keinen Unterschied. Er sucht krampfhaft nach einem weiteren Aufschub. Da kommt ihm die rettende Idee, er könne Käthi anrufen. Sie hat das Kind gefunden, also ist sie genau die Person, die er jetzt braucht. Sie betreibt ein Gesundheitsstudio in Turbenthal und hört das Gras wachsen. Muss sie wohl, denkt er grinsend, wenn es stimmt, was man munkelt, nämlich, dass sie sich auch als Wahrsagerin betätigt. Sie hat den toten Jungen entdeckt und sie wohnt in der Siedlung am Tobelsteig wie Mani Rindlisbacher, Lewis Mutter. Da sollte er einiges erfahren, auch wenn Käthis Aussagen nur mit Vorsicht zu genießen sind. Er zieht das Telefon heran, wählt und lehnt sich zurück.
»Käthi«, sagt er, »ich bin’s, die Polizei.«
»Sie haben gehört«, beginnt sie sofort, »habe ich Kind gefunden. Leider schon tot.«
»Hast du den Kollegen alles erzählt«, fragt er streng.
»Nichts erzählt. Niemand gefragt«, antwortet sie. Dann nach einer winzigen Pause, »habe etwas gesehen in der Nacht.«
Noldi hat Ähnliches vermutet, und prompt sagt sie: »Habe das Kind gesehen, in der Töss.«
Obwohl er Käthi gut genug kennt, um zu wissen, was jetzt kommt, hält er die Luft an. Offensichtlich erwartet sie aber eine Reaktion von ihm. Deshalb atmet er wieder aus und fragt dann: »Warum hast du es nicht gerettet?«
»War im Traum. Und war nicht allein.«
Noldi ist alarmiert.
»Wer war dabei?«
»Weiß nicht. Nur von hinten gesehen.«
»Mann oder Frau?«, fragt Noldi gespannt.
»Weiß nicht, kann nicht sagen.«
Klar, denkt er, dass sie sich nicht festlegt. Er glaubt Käthi zwar nicht, aber der Zweifel, ob der Junge wirklich allein in der Nacht am Fluss war, nagt schon an ihm, seit er von dem Unfall gehört hat. Und er nimmt sich vor, der Sache nachzugehen. War die Mutter dabei, als es passierte? Handelt es sich womöglich gar nicht um einen Unfall? Allein der Gedanke erscheint ihm monströs, doch bevor nicht feststeht, wo sie war, kann sie auch mit dem Jungen an der Töss gewesen sein.
»Was weißt du über Mani Rindlisbacher«, erkundigt er sich bei Käthi.
»Ah«, sagt sie schnell, »fromme Frau, immer im Kloster. Führt den ehrwürdigen Herrn Abt und die anderen Mönche viel spazieren. In ihrem Auto. Sehr verdienstvoll, sehr verdienstvoll.«
»Das ist alles?«, fragt ein enttäuschter Noldi. »Du wohnst doch auch in Hinterrikon wie sie.«
»Ja schon.«
»Aber?«
»Nichts aber. Weiß nichts.«
»Gibt es einen Vater?«
»Weiß nicht.«
Das schaut Käthi gar nicht ähnlich, denkt Noldi. Sonst ist sie nicht so wortkarg. Er versucht es noch einmal und fragt nach Lewi.
»Immer lustig«, kommt die unwirsche Antwort. »Hat manchmal anderen Kindern Sachen geschenkt, manchmal nicht.«
»Was heißt das, Käthi, so rede doch.«
»Manchmal Geld verlangt.«
Noldi bleibt der Mund offen.
»Was«, fragt er dann, »der kleine Lewi hat anderen Kindern etwas verkauft?«
»Ja, so irgendwie. Weiß nicht genau.«
Seltsam, denkt Noldi, scheint ein wunder Punkt zu sein, diese Mani Rindlisbacher samt ihrem Sohn.
»Käthi«, fordert er seine Gesprächspartnerin auf, »wenn es etwas gibt, das ich wissen sollte, dann sag es. Das ist das Beste für uns alle.«
»Nein, nein«, beteuert sie, »ist nichts, wirklich.«
Noldi legt auf. Er glaubt ihr nicht, aber im Moment sieht er keine Möglichkeit, wie er sie zum Reden bringen könnte.
Endlich bleibt ihm kein Vorwand mehr, den Besuch bei Frau Rindlisbacher länger aufzuschieben, und er macht sich murrend auf den Weg. Zuerst will er direkt nach Hinterrikon, doch dann überlegt er es sich anders. Wenn sie die meiste Zeit oben bei den Mönchen ist, wie Käthi sagt, fährt er besser über Wildberg, um im Kloster vorbeizuschauen.
Die Schranken des Bahnüberganges bei der ehemaligen Spinnerei sind geschlossen, das rote Licht blinkt. Noldi stellt den Motor ab und wartet.
Als der Zug endlich kommt, zählt er automatisch die Passagiere. Das ist die ständige Angst der Leute im Tösstal: Die SBB könnten den Schienenverkehr einstellen, weil der Betrieb nicht rentiert. Diesmal sieht er zu seiner Beruhigung ein paar Köpfe in den Fenstern. Die Barriere öffnet sich wieder, Noldi startet und fährt die in weiten Schwüngen angelegte Straße nach Wildberg hinauf. Er kommt an der Abzweigung zum Campingplatz vorbei, fragt sich einmal mehr, worin das Vergnügen besteht, auf einer kärglichen Waldlichtung in einem Wohnwagen zu hausen. Man sieht dort nirgends hin, kann nichts tun, als vor seinem Camper zu sitzen und Bier zu trinken. Er schüttelt sich schon bei dem Gedanken. Dann bleibt der Wald zurück. Die Hochebene von Wildberg liegt vor ihm, ähnlich der von Langenhard, wo der Bauernhof seiner Eltern sich befindet. Noldi hätte als der älteste Sohn den Betrieb übernehmen sollen, doch er wollte lieber Automechaniker werden und ging nach abgeschlossener Lehre dann zur Polizei. Jetzt betreibt seine Schwester mit ihrem Mann den Hof, und die beiden betätigen sich äußerst erfolgreich in der Rinderzucht.
Am Dorfrand von Wildberg füllt ihm die Schweinemästerei das Auto mit ihrem Gestank. Je nach Windrichtung kann man sie meilenweit riechen. Die Abzweigung nach Rikon kommt gleich nach den ersten Häusern bei der Käserei, die immer noch in Betrieb ist. Im Gegensatz zu ihr haben der Dorfladen sowie die Post inzwischen geschlossen. Außer Gemeinderatskanzlei und Kirche besitzt Wildberg nur mehr zwei Wirtshäuser. Dafür ragen Baukräne in die Luft. Die Bauern verkaufen ihr Land, auf dem dann Einfamilienhäuser entstehen. Deren Bewohner müssen, da es im Ort und im ganzen Tösstal fast keine Jobs gibt, irgendwo auswärts arbeiten, wo sie sich auch mit Lebensmitteln versorgen. Eine verrückte Entwicklung, denkt Noldi, und das überall. In Rikon fürchten sie ebenfalls, dass der Volg, der einzige Lebensmittelladen, schließt, weil er nicht genügend Umsatz macht. Die Metzgerei ist schon zu. Jetzt gibt es nur noch abgepackte Fleisch- und Wurstwaren, von denen Meret behauptet, man solle sie besser nicht kaufen.
Nach den letzten Häusern beginnt die Rennstrecke der Wildberger. Sie führt zunächst über offenes welliges Gelände. Hier fahren fast nur die Einheimischen, und sie fahren wie die gesengten Säue. Noldi wundert sich immer wieder, dass nicht mehr passiert, denn weiter unten wird die Straße eng und unübersichtlich. Er nimmt die letzte Kurve vor dem Wald, wo von einer Bank drei lachende junge Mönche winken. Auf dem Parkplatz vor dem Kloster steht ein rotes Auto. Das, denkt er, könnte Mani Rindlisbacher gehören. Er stellt seinen Wagen dahinter und geht den schmalen gewundenen Weg zum Tempeleingang. Die Glastür ist weit offen. Als Erstes fällt Noldi der große wunderbar blaue Teppich mit den abstrakten Blumenranken auf, von dem sein Sohn Pauli so geschwärmt hat. Im Altarraum leert ein Mönch die Wasserschalen vom Opfertisch. Er gießt ihren Inhalt mit Schwung in einen gelben Plastikeimer. Das Geplätscher tönt überlaut in der Stille. Sonst scheint der Raum leer, und Noldi meint schon, er habe sich geirrt. Da bemerkt er am Fuß einer Säule eine zusammengesunkene schwarze Gestalt.
»Frau Rindlisbacher«, sagt er behutsam.
Sie schaut aus mit wirrem Blick zu ihm auf, wirkt aber eher entgeistert als verzweifelt. Kurz ringt er mit sich, ob er wieder gehen soll, dann kommt ihm das Kind in den Sinn, das nachts mutterseelenallein in der Töss ertrunken ist.
»Haben Sie einen Moment?«, fragt er höflich und streckt die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Mani Rindlisbacher lässt sich von ihm hochziehen, sucht im Vorraum umständlich ihre Schuhe. Dann gehen sie ins Freie, wo eine weiß gestrichene Eisenbank in einem geschützten Winkel steht. Die Sonne sinkt zwar schon, die Schatten werden länger, aber aus dem Tal kommt warmer Wind.
Als die Frau sich gesetzt hat, stellt er sich in aller Form vor.
»Oberholzer, Kantonspolizei Winterthur«, sagt er. »Das mit Ihrem Sohn tut mir aufrichtig leid.«
Sofort überfällt sie ihn mit Lobeshymnen auf den toten Jungen.
Dabei wirkt sie lebhaft, ihre Augen wandern über sein Gesicht, als müsse sie die Wirkung ihrer Worte kontrollieren.
»Er war ein so schönes Kind«, sagt sie. »Das hat auch der berühmte Herr Professor Speiser gefunden. Er wollte unbedingt Fotos von ihm für seine Sammlung. Er publiziert nämlich ein Buch mit Kinderporträts. Mein Lewi, hat er gesagt, würde da ganz groß herauskommen. Und jetzt ist er tot.«
Noldi lässt sie reden, dann erkundigt er sich, wo sie in der Nacht, als ihr Sohn starb, gewesen sei. Sie beginnt zu schluchzen.
»Bei der Vollmondmeditation hier im Kloster«, stößt sie hervor.
»Interessant«, erwidert Noldi bedächtig. »Nur war Vollmond schon in der Nacht vorher.«
Er gratuliert sich innerlich, dass er daran gedacht hat, das Datum zu überprüfen.
Das Schluchzen bricht schlagartig ab.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass ich routinemäßig abklären muss, wo Sie waren, als Ihr Sohn umgekommen ist.«
»Ich war hier bei der Vollmondmeditation«, wiederholt sie stur. »Dann haben die Mönche sich im Datum geirrt.«
»Nein, wir haben auch das überprüft.«
Stimmt zwar nicht ganz, aber es tut seine Wirkung.
Mani fragt aufgebracht: »Muss ich mir so etwas gefallen lassen? Nicht genug, dass mein Kind tot ist. Jetzt geht man auch noch auf mich los. Typisch. Den Frust an einer alleinerziehenden Mutter auszulassen.«
»Frau Rindlisbacher, es geht nicht um Frust, sondern um unterlassene Sorgfaltspflicht.«
Sie schweigt einen Augenblick, dann sagt sie: »Ich war im Kloster bei der Meditation. Allein.«
»Auch das«, kontert Noldi, »stimmt nicht. Wie Sie wissen, müssen alle weiblichen Wesen um zehn Uhr das Kloster verlassen. Sogar die Katze.«
Der gute Polizist flunkert ein wenig. Er hat das sagen gehört, und wenn er ehrlich ist, weiß er nicht einmal, ob es ein Witz war. Doch er denkt, ein wenig Druck zu machen, kann nicht schaden.
Diesmal dauert das Schweigen länger. Endlich sagt Mani: »Tut mir leid, dass Sie mir nicht glauben.«
Dann spielt sie endlich ihren Trumpf aus.
»Lewi war bei Professor Speiser zum Foto-Shooting in Dussnang. Dort sollte er auch übernachten.«
»Fest steht aber, er ist zurückgekommen«, erklärt Noldi milde. Er hat keine Ahnung, worauf die Frau hinaus will.
»Ich kann mir das nicht erklären. Er war so gerne beim Professor.«
»Haben Sie nicht nachgefragt?«
»Doch.« Ihre Augen schließen sich eine Sekunde zu lang.
»Ich konnte nur niemanden erreichen.«
Dann fällt ihr wieder ein, was passiert ist. Sie schluchzt.
»Mein Gott, wenn der Professor das erfährt. Er hat so große Stücke auf Lewi gehalten.«
»Und Lewis Vater«, fragt Noldi vorsichtig. »Was ist mit ihm?«
Darauf sagt Frau Rindlisbacher mit nicht ganz sicherer Stimme: »Lassen Sie mich in Ruhe«, dreht sich um und flüchtet zurück in den Tempel.
Wenn das stimmt, was sie sagt, denkt Noldi, während er den Weg wieder hinaufklettert, überlässt diese Frau ihren Jungen einfach fremden Leuten. Und vergnügt sich ungestört anderswo. Das kann er sich bei bestem Willen nicht vorstellen, obwohl er in seinem Polizistenleben schon genügend andere Erfahrungen gemacht hat.
Zurück im Büro eruiert er die Telefonnummer des Professors. Als er dort anruft, meldet sich die Dame des Hauses. Sie sieht die Sache mit der Übernachtung etwas anders.
»Davon war nie die Rede«, sagt sie energisch.
Ihre Betroffenheit über das Unglück scheint sich in Grenzen zu halten. Oder, denkt Noldi, sie kann es gut verbergen. Dann erzählt sie ohne zu zögern ihre Version der Geschichte.
»Abgemacht«, sagt sie, »war nur, dass Lewi zum Abendessen bleibt.«
Frau Rindlisbacher habe sie darum gebeten, weil sie etwas erledigen musste. Sie wollte ihn nachher abholen. Als sie nicht gekommen sei, habe sie, Fides, dann ziemlich spät den Jungen nach Rikon gebracht. Lewi sei den ganzen Abend sehr aufgekratzt gewesen, im Auto dann aber eingeschlafen. Die Mutter sei nicht daheim gewesen. Daher habe sie Lewi, ohne ihn zu wecken, in die Hollywoodschaukel vor dem Haus verfrachtet, zugedeckt und sei wieder gefahren. Unterwegs habe sie sich Sorgen gemacht, ob das richtig von ihr gewesen sei. Daher habe sie auf dem Parkplatz bei der Tössbrücke gehalten, einen Augenblick überlegt und sei dann zurück, doch da sei die Schaukel bereits leer gewesen. Sie habe angenommen, der Junge sei ins Haus schlafen gegangen, worauf sie beruhigt nach Dussnang gefahren sei.
»Wie hätte ich ahnen sollen, dass Lewi noch einmal wegläuft«, schließt sie ihren Bericht, den sie mit kalter, klarer Stimme vorgetragen hat. Noldi nimmt ihr die Geschichte nicht ab. Für ihn tönt sie wie einstudiert. Fast so, als habe sie auf seinen Anruf gewartet.
Abends ist die Stimmung im Haus Oberholzer gedrückt. Noldi sitzt stumm in seinem Sessel und brütet vor sich hin. Nicht, dass seine Familie Lewi Rindlisbacher oder dessen Mutter näher gekannt hätte, aber der Tod des Kindes schlägt ihnen allen auf das Gemüt. Noldi sieht immer noch den nassen Fleck auf dem Asphalt, wo sie die Leiche abgelegt hatten. In der Küche klappert Meret lauter als nötig mit dem Geschirr. Da kommt Pauli in die Stube, legt wortlos ein iPhone in einer eleganten schwarzen Lederhülle vor dem Vater auf den Tisch.
»Wo hast du das her«, fragt Noldi schärfer, als er eigentlich will.
»Das hat mir der kleine Lewi Rindlisbacher gestern auf dem Schulhof zugesteckt und ist weggerannt«, sagt Pauli. Dann muss er schlucken. »Ich wollte es ihm zurückgeben, und jetzt ist er tot.«
Meret, die eben den Tisch deckt, sagt: »Pauli, dir ist aber klar, dass du es nicht behalten darfst.«
Pauli wird störrisch. Er hat es nicht gern, wenn seine Mutter in diesem Ton mit ihm spricht.
»Ja«, antwortet er. »Will ich auch gar nicht. Aber wem soll ich es geben?«
Sein Vater nimmt das Gerät und drückt auf den Einschalt-Knopf. »Es ist verschlüsselt. Kennst du den Code?«
Pauli zuckt mit den Achseln. »Wie auch.«
Pauli war dem Jungen auf dem Turbenthaler Markt begegnet. Er sah ihn immer wieder zwischen den Ständen auftauchen, und als er genauer hinschaute, stellte er fest, der Kleine klaute wie ein Rabe. Er war sehr geschickt, niemand außer Pauli schien etwas zu bemerken. Doch erst als er sah, dass der Junge die Sachen gleich wieder wegwarf, war sein kriminalistisches Interesse geweckt. Er folgte dem Dieb eine Weile, hob dann ein weggeworfenes Plastikspielzeug auf, tippte ihm an die Schulter.
»Du hast etwas verloren.«
Der andere drehte sich um, und Pauli erkannte das Engelsgesicht des kleinen Lewi Rindlisbacher, der mit seiner Mutter am Tobelsteig in Hinterrikon wohnte. Der Junge nahm Pauli das Spielzeug aus der Hand und ließ es wieder fallen.
»Ah«, sagte Pauli, ohne viel zu überlegen. »Du trainierst.«
Lewi schaute ihn mitleidig an, und zehn Minuten später sah Pauli, wie er auf der anderen Straßenseite in ein wartendes Auto stieg. Aus der Entfernung konnte er nicht erkennen, wer am Steuer saß. Der Wagen war groß und silbergrau, vermutlich ein Mercedes. Pauli wunderte sich, dass jemand mit einem so teuren Auto den Kleinen abholte. Die Mutter war alleinstehend und, wie es hieß, nicht gerade mit Reichtümern gesegnet. Vater gab es keinen.
Am Tag nach diesem Treffen kam Lewi im Schulhof auf Pauli zugeschossen, steckte ihm einen schmalen, schweren Gegenstand hin, sagte, »Da, extra für dich geklaut«, und war weg, bevor Pauli etwas fragen oder sagen konnte. Verdutzt betrachtete er das Ding. Es war ein iPhone in schwarzer Lederhülle. Ratlos drehte er das fragwürdige Geschenk hin und her, dachte, oh Gott, was mache ich damit, versenkte es dann vorerst im Hosensack. Er wird es, sagte er sich, dem Kleinen zurückgeben, sobald er ihn sieht. Doch jetzt musste er zum Unterricht, er war schon sehr spät dran. Kaum im Klassenzimmer holte er das Handy wieder hervor und begutachtete es unter der Bank von allen Seiten. Das teure Gerät war leider mit einem Code gesichert. Er rätselte eine Weile, wie er ihn knacken könnte, was er sich durchaus zutraute. Da rief der Lehrer plötzlich: »Oberholzer!«, und Pauli hatte nicht einmal eine Ahnung, worum es ging. Er musste hinaus aus der Bank und versuchte, sich irgendeinen Reim auf das zu machen, was an der Tafel stand. Es gelang ihm nicht. Was blieb ihm anderes übrig, als den Lehrer zu bitten, dass er die Frage wiederholte.
»Bedenklich«, sagte der voller Bosheit, »dass du in deinem Alter schon schwerhörig wirst. Hängst wohl zu viel in der Disco herum.«
Die Klasse jaulte vor Vergnügen. Pauli ließ das Gelächter stoisch über sich ergehen und wartete, bis der Lehrer die Frage noch einmal stellte, auf die er wieder keine Antwort wusste. Doch er war gewöhnt, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Er kombinierte blitzschnell und kühn und brachte tatsächlich etwas zustande, das nicht ganz daneben war. So kehrte er wenigstens mit einem Teilerfolg wieder an seinen Platz zurück.
Am nächsten Morgen fährt Noldi mit Meret nach Turbenthal und setzt sie vor der Schule ab. In der letzten Woche vor den Herbstferien haben die Lehrer alle Hände voll zu tun.
Das Sekundarschulhaus liegt etwas zurückgesetzt an der Feldstraße gegenüber dem Gehörlosendorf. Vor dem relativ neuen Bau stehen ein paar Bäume, deren Blätter sich bereits rot und gelb verfärbt haben. Nachdem Meret ausgestiegen ist, beugt sie sich noch einmal zum offenen Fenster neben dem Fahrersitz und küsst ihren Mann. Sie weiß, dass ihre Berufstätigkeit für ihn nicht einfach ist. Aber, so hofft sie, er wird sich schließlich daran gewöhnen. Liebevoll kneift sie ihn in die Wange. »Bis heute Abend. Ich koche uns etwas besonders Gutes.«
Sie winkt noch einmal über die Schulter und verschwindet federnden Schrittes in der Tür. Es tut ihr gut, dass ihr Mann sie vermisst. Der schaut ihr nach, bis sie im Gebäude verschwunden ist, dann startet er den Motor und gibt Gas, biegt beim Gehörlosendorf rechts ab, streift die neue rostige Eisenplastik, die sie vor dem Schloss aufgestellt haben, mit einem verächtlichen Blick. Von dort bis in den Hof des Baugeschäftes, wo sich die Kantonspolizei eingemietet hat, braucht er nicht einmal eine Minute.
Im Büro schaltet er den Computer ein und sucht sofort das Unfallprotokoll Lewi Rindlisbacher. Es gibt nicht viel her. Was er liest, hat er im Prinzip schon gestern an der Sitzung erfahren. Er möchte nur sicher sein, dass er auf dem neuesten Stand ist. Da und dort notiert er sich etwas auf einem Blatt Papier und fragt sich gleichzeitig, wozu er das macht. Die Tatsache, dass es sich um einen Unfall handelt, wird von niemandem in Zweifel gezogen.
Einzig in Hubachers Gedächtnisprotokoll über die erste Befragung der Mutter findet er ein unbekanntes Detail. Mani Rindlisbacher habe ausgesagt, dass sie in der Nacht nur kurz weg gewesen sei. Der berühmte Professor Speiser habe ihren Jungen für ein Foto-Shooting nach Dussnang geholt. Sie könne sich absolut nicht erklären, wie Lewi um diese Zeit nach Hause gekommen sei. Und selbst wenn, habe sie betont, der Hausschlüssel liege unter dem ersten Blumentopf links. Das wisse Lewi. Also warum sollte er an die Töss gehen und dort irgendwo herumirren.
Die, denkt Noldi, ist öfter unterwegs und weiß gar nicht, was ihr Söhnchen so alles treibt.
Stirnrunzelnd schließt er das Dokument. Könnte das bedeuten, der kleine Lewi Rindlisbacher war allein an der Töss, ist ausgerutscht und ins Wasser gefallen? Oder er war doch nicht allein? Ist von jemand gestoßen worden. All diese Überlegungen ergeben keinen Sinn. Im letzten Fall wäre es Mord.
Er sucht in dem Dossier nach dem Obduktionsbefund und muss feststellen, dass es keinen gibt. Man wollte, heißt es, der Vollständigkeit halber eine Autopsie vornehmen, doch die Mutter habe ihre Zustimmung verweigert. Nach buddhistischem Verständnis solle ein Toter drei Tage nicht angerührt werden, damit sich sein Seelenwesen, so habe sie es genannt, in aller Ruhe ins nächste Leben aufmachen könne. Jede Störung sei schädlich und würde zu einer schlechteren Wiedergeburt führen.
Da die Frau sich völlig hysterisch aufführte, ließ man ihr den Willen. Fremdverschulden lag offensichtlich nicht vor, und das Kind war tot, so oder so.
Noldi schließt das das Protokoll auf dem Bildschirm. Schwer zu sagen, denkt er, was da wirklich passiert ist. Möglicherweise wird man das nie herausfinden. Er überfliegt noch einmal die paar wenigen Notizen, die er sich gemacht hat, und wirft nach kurzem Zögern das Blättchen in den Papierkorb. Was nicht heißen soll, dass er seine Nase nicht doch in diese Angelegenheit stecken wird. Dazu versucht er als Nächstes, etwas über Lewis Erzeuger herauszufinden, scheitert aber. In den Dokumenten, die er aufstöbern kann, heißt es nur ›Vater unbekannt‹.
Wie Noldi beschäftigt sich auch sein Sohn mit dem Tod des Jungen. Er glaubt nicht, dass Lewi allein an die Töss gegangen ist. Er hört sich um, was man über den kleinen Rindlisbacher erzählt. Der Unfall ist überall Gesprächsthema Nummer eins. Im Dorf munkelt man von Selbstmord. Kein Wunder, heißt es, dass der sich umbringt, wo seine Mutter sich einen Dreck um ihn gekümmert hat. Vor einigen Jahren hat es schon einmal den Selbstmord eines Kindes gegeben. Eine Elfjährige warf sich vor den Zug, weil der Stiefvater sie missbraucht hatte. In der Schule dagegen glaubt niemand so recht daran, dass Lewi die Aufsicht seiner Mutter vermisst hat. Die meisten sehen es ähnlich wie Pauli selbst.
»Der und sich umbringen«, sagen sie, »niemals. Der war viel zu unternehmungslustig und zu schlau.«
Als Pauli nachfragt, erfährt er lediglich, dass einer gesehen haben will, wie ein anderer dem Kleinen Geld zugesteckt habe.
»Einfach so?«, fragt Pauli interessiert. Doch sein Gesprächspartner zuckt nur mit den Achseln und schaut, dass er weiterkommt.
»Und wer?«, ruft Pauli ihm noch nach, erntet aber nur ein weiteres muffiges Achselzucken. Bei aller Verbundenheit von Noldi mit seinem Dorf war und bleibt er der Polizist. Man meidet seine Kinder nicht, doch gewisse Dinge hält man von ihnen sicherheitshalber fern.
Am dritten Tag, nach dem Lewi ertrunken ist, geht Pauli ins Kloster zu dem buddhistischen Todesgebet, welches von Frau Rindlisbacher für ihren Sohn organisiert worden ist. Die Urnenbeisetzung, heißt es, solle erst später im engsten Familienkreis stattfinden. Auf der Todesanzeige im Landboten und dem Tössthaler steht aber einzig ihr Name. Der Text lautet: ›Mein Engel ist von mir gegangen, um wieder in die Welt zu kommen.‹
Den Andachtsraum im untersten Geschoss des Klosters kennt Pauli schon. Er ist vor zwei Jahren auf der Suche nach dem abgängigen Hund seines Onkels hier gelandet und hat einen entscheidenden Hinweis in dem Fall erhalten, der seinem Vater so großes Kopfzerbrechen bereitete.
Jetzt ist der Altar üppig geschmückt mit Blumen, Lichtern, Plastikkörben und -trögen voll Opfergaben. Davor stehen auf einem niedrigen Tisch das Foto des toten Jungen mit einer weißen Glücksschleife darum und rechts und links Vasen mit Lilien. Mani Rindlisbacher, die Mutter, trägt heute nicht Schwarz, sondern einen weinroten langen Rock und eine gelbe Bluse, die Farben der Mönche. Die dunklen Locken, welche sie dem Sohn vererbt hat, sind verschwunden. Ratzekahl abgeschnitten. Nur ihr stets knallrot geschminkter Mund, der aussieht wie ein Blutfleck, ist derselbe geblieben. Sie hat einen tibetischen Rosenkranz ums Handgelenk geschlungen, rennt unruhig hin und her, begrüßt die Ankommenden. Von Zeit zu Zeit wischt sie sich mit ihrem Taschentuch die Augen. Auf Pauli wirkt sie, als wüsste sie nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein soll. Er wählt einen Platz ganz hinten im Raum und mustert von dort der Reihe nach die Gäste. Lewis Klasse ist vollzählig angetreten. Aber auch aus anderen Klassen sind viele Schüler da. Ebenso fast alle Lehrer, der Schulleiter, Lewis Klassenlehrer. Sogar das Hauswartehepaar ist gekommen. Die beiden fühlen sich im Tempel sichtlich unwohl, sitzen auf ihren Stühlen und ziehen die Köpfe ein. Von den Leuten aus Rikon nehmen erstaunlich viele an der Zeremonie teil. Da kommt durch die Tür, die ins Freie führt, ein neuer Gast. Pauli kennt ihn so gut wie jeder im Dorf. Es ist der berühmte Professor, den alle Kinder nur den Veilchenfrosch nennen.
Ronald Speiser, mit bürgerlichem Namen, ist ein kleiner, dicker Mann, elegant, nach teurem Rasierwasser duftend und immer gut gelaunt, selbst wenn es ihm schlecht geht. Nachdem sein jüngster Sohn mit vier Jahren aus dem Fenster fiel, dabei geistig und körperlich Schaden nahm, gründete er eine Stiftung zur Betreuung behinderter Kinder. Dort lebte auch sein Junge, bis er nach einigen Jahren starb. Neben seiner Leidenschaft, der Kinderfotografie, hat der Professor noch ein anderes Hobby. Er sammelt Autos und besitzt unter anderem eine Stretchlimousine. Obwohl sein Wohnort Dussnang nicht gerade ein Nachbardorf ist, kommt er von Zeit zu Zeit mit diesem Superauto auch ins Tösstal, lädt es voll Kinder und fährt die ganze Bande eine halbe Stunde spazieren. Dann setzt er sie wieder ab. Alle wissen das, und alles geht mit rechten Dingen zu. Auch Pauli war als kleines Kind das eine oder andere Mal mit von der Partie. Im Auto, erinnert er sich, gab es einen Sack voll Leckerbissen, welche den Kindern die Spazierfahrt zusätzlich versüßten. Der Veilchenfrosch strahlte und lachte bei dem Abenteuer mindestens so vergnügt wie seine kleinen Gäste.
Einmal im Jahr lädt er Lehrer samt ihren Klassen aus der Umgebung in seine Stiftung ein, wo sie einen Nachmittag mit den behinderten Kindern verbringen. Es gibt stets ein buntes Programm an Spielen, Kasperletheater und eine Tombola. Alle rühmen den großherzigen Spender. Sein beträchtliches Vermögen hat er zu einem Teil geerbt, zum anderen selbst verdient. Er ist ein begnadeter Kinderchirurg, dem schon das eine oder andere medizinische Wunder geglückt ist.
Das sonst immer fröhliche Gesicht des Veilchenfroschs wirkt jetzt ernst, fast gramverzerrt. Er geht mit seinen kurzen Schritten rasch zu Mani Rindlisbacher, drückt innig ihre beiden Hände. Die Frau schluchzt auf, dann zieht ein tapferes Lächeln ihre blutroten Lippen auseinander. Pauli beobachtet die beiden. Er kann nicht sagen, ob er selbst traurig ist über Lewis Tod, doch eines weiß er sicher, er wird herausfinden, warum er sterben musste. Das ist er dem Jungen schuldig, der ihm dieses geklaute Handy zugesteckt hat.
Der Gong ertönt, die Mönche kommen im Gänsemarsch die Treppe herunter, ziehen vor dem Tempeleingang die Schuhe aus und setzen sich jeder auf seinen Platz. Der kleine Alte, von dem Pauli weiß, dass er der Abt ist, sitzt ein wenig erhöht. Sie husten und räuspern sich. Dann stimmt der Vorbeter den ersten Gesang an, die anderen fallen ein. Anfangs tönt es ein wenig schleppend, doch mit der Zeit kommen sie in Fahrt, und schließlich scheint es, als könnten sie nie mehr aufhören. Der Abt schüttelt eine Handtrommel, an der zwei Kugeln hängen, sprüht mit einer Feder Wasser gegen das Bild von Lewi, wirft Reiskörner in die Luft. Ein anderer schlägt die Handzimbeln, und ein Dritter bearbeitet in gewissen Abständen eine riesige Trommel, die in einem hüfthohen Holzrahmen hängt. Die Kinder werden unruhig, Stuhlbeine scharren über den Boden, es gibt Getuschel, dann und wann ein unterdrücktes Kichern. Endlich tritt Mani Rindlisbacher vor und verteilt weiße Kuverts an die Mönche. Bei der Gelegenheit kann Pauli den Trommler sehen, welcher bis jetzt von seinem Instrument verdeckt war, und fällt fast vom Sitz. Er kennt ihn. Er kennt natürlich die meisten Tibeter in Rikon sowie die Klosterinsassen vom Sehen. Doch dieser Mönch hat als Zivilist verkleidet mit seiner, Paulis Schwester Felizitas im Garten der Villa Sträuli Tee getrunken.
Felizitas und Tashi hatten einander schon öfter im Zug gesehen, doch nie ein Wort gewechselt. Bis der junge Mann eines Tages hinter ihr beim Verlassen des Zuges fragte: »Kaffee?«
»Nein«, antwortete sie, als sei die Frage das Selbstverständlichste auf der Welt, »Tee.«
»Gut«, sagte er. »Ich auch.«
Sie schlugen nicht die Richtung ein, in welcher die beliebten Cafés in der Stadt lagen, sondern gingen durch den Park zur Villa Sträuli. Das Wetter war warm, man hatte über Mittag die Tische vors Haus gestellt. Dort saßen die beiden dann im lebhaft gesprenkelten Sonnenlicht, welches durch das dünner werdende Laub der Bäume schien. Es war reiner Zufall, dass zu diesem Zeitpunkt Pauli draußen vorbeiging, sein Blick durch ein Loch in der Hecke fiel, welche den Garten von der Straße trennte, und er sie dort sitzen sah, seine Schwester Felizitas und diesen Mann, wie sie Tee tranken und einander vorsichtig zulächelten.
Für den Mönch im Tempel gibt es nichts mehr zu lachen, denn Pauli reißt sein Handy heraus und fängt an, wie wild zu fotografieren, alles, den Veilchenfrosch, wie er Frau Rindlisbacher stützt, die Gruppe der Mönche, die besonders sorgfältig, und er achtet darauf, dass man den Trommler einwandfrei erkennen kann.
Dann ist die Zeremonie zu Ende, die Schüler drängeln schnatternd zum Ausgang. Als Pauli endlich im Freien steht, sieht er, wie oben auf dem Parkplatz der Veilchenfrosch für Mani Rindlisbacher die Tür seines Autos aufhält. Es ist ein silbergrauer Mercedes.
Pauli trödelt als einer der Letzten in dem Schülerstrom die Straße den Hügel hinunter. Dann entdeckt er ein paar Schritte weiter vorne die jüngere Tochter einer Familie, die im Haus direkt bei der Tössbrücke wohnt, wo Lewi ertrunken ist. Das Mädchen geht ebenfalls in Rikon zur Schule. Ein Jahr älter als Pauli, ist sie eine Klasse über ihm. Er kennt sie nicht näher, zermartert sich daher das Hirn, wie er sie möglichst unauffällig ansprechen könnte. Er will herausfinden, ob sie Sonntagnacht etwas gesehen hat, das ihn im Fall Lewi weiterbringt. Das Mädchen heißt Anne, ein Name, der Pauli gut gefällt. Auch seine Trägerin gefällt ihm. Sie ist so groß wie er, mager und sehr gelenkig. Das weiß er, weil er sie im Sportunterricht beobachtet hat. Sie turnte auf dem Barren und wirbelte dabei herum, dass ihre blonden Haare nur so hinter ihr herflogen. Er fühlt sich verlegen bei dem Gedanken, mit ihr zu reden. Aber sobald er sich zu ihr durchgedrängt hat, sagt er, ohne nachzudenken: »Du, hast du den Lewi gekannt?«
Sie bleibt stehen, zieht ihre blonden Brauen hoch.
»Geht dich das etwas an?«
»Komm«, drängt er, »tu nicht so zickig.«
Im selben Moment hätte sich Pauli auf die Zunge beißen können. So wird er von ihr nie etwas erfahren. Er scharrt verlegen mit den Füßen.
Sie fragt weiter: »Warum interessiert dich das?«
Er denkt krampfhaft nach, was und wie viel er ihr sagen soll.
»Der Lewi«, beginnt er schließlich, »hat mir ein Handy zugesteckt und gesagt, er habe es für mich geklaut. Dann ist er weggerannt. Ich wollte es ihm zurückgeben, doch jetzt ist er tot.«
Sie ringelt mit dem Zeigefinger eine Haarsträhne auf.
»Was habe ich damit zu tun?«
»Vielleicht hast du ihn Sonntagabend noch gesehen. Möglicherweise an der Töss.«
Er schaut sie eindringlich an und hat das Gefühl, sie würde jetzt gleich ›ja‹ sagen. Oder wenigstens nicken. Und dann wird sie ihm etwas erzählen, das, ja was? Er weiß es nicht. Vielleicht fürchtet er sich auch, es zu erfahren. Er schaut Anne finster an. Sie mustert ihn und lacht plötzlich los.
»Du schaust drein wie mein Vater beim Pokern, wenn er verliert. Und er verliert immer gegen mich.«
Pauli findet das spannend.
»Immer?«
»Fast immer. Ich lasse ihn nur manchmal gewinnen, damit er nicht merkt, dass ich schummle.«
Der Junge weiß plötzlich nicht weiter. Das Gespräch hat eine Wendung genommen, auf die er nicht vorbereitet ist.
»Habt ihr am Sonntag auch gepokert?«, fragt er lahm.
»Was willst du jetzt eigentlich wissen«, fragt sie spitz zurück. »Ob ich Lewi gesehen habe, wie er ins Wasser gegangen ist, oder ob ich meinen Vater beim Pokern angeschwindelt habe?«
»Beides«, platzt Pauli heraus.
»Hat aber nichts miteinander zu tun«, konstatiert sie sachlich.
Pauli stellt plötzlich fest, dass er jetzt schon eine ganze Weile mit dem interessanten Mädchen spricht. Oder sie mit ihm. So genau weiß er es nicht. Beglückt über diesen Umstand sagt er: »Erzähl endlich.«
Und siehe da, es ist wie ein Wunder. Sie sagt nachdenklich: »Jetzt, wo du danach fragst, fällt mir ein, dass ich ein Auto gesehen habe, das auf dem Parkplatz an der Töss gestanden ist. Ohne Licht.«
Pauli bleibt die Luft weg. Das ist viel mehr, als er zu hoffen gewagt hat. Er schaut Anne voll Bewunderung an.
»Du bist gut. Hast du dir die Autonummer gemerkt, die Marke oder wenigstens die Farbe?«
Sie scheint nachzudenken.
»Grau«, sagt sie schließlich. Dann lacht sie los.
»Wir haben gar keine Fenster auf dieser Seite«, sagt sie, wirbelt mit fliegenden Haaren herum und lässt ihn stehen.
Pauli fühlt sich benommen. Er weiß nicht, war das jetzt eben nur Geflunker? Hat sie ihn auf den Arm genommen? Er schüttelt sich wie ein nasser Hund, und hinter seinem Rücken fragt eine Stimme: »Was ist? Hast du ein UFO gesehen?«
Je mehr Pauli über Lewi Rindlisbacher herausfindet, desto weniger glaubt er, dass der Junge sich umgebracht hat. Und ein Unglück? Wie sollte das passiert sein? Niemand steigt in der Nacht in einen Fluss, schon gar nicht Lewi, der, wie Pauli weiß, wasserscheu war. Der wäre niemals freiwillig an die Töss gegangen, denkt er. Und auch auf die Wiese am Ufer legt sich um diese Zeit keiner mehr, weil das Gras nach Sonnenuntergang sofort feucht wird. Deshalb muss er, Pauli, den Beweis suchen, dass Lewi weder einen Unfall gehabt noch Selbstmord begangen hat. Dann wäre es Mord, denkt er wie sein Vater, und erschrickt vor seiner eigenen Schlussfolgerung. Leider hat er keine Ahnung, wie er die Ermittlungen fortsetzen soll, nachdem er in der Schule nichts Neues mehr erfahren kann. Er überlegt lange hin und her, bis ihm die Idee kommt, Mani Rindlisbacher einen Besuch abzustatten. Er redet mit seinem Vater über den Plan, den er sich ausgedacht hat. Er würde zu Lewis Mutter gehen. Dann solle Noldi die Frau anrufen und sie so lange wie möglich am Telefon festhalten, damit er, Pauli, sich ungestört in Lewis Zimmer umsehen könne. Noldi ist nicht begeistert, muss aber zugeben, die Vorgehensweise seines Sohnes ist durchaus professionell. Er würde es selbst auch nicht anders machen. Dazu kommt, dass Pauli sich bei der Frau möglicherweise leichter tut als er, der Polizist.
Zum zweiten Mal an diesem Tag wandert Pauli vorbei an der Wildgans oben auf dem Brunnen, der wie immer in unregelmäßigen Stößen Wasser spuckt, an der Zehntenscheune mit ihrem Glöckchen im Giebel. Diesmal nimmt er nicht die Abzweigung nach Wildberg, sondern geht um die Kurve weiter nach Hinterrikon. Die Siedlung haben die Besitzer der Pfannenfabrik in den 60er Jahren für ihre Belegschaft erbaut und dort die ersten Tibeter-Flüchtlinge untergebracht. Vorne stehen zwei Wohnblöcke, weiter hinten am Tobelbach folgt eine Reihe Einfamilienhäuser, zwei, drei oder vier zusammengebaut. Im letzten von ihnen wohnt Mani Rindlisbacher. Pauli geht am Ufer entlang. Das Wasser gluckst friedlich in seinem Bett. Der Bach kommt von der Wildberger Hochebene her durch eine enge Schlucht mit zwei Gießen, wie die Wasserfälle im Tösstal genannt werden. Dort ist es selbst an heißen Tagen wunderbar kühl, und die Familie Oberholzer, wie andere Leute aus Rikon, ziehen sich im Sommer vor der größten Hitze gern dorthin zurück. Pauli erinnert sich an das leuchtend grüne Moos und das glasklare kalte Wasser des Teiches, in dem er sein U-Boot aus Plastik zu versenken versuchte. Der Vater und er streiften durch den Wald und sammelten Holz, das sie dann zu ihrem Lagerplatz schleppten. Während sie Feuer machten, schnitt Meret die Würste zum Braten in der traditionellen Art an den Enden kreuzweise ein. Seine Schwester Felizitas, damals noch Fitzi, durfte die Tomaten halbieren, mit Salz und Pfeffer bestreuen, sowie die Bürli rüsten. Die nächste verantwortungsvolle Aufgabe war, schön gerade Spieße zu finden. Sie mussten grün sein, damit sie nicht gleich abbrannten, wenn man die Würste ins Feuer hielt. Beim Eindunkeln kehrte die Familie dann auf dem Weg dicht am Wasser wieder heim. Nach der Schlucht öffnet sich das Tal, der Bach schlängelt sich naturbelassen bis zum Tobelsteig. Nachdem er im bewohnten Gebiet früher oft große Schäden angerichtet hatte, beschloss man, ihn zu regulieren. Seither bleiben die Keller von Überschwemmungen verschont. Aber immer noch kommt der kleine Bach bei heftigen Regengüssen wild daher, tritt über die Ufer und verwüstet die Gärten.
Der Tobelsteig ist ein besonderes Quartier. Seine Bewohner sind eine eingeschworene Gesellschaft, was allerdings nicht heißen soll, dass sie einander nicht wegen jeder Kleinigkeit an den Kragen gehen. Pauli weiß, sein Vater musste wiederholt eingreifen, um den Frieden wieder herzustellen.
Der Junge läutet bei Mani Rindlisbacher. Sie öffnet und scheint erfreut. Als Pauli höflich fragt, ob er sich eine kleine Erinnerung an Lewi aussuchen dürfe, zieht sie ihn ins Haus, führt ihn direkt die Treppe hinauf in das obere Stockwerk. Dort drückt sie mit der Hand gegen eine Tür, die leise aufschwingt.
»Schau«, sagt sie.
Pauli blinzelt verwirrt. »Das ist aber nicht Lewis Zimmer.«
»Nein, natürlich nicht. Das ist mein Heiligtum«, erklärt sie ehrfürchtig.
Die Fenster sind mit gelben Stoffbahnen bespannt. Dadurch herrscht eitriges Licht im Raum, und die Luft ist stickig. Auf dem Boden liegen kleine Tibeter-Teppiche, bunte Stoffbilder hängen an den Wänden. Überall stehen brennende Lämpchen herum. Erst nachdem sich seine Augen an die diffuse Beleuchtung gewöhnt haben, sieht Pauli, was den Glasschrank zwischen den Fenstern füllt. Fast fallen ihm die Augen aus dem Kopf, als er das Sammelsurium von Buddhafiguren erkennt.
»Woher haben Sie die?«, stottert er.
»Vom Kloster«, antwortet Frau Rindlisbacher unbefangen. »Man hat sie mir angeboten. Als Geschenk. Buddhas darf man nicht verkaufen. Aber ich habe dafür eine rechte Stange Geld gespendet. Das kannst du mir glauben.«
Pauli nickt stumm. Er erinnert sich, wie er im Kloster war, um die kleine Buddhafigur abzuliefern, von der sich dann herausgestellt hat, dass sie der toten Frau aus dem Neubrunner Wald gehörte. Damals wollte ihm die Sekretärin auch eine Buddhasammlung zeigen. Das ist todsicher die hier, denkt er, fragt aber nur: »Und Lewis Zimmer?«
Mani scheint enttäuscht, sie schließt behutsam die Tür, öffnet eine andere und sagt unwirsch: »Da.«
In dem Moment läutet es irgendwo unten im Flur.
»Oh, das Telefon«, sagt sie, lässt ihn stehen und stürzt die Treppe hinunter.
Das wird wie abgemacht der Vater sein, denkt Pauli. Hoffentlich kann er die Frau so lange hinhalten, bis er sich in Lewis Zimmer umgesehen hat.
Er betritt den unordentlichen Raum, wirft als Erstes einen Blick aus dem Fenster. Das Zimmer liegt zur Straße, sodass man sehen kann, wer kommt und geht. Dann stellt er sich in der Mitte des Raumes auf und dreht sich langsam einmal um sich selbst. Für den Fall, dass er nicht viel Zeit hat, muss er schnell entscheiden, wo er suchen will. Kurzerhand wählt er die mittlere Schublade der Kommode und landet tatsächlich einen Treffer. Lewi scheint unter einem unordentlichen Haufen von T-Shirts sein Warenlager angelegt zu haben. Pauli rührt ein wenig mit dem Finger in dem billigen Zeug. Teure Stücke wie das iPhone, das Lewi ihm zugesteckt hat, sind keine darunter.
Während der Junge fieberhaft überlegt, wo in Lewis Zimmer er am besten weitersucht, hört er schon Schritte auf der Treppe. Schnell greift er sich einen kleinen Spiderman aus der Lade, schiebt sie so leise wie möglich zu. Dann steht Mani in der Tür. Pauli streckt ihr die Figur entgegen.
»Darf ich die behalten?«, fragt er höflich und hofft, sie merkt nicht, dass er in den Schubladen gewühlt hat.
Doch Mani meint nur zuckersüß: »Natürlich, wenn du sie gerne möchtest.«
Enttäuscht über das Scheitern seiner Mission, will Pauli sich verabschieden, da sagt sie plötzlich: »Komm mit, ich zeige dir noch etwas.«
Er folgt ihr misstrauisch ins untere Stockwerk, durch den Flur hinaus zum Sitzplatz mit rot-weiß gestreiften Sonnenstoren, Hollywoodschaukel und allem Drum und Dran. Dort steht ein Käfig, in dem sich zwei Kaninchen aneinander drängen.
»Das sind Blaue Wiener, eine ganz berühmte Kaninchensorte«, erklärt Mani. »Ich habe sie Lewi zu seinem 10. Geburtstag geschenkt, sie waren sein Ein und Alles. Jetzt sollst du sie haben, ich überlasse sie dir. Ich kann mich nicht um sie kümmern, und du bekommst ein richtiges Andenken an meinen Jungen.«
Pauli erstarrt innerlich. Bei ihm zu Hause gilt, Tiere sind kein Spielzeug. Das ist fast Gesetz in der Familie Oberholzer. Er hat es am eigenen Leib erfahren. Er war damals noch neu im Kindergarten, als die Eltern eines seiner Gspänli zur Geburtstagsparty einluden. Der Junge, für den sie stattfand, bekam zu dem Anlass ein Meerschweinchen geschenkt. Pauli war fasziniert. Er hockte die meiste Zeit vor dem Käfig, um das Tier zu beobachten. Das Geburtstagskind fühlte sich von seinem Interesse geschmeichelt. Er stellte sich neben ihn, während die anderen durch den Garten tobten, und sagte: »Hättest du auch gern, was?«
Pauli nickte. »Wie heißt es?«, wollte er wissen. »Bigudi«, sagte der stolze Besitzer, »Lockenwickler.«
Pauli lachte, er fand den Namen toll. Er ging nach Hause und eröffnete seiner Mutter, er wünsche sich zum Geburtstag, der bevorstand, ebenfalls ein Meerschweinchen oder noch lieber zwei. Damit war aber nichts. Wie das bei Kindern ist, vergaß er seinen Wunsch zum Glück bald wieder. Doch dann machten sie einen Wochenendausflug nach Brienz. Dort kamen sie an einem Garten vorbei, und er sah ein wunderbar grünes Rasenstück, auf dem sich vor einem Zwergen-Schloss mehrere Meerschweinchen tummelten. Darauf brüllte er eine geschlagene Stunde ohne Unterbruch: »Ich will ein Meerschweinchen! Ich will ein Meerschweinchen!«