HAT-SCHEPSUT: Das Geheimnis der Frau auf Ägyptens Thron - Wieland Barthelmess - E-Book

HAT-SCHEPSUT: Das Geheimnis der Frau auf Ägyptens Thron E-Book

Wieland Barthelmess

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Beschreibung

So wie Archäologen nach Tausenden von Jahren aus zahllosen einzelnen Bruchstücken die zerschlagenen Büsten der Hat-schepsut wieder zusammensetzten, so wird auch das Leben der geheimnisumrankten Königin vom Nil in den überlieferten historischen Fakten nachvollziehbar. Das Bild von Hat-schepsut, das sich im Lauf der Jahre in der Geschichtsschreibung verfestigt hatte, war jedoch das einer machthungrigen Despotin, der es gelungen war, ihren Stiefsohn und Neffen Thot-mose erbarmungslos zu unterdrücken und von der Regierungsgewalt fern zu halten. Seltsamerweise galt Pharao Thot-mose III allerdings zu keiner Zeit als verweichlichter Schwächling, sondern vielmehr als einer der durchsetzungsstärksten Herrscher des Alten Ägyptens, den man gerne mit Alexander dem Großen und Napoleon verglich. Dennoch schien es nahezu unvorstellbar, dass Neffe und Tante nicht in einer unversöhnlichen Gegnerschaft gelebt hatten und auch die damalige, überaus konservative ägyptische Gesellschaft, einschließlich des Adels und der Priesterschaft, sich offensichtlich nicht gegen eine Frau auf dem Thron stellten. Was war seinerzeit geschehen? Wer war diese Frau, deren Thronbesteigung offensichtlich sogar mit breiter Zustimmung der regierenden Klasse, ja, des ganzen Volkes erfolgte? War es tatsächlich reine Machtgier was sie leitete? Oder sah sie es als ihre von den Göttern gestellte Aufgabe an, das Land anstelle ihres schwächlichen Brudergemahls und später in der Vormundschaft für dessen unmündigen Sohn zu führen? Waren Hat-schepsut und Thot-mose III womöglich gar keine Gegner, sondern Verbündete, die im gegenseitigen Einverständnis zum Wohle ihres Landes handelten? War Hat-schepsuts Günstling Sen-en-Mut tatsächlich ihr Liebhaber, wie man bis heute vermutet und damit zugleich auch unterstellt, dass eine Frau ohne einen Mann an ihrer Seite nicht zu dieser Fülle an Macht gelangen konnte? Und warum war Sen-en-Mut schließlich so spurlos wie plötzlich aus allen Aufzeichnungen verschwunden? Dies ist ein historischer Roman, der Antworten zu geben versucht, indem er die Geschichte des Mädchens erzählt, das durch seine Geburt, wie bereits ihr Name es besagte, zur Ersten der vornehmen Damen wurde und schließlich zur allerseits anerkannten Herrscherin über das Land am Nil.

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Wieland Barthelmess

HAT-SCHEPSUT: Das Geheimnis der Frau auf Ägyptens Thron

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Prolog

Gottesgemahlin des Amun

Die Herrin der Paläste

Sen-en-Muts Schülerin

Mutter Nubiens

Große königliche Gemahlin

Aima

Pharao Ma’at-ka-Re

Goldland Punt

Das Sed-Fest

Im Fayum

Epilog

Anhang: Verzeichnis der Personen

Anhang: Glossar

Anhang: Stammbaum Hat-schepsuts

Anhang: Karte von Unterägypten zur Zeit Hat-schepsuts

Anhang: Karte von Oberägypten zur Zeit Hat-schepsuts

Impressum neobooks

Vorwort

2007 glaubte man, endlich Hat-schepsuts sterbliche Überreste gefunden zu haben. Man vermutete sie in der Mumie einer unbekannten Frau aus dem Grab von Hat-schepsuts Amme Sit-Re, die man im Tal der Könige zurückgelassen hatte, während die Mumie der Dienerin bereits 1903 ins Kairoer Museum überführt worden war. Die DNA-Untersuchung schien dies zu bestätigen, erwies sich die Frau doch als nahe Verwandte von Thot-mose I (Hat-schepsuts Vater), Thot-mose II (ihrem Halbbruder) und Thot-mose III (Sohn ihres Halbbruders). Die Tatsache, dass ein eindeutig Hat-schepsut zugeschriebener Backenzahn ebenfalls perfekt in das Gebiss der Frauenmumie zu passen schien ‑ man hatte ihn in einem mit dem Namen der Königin beschrifteten Kanopengefäß gefunden ‑, ließ die Forscher überdies zuversichtlich sein. Endlich war man sicher, einige der Geheimnisse um eine der mysteriösesten Gestalten der Weltgeschichte aufklären zu können: Die übergewichtige Frau in Sit-Res Grab war zwischen 35 und maximal 60 Jahren alt, als sie offensichtlich eines natürlichen Todes starb - wahrscheinlich an Krebs und/oder Diabetes.

Es wurde sogar die bislang vertretene Annahme infrage gestellt, dass Hat-schepsut als machthungriges, bösartiges Frauenzimmer den Thron an sich gerissen hätte und schließlich einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war, nachdem sie ihren Stiefsohn und Neffen Thot-mose III über zwanzig Jahre lang davon abgehalten hatte, die legitime Nachfolge seines Vaters anzutreten. Sah man in der posthumen Zerstörung nahezu all ihrer Darstellungen und Bildnisse doch den Ausfluss des Hasses ihres gedemütigten Neffen, nachdem er mit Hat-schepsuts Tod endlich die Macht an sich hatte reißen können. Dennoch mussten im Lauf der Jahre die Datierung der Zerstörung von Hat-schepsuts Bildnissen von den Ägyptologen immer weiter nach vorne gerückt werden, so dass man heute davon ausgeht, dass sie erstmals unter Pharao Amun-hotep II erfolgte, dem Sohn und Nachfolger von Thot-mose III, ja, teilweise sogar noch sehr viel später, mit dem Bildersturm der Amarna-Zeit. Die Auslöschung der Erinnerung an Hat-schepsut gründete demnach also keineswegs auf persönlichem Hass, sondern vielmehr auf grundsätzlichen Überlegungen: Der Präzedenzfall einer Frau auf Ägyptens Thron, die zudem noch überaus erfolgreich war und mehr als zwanzig Jahre regierte, sollte offensichtlich ein für alle Mal aus der Geschichte sowie dem wohlwollenden Gedächtnis des Volkes getilgt werden.

Vier Jahre nach der Zuschreibung der Mumie an Hat-schepsut stellte ein aufmerksamer Forscher allerdings fest, dass der fragliche Backenzahn keinesfalls in die an der Mumie vorgefundene Lücke des Oberkiefers passte, sondern eindeutig ein Molar des Unterkiefers ist. Überdies erwiesen sich die DNA-Ergebnisse als weitaus weniger stichhaltig als zunächst angenommen, so dass die Zuschreibung jener Mumie an Hat-schepsut heute wieder mehr als fraglich erscheint. Vielleicht war die Königin also doch die anmutige Frau, als die sie sich gelegentlich darstellen ließ?

In der Zwischenzeit hatte sich in der Geschichtsschreibung jedoch das Bild der machthungrigen Despotin verfestigt, der es gelungen war, ihren Neffen erbarmungslos zu unterdrücken und von der Regierungsgewalt fern zu halten. Seltsamerweise galt Pharao Thot-mose III jedoch zu keiner Zeit als verweichlichter Schwächling, sondern vielmehr als einer der durchsetzungsstärksten Herrscher des Alten Ägyptens, den man gerne mit Alexander dem Großen und Napoleon verglich. Es schien nahezu unvorstellbar, dass sich Neffe und Tante, auf welche Art und Weise auch immer, hatten einigen können und selbst die ansonsten so konservative ägyptische Gesellschaft, einschließlich des Adels und der Priesterschaft, nichts gegen eine Frau auf dem Thron einzuwenden gehabt hätte.

Was war seinerzeit geschehen? Wer war diese Frau, deren Thronbesteigung offensichtlich sogar mit breiter Zustimmung der regierenden Klasse, ja, des ganzen Volkes erfolgte. War es tatsächlich reine Machtgier was sie leitete? Oder sah sie es als ihre von den Göttern gestellte Aufgabe an, das Land anstelle ihres schwächlichen Brudergemahls und später in der Vormundschaft für dessen unmündigen Sohn zu führen? Waren Hat-schepsut und Thot-mose III womöglich gar keine Gegner, sondern Verbündete, die im gegenseitigen Einverständnis zum Wohle ihres Landes handelten? War Hat-schepsuts Günstling Sen-en-Mut tatsächlich ihr Liebhaber, wie man bis heute vermutet und damit insgeheim auch unterstellt, dass eine Frau ohne Mann an ihrer Seite nicht zu dieser Fülle an Macht gelangen konnte? Und warum war Sen-en-Mut so spurlos wie plötzlich aus allen Aufzeichnungen verschwunden?

Dies ist ein historischer Roman, der Antworten zu geben versucht, indem er die Geschichte des Mädchens erzählt, das durch seine Geburt, wie es bereits ihr Name besagte, zur Ersten der vornehmen Damen wurde.

Prolog

Endlich schickte die Sonne ihre ersten Strahlen über das östliche Gebirge. Hat-schepsut hatte die ganze Nacht darauf gewartet, nachdem sich ihre Urgroßmutter Ah-hotep gestern Abend auf so eigentümliche Art und Weise von ihr verabschiedet hatte. Kein Auge hatte sie zugetan, so meinte sie jedenfalls, und war jetzt dennoch hellwach. Ah-hotep hatte beim Abschied geradewegs so geredet, als ob sie einander nie mehr wieder sehen würden. Sogar ihr Äffchen hatte sie Hat-schepsut mitgegeben, obwohl die Sitti und das Tier unzertrennlich waren, seit Pharao es ihr geschenkt hatte, um sie über den Tod ihres geliebten Freundes Kares hinwegzutrösten. Doch Ah-hotep hatte tatsächlich darauf bestanden, dass Hat-schepsut den Affen zu ihrem Halbbruder und zukünftigem Gemahl Thot-mose mitnahm. Denn der war einer der Wenigen, die das Äffchen immer anständig behandelt hatten und er würde gewiss auch in Zukunft gut auf seinen neuen Freund aufpassen. Es wäre ihr ein großer Trost, hatte Ah-hotep noch gesagt, zu wissen, dass ihr tierischer Gefährte gut versorgt war. Und dem kleinen Thot-mose würde die Freundschaft zu dem lustigen Gesellen sicherlich ebenfalls gut tun.

So jung Hat-schepsut mit ihren zwölf Jahren auch war, so hatte sie dennoch sehr wohl verstanden, dass dies offenbar ein Abschied für immer sein sollte. Gewiss, ihre Sitti war über achtzig Jahre alt und Hat-schepsut wusste von niemandem in ganz Kemet, der noch älter war als sie. Und so sehr Ah-hotep ihre Urenkelin auch liebte ‑ für Hat-schepsut gab es daran nicht den geringsten Zweifel ‑, so sehr verachtete sie jedwede Art von Rührseligkeiten. Was geschehen musste, hatte zu geschehen. Wozu Tränen vergießen, die schließlich doch zu keinem anderen Ergebnis führen würden. Ja, Ah-hotep konnte erbarmungslos sein, auch und gerade gegen sich selbst. So hatte sie gestern Abend offenbar ganz nüchtern für sich selbst entschieden, dass es ihr Hinüberwechseln in die jenseitige Welt war, das in dieser Nacht anstand. Schon längst hatte sie darauf gewartet, dass es irgendwann einmal soweit sei. Nun fühlte sie, dass der Zeitpunkt gekommen war.

Hat-schepsut war wie gelähmt, als ihr Ah-hotep den Affen auf die Schulter setzte. Im Gesicht ihrer Sitti konnte sie lesen, dass Ah-hotep keinerlei Widerspruch dulden würde. Dennoch hoffte Hat-schepsut inständig, dass ihre Urgroßmutter sich getäuscht hätte. Wünschte sie sich doch so sehr, dass ihre Sitti noch viele Tage, Wochen und Monate bei ihr im Diesseits bleiben möge. Also hatte Hat-schepsut die ganze Nacht über zu Osiris gebetet und natürlich auch zu Amun, sie mögen ihre Urgroßmutter zurückweisen, wenn sie Einlass ins Jenseits begehre. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie noch nie davon gehört hatte, dass jemals irgendjemand zurückgeschickt worden sei. Aber vielleicht würden die Götter bei einer solch großen Frau wie Ah-hotep eine Ausnahme machen. Dies war allerdings die letzte Hoffnung, die Hat-schepsut noch geblieben war.

Wie sehr würde sie die Abende voller Erzählungen mit ihrer Sitti vermissen! Oder ihre gemeinsamen Ausflüge auf die andere Seite des Nils, wo all die großen Pharaonen ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Ah-hotep hatte all deren Regierungszeiten miterlebt - in achtzig langen Jahren. Ihr Vater Senacht-en-Re lag dort begraben, die Brüder Seqen-en-Re und Ka-mose, ihr Sohn Ah-mose, der Kemet endgültig von den Fremdherrschern befreit hatte und ihr Enkel Amun-hotep, unter dem Kunst und Wissenschaft zu neuer Blüte erwacht waren. Hat-schepsut wusste sie alle aufzusagen und auch die Errungenschaften eines jeden Einzelnen zu benennen, war doch ein jeder von ihnen ihr direkter Vorfahr. Ihr Vater legte großen Wert darauf, dass sie alle kannte, denn sie waren, wie er seiner Tochter immer wieder ins Gedächtnis rief, ihre Großeltern, ihre Urgroßeltern und Ururgroßeltern, die jeder auf seine Weise das Schicksal Kemets mitbestimmt hatten. Inzwischen waren sie alle zu Göttern geworden. Hat-schepsut und vor allem ihr kleiner Halbbruder Thot-mose würden sich, in allem was sie taten, vor jedem der Ahnen beweisen müssen. Ja, bis in alle Ewigkeit würde man beide an ihren Vorgängern messen. Thot-mose hatte vor kaum etwas mehr Angst. Er wurde jedes Mal bleich, wenn die Rede auf seine zukünftige Herrschaft kam. Und auch Hat-schepsut wurde es ganz bang bei der Vorstellung, bald am Grab ihrer Sitti zu stehen und dort auf Antworten hoffen zu müssen, welche die vielen Fragen aufwarfen, von denen sie wusste, dass sie unweigerlich spätestens dann kommen würden, sobald sie Verantwortung trug. Sie würde Ah-hoteps Antworten ‑ begleitet von ihrem pfiffigen Blick und der sparsamen Mimik ‑ niemals mehr erfahren. Ja, sie würde ganz ohne den Rat und die Unterstützung ihrer Sitti auskommen zu müssen. Hat-schepsut fühlte sich auf einmal einsam und verlassen.

Glücklicherweise gab es da noch Sit-Re, Hat-schepsuts einstige Amme, die inzwischen ihre Leibdienerin war und die für etwas Herzenswärme sorgte. Die Prinzessin liebte sie von ganzem Herzen. Doch wie anders war sie ihrer Sitti zugetan. Hat-schepsut bewunderte, ja, vergötterte die alte, weise Frau. So wie sie wollte sie später auch einmal sein. Ah-hotep war erhaben, im wahrsten Sinne des Wortes unerschrocken und dabei die Klugheit selbst. Tapfer war sie mit gezücktem Schwert den Feinden gegenübergetreten, hier im Palast von Waset – und hatte sie mit eigenen Händen erschlagen. Man erzählte, dass der Boden rot gewesen sei vor Blut. In manch einer Nacht träumte Hat-schepsut von dem weißen Boden, auf dem das Blut sich unablässig ausbreitete, als wollte es die ganze Welt bedecken. Insbesondere, wenn sie mit Fieber daniederlag, verfolgte sie dieser Traum hartnäckig. Für ihr Kemet und den jeweiligen Pharao hatte Ah-hotep alles getan, was nötig war. Auf alles hatte sie eine Antwort, was Hat-schepsut immer am meisten beeindruckte. Und sei es nur, dass sie eingestand, einmal keine Antwort zu haben.

„Wer glaubt, alles zu wissen, ist einfach nur eitel und dumm.“

Dann lachte sie und knuffte Hat-schepsut in die Seite. Ah-hotep war die Einzige, der sich die kleine Prinzessin vollkommen anvertrauen konnte. Gewiss, ihr Vater, Pharao Thot-mose, liebte seine Tochter abgöttisch. Ja, wenn sie aufrichtig war, dann musste sie sich eingestehen, dass es sie mit Stolz erfüllte, wie sehr ihr Vater sie liebte. Und Hat-schepsut, die diese Liebe mit kindlicher Freude erwiderte, wollte unbedingt so sein, wie sie glaubte, dass der Vater sie sich wünschte. Also bemühte sie sich, klug zu sein - und allein dafür schenkte er ihr seine Liebe. Mit ihrer munteren Art brachte sie Pharaos Herz wahrhaft zum Jubeln. Er forderte sie neulich sogar auf, ihm zu widersprechen, wenn sie denn meine, es tun zu müssen. Pharao widersprechen! Nie hätte sie es gewagt. Doch sie, so meinte ihr Vater, dürfe es; zumindest wenn sie unter sich waren. Er tat alles, damit seiner geliebten Tochter der Weg in die Zukunft geebnet sein würde. Es war längst abgemacht ‑ und jeder in Kemet wusste es auch ‑, dass sie ihren Halbbruder, den Thronfolger heiraten würde, um ihm bei seiner schweren Aufgabe beizustehen. Der Vater hatte nie auch nur den geringsten Zweifel daran gelassen, dass sie es sein sollte, die in Zukunft als Große königliche Gemahlin die Geschicke des Landes bestimmen würde, da ihr Brudergemahl in seiner ängstlichen wie kränklichen Art kaum dazu in der Lage sein dürfte. Es gab kaum jemanden in Kemet, der dies nicht für eine weise Entscheidung hielt. Thot-mose war ein lieber, netter Junge. Durch seine hagere, ja, schwächliche Gestalt, vor allem aber durch die schreckliche Hautkrankheit, die seinen Körper entstellte und ihn Ekel erregend stinken ließ, hatte sich sein Selbstbewusstsein jedoch nie recht entwickeln können. Er war immer der Stillste und Bescheidenste bei den regelmäßigen Familienzusammenkünften. Seltsamerweise mochte ihn Hat-schepsut gerade deshalb. Er war frei von jedwedem Arg und dabei so gutmütig, dass Hat-schepsut fest entschlossen war, gut auf ihn aufzupassen. Er dauerte sie aufrichtig, denn Thot-mose war schon zufrieden, wenn er aus Mitleid gemocht wurde. Sie würde auf ihn achtgeben, so wie er auf Ah-hoteps Affen achtgab. Bislang war es immer die alte Ah-hotep gewesen, die ein Auge auf die Dinge hatte. Nichts in der Welt entging ihr und ihr Rat war allseits hochgeschätzt. Selbst die geheimsten Gedanken und Gefühle erahnte sie. So fand sie auch bei Pharao stets ein offenes Ohr. Selbst die Fürsten in Retjenu und Naharina verehrten sie für ihre Weisheit. Und immer wieder hatte sie auch Hat-schepsut Mut zugesprochen.

„Dein Halbbruder wird dein Gemahl und eines Tages schließlich auch Pharao“, hatte sie zu ihr gesagt. „Aber du wirst es sein, die Kemet regiert. Thot-mose ist ein guter Junge, also musst du auf ihn aufpassen, damit er aus Gutmütigkeit nichts Unüberlegtes tut. Glücklicherweise weiß er, dass er dich braucht.“

Und hatte nicht auch ihr Vater, der König, mehr als einmal gesagt, dass sie sowieso der bessere Pharao sei, obwohl sie ein Mädchen war? Die ihr bevorstehende Aufgabe schreckte sie also keineswegs, zumal sie wusste, dass Thot-mose ihr vollkommen vertraute. Manchmal schien es ihr so, als ob er sich sogar ein wenig in sie verguckt habe. Sie würde ihn keinesfalls enttäuschen, denn dies war es ja, wozu sie geboren worden war: Sie hatte Kemet und seinem König zu dienen. Und sie war von ganzem Herzen bereit dazu.

Als die Paviane immer lauter zu kreischen begannen und sich auf den Dächern von Waset versammelten, um die aufgehende Sonne zu begrüßen, hörte Hat-schepsut aufgeregtes Getrampel in den Fluren des Palastes. Eiligst wurde hin und her gelaufen, so dass sie vorsichtig die Tür ihrer Wohnung öffnete und hinausspitzte. In einem der hinteren Höfe des Harems stimmten Klageweiber Trauergesänge an. Hat-schepsut schauderte. Also war in der vergangenen Nacht tatsächlich ein Leben zu Ende gegangen. Schon kam ihre Hausdame angelaufen. Ungeschminkt und mit verweinten Augen warf sie sich vor Hat-schepsut zu Boden.

„Die Große königliche Gemahlin Ah-hotep“, rief sie schluchzend, „die Gottesgemahlin des Amun, deine Urgroßmutter… Sie ist heute Nacht zu Osiris gegangen!“

Ohne ein Wort zu sagen schloss Hat-schepsut die Türe und setzte sich auf ihr Bett. Ihre geliebte Sitti war also tatsächlich tot. Unwiderruflich tot. Jetzt, wo es ihr bestätigt worden war, hatte diese Nachricht auf einmal eine sehr viel größere Macht als erwartet. Wie eine erbarmungslose Bestie sprang die Trauer sie an, packte sie, schüttelte sie und würgte sie. Schwere Tränen liefen über ihre Wangen, die Hat-schepsut schnell fortwischte. Von ihrem Fenster aus sah sie, wie die Stadt erwachte und die Paviane, wie an jedem anderen Morgen auch, zu ihren frechen Diebeszügen über die Dächer der Hauptstadt aufbrachen. In den Wohnungen der Stadt wurden Nasen geschnäuzt, Kehlen vom Schleim der Nacht befreit, schreiende Kinder beruhigt und Gebete gesprochen, während man in den Straßen die ersten Waren ausrief und Dinge eiligst von hier nach dort transportierte. Vor den Schreinen beteten Gläubige zu den Göttern und in den Tempeln wurden die Sistren geschüttelt, damit die Luft für die ersten Zeremonien des Tages gereinigt wurde. Alles war so wie an jedem anderen Morgen auch. Und doch wusste Hat-schepsut, dass nichts mehr so war wie noch Tags zuvor.

Es wurde an ihrer Tür gepocht. Vorsichtig zunächst, dann laut und eindringlich. „Seine Majestät, der Herrscher der beiden Länder, der Herr über den Süden wie über den Norden, Pharao Thot-mose Aa-cheper-ka-Re, dem ein Leben geschenkt sei von einer Million mal einer Millionen Jahre, geruht, die Frucht seines Leibes, die Königstochter Hat-schepsut aufzusuchen, die Erste unter den Damen.“

Hat-schepsut erkannte die Stimme des Haushofmeisters ihres Vaters. Schnell wischte sie sich noch einmal über die Wangen und schon wurde die Türe aufgestoßen. Ihr Vater trat ein, unrasiert und ungebadet. Er war offenbar gerade eben erst von seinem Majordomus aus dem Bett geholt worden. Neben dem Haushofmeister begleiteten ihn zwei seiner Leibgardisten. Sie wollte aufstehen, um sich vor ihm niederzuwerfen, doch Pharao winkte nur ab. Selten einmal hatte Hat-schepsut ihren Vater so aufgewühlt gesehen. Schweigend sahen sich beide an.

„Die große Ah-hotep, deine Urgroßmutter, die ihre schützende Hand immer über uns hielt“, sagte Pharao mit belegter Stimme und setzte sich zu Hat-schepsut aufs Bett, „sie ist zu Osiris gegangen.“ Pharao griff nach der Hand seiner Tochter. „Sie war das Herz von Kemet und sie war seine Seele. Kemet wird ein anderes Land sein ohne sie. Und wir beide, du und ich, wir müssen nun zusehen, wie wir ohne sie zurechtkommen.“ Schweigend nahm Pharao seine Tochter in den Arm und drückte sie ganz fest an sich. Noch nie hatte Hat-schepsut ihren Vater weinen sehen. Wie überhaupt noch nie jemand einen Pharao hatte weinen sehen, außer vielleicht eine jener sagenhaften Großen königlichen Gemahlinnen, denen die Gottkönige tatsächlich ihr Herz geschenkt hatten. Vorsichtig wischte sie die Träne fort, die gerade über die Wange ihres Vaters kullerte.

„Du schwitzt, Babu“, sagte sie zärtlich und Pharao lächelte überrascht. Dann nickte er dankbar und küsste seine Tochter wortlos auf die Stirn. Hat-schepsut wusste nur zu gut, was die alte Ah-hotep ihrem Vater bedeutet hatte. War sie es doch gewesen, die den illegitimen Sohn des jung verstorbenen Prinzen und Thronfolgers Ah-mose Sa-pair und der Gärtnerstochter Seni-seneb seinerzeit aufgezogen sowie in allem unterstützt hatte, obwohl damals noch überhaupt nicht abzusehen war, dass er für die Thronfolge jemals in Frage käme. Es war Ah-hotep, die ihn mit den größten Geistern des Reiches zusammenbracht hatte und ihm somit die bestmögliche Erziehung angedeihen ließ. Sie hatte fest an ihn geglaubt, obwohl damals kaum jemand damit rechnete, dass er als Thronfolger in Frage kommen könnte. Dennoch hatte Ah-hotep aus Thot-mose den größten Pharao gemacht, der Kemet je regiert hatte. Denn Pharao Thot-mose war der Gerechteste unter den Königen und er wusste, die Ma’at zu bewahren. Zudem liebte Pharao sein Volk aufrichtig. Die Menschen in Kemet lebten für ihren Pharao und er lebte für sie. Alles, was Thot-mose war ‑ und zumindest in Hat-schepsuts Augen war er nichts weniger als der vollkommene Herrscher schlechthin ‑, war er durch Ah-hotep geworden.

Es klopfte abermals. Sit-Re, Hat-schepsuts Amme war inzwischen aufgewacht und schlurfte noch halb verschlafen durch den Flur zur Tür. Erschrocken fuhr sie zusammen, als sie den nicht zurechtgemachten Pharao neben ihrer Herrin auf dem Bett sitzen sah. Der gestrenge Haushofmeister stand mit feucht-glänzenden Spuren auf den Wangen daneben, die verrieten, dass er geweint hatte. Es klopfte lauter. Fahrig öffnete Sit-Re die Tür. Der Hohepriester des Amun, Hapu-seneb, wartete ungeduldig in vollem Ornat und mit großem Gefolge davor. Eilig trat er ein und hinter ihm quollen die Priester in seiner Begleitung nach. Sie warfen sich vor Pharao und seiner Tochter zu Boden. Nur Hapu-seneb kniete.

„Ah-hotep, die Gottesgemahlin des Amun ist tot“, sagte der Hohepriester feierlich. „Als Ah-mose Merit-Amun die Große königliche Gemahlin Pharao Amun-hoteps jung verstarb, hatte sie nicht bestimmt, wer nach ihr Gottesgemahlin des Amun werden solle. Also fiel der Titel zurück an ihre Vorgängerin Ah-mose Nefertari. Da auch sie vor sechs Jahren starb, ohne eine Nachfolgerin benannt zu haben, fiel der Titel abermals an ihre Vorgängerin zurück: Die große Ah-hotep.“

Die Priester in Begleitung Hapu-senebs ließen den Namen der großen Frau im Chor nachklingen: Ahh-hoh-tepp.

„Die Große königliche Gemahlin und Gottesgemahlin des Amun“, fuhr der Oberpriester fort, „die gerechtfertigte Ah-hotep, hat in ihrer Weisheit und im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen jedoch geruht, zu Lebzeiten eine Nachfolgerin zu bestimmen.“

„Gepriesen sei ihre Weisheit“, sangen die Priester.

Voller Erwartung sah Hapu-seneb der Prinzessin ins Gesicht. Doch Hat-schepsut zeigte kein übermäßiges Interesse an seiner Rede. Ihre Gedanken waren bei ihrer Urgroßmutter. Wie hatte sie es ihr nur antun können, sie jetzt schon zu verlassen?

„Es ist die Königstochter Hat-schepsut, welche die große Ah-hotep zur Gottesgemahlin des Amun bestimmt hat“, vervollständigte Hapu-seneb seine Nachricht und die Priester, die sich mittlerweile aufgerichtet hatten, warfen sich abermals zu Boden. „Hatt-schep-sutt!“

Nun sah auch der Vater, der natürlich um Ah-hoteps Vermächtnis wusste, seine Tochter gespannt an. „Na, schau nur, wie deine Sitti für dich sorgt.“ Er nahm Hat-schepsut in den Arm. „Ein eigener Palast mit komplettem Hauspersonal, sogar Musiker und Tänzerinnen gehören dazu und zwar die Besten des ganzen Reiches. Du wirst die Herrin über fruchtbare Ländereien und du hast von nun an sogar deine eigenen Weingärten im Fayum … Du bist jetzt das mächtigste Mädchen der Welt.“ Und ganz leise, so dass nur Hat-schepsut ihn hören konnte, flüsterte er ihr ins Ohr: „Und du hast jederzeit Einblick in sämtliche Aufzeichnungen der Amun-Priester.“

Erschrocken sah ihn Hat-schepsut an. „Und was muss ich tun, um Gottesgemahlin zu sein?“ Hat-schepsut wusste längst, dass man für manch ein Geschenk teuer zu bezahlen hatte.

„Oh“, entgegnete der Hohepriester überrascht. „Deine Aufgaben werden sich auf einige wenige Repräsentationspflichten beschränken. Die Priesterschaft erledigt das Meiste, das Alltägliche.“

„Ich möchte dennoch alles ganz genau über die Aufgaben, die Pflichten und Rechte einer Gottesgemahlin wissen“, entgegnete Hat-schepsut spitz. „Gerade im Alltäglichen ist oftmals Wichtiges verborgen. Meine Sitti hat mir viel davon erzählt. Und sicherlich hat sie auch gewollt, dass ich diese Aufgabe ernst nehme. Also werde ich sie auch ernst nehmen.“

„Selbstverständlich“, verbeugte sich Hapu-seneb nicht recht wissend, was dies letztendlich bedeuten mochte.

Im selben Augenblick wurde abermals geklopft. Zunächst ganz leise nur, als wolle man kein Aufsehen erregen, schließlich aber immer heftiger werdend, als hätte jemand Angst, dass man sein Klopfen möglicherweise nicht hören könnte. Alle starrten zur Türe hin, als die Amme sie öffnete.

„Thot-mose, mein Bruder“, rief Hat-schepsut erstaunt. „Wie lieb, dass Du kommst. Dein Vater ist auch schon hier.“

Thot-mose hatte tatsächlich geglaubt, er sei der Erste und Einzige, der seiner Halbschwester in dieser schweren Stunde beistehen wollte. Er erschrak, als er seinen Vater so unerwartet neben Hat-schepsut auf dem Bett sitzen sah, umringt von Amun-Priestern im vollen Ornat. Er griff nach dem Affen auf seiner Schulter, als ob er ihn beschützen müsste, und wollte sich schon wieder zum Gehen wenden.

„Komm, Thot-mose“, rief ihm Hat-schepsut zu. „Setz dich zu uns. Unser Babu ist genauso traurig wie du und ich.“

Es war Thot-mose überaus unangenehm, sich an den Priestern vorbei in den Raum zu zwängen. Voller Respekt wollte er sich vor seinem Vater auf den Boden werfen, doch der hielt ihn am Arm fest und klopfte nur direkt neben sich auf Hat-schepsuts Liegestatt. Ängstlich setzte sich der Prinz neben den Vater und Pharao. Bloß nicht zu nah wollte er rutschen, denn er war sogleich losgerannt, als er die Nachricht von Ah-hoteps Tod gehört hatte und war weder gebadet, noch parfümiert. Thot-mose war mit zehn Jahren nur zwei Jahre jünger als Hat-schepsut und sah dennoch aus wie ein vorzeitig vergreister Fünfjähriger, wie eine liegen gebliebene Dattel, die vergessen worden und schließlich verschrumpelt war. Er roch tatsächlich nicht gut, wie jeder schnell feststellen musste. Thot-mose hatte gelernt, in den Mienen der Menschen zu lesen und ihre Abscheu zu erkennen, auch wenn sie versuchten, sie zu verbergen. Ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben, brach der Thronfolger unvermittelt in Tränen aus. Sein kleiner, magerer Körper wurde regelrecht durchgeschüttelt. Der Affe auf seiner Schulter war ganz durcheinander und glaubte offenbar, seinen gepeinigten Freund beschützen zu müssen. Er schnappte sogar nach Pharao, als der versuchen wollte, seinen Sohn tröstend in den Arm zu nehmen. In seiner unerschöpflichen Großmütigkeit verzichtete Pharao jedoch auf eine Ahndung dieser Ungeheuerlichkeit. Die beiden Leibwächter hatten bereits die Dolche gezückt und steckten sie nun, auf Pharaos Wink hin, wieder zurück. Erst Hat-schepsut gelang es, ihren Halbbruder, etwas zu beruhigen, so dass auch der Affe endlich Ruhe gab. Sie kniete vor Thot-mose nieder und hielt seine zitternden Hände.

„Jetzt hab ich nur noch dich“, schluchzte Thot-mose kaum hörbar zu seiner Schwester. „Und den Affen.“ Der war inzwischen auf Hat-schepsuts Schulter geklettert und keckerte ganz leise in ihr Ohr, so wie er es immer bei Menschen tat, die er mochte.

„Wir halten zusammen, Brüderchen, du und ich. Wir werden füreinander da sein.“ Am liebsten hätte Hat-schepsut ihren Bruder umarmt. Doch sein Geruch hielt sie davon ab.

„So ist es Recht, Kinder“, freute sich Pharao. „Mit Hat-schepsut an deiner Seite kannst du viel erreichen, Thot-mose. Vertraue ihr nur! Sie wird dich unsterblich machen.“

Thot-mose seufzte herzzerreißend. „Ich will aber nichts erreichen und es wäre mir lieber, man ließe mich in Ruhe mein unappetitliches Leben leben.“

Da wurde ein weiteres Mal an die Tür geklopft. „Die Große königliche Gemahlin Ahmes wünscht, der Königstochter Hat-schepsut, der Frucht ihres Leibes, ihre Aufwartung machen“, rief der Herold gebieterisch. Sit-Re öffnete die Tür.

Auch Ahmes zuckte zusammen, als sie den Gemahl bei ihrer Tochter sitzen sah, umgeben von Amun-Priestern. Darüber hinaus saß auch noch der Thronfolger Thot-mose an seiner Seite, den Pharao mit seiner Nebenfrau Mut-nofret gezeugt hatte.

„Oh“, sagte sie schließlich, „du hast bereits Besuch, meine Tochter.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Ich werde mich besser, um die angemessene Ausübung der Trauer kümmern. Lief mir doch gerade eben so ein dummes, singendes Ding über den Weg. Sie sei so glücklich, weil ihr Liebster sie endlich erhört habe, brachte sie als Entschuldigung hervor. Man stelle sich nur vor! Und das alles im Palast des Pharao, der in tiefster Trauer liegt!“

„Du kannst dich nachher darum kümmern!“ Pharaos Stimme klang so, als duldete er keinen Widerspruch. „Jetzt komm zu uns und lass uns gemeinsam Ah-hoteps gedenken. Auch du hattest deiner Großmutter viel zu verdanken. Und hat sie dich nicht oft genug auch als ihre Lieblingsenkelin genannt?“

„Das hat sie …“ Ein Lächeln huschte über Ahmes’ verhärmtes Gesicht. „Damals … vor der schlimmen Zeit … als noch alles gut war.“

Von ihren vier Kindern mit Pharao war nur noch Hat-schepsut am Leben geblieben. Zuerst war die jüngere Schwester Nofru-biti gestorben. Sie war von Geburt an kränklich und sollte keine zwei Jahre alt werden. Ahmes, die das bedauernswerte, auf Zuwendung so angewiesene Kind über alles liebte, versank damals schon in tiefster Trauer. Doch der schlimmste Schicksalsschlag sollte erst noch kommen. Vor etwa drei Jahren war der Thronfolger Amun-mose von seinem jüngeren Bruder Wadj-mose aus Unachtsamkeit mit einem Pfeil erschossen worden. Es war nichts anderes als ein tragischer Unglücksfall. Dennoch fürchtete Wadj-mose, der durch Amun-moses Tod schließlich zum Thronfolger wurde, dass man ihm auf alle Zeiten berechnenden Mord unterstellen würde, mit dem er seinen Bruder aus dem Weg geräumt hätte. Der arme, kleine, verzweifelte Wadj-mose, den Hat-schepsut von ihren Geschwistern am meisten liebte, nahm sich schließlich im Kerker das Leben, in den die Mutter in ihrer hilflosen Trauer den eigenen Sohn hatte werfen lassen. Pharao war damals auf einem Feldzug in Nubien und hätte erst nach seiner Rückkehr über das weitere Schicksal des Sohnes entscheiden sollen. Doch bis dahin war Wadj-mose längst schon tot. Auch wenn sie es nie ausgesprochen hatte, fühlte sich Ahmes schuldig am Tod ihres zweiten Sohnes – und Hat-schepsut empfand durchaus ebenso. Denn nichts hätte Wadj-mose nötiger gehabt, als das Mitleid und die Vergebung seiner Mutter. Doch in ihrem verzweifelten Kummer um den getöteten ältesten Sohn konnte ihm Ahmes beides nicht geben. Seither war sie ununterbrochen in Trauer. Pharao brach es fast das Herz, seine um zwölf Jahre ältere Große königliche Gemahlin bereits mit Anfang vierzig wie eine Greisin nur noch von Tod und Sterben reden zu hören. Wie ein Gespenst wandelte sie zu nachtschlafender Zeit durch den Palast und suchte immer wieder jene Orte auf, wo ihre Söhne am liebsten gespielt hatten. Jeder Todesfall im Palast und sei es auch nur der des geringsten Dieners ließ sie ihre Trauer in geradezu selbstzerstörerischer Art und Weise wieder und wieder von neuem auffrischen. Und da Hunderte von Bediensteten den immer größer gewordenen Palastbetrieb aufrechterhielten und kaum eine Woche ohne Todesfall verging, erstarrte Ahmes in fortwährender Trauer. Das einfache Volk hatte seinerzeit gefürchtet, der Nil könne salzig werden von den unablässig geweinten Tränen der Großen königlichen Gemahlin. Doch inzwischen weinte Ahmes schon lange nicht mehr. Sie habe bereits all ihre Tränen vergossen, meinte sie, und sei nun trocken und öd wie eines der Wadis, die in die Wüste führten. Bald würde Hat-schepsut, das am wenigsten geliebte und nun allein übrig gebliebene ihrer Kinder, anstatt ihres Bruders Amun-mose den schrundigen Halbbruder Thot-mose heiraten müssen, den Pharao mit seiner Nebenfrau Mut-nofret gezeugt hatte. Ahmes würde niemals Königsmutter werden, obwohl sie doch zwei gesunden Söhnen das Leben geschenkt hatte. So zog sie sich immer mehr zurück in ihre selbst gewählte Welt der Trauer, der Abgeschiedenheit und des Kummers.

„Ah-hotep hat Hat-schepsut zu ihrer Nachfolgerin als Gottesgemahlin des Amun benannt“, erklärte Pharao seiner Großen königlichen Gemahlin Ahmes die Anwesenheit der Priester.

„Sehr gut“, nickte sie. „Dann wird es Gott Amun sein, der ihre Kinder zeugt.“ Ahmes warf einen verächtlichen Blick zu Thot-mose hinüber, traute sie ihm doch noch nicht einmal die Erfüllung dieser Aufgabe zu. „Du hast dann einen eigenen Palast, Kind“, sagte sie zu Hat-schepsut und setzte sich neben sie. „Eigentlich ist es ja nur ein zusätzlicher Trakt, der eingeklemmt zwischen dem Amun-Tempel und dem Königspalast liegt, aber seine Fenster führen nicht zur Stadt hin, wie in deiner gegenwärtigen Wohnung, sondern zum Palastgarten.“ Sie sah zum Fenster hinüber und rümpfte die Nase. „Dann musst du auch nicht mehr diesen widerwärtigen Gestank ertragen, der hier die Luft erfüllt.“ Ahmes sah sich um. „Deine Leibdienerin sollte ruhig ein paar mehr Räuchergefäße entzünden. Es riecht hier nämlich geradezu unerträglich.“ Thot-mose machte sich so klein und unauffällig wie möglich, als ob er dadurch vermeiden könne, als Ursache der Geruchsbelästigungen ausgemacht zu werden.

„Ich finde es nicht weiter schlimm“, entgegnete Hat-schepsut und zuckte mit den Schultern. „Außerdem habe ich mich längst daran gewöhnt.“

„Nun, als Große königliche Gemahlin und Gottesgemahlin des Amun solltest du dich derartigem aber nicht aussetzen. Du weißt, welche Gefahren verunreinigte Luft mit sich bringt. Lass Sit-Re die Räuchergefäße entzünden und die Priester mögen mit ihren Sistren rasseln.“

Augenblicklich wurde so eifrig gerasselt, dass man das neuerliche Klopfen überhörte. Doch es klopfte abermals. Sit-Re öffnete die Tür. Mut-nofret stand davor, Pharaos Nebengemahlin und Mutter von Thot-mose. Sie ließ sich sogleich auf den Boden fallen, als sie Pharao sah.

„Mein tiefstes Bedauern“, stammelte sie. „Die Große königliche Gemahlin Ah-hotep ist zu Osiris gegangen. Welch Schmerz! Welch ein Verlust!“

„Steh auf, Mut-nofret und setz dich neben deinen Sohn“, sagte Pharao missmutig. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du diese Ehrerbietungen sein lassen kannst, wenn wir unter uns sind.“

„Unter uns?“, entgegnete Mut-nofret schnippisch und sah sich um. „Priester, Leibwächter, Haushofmeister … Ich wollte nur nach meinem Sohn sehen.“ Sie blieb vor Pharao stehen und sah ihm ins Gesicht. „Aber auch nach dir …“ Unwillkürlich streckte sie ihre Hand aus, als ob sie Pharao über die Wange streicheln wollte. „Ich weiß doch, wie viel Ah-hotep dir bedeutet hat. Es tut mir aufrichtig leid, dass sie von uns gegangen ist.“ Erst jetzt sah sie den Affen auf Thot-moses Schulter. „Wo hast du das grässliche Tier her? Ist das etwa der Affe von Ah-hotep?“

„Ja“, entgegnete der Thronfolger trotzig. „Und seit gestern Abend ist es meiner, denn Ah-hotep hat darauf bestanden, dass ich ihn von nun an haben soll. Nicht wahr, Hat-schepsut?“

„Jawohl.“ Kurz erzählte das Mädchen von den Geschehnissen des Abends zuvor sowie von ihrem eigentümlichen Abschied von Ah-hotep. Niemand wagte es von da an mehr, die Entscheidung der göttlichen Ah-hotep anzuzweifeln, dass Thot-mose der Geeignete wäre, um auf den Affen Acht zu geben.

„Nun, jedenfalls ist es immer günstig, die Ursachen von Luftverpestung nahe beieinander zu halten“, ließ sich Ahmes schließlich vernehmen. „Solch ein Tier stinkt doch gewaltig, wenn es nicht richtig gepflegt wird.“

Thot-mose sah betreten zu Boden und war abermals den Tränen nahe. Mut-nofret tat so als hätte sie nichts gehört, setzte sich neben ihren Sohn und gab ihm einen Knuff in den Rücken, damit er gefälligst aufrecht sitze.

„Ich danke dir, dass du gekommen bist, um dein Beileid auszusprechen“, sagte Pharao zu seiner Nebenfrau und drückte ihre Hand, während Ahmes’ Miene versteinerte. „Dein Sohn war auch so lieb, vorbeizuschauen, wie du siehst. Er hat mein trauriges Herz wahrhaft erwärmt.“

„Wirklich?“, fragte Thot-mose überrascht.

„Aber ja, mein Sohn. Das hast du wirklich.“

Es klopfte ein weiteres Mal, dringlich und immer lauter werdend. Sit-Re öffnete. Die Königsmutter Seni-seneb stand in Tränen aufgelöst in der Tür. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, lief sie auf Pharao zu, der aufstand und seine Mutter umarmte.

„Wir haben unsere liebe Ah-hotep verloren“, flüsterte sie ihrem Sohn ins Ohr, als wagte sie nicht, das Unaussprechliche laut zu sagen. „Wo wären wir heute, wenn sie nicht gewesen wäre …“

„Wahrscheinlich im Palastgarten, um Blumen zu pflanzen“, sagte Ahmes trocken. „Es konnte ja niemand vorhersehen, dass Pharao Amun-hotep keine Kinder zeugen würde, so dass man auf ein illegitimes Kind seines kleinen Bruders zurückgreifen musste.“

„Aber heute wissen wir doch alle“, wandte Hat-schepsut ein, „dass es Gott Amun höchstselbst war, der sich des Körpers von Prinz Ah-mose Sa-pair bedient hat, um meinen Vater zu zeugen. Nicht wahr?“

Der Oberpriester Hapu-seneb verneigte sich eifrig. „Es steht vollkommen außer Frage, dass dem so war. Pharao Thot-mose ist der leibliche Sohn Amuns. So wie der Thronfolger ebenfalls der Sohn dieses Gottes ist.“

Ahmes beugte sich vor, um zu ihrem Stiefsohn Thot-mose hinüberzuschauen, während sie sich mit einem Tüchlein die Nase betupfte. „Tja, man glaubt es kaum. Aber offenbar sind die Götter auch nur Männer. Wenn sie der Hafer sticht, gibt es kein Halten mehr und sie besteigen das nächstbeste Weib.“

„Kaum jemand sollte das besser wissen als du“, gab Pharao zurück. „War es doch Amun der zwei Söhne und zwei Töchter mit dir gezeugt hat.“

„Nun, bei mir war es etwas ganz anderes. Über mich ist er nicht einfach hergefallen, sondern hat Gott Thot vorausgeschickt, um sein Kommen anzukündigen. Und er hat sich, wie es sich gehört, deines Körpers bedient, um unsere Kinder zu zeugen.“

„Genauso wie er sich des Körpers meines Vaters Prinz Ah-mose Sa-pair bedient hat, um mich zu zeugen“, entgegnete Pharao.

„Wohl wahr“, versuchte Ahmes das Gespräch zu beenden. „Doch hat er sich in deinem Fall für seine Lust keine der königlichen Damen ausgesucht und schon gar keine Gottesgemahlin, sondern eine Gärtnerstochter, die mit bloßen Händen in der Erde grub.“

Seni-seneb wurde bleich. „Es war der weise Ratschluss des Gottes, der ihn mich als Mutter des Pharaos aussuchen ließ.“

„Wohl wahr“, wiederholte sich Ahmes. „Aber es war die Weisheit Ah-hoteps, die aus deinem Sohn erst einen Herrscher geformt hat.“

„Ihr seht“, versuchte Pharao, die verschiedenen Argumente zu einem positiven Schluss zusammenzufassen, „dass ein jeder von uns der großen Ah-hotep viel zu verdanken hat.“

Dem Oberpriester Hapu-seneb war es halbwegs peinlich, Ohrenzeuge dieser eher familiären Unterhaltung zu sein. Also bat er darum, sich zurückziehen zu dürfen, gab es doch noch genügend vorzubereiten, um die Prinzessin als Gottesgemahlin des Amun einzusetzen.

„Ja, auch ich habe noch zu tun“, schloss sich Pharaos Haushofmeister an und verneigte sich. „Die Einbalsamierer sind zu verständigen und wir müssen Briefe an unsere Freunde und Verbündete schreiben, die sie vom Ableben der Großen königlichen Gemahlin unterrichten.“

Pharao winkte geistesabwesend, als er beiden gestattete, sich zu entfernen. Schnell leerte sich Hat-schepsuts Wohnung, während die beiden Leibwächter vor der Tür Stellung bezogen. Auch die Große königliche Gemahlin Ahmes verabschiedete sich, um auf die Einhaltung der Trauer im Palast sowie im ganzen Land zu achten. Außerdem musste eine ganze Armee von Herolden ausgesandt werden, um das Volk von Ah-hoteps Ableben zu informieren. Mut-nofret wies ihren Sohn Thot-mose darauf hin, dass er seiner dringend notwendigen Körperpflege noch nicht nachgekommen sei. Das Bad sei sicherlich schon längst vorbereitet und er wisse ja, wie wichtig es war, dass es heiß genommen werden musste. Schicksalsergeben drückte Thot-mose den Affen an sich und verabschiedete sich von Vater und Schwester. Auch Seni-seneb verneigte sich vor Sohn und Enkeltochter, um in den Tempel zu eilen, damit sie für Ah-hotep zu den Göttern beten könne. Wollte sie sich doch von niemandem nachsagen lassen, dass sie undankbar sei. Schließlich waren Vater und Tochter wieder allein.

„Sobald du als Gottesgemahlin des Amun eingesetzt bist“, sagte Pharao zu Hat-schepsut, „wünsche ich, dass du an allen Besprechungen, Audienzen und Ratsversammlungen teilnimmst. Du wirst die täglichen Geschäfte eines Herrschers von Kemet kennen lernen. Du wirst erste Entscheidungen treffen und dich an die Verantwortung gewöhnen, die auf dich wartet.“ Zärtlich nahm er die Hand seiner Tochter in die seine. „Der Hofstaat ist loyal und wird dich, wo immer es nötig sein wird, unterstützen. Ich werde darauf achten, dass man dir den nötigen Respekt entgegenbringt. Um die Amun-Priester musst du dich jedoch selbst kümmern. Mach sie dir gewogen, sei eine gute Gottesgemahlin des Amun. Dann wird alles gut.“

„Es wird alles gut“, entgegnete Hat-schepsut stolz. „Ich bin ebenso Amuns Tochter wie du sein Sohn bist oder mein zukünftiger Brudergemahl Thot-mose. Und ich werde einfach immer nur daran denken, was Ah-hotep an meiner Stelle getan hätte.“

Gottesgemahlin des Amun

Die siebzig Tage der Einbalsamierungszeit waren wie im Flug vergangen und Hat-schepsut hatte sie zu nutzen gewusst. Nach reiflicher Überlegung hatte sie sich entschlossen, den Palast der Gottesgemahlin doch zu beziehen. Es war Zeit, von dem Haremsgeschwätz fortzukommen und der ständigen Überwachung durch ihre Mutter, der Großen königlichen Gemahlin Ahmes, zu entrinnen. Wer im Harem lebte, hatte sowieso nichts zu sagen. „Sobald du kannst, musst du da raus“, hatte Ah-hotep ihr immer wieder eingeschärft, und so wollte Hat-schepsut die Gelegenheit nun auch wahrnehmen. Wenigstens war Thot-moses Wohnung gleich die erste im königlichen Palast, so dass sie gleichsam Tür an Tür leben würden. Vor zwei Jahren erst hatte man Thot-mose im dunkelsten Winkel des Palastes, in dem sich auch der Übergang zum Amun-Tempel befand, eine kleine Wohnung zugewiesen. Vielleicht würde ihre Lage sich nun sogar als Vorteil herausstellen. Denn zwischen die beiden Gebäude hatte man, wie es Hat-schepsut auszudrücken beliebte, den Palast der Gottesgemahlin hineingequetscht. Vielleicht, so überlegte Hat-schepsut, sollte man einen Mauerdurchbruch machen, um Thot-moses Wohnung direkt mit ihrem Palast zu verbinden. Aber das hatte alles auch später noch Zeit.

Allein die Vorbereitung des so lange unbewohnt gebliebenen Gemäuers beschäftigte sie in jeder freien Minute. Ah-hotep, die letzte amtierende Gottesgemahlin des Amun, hatte nicht in jenem ihr zustehenden Palast wohnen wollen. Sie blieb lieber in ihrer Wohnung im königlichen Palast. Selbstverständlich hatte während der ganzen Zeit das gesamte Hauspersonal, einschließlich der Musiker, weiterhin zur Verfügung gestanden. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich mit der Zeit so manche Eigentümlichkeit eingeschlichen hatte. Warum sollte man einer nicht anwesenden Person Tag für Tag frisch zubereitete Mahlzeiten auf den Tisch stellen? Warum Truhen von Räucherwerk verbrennen, wenn niemand da war außer den Bediensteten? Warum Musiker auftreten lassen, denen niemand lauschte? Glücklicherweise hatte Hat-schepsut ihre Amme Sit-Re an der Seite, der man in Bezug auf Organisation und Wirtschaftlichkeit eines Haushaltes nichts vormachen konnte. So wehte schnell ein frischer Wind durch den verstaubten Palast.

Seit Ah-hotep seinerzeit den Titel der Gottesgemahlin des Amun für ihre Tochter Ah-mose Nefertari ersonnen hatte, war der Palast nahezu unverändert geblieben. Hat-schepsut fand ihn grässlich finster und altmodisch. Schon Ah-hotep hatte ständig über die kleinen, verwinkelten und allesamt irgendwie miteinander verbundenen, dunklen Kammern geklagt, so dass Hat-schepsut nun angeordnet hatte, ihn gründlich umzubauen. So ließ sie die Front zum Garten hin über die gesamte Breite des Palastes durch eine offene Säulenhalle ersetzen. Welch ein Geschrei erhob sich daraufhin! Es ginge nicht und sei völlig unmöglich, wurde immer wieder behauptet. Einmal war es ein Sakrileg, den alt-ehrwürdigen Palast derart zu verändern, dann waren es wieder statische Probleme, die vorgeschoben wurden. Schließlich fing Onkel Pen-Nechbet noch an, sich als General des Heeres um die Sicherheit Sorgen zu machen. „Ein geübter Bogenschütze …“, brummte er mit solch finsterer Miene, dass einem Angst und Bange werden konnte. Die Familie habe ja schon hinreichend Erfahrungen mit tödlichen Pfeilen gemacht, war doch auch Prinz Ahmose-Sa-pair, der Vater Pharaos, von solch einem Geschoss ums Leben gebracht worden. Sogar Pharao hatte sich schließlich besorgt gezeigt. Doch so schnell gab Hat-schepsut nicht auf. Sie konnte Pen-Nechbet davon überzeugen, dass die Bemühungen um Sicherheit eben bereits an den Außenmauren des Palast- und Tempelkomplexes greifen müssten, so dass man sich in seinem Inneren sicher fühlen konnte.

Mit dem Oberpriester Hapu-seneb war sie noch schneller einig geworden. Er mochte sie, wie sie immer wieder feststellen durfte und ja, Hat-schepsut mochte ihn ebenso. Also behandelte sie ihn freundlich und zuvorkommend, ließ aber keinerlei Zweifel daran, dass nach ihrer Meinung die Erhabenheit aller vorangegangenen Gemahlinnen des Amun nicht im Geringsten in Frage gestellt sei, wenn die gewünschten Veränderungen vorgenommen würden. Sogar als sie darauf bestand, einige der Räume von den Malern aus Kefdet ausgestalten zu lassen, überwand Hapu-seneb seine ursprünglichen Einwände und ließ sie schließlich gewähren. Die vorgeschobenen statischen Probleme wurden durch einen ihrer Lehrer unter den Amun-Priestern entkräftet. Binnen einer einzigen Nacht schuf er einen viel bewunderten Entwurf für den Umbau, der dann schließlich auch umgesetzt wurde. Eigentlich war es ja Sen-en-Muts Aufgabe, Hat-schepsut in die Pflichten einer Gottesgemahlin des Amun sowie in die Geheimnisse der Verwaltung des Tempels einzuweihen. Die meiste Zeit des Tages saß sie also mit dem Lehrer beisammen und hörte sich an, welches ihre Aufgaben waren und was alles es zu berücksichtigen galt. Der Tempel des Amun war ein weitverzweigtes Wirtschaftsunternehmen, das Tausenden von Menschen Arbeit und Brot gab. Wie sie erstaunt feststellte, war die Verwaltung ähnlich groß wie jene des südlichen Kemet, die im königlichen Palast zu Waset untergebracht war. Selbst im Delta hatte der Tempel des Amun Liegenschaften, um unabhängig zu sein von unregelmäßigen Papyrus-Lieferungen. Aber auch die täglichen Riten galt es für Hat-schepsut zu vollziehen, die bei Abwesenheit der Gottesgemahlin jedoch ausnahmsweise auch von einem Priester des Vertrauens durchgeführt werden konnten. Jede der Riten, jede Opfergabe, jedes Gebet hatte seine Bedeutung und seinen Ursprung, die man freilich kennen musste, um den Sinn in seiner Gesamtheit zu verstehen. Manchen Abend brummte Hat-schepsut der Schädel und sie hätte sich am liebsten gleich in ihr Bett zurückgezogen. Doch dann ging es weiter mit der Umgestaltung ihres Palastes. Anfangs meinte ihre Mutter, die Große königliche Gemahlin Ahmes, ihn nach Gutdünken ausstatten zu können, doch auch hier bestand Hat-schepsut darauf, das letzte Wort zu haben. So waren ihre Ausflüge in die Palastwerkstätten und Schatzhäuser bald berüchtigt. Sie erschien dort jedoch nie mit leeren Händen. Entweder brachte sie Statuen von alt-ehrwürdigen Verblichenen aus dem Palast mit, die ohne Schwierigkeiten wieder verwendet werden konnten, indem man die Namen der Dargestellten schlicht ausmeißelte und durch neue ersetzte, oder sie ließ Berge von Kissen und Decken zurückbringen, da ihr deren Farben oder Muster nicht recht gefielen. Jahrhunderte alte Alabastergefäße wurden an die Werkstätten zurückgegeben und gegen neue aus Glas eingetauscht. „In deinem Zimmer lebe bescheiden“, hatte ihr Ah-hotep immer eingeschärft. „Nach außen hin aber zeige, wer du bist. Lass die Menschen keinen Zweifel daran haben, dass du göttlicher Abstammung bist. Lass sie staunen und raube ihnen mit Prunk und Pomp den Atem.“

Ihre Mutter Ahmes war schon immer knauserig gewesen und ihr Vater der Pharao interessierte sich für derartiges sowieso nicht. Er dachte praktisch und all das Gebimmel und Gebammel, mit dem man sich ausstaffieren konnte, war ihm nur lästig. „Lass doch das Kind, wenn es ihr Freude macht“, entgegnete er seiner Großen königlichen Gemahlin als sie wieder einmal die Verschwendungssucht der Tochter zur Sprache brachte. Er hoffte dabei immer nur inständig, dass seine kleine Tochter den großen Rahmen, den sie für sich absteckte, auch würde mit Leben erfüllen können, ohne sich lächerlich zu machen. Doch Hat-schepsut tat genau das Richtige: Sie wählte die erlesensten Dinge, die sie umgeben sollten und zeigte sich dabei jedoch als bescheiden gekleidetes, humorvolles und den Menschen stets wohlwollend zugewandtes Mädchen. „Erobere die Herzen der Menschen“, hatte Ah-hotep ihr geraten. „Deine Untertanen müssen die loyalsten Verbündeten sein, die du hast. Lass das Volk dich lieben.“

Tag und Nacht wurde am Umbau des Palastes gearbeitet, damit Hat-schepsut gleich nach Ah-hoteps Beisetzung zur Gottesgemahlin des Amun ernannt werden konnte und ihr neues Domizil auch bezugsfertig war. Als hätte sie es darauf angelegt, wurde Ah-hotep prompt während der Epanogemen bestattet, jener fünf Zusatztage des Kalenders, die als Geburtstage der Götter Osiris, Horus, Seth, Isis und Nephthys galten. Jeder Monat zählte drei Wochen zu je zehn Tagen und jede der drei Jahreszeiten umfasste vier Monate, so dass jene fünf heiligen Tage eingeführt werden mussten, um ein Jahr von 365 Tagen zu erhalten. Und prompt am ersten jener fünf heiligen Tage, dem Geburtstag des Osiris, wurde Ah-hotep in ihrem Felsengrab zur letzten Ruhe gebettet. Tags darauf, am Geburtstag des Horus, wurde Hat-schepsut in ihr Amt als Gottesgemahlin des Amun eingeführt. Pharao hatte sich entschlossen, bei dieser Gelegenheit auch Thot-mose als Thronfolger zu ernennen. Am liebsten hätte er den Sohn gleich zum Mitregenten erhoben, um ein für alle Male unumstößliche Tatsachen zu schaffen. Doch Pharao wollte ihm dann doch lieber noch ein paar zusätzliche, unbeschwerte Jahre gönnen, die Thot-mose für seine Ausbildung nutzen konnte, ohne bereits jetzt schon etliche Pflichten eines Pharaos erfüllen zu müssen.

Angeregt durch Hat-schepsuts intensive Umbauarbeiten, entschloss sich Pharao, die baulichen Unzulänglichkeiten des Tempel- und Palastkomplexes in Waset ebenfalls zu beseitigen. Das gesamte Areal wurde von einer hohen Mauer umgeben und der Haupteingang zum Tempel neu gestaltet, indem Pharao einen vierten und fünften Pylon errichten ließ, zwischen denen sich sodann eine großzügige Halle mit Osiris-Statuen erstreckte, die mit edlem Zedernholz gedeckt war. Vor den somit neu entstandenen Eingang ließ er ein Paar Obelisken aufrichten, die aus dem rotem Granit gefertigt waren, der nur in Sunu gebrochen wurde. Es dauerte Jahre bis dies alles vollendet war und die Bauarbeiten verursachten derart viel Lärm und Schmutz, dass die königliche Familie, wann immer es ihr möglich war, nach Sedjefa-taui auswich, das eine knappe Tagesreise nördlich von Waset, gegenüber von Gebtu, am westlichen Nilufer lag. So sehr Hat-schepsut die Ruhe und Abgeschiedenheit Sedjefa-tauis auch genoss, so blieb sie doch meistens in ihrem Palast in Waset zurück. War es doch gern gesehen, wenn die Gottesgemahlin des Amun in der Nähe ihres Gatten, des Gottes, und seines Tempels blieb. Denn nur so, wenn die nötigen Riten von ihr entsprechend vollzogen wurden, war die eheliche Gemeinschaft mit dem Gott glaubhaft. Auch ein Gottesweib hatte bei seinem Gemahl zu sein. Da Hat-schepsut ihre Aufgabe überaus ernst nahm, ließ sie sich kaum einmal bei einer der Riten vertreten. Außerdem gab es noch genug für sie zu lernen, so dass sie jeder Tag Abwesenheit fast reute.

Ihr erster Lehrer, der sie in die grundlegenden Dinge um den Amun-Kult einweihte, war der alte Juef. Er hatte schon Ah-hotep beigestanden und war dafür von ihr mit etlichen Ämtern belohnt worden. Ihre lebenslange Dankbarkeit hatte er sich jedoch vor allem deshalb erworben, weil er Ah-hotep auf das verfallene Grab ihrer Großmutter Sobek-em-saf aufmerksam gemacht hatte, dessen Wiederherstellung er schließlich überwachte. Es war seinerzeit während der bürgerkriegsähnlichen Unruhen unter Teti-an zerstört und ausgeplündert worden. Ah-hotep vergaß Juefs fürsorglichen Einsatz nie. Aber auch Hat-schepsuts Mutter Ahmes hielt große Stücke auf den besonnenen, alten Mann. Sie hatte ihm eigene Ländereien zugesprochen und ihn bis zum Ende seiner Tage mit einer täglichen Lebensmittelzuwendung belohnt. Hat-schepsut schätzte den gutmütigen Alten ebenfalls, war sich aber nicht sicher, ob seine Loyalität nicht doch vor allem ihrer Mutter galt. Sie vermutete, dass er sie über Hat-schepsuts Fortschritte sowie über die Vorgänge im Palast der Gottesgemahlin genauestens informierte. Sie ließ ihn gewähren, gab es ihrer Ansicht nach doch nichts, was Ahmes nicht hätte erfahren dürfen.

Ein weiterer ihrer Lehrer war jener Sen-en-Mut, der seine Begabung als Baumeister überraschend offenbart hatte, als er den Umbau ihres Palastes entwarf. Er stammte aus dem eine halbe Tagesreise weiter südlich gelegenen Iunu-Monthu und kam aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater Ra-mose war Gärtner und hatte es im Lauf seines Lebens zu bescheidenem Wohlstand gebracht, indem er eigenes Land hatte erwerben können, auf dem er die Pflanzen züchtete, die er schließlich in die Gärten der Reichen pflanzte. Sen-en-Mut hatte drei Brüder und zwei Schwestern und sein Vater hatte größten Wert darauf gelegt, dass jedes seiner Kinder lesen und schreiben lernte. Und da Pharao Amun-hotep, seiner Großmutter Ah-hotep folgend, davon überzeugt war, dass der wahre Reichtum eines Landes in den Begabungen seiner Kinder lag, wurde der fähige Nachwuchs unter ihm besonders gefördert. Schon jung kam Sen-en-Mut also an den königlichen Hof nach Waset und besuchte die Palastschule. Dort wurde General Pen-Nechbet auf ihn aufmerksam, der ihn gern als Offizier gesehen hätte. Schnell hatte Sen-en-Mut in der Armee Karriere gemacht, entschied sich dann aber doch, sich den Amun-Priestern anzuschließen. Auch dort wurde man schnell auf seine überragenden Scharfsinn und beeindruckenden Fähigkeiten aufmerksam, so dass er schon bald zum Vermögensverwalter des Amun aufstieg. Somit trug er die Verantwortung für den gesamten Besitz des Amun-Tempels in Waset und sämtlicher angeschlossenen Tempel, mit allen Vorräten an Edelmetall und Edelsteinen, Ländereien, Viehherden, und sonstigen Wirtschaftsbetrieben. Der Oberpriester Hapu-seneb vertraute ihm blind und auch seine neue Schülerin, die zur Gottesgemahlin des Amun ernannte Tochter des Königs war von der Weisheit und Loyalität des Mannes zutiefst beeindruckt. Hat-schepsuts Nennonkel Pen-Nechbet unterstützte sie darin, indem er ihr bestätigte, welch große Stücke er auf Sen-en-Mut hielt. Eigentlich war Pen-Nechbet nur ein angeheirateter Onkel, da er Ah-mose Inhapi geheiratet hatte, die jüngste Schwester Ah-hoteps, die somit um etliche Jahre älter war als ihr Ehemann. Pharao Amun-hotep hatte Pen-Nechbet für seine Verdienste bei den nubischen Feldzügen riesige Ländereien im Grenzgebiet zu den eroberten Gebieten Nubiens übereignet. Dort lebte er einige Jahre zufrieden und sein Weib gebar ihm ein Kind nach dem anderen, obwohl sie schon längst die Vierzig überschritten hatte. Doch jeder, der sie kannte, schätzte Ah-mose Inhapi um mindestens zehn Jahre jünger ein. Als sie schließlich mit sechzig starb, setzte Pen-Nechbet einen Verwalter für die Güter ein und ging mit seinen sechs Kindern wieder nach Waset an den königlichen Hof zurück. Sehr schnell lernte er dort Ipu kennen, deren Aufgabe es war, die Haushalte des königlichen Harems zu betreuen. Und da er schon allein wegen der Kinderschar dringend eine Gemahlin an seiner Seite brauchte, vermählte er sich mit der tüchtigen, um Jahrzehnte jüngeren Frau. Eigentlich gehörte er seit Ah-mose Inhapis Tod ja nicht mehr zur königlichen Familie, doch da Pharao die Loyalität sowie die Fähigkeiten Pen-Nechbets überaus schätzte und jeder in der Familie ihn aufrichtig mochte, blieb er dennoch ein geschätztes Familienmitglied.

Als hätte sie es geplant, war es also der Geburtstag des Osiris, an dem die Beisetzung Ah-hoteps stattfand. Dutzende von Booten und Barken mit den Mitgliedern der königlichen Familie, den Würdenträgern und Adeligen, den Generälen und Admiralen, den obersten Priestern, den ersten Sängerinnen und Tänzerinnen sowie deren Familien überquerten den Nil, um den riesigen vergoldeten Sarkophag auf seiner letzten Reise zu begleiten. Es folgten die Schreiber und Beamten, die Angestellten des Palastes und die Handwerker der königlichen Werkstätten. Wie ein Schwarm von Bienen scharten sie sich um die königliche Barke, die den goldenen Sarg trug, der in den ersten Strahlen der Sonne wie ein übergroßes Trugbild strahlte. Pharao hatte Hunderte von Rauchgefäßbetreuern in den Booten mitfahren sowie an den Ufern aufstellen lassen, so dass sich das Räucherwerk ebenso schwer über den Fluss legte wie der monotone Gesang der Priester und ihn zu einer geheiligten Zone werden ließ. Das Volk, das die Verstorbene aufrichtig verehrte, war zu Zehntausenden gekommen, um der Großen königlichen Gemahlin Ah-hotep das letzte Geleit in den Westen zu geben. Auf dem Nil wimmelte es nur so vor kleinen Papyrusbooten, die in gebührendem Abstand der königlichen Barke mit dem Sarg folgten. Am westlichen Ufer sorgte schließlich ein Spalier von Räuchergefäßen dafür, dass die Verstorbene auf dem Weg zu ihrer Grabstätte nur durch gereinigte Luft getragen wurde. Ergriffen waren die meisten Zuschauer am Ufer zurückgeblieben und sahen die Trauergemeinde in den betörenden Rauchschwaden verschwinden. Andere, die Ah-hotep persönlich gekannt hatten oder sie aber auch nur ganz besonders verehrten, folgten dem Zug bis er die Felsen erreicht hatte.

Die Beisetzung selbst fand schließlich in den schroffen Berghängen nur im engsten Familienkreis statt. Während Pharao die letzten Riten zelebrierte und allergrößte Mühe hatte, nicht in Tränen auszubrechen, weinte seine Mutter Seni-seneb hemmungslos. Die Große königliche Gemahlin Ahmes verdrehte die Augen, offenbarte ihrer Meinung nach die Tochter des Palastgärtners mit diesem Verhalten doch nur ihre niedere, nicht königliche Abkunft. Hat-schepsut riss sich also zusammen und biss sich auf die Unterlippe, damit sie bloß nicht ebenfalls zu weinen begann. Ihr Halbbruder Thot-mose jedoch, der am nächsten Tag zum Thronfolger erklärt werden sollte, schluchzte erbarmungswürdig und versuchte krampfhaft, nicht vollends von der Trauer durchgeschüttelt zu werden. Der Affe auf seiner Schulter war völlig durcheinander und büchste bei der nächsten Gelegenheit aus, nur um sich zu Füßen von Ah-hoteps aufgerichtetem Sarg niederzusetzen und erbärmlich zu kreischen. Dabei klopfte er sich ständig an den Kopf, als wolle er den Anwesenden damit etwas mitteilen. Ahmes zischte ihren Stiefsohn an, dass er sich gefälligst um die Bestie kümmern solle, so dass der arme Thot-mose nicht recht wusste, wie er möglichst unauffällig wieder seines Schoßtiers habhaft werden sollte. Pharao griff entschlossen zu und setzte den zappelnden Wicht seinem Sohn zurück auf die Schulter, während Hat-schepsut die zitternde Hand des Thronfolgers in die Ihre nahm und fest drückte. Selten einmal hatte sie in dankbarere Augen geblickt und Thot-mose ließ die Hand seiner Schwester nicht mehr los, bis sie am Ende des Tages wieder im Palast zu Waset angelangt waren.

Bis spät in die Nacht saß die Familie im großen Saal des königlichen Palastes beisammen und gedachte der Dahingeschiedenen. Sänger sangen Lieder über die große Frau und rühmten sie als Befreierin Kemets. Pharao rief allen ins Gedächtnis welche Ehrungen Ah-hotep bereits erfahren hatte und welche Verehrung noch in Zukunft zu erwarten war. Schließlich wurde Hat-schepsuts dumpfe Trauer von strahlendem Stolz abgelöst, dieser bedeutenden Frau so nahe gestanden zu haben. Entgegen der üblichen Einschätzung sah Hat-schepsut Ah-hoteps Bedeutung nicht einmal in erster Linie darin, dass sie an der Befreiung Kemets so entschieden mitgewirkt hatte. Sie war vor allem deshalb Hat-schepsut Heldin, weil sie der Welt gezeigt hatte, dass königliche Damen ebenso gerecht und gut und zum Vorteil des Landes herrschen konnten, wie königliche Prinzen auch. „Es mag noch ein wenig dauern“, pflegte Ah-hotep zu sagen, „aber eines Tages wird es einerlei sein, ob eine Frau oder ein Mann auf dem Thron sitzt.“ Seltsamerweise war es ihr Vater, der Pharao, der Hat-schepsut stets darin bestärkt hatte, dass es nichts gäbe, was Mädchen nicht auch tun könnten.

Am nächsten Tag, der östliche Horizont war kaum grau geworden, brach Hat-schepsut in aller Frühe zum Amun-Tempel auf. Sie wusste, dass ihr stundenlange Riten bevorstanden, mit denen sie als Gottesgemahlin des Amun bestätigt werden sollte. Sie würde Amun höchstselbst im tiefsten Inneren seines Tempels begegnen, wie er sich in einer Statue aus purem Gold verdinglichte, das ja schließlich das Fleisch der Götter war. Die immer kleiner und düsterer werdenden Räume des Tempels ließen sie schaudern. Die Räucherwaren und die verschiedenen Trünke von denen sie kosten musste, hatten sie schnell ganz benommen gemacht. Schließlich stand Hat-schepsut nach unzähligen Gebeten und Riten im finsteren Allerheiligsten. Nur der Oberpriester sowie Pharao und nun auch sie hatten Zutritt und durften in das Antlitz des goldenen Gottes schauen. Er war überraschend klein, stellte Hat-schepsut enttäuscht fest. Das flackernde Licht der Fackeln ließ das Gesicht Amuns allerdings sich ständig verändern, so dass man in einem Augenblick in ein streng dreinblickendes Angesicht sah und im nächsten in ein freundlich lächelndes. Hat-schepsut konnte nun tatsächlich nicht mehr ausschließen, dass der kaum mehr als einer Elle großen Götterstatue doch so etwas wie Leben innewohnte. Irgendwann streiften zwei Priester, denen man die Augen verbunden hatte, damit sie des Gottes nicht ansichtig wurden, die Kalasiris von ihren Schultern. Hat-schepsut fragte sich, wie ihnen das trotz ihrer verbundenen Augen so mühelos gelang. Nun stand sie nackt und bloß vor dem Gott. Sie hoffte, dass er sich bald äußern möge, denn sie fühlte sich von dem goldenen Gesicht begutachtet und abgeschätzt. Es war ihr jedoch unmöglich, die Regungslosigkeit des Gottes zu deuten. Schließlich erklärte der Oberpriester Hapu-seneb, dass Amun eine Antwort gegeben habe: Er zeige Wohlgefallen an dem, was er sah und erkenne die Königstochter mit Freude als seine geliebte Gemahlin an. Hat-schepsut, die Tochter Pharaos, wurde von nun an also von einem Gott geliebt und begehrt. Mit ihr würde er göttliche Kinder zeugen wollen, denn sie war es, die groß genug war, um an seiner Seite zu stehen. Nun wurde Hat-schepsut in schwere Kleider gehüllt, die sie zu einer gottgleichen, goldenen Erscheinung werden ließen. Man setzte ihr die schwere Geierhaube aufs Haupt und darauf noch die Nechbetkrone, die aus sich aufrichtenden Schlangen aus purem Gold gefertigt war. Sie war unvorstellbar schwer und Hat-schepsut hatte Mühe, unter ihrem Gewicht den Kopf gerade zu halten. Sie fühlte sich benommen, als sie an der Seite ihres Vaters und Hapu-senebs den Weg aus dem Allerheiligsten zurückging. Die Räume wurden wieder größer, die Decken höher und immer häufiger drang Tageslicht durch schmale Luken in den Tempel.

Plötzlich wurde ein Tor aufgestoßen. Hat-schepsut war, als spränge ihr die Sonne ins Gesicht, so geblendet war sie von ihrem Licht. Sie sah nichts als gelbliches, gleißendes Weiß. Zugleich hörte sie ein Rauschen, das so klang, wie sie sich immer ein tosendes Meer vorgestellt hatte oder einen Sturm, der durch die Zedern des sagenhaften Lebnon-Gebirges fegte, als heulten Tausende von Tieren aller Art. Doch es waren Menschen ‑ Hunderte, Tausende, ach was, Zigtausende … Sie schrieen sich ihre Freude von der Seele, dass Gott Amun ein Weib aus ihres Königs Familie erwählt hatte. Ihre Aufgabe als seine Gemahlin würde es nun sein, den Gott glücklich zu machen. Und ihm Kinder zu schenken, wenn sie erst einmal die Große königliche Gemahlin von Thot-mose war. Gott Amun hatte sie vor allen anderen königlichen Damen auserkoren, sein Weib zu sein.

Wie schön sie doch war, staunte das Volk. Überirdisch strahlte das kleine Persönchen und gab sich tapfer Mühe, den Kopf unter dem Gewicht der Schlangenkrone aufrecht zu halten. Hat-schepsut spürte die Liebe der Menschen, die ihr entgegen geschrieen wurde und war sich auf einmal unsicher, ob sie diese überwältigende Zuneigung auch verdient hätte; denn eigentlich hatte sie ja gar nichts weiter getan. Doch Gott Amun hatte etwas getan: Er war es gewesen, der sie aus all den Sterblichen ausgesucht hatte, um sie zu seiner Gemahlin zu machen. Kaum jemand war dem Gott jemals so nah gekommen wie sie. Nur die ehrwürdigen Pharaonen und Oberpriester sowie ihre Vorgängerinnen. So sehr sie der Jubel auch verstörte, so sehr genoss sie ihn andererseits auch wieder. Als kleines Mädchen war es ihr immer unheimlich gewesen und machte ihr manches Mal sogar Angst, wenn die Massen brüllten, sobald sie sich mit ihrem Vater oder ihrer Mutter irgendwo zeigte. Das Geschrei verstörte sie, da es im Palast verpönt war, die Stimme zu erheben. Erst nachdem Ah-hotep ihr erklärt hatte, dass dies des Volkes Ausdruck der Zuneigung sei und somit ein großes Geschenk, konnte sie sich schließlich an den Jubel der Massen gewöhnen. Inzwischen war er für sie jedoch so etwas wie ein Darlehen geworden, das ihr vom Volk gewährt wurde, gleichwohl aber eines Tages eingelöst werden musste. Ja, sie wusste, dass sie den Menschen ihre Zuneigung und Treue würde vergelten müssen und sie war fest entschlossen, alles dafür zu tun. Sie würde diejenige sein, die dem Volk ihr Ohr schenkte und immer darauf achtete, dass es ihm gut ging. Wie eine Mutter würde sie dem Volk sein. So jedenfalls nahm sie es sich vor.

Der Tag war wie im Flug vergangen und ließ Hat-schepsut die größten Gegensätze erfahren. Absolute Dunkelheit und strahlendes Licht, schweres drückendes Schweigen und das Geschrei der Massen; sie empfand tiefste Weltabgeschiedenheit, um dann Augenblicke später wieder umjubelter Mittelpunkt allen Geschehens zu sein. Die meisten Gesichter, in die sie geblickt hatte, waren voller Freude und Glück, voller Zuversicht und Zustimmung. Und auch als die Herolde verkündeten, dass ihr Halbbruder Thot-mose durch Gott Amun als Thronfolger bestätigt worden sei, indem er seine, durch Pharao umgesetzte Vaterschaft anerkannte, wollte der Jubel kaum abreißen. Erwartete man doch nun auch, dass die Gottesgemahlin des Amun bald zur Großen königlichen Gemahlin des Thronfolgers werden würde. Es könnte kaum ein größerer Segen über der königlichen Familie und dem ganzen Land liegen.