Khors Fahrten - Wieland Barthelmess - E-Book

Khors Fahrten E-Book

Wieland Barthelmess

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Beschreibung

Von Stonehenge bis zu den Pyramiden Ägyptens. Vor Jahr und Tag waren Khor und seine drei Gefährten am Mittelberg aufgebrochen, um das Wissen der Welt zu suchen. Sie hatten sich dem Händler Gwenaël angeschlossen, der sie auf seinem Schiff bis weit ins Baltische Meer brachte, wo sie durch eine glückliche Fügung einen großen Bernsteinschatz erwerben konnten. Den Winter verbrachten die Freunde in der Nähe des Großen Steinkreises auf Gwenaëls Insel. Nach der Frühjahrstagundnachtgleiche stechen sie nun abermals auf Gwenaëls Schiff in See: Khor, dem sich der Wolfshund abermals anschließt, sowie seine drei Freunde, der Oberpriester Broc, der Kriegerpriester Ottel und Sarti, der einmal Gehörtes und Gesehenes für immer im Gedächtnis behält. Ihr Ziel sind die "weißen, von Menschen errichteten Berge" im Land am Nil. Sie lernen die schroffe Küste der Bretagne mit ihren uralten geheimnisvollen Megalithbauten kennen, erleben in Kharrenac (Carnac) den Wandel der alten Gesellschaftsformen, treffen auf Oie (Île d'Yeu) einen Schiffsführer aus Ugarit und helfen den Bewohnern von Khorun (A Coruña), die letzten umherstreifenden Jäger und Sammler zu befrieden. Alisubbo (Lissabon) ist die erste wirkliche Großstadt, die sie besuchen und in Gadir (Cadiz) erleben sie, wie Siedler aus vier unterschiedlichen Kulturen zusammenleben. Im Südosten der iberischen Halbinsel treffen sie auf die hochentwickelte El-Argar-Kultur und auf Ibusim (Ibiza) werden sie Zeugen, wie diese Kultur sich immer weiter ausbreitet. Sie besuchen Sardinien und Sizilien, überstehen die gefährlichen Strudel in der Meerenge von Messina und lernen den Süden Italiens kennen. Von Korfu aus erkunden sie das Land der Achijawa (Achäer), reisen zum Nabel der Welt nach Delphys (Delphi) und wandern zu Fuß durch den Peloponnes, wo sie in Tiryns wieder auf Gwenaël und sein Schiff treffen.

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Wieland Barthelmess

Khors Fahrten

Eine Reise durch die Welt der Bronzezeit

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog: Aufbruch

Erstes Buch: Gwenaëls Sippe

Vetter Gurvan

Vetter Kharec

Tante Yuna

Felsenküsten

Gwenaëls Seelenmeister

Die Steinreihen von Kharrenac

Die Rote Gaëlle

Vetter Adgair

Bei den Salzfeldern

Hamil-kahar

Zweites Buch: Fremde Welten

Khorun

Am Ende der Welt

Ramall

Bajonn

Phenix

Alisubbo

Eschmun

Tarschisch

Gadir

Drittes Buch: Im Südlichen Meer

Argara

Massia

Ilfaskia

Ibusim

Von Insel zu Insel

Elster und Rotfuchs

Tante Abinisia

Kheralos

Illacabra

Kephalon

Feuer speiende Inseln und Wasserstrudel

Amejo

Im Dock

Melisso

Viertes Buch: Das Licht des Ostens

Ithakion

Delphys

Korinthos

Im Land der Achijawa

Nemea

Mykene

Argos

Tiryns

Kuthira

Die Hörner des Stieres

Kydonija

Aminiso

Konosso

Die Bienen der Daneja

Kalliste

Syrna

Ialysos

Fünftes Buch: Die weißen Berge

Attaleia

Anemurion

Alaschija

Yakub-Hor

Ugarit

Ammistamru

Gebal

Tyros

Akko

Ghazza

Im Reich des Seth

Senu

Nilaufwärts

Avaris

Die Stadt der Katzen

Iunu

Im Sand der Sphinx

Men-nefer

Anhang: Glossar

Karte zu Buch 1: Gwenaëls Sippe

Karte zu Buch 2: Fremde Welten

Karte zu Buch 3: Im Südlichen Meer

Karte zu Buch 4: Das Licht des Ostens

Karte zu Buch 5: Die Weißen Berge

Impressum neobooks

Prolog: Aufbruch

„Verflucht! War das wieder kalt geworden!“

Khor zog sich den Mantel über den Kopf, so dass nur noch seine Augen herausschauten. Gedankenverloren blickte er auf die zu seinen Füßen liegende Stadt Twynavon, in der er die vergangenen Wintermonde verbracht hatte. Und er blickte weit ins Land, das ihm währenddessen fast zur zweiten Heimat geworden war. Dort, wo es sich im Morgendunst verlor, wusste er, dass das Meer sich endlos bis zum Horizont erstreckte. Morgen, endlich, war es soweit. Morgen würde er mit seinen Freunden aufbrechen, das Unbekannte zu erforschen und um jenes Wissen zu sammeln, das andernorts schon längst anerkannte Wahrheit war.

Khor musste an seine Familie denken, die irgendwo, weit weg von hier, in Richtung der aufgehenden Sonne in ihrer Kate an den Ufern der Uneströdu lebte. Das Gesicht seiner Mutter war ihm plötzlich so klar vor Augen, als stünde sie leibhaftig vor ihm. Wie immer hatte sie rote Wangen vor Geschäftigkeit. Er stellte sich vor, wie sie ihn liebevoll anlächelte. Wie oft hatte er gefürchtet, ihr Gesicht endgültig aus dem Gedächtnis zu verlieren und sich nicht mehr daran erinnern zu können. Doch nun hatte er es klar und deutlich vor Augen. Und mit den vom Rupfen eines jungen Schwans hängen gebliebenen weißen Flaumfedern sah es aus wie ein prächtiger Fliegenpilz. Khor lachte. Er musste auch an seinen Vater denken, den wortkargen, ruhigen Mann, dessen klugen Rat er so oft vermisst hatte. Und natürlich an die kleine Perachta, die jüngste seiner Schwestern, aus der mittlerweile sicherlich ein so hübsches wie kluges Mädchen geworden war. Selbst sein Bruder Njörd, der alte Quälgeist, war ihm plötzlich so nah, als ob er unmittelbar vor ihm stünde. Fast meinte Khor seine durchdringende Stimme zu hören. Er lächelte, als er spürte, wie sein Herz warm wurde.

Von dem in der Nähe seiner elterlichen Hütte liegenden Mittelberg war er vor Jahr und Tag nach drei Lehrjahren bei den Priestern aufgebrochen und hatte jene zurückgelassen, ohne die zu leben er sich damals nicht recht hatte vorstellen können. Seine Großmutter, so hatte er durch Zufall erfahren, war kurz nach seinem Fortgehen gestorben. Khor merkte, wie seine Kehle von Heimweh und Sorge zugeschnürt wurde. Ging es den anderen auch allen gut? Khor wusste, dass es so schnell keine Antwort auf diese ihn quälende Frage geben würde.

Er musste an Yasemin denken sowie an den kleinen Khor, ihren gemeinsamen Sohn, den er doch eigentlich kaum kannte. Gerade einmal, dass er wusste, dass es ihn überhaupt gab und wie er aussah. Hatte Chrabor, der Gaukler, der mit Yasemin durchs Land zog, die beiden behüten und auch weiterhin so gut wie bisher für sie sorgen können? Auch diese Frage, das wusste er, würde auf lange Zeit unbeantwortet bleiben müssen. Sein Freund Gwenaël, auf dessen Schiff sie morgen in die Welt fahren würden, hatte ihn immer gewarnt: „Wer zu häufig zurück schaut, muss aufpassen, dass er nicht an den Klippen zerschellt, die noch vor ihm liegen.“ Khor nahm sich wieder einmal vor, fest daran zu denken.

Die letzten Monde waren anstrengend gewesen. Tag um Tag hatte er mit seinen Gefährten Broc, Sarti und Ottel beisammen gesessen, mit denen er vor ziemlich genau einem Jahr aus ihrem Dorf in den Wäldern des Festlandes aufgebrochen war. Sie waren ausgezogen, um die Weisheit der Welt für sich und ihr Volk zu suchen. So hatten sie die Wintermonate bei Gwenaël und seiner Sippe auf der Insel inmitten des Meeres verbracht und an jenen Grundsätzen gearbeitet, um die ihr Freund sie gebeten hatte. Vier derart gebildete und das Wissen der Welt zusammentragende Menschen, hatte Gwenaël bislang noch nie getroffen. Also war er der Meinung, dass sie es waren, die noch am wahrscheinlichsten eine Lösung für seine Überlegungen finden konnten: Sie sollten Gwenaëls Volk Regeln und Gesetze aufzeigen, nach denen es auskömmlich und friedlich miteinander leben konnte.

Manches Mal war Broc der Verzweiflung nahe, galt es doch, nicht nur allen Mitgliedern von Gwenaëls Sippe gerecht zu werden, sondern auch den Nachbarn, ja, sogar Wildfremden und selbst weniger wohl gesonnenen Menschen. Gwenaël fand dies zwar eindeutig übertrieben, doch Broc hatte ihm erläutert, dass Gerechtigkeit nur dann wirklich gerecht sein könne, wenn sie tatsächlich auch für alle gelte. Ungerechtigkeit gegenüber anderen, einerlei ob beabsichtigt oder nicht, würde immer Widerstand oder gar Feindschaft hervorrufen. Ja, zum Staunen aller hatte Broc schließlich sogar erklärt, dass Gerechtigkeit letztendlich für alle Menschen gelten müsse, auch und gerade gegenüber Fremden und Andersartigen. Ja, selbst seinen Feinden gegenüber müsse man sich um Gerechtigkeit bemühen. „Was taugt ein Recht“, so hatte Broc in die verdutzten Gesichter gefragt, „wenn es nur für einige wenige gilt, für alle anderen aber nicht?“ Broc hatte sofort erkannt, dass jedwede Regel schließlich nur dann Sinn machte, wenn ein jeder sie auch als verbindlich ansehen würde.

„Dann denkt euch die Verhaltensmaßregeln eben so aus, dass sie alle überzeugen“, hatte Gwenaël noch gespottet. „Seid einfach nur einleuchtend!“

So manchen Abend hatte der Schiffsführer mit seiner Frau Coira bei den Freunden am Feuer verbracht und mitgeholfen bei der Suche nach den richtigen Worten. Als wichtigstes Geheiß, dessen waren sich alle sofort einig, sollte das richtige Verhalten gegenüber den Mitmenschen stehen: „Was dir übel und böse erscheint, das tue deinen Mitmenschen nicht an. Was immer du willst, dass die Menschen dir tun, das tue du allen.“

Man hatte sie weltfremde Träumer genannt, als die vier Fremden vom Festland zu den Feierlichkeiten der Wintersonnenwende am Großen Holzkreis erstmals ihre Grundregeln vorstellten. Doch Broc hatte keinerlei Zweifel daran gelassen, dass ein jeder sich entscheiden müsse, ob er sich an diese grundsätzlichen Gebote halten wolle und sich somit als Teil der Gemeinschaft sah, zu der er sich damit zugleich bekannte. Oder ob er sie ablehnte und sich somit außerhalb der Gemeinschaft, ja, der Welt der Verständigen stellte. Zusammenleben erfordere gegenseitige Achtung, hatte Broc seine Absichten in einem Satz zusammengefasst – und damit auch die meisten überzeugt.

Von weit her waren die Menschen gekommen, um wie seit Jahrtausenden die längsten Nächte des Jahres mit nicht endenden Feiern gemeinsam zu verbringen. Unablässig hatten die Feuer gebrannt, über denen das während des Jahres aufgezogene und nun in Dankesriten geschlachtete Vieh gebraten wurde: Schafe von den Inseln des Nordens, Rinder von den Weiden des Südens. Von überall her reisten die Menschen an. Ja, selbst vom Festland waren Besucher gekommen, sei es, weil sie familiäre Bande auf der Insel hatten oder weil sie sich an jenem heiligen Ort Erleuchtung oder aber auch Linderung oder gar Heilung von irgendeinem Gebrechen erhofften. Auch Gwenaëls Tante Una war von ihrem Felsen auf dem Festland herübergekommen. Wortlos hatte sie Khor lange in die Augen geblickt, schließlich stumm genickt und seine Wange getätschelt.

Seit Jahrtausenden waren die Menschen in der dunklen Jahreszeit zusammengerückt, die sie zur Untätigkeit verdammte. Es war die Jahreszeit der Gemeinschaft, die während jener miteinander verbrachten Tage aufs Neue beschworen und gelebt wurde. Wer jetzt keine Vorräte angehäuft hatte, musste zusehen, wie er durch den Winter kam und war auf das Entgegenkommen der Sippe angewiesen. Doch schon seit Generationen hatte es keine Missernten mehr gegeben und man hatte sich an ein auskömmliches Leben gewöhnt. Khor hatte sich aufmerksam umgesehen und schnell festgestellt, dass die Menschen ebenso groß gewachsen und wohlgenährt waren wie bei ihm zu Hause. Auch hier lebte man in dem Bewusstsein, dass es den Menschen noch nie besser gegangen war.

Der Große Steinkreis, der in einiger Entfernung vom Großen Holzkreis lag, galt als einer der heiligsten Plätze der Welt. Selbst für jene, die keinerlei Vorstellung davon hatten, wozu und weshalb er vor Hunderten von Jahren erbaut worden war. Allein die schier unvorstellbare Leistung seiner Errichtung, tonnenschwere Felsbrocken, die aufs Genaueste behauen und schließlich ebenso sorgfältig übereinander getürmt worden waren, machte ihn zu einem der größten Wunder der Welt, von dem selbst Khor als Kind in seinem weit entfernten Dorf inmitten der unendlichen Wälder auf dem Festland gehört hatte. Wie oft hatte er damals aber auch sagen hören, dass der Große Steinkreis nichts weiter sei, als eine Mär. Eine Erfindung, damit die Sänger am abendlichen Feuer etwas Erstaunliches zu berichten hätten. Doch nun hatte er ihn mit eigenen Augen gesehen. Ehrfürchtig war er davor gestanden. War es Khor doch kaum vorstellbar, dass Menschen allein dieses Meisterwerk zu errichten in der Lage gewesen sein sollen. Die zahllosen Geschichten, die von Göttern, Naturgeistern oder gar Riesen von jenseits des Meeres berichteten und die angeblich an der Erbauung des Steinkreises mitgewirkt hätten, erschienen ihm tatsächlich auf einmal gar nicht mehr so abwegig und unglaubwürdig.

Bereits seit Generationen standen die Steinblöcke auf der weiten Ebene nördlich von Twynavon. Doch das Wissen, wozu sie ursprünglich erbaut worden waren, hatte sich im Lauf der langen Zeit verloren, so dass sie inzwischen nur noch umso geheimnisvoller erschienen. Eigentlich waren sie mittlerweile nichts weiter als heilige Steine, von denen ein jeder für eine der Sippen des Landes stand. Sie waren uralt und flößten Ehrfurcht ein vor der Leistung der gemeinsamen Vorfahren. Zugleich war der Steinkreis aber auch zum Inbegriff einer gemeinsamen Vergangenheit geworden, hatten doch die Ahnen aller an seiner Errichtung mitgewirkt. Somit gehörte er auch allen. Der Große Steinkreis war für die Menschen auf Gwenaëls Insel in der Tat der Mittelpunkt ihrer Welt.

In den längsten Nächten des Jahres ging die Sonne genau in einem der durch die Steinblöcke vorgegebenen Fenster unter. Das Volk war nach einer eintägigen Wallfahrt vor dem Großen Steinkreis eingetroffen und wartete auf das alljährliche Schauspiel. Sie waren morgens am Großen Holzkreis aufgebrochen und zunächst die Ufer des Flusses entlanggelaufen. Erhofften sie sich im eiskalten Wasser doch Reinigung von den während des vergangenen Jahres gemachten Sünden und Verfehlungen. Schließlich überquerte man den Fluss und folgte der breiten Prozessionsstraße. Man war ergriffen von dem geheimnisvollen Schauspiel, die sinkende Sonne kurz vor ihrem Verschwinden zwischen den Steinen aufblitzen zu sehen, geradewegs so, als ob sie damit ein Versprechen abgeben wollte, bald wieder länger zu scheinen. Man durchwachte gemeinsam die längste Nacht. Jeder erzählte von seinen Ahnen und deren Taten, bis am nächsten Morgen die Sonne wieder im östlichen Fenster erschien. Doch was es mit diesem beeindruckenden Ereignis eigentlich auf sich hatte, war über die Zeit längst in Vergessenheit geraten. Geblieben war einzig die Gewissheit, dass man in der Lage war, das bislang Unerklärliche in Regeln zu fassen, den Lauf der Sonne und vor allem den des Mondes genau vorhersagen zu können. Auch wenn man sich seine seltsamen Bewegungen nicht erklären konnte, so konnte man sie doch aufs Genaueste voraussagen. Man war den Abläufen der Natur nicht mehr nur ausgeliefert, sondern man wusste um ihre zuverlässige Regelmäßigkeit. Man hatte verstanden, dass selbst die vermeintliche Willkür der Natur, gewissen Regeln gehorchte, auch wenn diese nach wie vor unerklärlich waren.

Die Feierlichkeiten zur Wintersonnenwende waren für die meisten der Besucher nichts weiter als ein mystisches und heilbringendes Erlebnis, das seit Urzeiten überliefert und begangen worden war. Und natürlich war es die willkommene Gelegenheit, einmal im Jahr zusammenzukommen, um die neuesten Nachrichten auszutauschen und um einander wieder zu sehen. Es waren jene gemeinsam verbrachten Tage, die den weit verstreuten Sippen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gaben. Man berichtete einander von den Vorfällen des vergangenen Jahres, bahnte neue Ehen an, stellte der Gemeinschaft seine jüngsten Kinder vor und übermittelte die Grüße und Gedanken der seit dem letzten Zusammentreffen Verstorbenen. Vor allem aber war es eine glückliche Gelegenheit, nach langen Monden harter Arbeit, schließlich auch deren Früchte in der Gemeinschaft genießen zu können.

Für Khor und seine Gefährten war es ein unvergessliches Erlebnis, mitzuerleben, wie sich über Tage Tausende von Menschen um den Großen Holzkreis versammelten, damit sie am Tag der längsten Nacht in einer nicht enden wollenden Prozession, die den Lauf des Lebens darstellte, dem Fluss folgten. An der heiligen Stelle, wo man die geheimnisvollen krapproten Steine fand, überquerte man den Fluss und folgte einer breiten, schließlich nach Südwesten abknickenden Prozessionsstraße, die direkt auf dem Großen Steinkreis zuführte. Die Nacht verbrachte man vor dem Monument, um schließlich gemeinsam den Augenblick des ersten Sonnenaufgangs des neuen Jahres zu erleben. Es herrschte ein unvorstellbarer Andrang vor dem Steinkreis. Doch all dies geschah in einer vollkommen friedliche Stimmung, waren es doch die heiligsten Tage des Jahres, deren ehrwürdige Ruhe niemand zu stören wagte, so ausgelassen oder gar betrunken man auch sein mochte.

Freilich boten diese Tage der Zusammenkunft auch die Möglichkeit, dem Rest des Volkes vorzuführen, wie gesegnet man war, um jeweils eine derart auskömmliche Ernte einfahren zu können. Man lud sich also gegenseitig ein in seine für die Zeit der Feiertage bezogenen Häuser am Großen Holzkreis und feierte so lange man eben Lust dazu hatte. Ja, manch einer verschlief die kurzen Wintertage sogar, um die Nächte bei Speise und Trank an einem wärmenden Feuer zu durchwachen. Khor hatte allerdings das Gefühl, dass es unter den Feiernden auch etliche gab, denen es nur darauf ankam, eitel zu protzen und sich bewundern zu lassen, welch köstlichen Wohlstand sie in den vergangenen Monden anzuhäufen in der Lage gewesen waren. Jetzt war es an der Zeit, das Volk großzügig daran teilhaben zu lassen. Waren es doch die daraufhin angestimmten dankbaren Lobpreisungen, worauf es die Spender abgesehen hatten. Denn natürlich geboten es die Gesetze der Gastfreundschaft, dass man sich für derartige Wohltaten mehrfach bedankte. Khor hatte oft genug beobachtet, wie die solcherart Gepriesenen sich in eitlem Stolz aufplusterten und huldvoll lächelnd von den Lobesworten nicht genug bekommen konnten. Er hatte sogar seinen Freund Gwenaël ein wenig in Verdacht, nicht abgeklärt genug zu sein, um dieser Versuchung vollkommen zu widerstehen. Das Haus, das er während der Feiertage in der Nähe des Großen Steinkreises mit seiner Familie bewohnte, war nicht gerade das Kleinste – und dessen Tür stand jederzeit offen. Je mehr großzügige Abende in Gwenaëls Haus dahinflossen, desto offensichtlicher genoss er die Lobpreisungen für seine Freigiebigkeit. Und die war in der Tat legendär.

Broc hatte Khor und seine Freunde eines Abends in Erstaunen versetzt, als er mit dem Gedanken aufkam, dass der Große Steinkreis ursprünglich wohl nichts anderes zu leisten hatte, als das, was auch die heilige Himmelsscheibe ihrer Heimat vermochte: Nämlich das Mondjahr mit dem Sonnenjahr in Einklang zu bringen. Gab die Himmelsscheibe dafür die Stellung des Siebengestirns zum zunehmenden Mond vor, so waren vom Großen Steinkreis Durchblicke festgelegt, hinter denen sowohl der Mond als auch die Sonne zu bestimmten Tagen untergingen. Khor hatte Brocs Gedankengängen und verzwickten Berechnungen bald nicht mehr folgen können. Doch Sarti war voller Begeisterung und mit hochrotem Kopf dabei. Er stritt mit Broc um jede noch so unbedeutende Einzelheit. Denn auf Sartis Gedächtnis war unbedingt Verlass. Was er einmal gehört oder gesehen hatte, das war auf ewig in seiner Erinnerung gespeichert. Diese Fähigkeit versetzte jeden, der sie erlebte, in ehrfürchtiges Staunen. Ja, manch einer sah in ihr einen ganz besonderen, göttlichen Segen. Für Sarti jedoch war sie nichts weiter als ein Ausgleich für seine körperlichen Behinderungen, mit denen er sich seit einer geheimnisvollen Erkrankung im Kindesalter abfinden musste und die einen seiner Arme sowie ein Bein gelähmt hatte.

Sarti war es schließlich auch, der die ausgearbeiteten Verhaltensmaßregeln zur Zeit der Wintersonnenwende vor dem versammelten Volk wortgetreu vortrug. Ein jeder sollte sich zu ihnen bekennen können und ihre Einhaltung schließlich bei seiner Ehre beschwören. Entsprechend aufmerksam lauschten die um den Großen Holzkreis Versammelten Sartis Worten.

„Achtet das Leben!“, verkündete er und ein beifälliges Murren zeigte, dass die Mehrheit dem vorbehaltlos zustimmte. „Vergeudet es nicht. Weder das eure, noch das von anderen - noch von allem, was ist. Bedenkt: Wer Leben nimmt, kann es nicht wieder zurückgeben. Seid dessen eingedenk, selbst wenn ihr eure Schafe schlachtet.“ Es war eindeutig zu vernehmen, dass es hierzu wohl noch etliche Gespräche würde geben müssen. „Achtet aber ebenfalls euer eigenes Leben. Macht das Beste daraus - was auch immer ein jeder von euch dafür halten möge.“

„Doch achtet dabei die anderen Menschen!“, fuhr Sarti fort. „Was euch übel und böse erscheint, das tut euren Mitmenschen nicht an. Was immer ihr wollt, dass die Menschen euch tun, das tut auch allen anderen. Vergesst nie, dass jeder Mensch dieselben Schmerzen fühlt, dieselbe Trauer, dieselbe Angst, dasselbe Glück wie ihr auch.“

„Achtet auch eure Vorfahren und eure Herkunft. Alles was ihr seid, seid ihr durch sie. Die Eltern haben euch die Welt so übergeben, wie ihr sie vorgefunden habt. Gebt also auch ihr sie an eure Kinder so weiter, damit ihr von euren Nachfahren Achtung erfahren werdet.“

„Hütet euch vor Neid. Es wird immer jemanden geben, der ein größeres Haus sein eigen nennt, eine schönere Frau an seiner Seite hat oder einen vortrefflicheren Mann. Es wird kaum jemanden geben, der feststellt, dass es niemanden auf Erden gibt, der ein glücklicheres Leben führt. Freut euch stattdessen, wenn anderen etwas vergönnt ist, das euch selbst versagt bleibt.“

„Freut euch an dem was ihr habt. Denn hütet euch vor der Gier: Sie wird euch eure Freiheit nehmen, wenn ihr zulasst, dass sie euch beherrscht. Sie flüstert euch Bedürfnisse und Wünsche ins Ohr, die ihr euch erfüllen sollt, um glücklich zu werden. Für ein bisschen flüchtiges Glück habt ihr aber schnell die Reinheit eures Herzens verloren.“

„Haltet eure Versprechen. Darum gelobt nichts leichtfertig, wenn ihr nicht wisst, ob ihr es auch halten könnt. Wer Treue schwört, der soll sie auch halten.“

„Hütet euch vor der Eitelkeit. Sie ist eines der Grundübel des Zusammenlebens. Sie gebiert die Gier nach Macht und ist die Schwester der Lüge und des Neids. Sie lässt uns die Demut vor dem Ewigen vergessen.“

„Denn bedenkt: Nichts währt ewig, alles ist vergänglich. Haltet nicht verzweifelt fest, was man nicht bewahren kann. Denn alles ist im Fluss und nichts bleibt, wie es ist. Das einzig Ewige ‑ das Einzige, das immer bleibt ‑ ist der Wandel.“

Als Sarti diese grundsätzlichen Regeln vorgetragen hatte, gab es anfangs noch ein paar Zwischenrufe, ja, sogar hämisches Gelächter. Doch je länger er sprach, desto aufmerksamer hörte man ihm zu. Als er schließlich geendet hatte, richtete Gwenaël das Wort an sein Volk.

„Nun habt ihr Zeit genug, um bis zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche über diese Gebote nachzudenken. Nur wenn wir alle ihnen zustimmen und wir uns auch an sie halten, werden sie wirkmächtig sein und uns allen ein besseres und gerechteres Zusammenleben ermöglichen. Denkt darüber nach und stimmt dann ab!“

Seither war kein Tag vergangen, an dessen Ende nicht lebhafte Streitgespräche an Gwenaëls Herdfeuer entbrannt waren. Mann um Mann erschienen die Mitglieder seines Volkes, einer nach dem anderen. Manche in Begleitung ihrer Frauen und halbwüchsigen Kinder, manche auch allein, um sich mit Gwenaël und den vier Fremden über die Verhaltensmaßregeln auszutauschen. So gut wie jeder von ihnen beklagte, dass sie schlichtweg zu anspruchsvoll seien, unerfüllbar geradezu. Doch Broc hatte diese Einwände erwartet.

„Nur wer hohe Ziele anstrebt“, gab er immer wieder zu bedenken, „wird sich schließlich auch weiterentwickeln können. Worauf sollen wir hinarbeiten, wenn es nicht in der Tat große Ziele sind?! Und was gibt es Größeres, als das Gute für alle.“

Schließlich hatte es sogar Vorschläge gegeben, Broc zu bitten, als geistiger Führer in Twynavon zu bleiben und nicht mit den anderen auf große Fahrt zu gehen. Man fürchtete, dass man ohne seinen Beistand, die neuen Gesetze nicht befolgen könne. Fenhild, die frühere Amme Gwenaëls, die seiner Familie inzwischen den Haushalt führte, hatte bereits alles für Brocs Bleiben vorbereitet. Sogar ein angemessen großes Haus hatte sie in Twynavon für Broc gefunden. Es war von seinen Eigentümern aufgegeben worden und Fenhild hatte es entsprechend herrichten lassen. Doch dies verschreckte Broc eher, als dass es ihn tatsächlich zum Bleiben bewegte. Noch fühlte er sich nicht betagt genug, um sich auf sein Altenteil zurückzuziehen; wenngleich Twynavon mit seiner Nähe zum Großen Steinkreis und den vielen gebildeten Menschen, die ihn besuchten oder in dessen Nähe lebten, Broc durchaus zum Bleiben reizte. Mit den meisten von ihnen hatte er sich schnell angefreundet und fühlte sich sichtbar wohl in ihrer Gesellschaft. Selbst Fenhild, mit der er sich so vortrefflich über Glaubensdinge streiten konnte, war ihm mittlerweile so vertraut und lieb geworden, dass er manchen Abend ernsthaft über seine Zukunft nachgrübelte.

Auch Gwenaël und seine Frau Coira wollten den Freund am liebsten in ihrer Heimat sehen. Doch Broc fiel es schwer, sich von dem Gedanken zu verabschieden, seine Gefährten auf die lange und sicherlich auch erkenntnisreiche Reise zu begleiten. War Khor schon alt und erfahren genug, um Broc auch vertreten zu können? Und würde Broc es überhaupt ertragen, mit anzusehen, wie seine Freunde in See stachen, während er sich von Fenhild umsorgen ließ? Nein, so sehr man auch versuchte, auf ihn einzuwirken, Broc hielt an seinem ursprünglichen Plan fest und vertröstete Gwenaël und Coira auf die Zeit nach seiner Rückkehr von der langen Fahrt. Er wollte mit eigenen Augen sehen, was die Freunde erlebten und sich nicht nur anschließend davon berichten lassen.

So schlug Broc also vor, Coira, die sich während der zahllosen Reisen ihres Mannes schon mehrfach als dessen würdige Vertreterin bewiesen hatte, unmittelbar als oberste Richterin und Anführerin ihres Volkes zu wählen und Gwenaël als ihren Stellvertreter. Zunächst guckten alle nur erstaunt, als er seinen Vorschlag vorbrachte. Doch dann sahen sie ein, dass dies ja in der Tat schon längst zur Gepflogenheit geworden war. Schon wiederholt hatte Coira bewiesen, dass sie über genügend Durchsetzungskraft verfügte, um das Schicksal ihres Volkes beherzt in die Hand zu nehmen. Jahr um Jahr hatte sie Gwenaël von der Tagundnachtgleiche des Frühjahrs bis zu jener des Herbstes vertreten, immer wenn er auf den Meeren unterwegs war. Während jener Hälfte des Jahres stand Coira ihrem Volk also längst schon vor. Und sie genoss ein vorbehaltloses Ansehen sowie eine ebensolche Autorität. Sie war streng und stellte die Gerechtigkeit über alles. Aber in gleichem Maße war sie mitfühlend und versuchte, die Nöte eines jeden einzelnen zu verstehen. „Coira ist die bessere Führerin als ich“, hatte Gwenaël einmal zu Khor gesagt, als der ihn gefragt hatte, ob es ihm denn leicht fiele, Jahr um Jahr nur für die Hälfte der Zeit zu Hause bei seiner Familie in der Heimat zu sein. „Die Menschen lieben sie wirklich.“

„Aber dich lieben sie doch auch“, hatte Khor schnell widersprochen. Denn er hatte noch nie erlebt, dass irgendjemand auch nur ein einziges schlechtes Wort über seinen Freund verloren hätte.

„Ja, mich lieben sie auch“, hatte Gwenaël genickt. „Aber zu mir würde keiner kommen, der Rat in einer Familienangelegenheit sucht. Zu Coira kommen alle, auch die Alten und die ganz Jungen. Zu mir kommt man, wenn man Unterstützung für einen Hausbau braucht oder wegen Streitigkeiten um ein Stück Land. Zu Coira hingegen geht man darüber hinaus, weil man wissen möchte, ob die eigenen Überlegungen für die Zukunft ebenso ihre Zustimmung finden oder um sie schlicht und einfach um Rat zu fragen. Sie ist so etwas wie die Mutter des Volkes. Und wie wir alle wissen, kann ein Kind eher noch auf den Vater verzichten, als auf seine Mutter.“

Coira wurde also schließlich nahezu einstimmig gewählt. Es war ein Wald aus Händen, der sich für sie gehoben hatte. Die Sippe von Cerdric enthielt sich zwar zunächst der Stimme, musste aber dennoch anerkennen, dass das Volk das letzte Wort bei unentschiedenen Abstimmungen nunmehr Coira zugesprochen hatte. Sie murrten und gaben vor, dass eine Frau im Ernstfall zögerlicher oder unentschiedener sein könnte. Doch die Begriffe „zögerlich“ oder gar „unentschieden“ passten so überhaupt nicht zu Coira, so dass sie sich etliches an Widerspruch, ja, sogar Spott gefallen lassen mussten. Schließlich fügten auch sie sich dem Willen der Mehrheit und stimmten für Gwenaëls Frau.

Der war’s zufrieden. Denn Gwenaël wusste, dass die bevorstehende Reise deutlich länger dauern würde als nur ein halbes Jahr. Ein ganzes Jahr vielleicht, möglicherweise sogar zwei … Und so hatte er sich auch redlich bemüht ‑ wie jedes Mal, wenn er auf Reisen ging ‑, seiner Frau ein Andenken zu hinterlassen, damit ihn bei seiner Rückkehr ein neues Familienmitglied erwartete. Wenige Tage vor der Abreise bestätigte Coira ihrem Mann, dass sie abermals schwanger war. Khor sah sie bereits vor seinem inneren Auge mit dem Neugeborenen auf dem Arm die Volksabstimmungen leiten.

Gwenaëls vorausblickende Entscheidung, den vom Festland eingewanderten Habenichtsen, die mittlerweile seit Jahrzehnten auf der Insel lebten, Land zuzuteilen, das sie bewirtschaften konnten, hatte sich als die beste Anordnung der letzten Jahre herausgestellt. Denn die bislang lediglich geduldeten Menschen, waren ohne jede Hoffnung, dass es ihnen oder ihren Kindern eines Tages tatsächlich besser gehen könnte. Obwohl sie nun schon so lange auf Gwenaëls Insel lebten, ließ man sie wissen, dass sie nur geduldet waren und dass sie keinerlei Rechte besaßen. Sie wurden von den Alteingesessenen gemieden und man ließ sie die niedrigsten Arbeiten verrichten. Gerade einmal, dass man sie nicht erschlug, scheuchte man sie je nach Belieben und Arbeitsanfall von einer Ecke der Insel in die nächste. Doch nun endlich hatte ihnen Gwenaël Land fest zugeteilt, das sie eigenständig bewirtschaften konnten. Und noch bevor die Zeit der Aussaat gekommen war und die Felder endlich bestellt werden konnten, hatten sie einander unterstützend Häuser errichtet, die sich von jenen der Alteingesessenen kaum unterschieden. Ja, manch einer staunte, dass die als Herumtreiber Geschmähten, jetzt, wo ihnen ein Ort zum Bleiben zugesprochen worden war, ebenso fleißig und sauber waren, wie die ihnen sich überlegen fühlenden Sarsen- und Blaustein-Menschen. Gwenaël war fest davon überzeugt, dass sie sich als vollwertige Mitglieder seines Volkes herausgestellt hätten, bis er von seiner langen Reise zurückgekommen sei. Sie beteuerten glaubhaft, dass sie nur allzu gerne den Zehnten ihrer Ernte für das Bleiberecht entrichten würden. Schnell hatte Gwenaël erkannt, dass sie bislang nur deswegen so elendiglich gelebt hatten, weil sie nie vorhersehen konnten, wann sie abermals vertrieben werden würden. Nun aber, nachdem ihnen Land zugesprochen worden war, bemühten sie sich, so zu leben, wie ihre einheimischen Nachbarn auch. Und schon bald wurde deutlich, dass sie trotz ihres seltsamen Glaubens und ihrer simplen Sprache durchaus auch als Bereicherung angesehen werden konnten, denn sie waren fleißig und willens, alles ihnen Mögliche für ihre neue Heimat zu tun. Außerdem hatten sie Speisen, Musik und Mythen mitgebracht, auf die auch die Einheimischen schon bald nicht mehr verzichten wollten.

Gwenaëls Volk hatte sich somit fast um ein Drittel vergrößert, was insbesondere von Cerdrics Sippe misstrauisch beobachtet worden war. Am erstaunlichsten war jedoch die Tatsache, dass seither kaum noch einmal etwas abhanden gekommen war; sei es ein Stück Vieh, etwas Obst oder sonstiger Besitz. Aus Bettlern und Gelegenheitsdieben waren Mitglieder der Gemeinschaft geworden, die bereitwillig ihren Zehnten entrichteten und zum allgemeinen Wohlstand beitrugen. Sie waren Künstler, was die Herstellung von Korbwaren betraf. Jeder ihrer Korbmacher hatte sein Haus schon nach wenigen Monden erweitern und verschönern lassen. Früher wollte ihnen niemand ihre Körbe abtauschen, jetzt aber zankte man sich geradewegs darum. Khor musste an seine Schwester Jord denken, die zuhause dem Sohn des Korbmachers die Treue geschworen hatte. Ob ihr zweites Kind ebenso gesund und munter war wie ihr Erstgeborenes? Waren Cord und Jord denn überhaupt noch glücklich miteinander?

Neben Broc, dessen Weisheit man allgemein schätzte, war vor allem Sarti zu einem begehrten Beistand auf Gwenaëls Insel geworden. Seine Fähigkeit, einmal Gehörtes und Gesehenes auf alle Zeit im Gedächtnis zu behalten, machte ihn zu einem gefragten Ratgeber. Ja, manchen Abend saß er am Feuer und wurde nach Herzenslust mit Fragen gelöchert. Ob er wisse, wozu der Große Steinkreis einst errichtet worden war oder sich erklären könne, was hinter den Sternen zu finden sei. Geduldig versuchte Sarti alle Fragen zu beantworten und sei es auch nur, um mitzuteilen, dass endgültige Antworten noch nicht gefunden worden waren. Gleichwohl hoffte er, von den bevorstehenden Fahrten durch die Welt mit neuen Erkenntnissen zurückzukehren.

Ottel hingegen genoss die ihm unverhohlen entgegengebrachte Achtung. Er überragte fast alle um Haupteslänge und war der stärkste Krieger, den man je auf Gwenaëls Insel gesehen hatte. Dementsprechend waren das Aufsehen und die allgemeine Bewunderung, die er hervorrief. Auch wenn es nie einer von ihnen zugegeben hätte: Die Männer wollten alle so sein wie er. Und die meisten ihrer Frauen teilten diesen Wunsch. Sein kunstvoll geschmiedetes Schwert, das er auf Abalon erstanden hatte, trug natürlich zur allgemeinen Hochachtung bei: Solch eine prächtige Waffe hatte noch kaum einer der Einheimischen je gesehen. Ottel war es gewohnt, ja, er mochte es sogar, wegen seiner Erscheinung bestaunt zu werden. So wurde er auch nicht müde, von seinen Kriegstaten zu berichten und ebenso oft den Verlauf des Kampfes mit Cerdric und seinen Schergen zu schildern.

Bald wurde Gwenaëls Haus jedoch immer häufiger von zuversichtlichen Vätern aufgesucht, die darauf hofften, ihre Töchter mit einem derart stattlichen Krieger verheiraten zu können. Zuerst nahm Ottel dieses Ansinnen noch mit Belustigung zur Kenntnis, doch schon bald verzog er sich jedes Mal schleunigst in seine Schlafnische, wenn wieder einmal ein Vater mit seiner herausgeputzten Tochter vorsprach. Schließlich zählte Ottel die Tage, bis er mit seinen Gefährten endlich wieder auf Reise gehen konnte, sah er es doch als seine Lebensaufgabe an, seinen drei Freunden ‑ und insbesondere Khor ‑ schützend zur Seite zu stehen. Und ein eigentlich gar nicht benötigter, gelangweilter und immer träger werdender Krieger, war sicherlich nicht das, was Ottel sich für seine Zukunft vorstellte. Er wollte das Abenteuer, die Herausforderung, das Neue – schlicht irgendetwas, das es zu bestehen galt.

Gedankenverloren zog Khor den Mantel noch ein wenig enger um sich, obwohl die Sonne schon längst ihre wärmenden Strahlen ausgoss. Fast zwei Monde lang hatte er nachts keine Wölfe mehr heulen gehört. Plötzlich waren sie eines Tages verschwunden gewesen. Und mit ihnen der Wolfshund, der ihn doch so lange treu begleitet hatte. In der Nacht zuvor hatte Khor ihr Geheul jedoch überraschend wieder gehört. In gebührender Entfernung zwar, doch nah genug, so dass er schließlich sogar die Stimme des Wolfshundes hatte heraushören können. Khor war sogleich aufgesprungen und vor das Haus gerannt. Hoffte er doch, dass er seinen alten Freund endlich einmal wieder sehen oder vielleicht sogar in die Arme nehmen konnte. Doch Khor vernahm schließlich doch nichts weiter, als andere, fremde Wolfsstimmen in der Ferne. Der Wolfshund blieb verschwunden und stumm.

An diesem Morgen allerdings ‑ die Sonne schlief noch tief im Osten und nur ein zarter Schimmer kündigte zunächst ihr Kommen an ‑ hatte Khor die Stimme des Wolfshundes abermals ganz deutlich ausmachen können. Wieder war er aufgesprungen und vors Haus gerannt. Ja, tatsächlich. Es war die Stimme des Wolfshundes, die er gehört hatte. Und er war offensichtlich ganz nah. Da, wieder! Deutlich konnte Khor seinen Freund hören. Und als er in die Richtung blickte, aus der das Geheul kam, sah er ihn in der Nähe eines Waldstücks. Aufmerksam hatte der Wolfshund die Ohren aufgestellt, äugte gespannt herüber und wedelte kaum merklich mit der Rute. Neben ihm eine Wölfin mit gesenktem Kopf, die argwöhnisch in Khors Richtung blinzelte, während sie von einem halben Dutzend Jungtieren umsprungen wurde. Khor war gerührt, denn er empfand diese Begegnung als Geste seines alten Freundes, der sich ihm vor Jahresfrist unter völlig anderen Umständen angeschlossen hatte und der ihm nun ‑ so jedenfalls schien es Khor ‑ einen Blick auf sein neues Leben gewähren wollte. Die Wölfin scheuchte ihre Welpen in ein nahes Gebüsch und langsam trollte der Wolfshund seiner Familie hinterher, bellte einmal knapp wie zum Gruß und sprang schließlich mit jenen übermütigen Hüpfern davon, die Khor so gut kannte.

„Er zeigt mir, dass er glücklich ist“, murmelte Khor und fröstelte. Sollte diese Begegnung der endgültige Abschied gewesen sein? Khor schnürte es die Kehle zu. Es blieb nur noch ein Tag bis zur Abreise. Sollte er ihn locken? Khor war überzeugt davon, dass der Wolfshund in diesem Fall sogar angelaufen gekommen wäre. Doch er wollte dem Tier nicht seinen Willen aufzwingen. Denn wie hatte sein Freund Ottel zu ihm gesagt, damals, als sie auf Gwenaëls Insel angekommen waren und der Wolfshund eines Nachts dem fernen Geheul seiner Artgenossen gefolgt war: „Frag einen Fisch, ob er an Land leben möchte …“

Der Wolfshund blieb wie vom Erdboden verschluckt. So oft Khor auch Ausschau gehalten und in die Nacht gelauscht hatte, es fand sich nichts, was darauf hindeutete, dass sein Freund noch in der Nähe war. Ja, selbst als Khor eines Tages nicht mehr an sich halten konnte und den Wolfshund mit schnalzender Zunge lockte und ihn schließlich sogar rief ‑ was ihm ein missbilligendes Kopfschütteln von Ottel einbrachte ‑, blieb der Freund verschwunden. So schwer es Khor auch fiel, so nahm er schließlich doch die Entscheidung des Wolfshundes hin, in irgendeinem verborgenen Winkel von Gwenaëls Insel ein neues Leben führen zu wollen. Khor musste dabei an seine eigenen Seelenqualen denken, die ihn noch immer plagten, weil er Yasemin und den gemeinsamen Sohn zurückgelassen hatte.

Ja, es war in der Tat besser, wenn es morgen endlich auf See ging, dachte Khor. Nur allzu leicht hängt man sein Herz an Menschen und Dinge und verliert sein Ziel aus den Augen. Wie schnell richtet man sich heimatlich ein, wenn es dort, wo man gerade ist, nur angenehm und warm ist und die Schüsseln immer gut gefüllt sind. Morgen würde er abermals alles hinter sich lassen, um zu sehen, was es sonst noch auf dieser Welt gab.

Bereits seit Tagen hatte Gwenaël an seinem Schiff gewerkelt. Khor hatte sich richtiggehend erschrocken, als er eines Morgens das blanke Gerippe im Hafen liegen sah, obwohl er schon einmal zugesehen hatte, wie das Schiff vollkommen auseinander genommen worden war. Damals, als sie das Schiff das kurze Stück über Land befördern mussten, um von dem Fjord des östlichen Meeres in den Eideranos zu gelangen. Doch seinerzeit hatte er voller Neugier verfolgt, wie das Schiff langsam, Stück für Stück, sorgfältig zerlegt wurde. Vor wenigen Wochen jedoch war er unvermittelt auf das Schiff gestoßen, das wie ein von den Möwen abgenagtes Gerippe eines riesigen Tieres seine blanken Rippen in den Himmel reckte. Khor zuckte bei seinem Anblick regelrecht zusammen.

„Was für ein prächtiges Schiff“, hatte Gwenaël währenddessen in einem fort gemurmelt. „Stark und rund wie ein gesundes Weib, das viele Kinder gebären kann.“ Und als Khor, nur um sich die Zeit zu vertreiben, den Freund in ein Gespräch verwickeln wollte, starrte der ihn nur aus glasigen Augen an. „Riech doch nur an seinem Holz!“ Und schon hielt Gwenaël eine Planke unter Khors Nase, der allerdings nichts anderes als den erwarteten Moder zu erschnüffeln vermochte.

„Stell Dir doch nur vor! Die Planken des Schiffes sind bald fünf Dutzend Jahre alt und sie duften noch immer. Mein Vater war mit dem Schiff zurückgekehrt, damals, als er zum ersten Mal das südliche Meer befuhr. Und das Holz ist noch immer stark und frisch. Ich hab die Bäume gesehen, aus denen es geschlagen wird, als ich seinerzeit dort war. Es sind Riesenbäume und sie sind uralt.“ Gwenaël reckte die Planke in die Höhe. „Auch sie leben und haben eine Seele. Diese Bäume sind wahre Persönlichkeiten. Und jeder Schiffsführer sucht sich eine dieser Persönlichkeiten aus und bittet sie darum, ihr Holz für sein Schiff verwenden zu dürfen. Du bittest den Baum, dir sein Leben zu geben. Dafür musst du ihm aber ein Fortdauern in einem so sorg- wie achtsam geführtem Schiff zusichern. Mein Vater schwor es seinem Baum, damals, an der fernen Küste mit den bewaldeten Bergen. Und so überließ der Baum meinem Vater sein Holz, damit er dieses Schiff daraus baue. Mein Vater hat mir sein Schiff auf dem Sterbelager anvertraut.“ Stolz richtete Gwenaël sich auf und lächelte schließlich verschmitzt. „Ich habe es natürlich zwischenzeitlich ein wenig verjüngen und hier und da auch etwas verbessern können. Man lernt ja mit den Jahren dazu. Aber es ist noch immer aus ein und demselben alten Holz. Und glaube mir, mein Freund“, Gwenaëls Gesicht zeigte deutlich, dass ihm vollkommen ernst damit war, „ich möchte meinen, dass es noch immer lebt.“ Gwenaël senkte die Stimme, als ob er Sorge hätte, dass man ihn belauschen könnte. „Denn wie kannst Du Dir ansonsten erklären, dass dieses Holz nach so vielen Jahren noch immer frisch und kräftig ist. Andere Bohlen sind nach fünf Jahrzehnten modrig, grau und weich. Diese hier sind aber noch immer frisch. Sie riechen. Das Holz riecht noch immer nach den Wäldern dort. Es riecht, als würde es noch immer leben.“ Und schon wollte Gwenaël abermals die Planke unter Khors Nase halten, was dieser jedoch verlegen lächelnd abwehrte.

„Siehst Du, Gwenaël“, versuchte Khor abzulenken, „wir werden dorthin fahren, wo diese Bäume wachsen. Und dann fragen wir einfach nach, warum dem so ist. Warum lebt das Holz ihrer Bäume noch nach Jahrzehnten, während unsere Schiffe schon längst verrottet sind? Irgendjemand wird uns das schon sagen können. Vielleicht müssen wir dafür die weisesten Männer und Frauen des Landes aufsuchen. Aber vielleicht lacht uns auch einfach der nächstbeste Bauer ins Gesicht und freut sich über unsere Unwissenheit, da dort jedes Kind die Antwort kennt.“

„Dann wird’s Zeit, dass wir fahren“, lachte Gwenaël und wollte sich wieder an die Arbeit machen. „Ach, erinnere mich morgen daran, dass ich noch einen zusätzlichen Ballen von Coiras Webereien mitnehme. Die Leute dort unten an der Küste mit den Riesenbäumen sind wie verrückt nach den Karos auf unseren Stoffen.“ Gwenaël hielt inne ‑ „Das ist Wolle“ ‑ und klopfte sich mit der Planke, die er noch immer in Händen hielt, an den Kopf. „Was meinst Du, mein Freund, wie heiß es dort unten ist. Die Sonne ist dort viel näher. Man sieht es zwar nicht, aber man fühlt es deutlich. Heißer als der heißeste Tag bei uns im Sommer ist es dort. Aber trotzdem tragen die Leute Wolle, nur weil sie so schön bunt kariert ist. Auch wenn ihnen dabei die Brühe nur so herunterläuft.“ Gwenaël lachte.

„Ja“, gluckste Khor. „Dafür trägt man hier bei uns Horands Mittsommernachtsfibeln.“ Beide dachten an die Geschichten, die sie mit ihrem schlitzohrigen Freund Horand erlebt hatten und lachten herzlich.

Keine drei Tage später war Khor abermals am Hafen gewesen. Als hätte es sich verjüngt und gestrafft, lag das Schiff tatsächlich wieder rund und drall im Wasser. Es gab nun wieder dieselben wohligen Laute von sich, die Khor bereits so gut kannte: Das Glucksen, das wie verhaltenes Kichern klang, aber auch das Ächzen und Stöhnen, das eher in wohligem Befinden als in schmerzhafter Pein seinen Ursprung hatte. Und jetzt, wo er darauf achtete, bemerkte Khor einen ganz feinen, harzigen Duft, der ihm wohlvertraut schien, ohne sich jedoch erinnern zu können, woher er ihn kannte. In der Tat: Es war ein ganz besonderes Schiff.

Gwenaël hatte die Reling rundum bemalen lassen, so dass das Schiff, frisch zusammengebaut, gepicht, geputzt und mit Ornamenten geschmückt, schließlich sogar richtig prachtvoll aussah. Coira war die Erste, die eines der geheimnisvollen Muster anbrachte, nachdem sie bereits Tags zuvor dem Bug mit zwei großen Augen gleichsam ein Gesicht verliehen hatte, für die sie nur tiefschwarze und leuchtendweiße Farbe verwendete. Sodann steuerte jeder der Nachbarn ein Ornament bei. Ja, sogar von Ferne kamen Freunde und Verwandte, die Gwenaël somit ihren Segen für seine Reise aufs Schiff malten. Als schließlich sogar die bislang Heimatlosen kamen, denen Gwenaël das Land zugesprochen hatte, und nie gesehene Muster in kräftigen Farben auf der Brüstung hinterließen, schien ein ganz besonderes Heil auf Gwenaëls Schiff zu liegen. Ganz hinten am Heck hatte Fenhild schließlich seltsame Zeichen aus ihrer Heimat angebracht. Einfache Kreise und Kreuze, die aus der Ferne betrachtet jedoch wie ein garstiges, spöttisch grinsendes Gesicht aussahen. Khor hatte tatsächlich das Gefühl, als sei das Schiff durch diese gemalten Heilswünsche gestärkt und nahezu unverwundbar geworden. Nun überkam ihn endgültig das Reisefieber, die Lust auf Neues, auf nie Gesehenes. Behände sprang er auf das Schiff und tätschelte dessen Holz. Ein lang gezogener, sehnsüchtiger Laut entfuhr dem Rumpf. Selbst Khor mochte nun nicht mehr ausschließen, dass dem Schiff tatsächlich Leben innewohnte.

Elster und Rotfuchs, die beiden Nuraghen von der Insel im südlichen Meer, hatten sich bereits häuslich auf dem Schiff eingerichtet, das sie ja bewachen mussten, seit Gwenaël begonnen hatte, Tag für Tag Handelsware an Bord zu bringen. Seither gab es ein unablässiges Kommen und Gehen in Gwenaëls Haus. Ständig trug irgendjemand irgendetwas durch die Tür hinaus, den steilen Wohnhügel hinunter zum Hafen. Darunter auch Dinge, die im vergangenen Herbst erst ausgeladen worden waren und nun wieder an Bord verstaut wurden: Pelze, die Gwenaël in Gotenansk eingetauscht hatte, irdene Waren und Stoffe aus Reinoldsburg, Schwerter und Dolche aus Abalon sowie Erz aus seiner Heimat. Erst am Tag vor der Abreise wurden die wertvollsten Waren verstaut: Stöcke auf die man Zinnspiralen gesteckt hatte, die aus den Bergen im äußersten Westen kamen; kleine Lederbeutel, von denen jedermann wusste, dass sie voller Goldklumpen waren, die aus eben denselben Bergen stammten – und natürlich jede Menge Bernstein.

Khor hatte nicht schlecht gestaunt, als er sich an Bord umsah und feststellen musste, dass im Stauraum noch genügend Platz war, obschon bereits derart viele Dinge untergebracht worden waren. Doch Gwenaël ließ jedes freie Fleckchen mit Holzstämmen, Balken und Brettern auffüllen. „Ballast“, zwinkerte er Khor an. „Wertvoller Ballast. Den werden wir uns aufheben, bis wir ins Land am breiten Fluss mit den von Menschen geschaffenen weißen Bergen kommen. Dort ist man versessen auf Ulmenholz, Rüster, Linde, ja, selbst Buche. In ihrem brennend heißen Land wächst ja kein einziger vernünftiger Baum. Nur diese komischen Wedelbäume oder solche mit furchtbar verdrehten Stämmen, die auch kein gutes Holz abgeben. Zum Schnitzen ist es schon gar nicht geeignet. Khor, mein Freund, ich sage Dir, wir werden richtig gute Geschäfte machen.“

„Das wünsche ich Dir von Herzen“, entgegnete Khor. „Auf dass die weite Reise sich auch für Dich lohnen möge!“

Gwenaël zwinkerte vielsagend. „Das wird sie schon. Und da ihr ja inzwischen zu meinen besten Freunden zählt, müsst ihr auch nicht fürchten, die ganze Zeit wieder an Deck verbringen zu müssen. Schau her!“ Gwenaël zog einen Vorhang beiseite. „Hier könnt ihr halbwegs bequem nächtigen. Ein jeder von euch hat seine eigene Schlafstatt. Na? Ist das nicht was?!“

„In der Tat“, staunte Khor. „Das ist was!“ Dankbar lächelte er Gwenaël an und dachte an die vielen kalten und nassen Nächte, in denen er im vergangenen Jahr an Deck frieren musste. „Und die anderen? Elster und Rotfuchs oder auch Arkan und Boron?“

Verdutzt schaute ihn Gwenaël an. „Das sind Seemänner. Richtige Seeleute. Meergeborene eben. Die kennen das gar nicht anders und würden nie auch nur einen Fuß unter Deck setzen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Ein Seemann hat hier unten nichts verloren. Ein Seemann bleibt immer oben an Deck, an der Luft, beim Meer; er kostet die Winde, er liebäugelt mit der Sonne und träumt mit den Sternen.“

„Ha!“, lachte Khor, „wenn sie denn überhaupt scheinen und einem der Wind nicht auch noch die Gischt ins Gesicht bläst und man sowieso überhaupt nichts anderes mehr sieht als Grau und Weiß. Aber Gwenaël, du schläfst doch auch wohl behütet im Schiffsbauch. Warum sollten deine Leute das nicht auch dürfen? Sie hätten sicher nichts dagegen.“

Gwenaël schaute Khor verdutzt ins Gesicht. „Wo schläfst du, wenn du ein Haus und Vieh dein Eigen nennst? Natürlich in der Schlafnische, die dem Vieh am nächsten ist.“ Lässig deutete Gwenaël mit dem Daumen über die Schulter, dorthin, wo die Zinnspiralen lagerten. „Mein Freund, du scheinst eines noch nicht verstanden zu haben: Eine Reise ist immer auch eine geschäftliche Unternehmung. Es ist nahezu das gesamte Vermögen meiner Sippe, das sich hier an Bord befindet. Geht es verloren, so sind wir alle es auch. Niemand an Bord möchte unnötig in Verdacht kommen, auch nur einen begehrlichen Blick auf die hier unten gelagerten Dinge geworfen zu haben. Also wird kein Seemann jemals seinen Fuß unter Deck setzen, außer sein Schiffsführer befiehlt es ihm ausdrücklich. Dies ist eine Frage der Ehre.“ Gwenaël zwinkerte. „Eine Frage des Geschäfts ist es jedoch, dass man auch jeden verfügbaren Platz für die Beförderung von Handelsware nutzt. Der halbe Schiffsbauch müsste leer bleiben, nur damit die Besatzung dort nächtigen kann.“ Gwenaël lachte vergnügt über Khors Treuherzigkeit.

„Also danke ich dir, Gwenaël“, entgegnete Khor ernst. Und als der ihn mit verständnisloser Miene ansah, setzte er hinzu: „Na, dass du uns vier bei dir im Schiffsbauch schlafen lässt. Aber vielleicht sollten wir doch lieber bei den anderen an Deck bleiben. Außerdem könntest du den Platz für weitere Handelswaren nutzen.“

„Du wirst mich doch nicht beleidigen wollen, mein lieber Freund!“, feixte Gwenaël. „Ihr mit eurem Bernstein habt mich doch erst auf die Idee gebracht. Man muss sehr genau auf das Verhältnis von Raum, Größe, Gewicht und vor allem von Wert achten. Schau nur, euer Bernstein!“ Gwenaël hielt einen nicht sehr großen, aber dafür wunderbar klaren Bernstein vor sein Auge, in dessen Mitte einzig eine winzige Fliege eingeschlossen war, als wäre sie mitten im Flug aus der Zeit herausgenommen worden. „Schön wie Bergkristall, doch nicht so kalt in seiner Pracht. Bernstein kann auf geheimnisvolle Weise das Leben bannen. Schau doch nur die Fliege, die er in sich aufgenommen hat. Außerdem zieht er an den Haaren, sobald man ihn daran reibt und wird zudem noch warm dabei. Und dennoch ist er leicht wie eine Feder. Mit ihm kann man viel Platz und viel Gewicht sparen. Und außerdem …“, wieder einmal zeigte Gwenaël sein bübisches Grinsen, „… ihr Vier seid nun einmal keine Meergeborenen. Ihr werdet’s auch nie. Aber dennoch seid ihr meine besten Freunde.“ Gwenaël tätschelte Khors Wange. „Und an deren Wohlergehen ist mir immer gelegen. Zudem werdet ihr schon bald wieder voller Begeisterung oben an Deck schlafen wollen. Dort, wo wir hinfahren, ist es nämlich heiß. Sehr heiß. Und man sehnt die Nächte herbei, in denen es regnet und ein frischer Wind bläst.“ Khor hörte gebannt zu. „Ihr Vier aus den Wäldern des Festlandes denkt über so viele Dinge nach, an die ein Seegeborener wie ich noch nie einen Gedanken verschwendet hat. Vielleicht könnt ihr mir sagen, warum die Dinge sind, wie sie sind. Ich habe viel von euch gelernt und ich will noch sehr viel mehr von euch lernen. Wir werden endlich die Welt verstehen, Khor, und unsere Angst vor dem Unbekannten verloren haben, wenn wir schließlich zurückgekehrt sein werden.“ Gwenaël strahlte seinen Freund an.

„Sagen wir: Wir werden die Welt hoffentlich ein wenig besser verstehen“, entgegnete Khor nachdenklich. „Aber Gwenaël!“ Khor klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Ich wusste ja gar nicht, wie sehr du ebenfalls für unsere Sache brennst.“

Gwenaël zwinkerte. „Ach, ich bin mir einfach nur sicher, dass umfangreiches Wissen auch einem Kaufmann zugute kommen kann. Wer nämlich weiß, warum er was wo günstiger bekommt, ist eindeutig im Vorteil.“ Gwenaël machte eine bedeutsame Pause. „Aber ich bin ja nicht nur Händler, sondern auch Schiffsführer.“ Stolz richtete Gwenaël sich auf. „Ich habe einen Bund mit meinem Schiff geschlossen. Ich gebe ihm Leben und dafür gibt es mir seine Dienste und trägt mich wohin auch immer ich will. Verstehst du, Khor? Wann können wir Menschen schon einmal entscheiden, in welche Richtung wir gehen. Auf dem Meer folgt das Schiff treu meinen Wünschen zu neuen Gestaden. Oder aber in den Abgrund. Es ist meine Entscheidung und meine Verantwortung. Also, mein Freund! Die fernen Meere warten auf uns. Sie werden uns begrüßen, glaub es mir!“ Gwenaël lachte trocken. „Falls die unendlichen Wasser uns elende Würmer überhaupt zur Kenntnis nehmen werden. Es wurde schon manchem Seemann zum Verhängnis, dass die Meere nicht bemerkt hatten, dass er sie befuhr. Aber nur keine Sorge, Khor! Vergiss nicht: Ich bin Seegeborener. Erst seit Coira mein Weib geworden ist, verbringe ich die Hälfte des Jahres an Land. Früher ging ich selten einmal von Bord. Aber du wirst es ja sehen: Es ist so einfach, wenn man Seegeborener ist. Man lebt mit dem Meer und an fast jeder Küste leben irgendwelche Anverwandten. Vettern von Schwägern und so weiter … Sie alle gehören aber ebenfalls zur Sippe. Was meinst du, wie sehr sie sich freuen, dich zu sehen. Denn allzu oft sieht man sich in diesem Leben ja nicht. Und mag man von dem einen die Nase nicht, so fährt man ‑ hast du’s nicht gesehen – einfach weiter zum nächsten. Glaub mir, Khor, es lassen sich überall kleine Geschäfte machen. Forscht ihr nur nach eurer Weisheit, ich forsche nach der meinen.“

Khor lächelte, als er an dieses Gespräch dachte. Ging es ihm doch sehr viel weniger um Weisheit, als um Wahrheit ‑ so, wie Gwenaël im Grunde genommen auch. Wie sehr hatte er gehofft, dass der Freund zunächst zu jenem Felsen auf dem Festland übersetzen würde, auf dem dessen Tante Una lebte. Denn nur zu gerne hätte Khor die weithin gerühmte Heilerin gefragt, was es war, das sie in ihm gesehen hatte. Vor einem Vierteljahr, als Una zur Wintersonnenwende auf die Insel gekommen war, hatte sie Khor abermals lange in die Augen geblickt und offenbar auch das entdeckt, was sie dort gesucht hatte. Doch wie immer blieb sie stumm und murmelte nur ab und zu geheimnisvolle Formeln, die Khor weder verstand, noch recht zu deuten wusste. Wie gerne hätte er sie gebeten, ihn an ihrem Wissen teilhaben zu lassen. Doch Gwenaël hatte Khor auf seine Frage nach dessen Tante nur knapp mitgeteilt, dass Unas Fels nicht auf dem Weg lag. Man würde von Twynavon aus direkt nach Süden fahren, an der Insel der Ausgestoßenen vorbei und als erstes Ziel Sarmia ansteuern, jene Insel voller Heiligtümer, die auf halbem Weg zum Festland lag. Von dort aus würde man direkt zur Festlandsküste steuern, der man von da an immer nur folgen müsse. Es klang so einfach aus Gwenaëls Mund, aber Khor wusste nur zu gut, dass es genügend Unerwartetes geben könnte. Der Sturm, den er im vergangenen Herbst auf der Überfahrt nach Gwenaëls Insel miterlebt hatte, war ihm in lebhafter Erinnerung geblieben. Und auch das früher kaum gekannte Gefühl der Angst, das Khor inzwischen ebenfalls reichlich vertraut war und das ihn jedes Mal beschlich, wenn es doch am nötigsten war, mutig zu sein, auch dieses Gefühl, so wusste er, würde ihm bald wieder begegnen.

Noch einmal ging Khor im Geiste all die Dinge durch, die er keineswegs vergessen durfte. Viel war es ja sowieso nicht, was er sein Eigen nannte. Aber es waren ihm in den letzten Monden auf Gwenaëls Insel doch so einige Dinge geschenkt worden. Ein kleiner Splitter eines der heiligen krapproten Steine, die vollkommen unscheinbar aussahen, sobald man sie jedoch nass machte, in einem kräftigen Rotviolett strahlten, das Khor an die Steinnelken in seiner Heimat erinnerte. Kaum einmal hatte er eine leuchtendere Farbe gesehen. Gwenaëls Töchter hatten ihm außerdem, eine nach der anderen, entweder eine kleine Weberei oder Schnitzerei geschenkt. Auch Ciaràn, Gwenaëls Ältester, hatte für ihn ein eigentümliches Tier geschnitzt, das den Wolfshund darstellen sollte und der von nun an ‑ so jedenfalls glaubten es Gwenaëls Leute ‑ ständig an Khors Seite sein würde, so lange er die Schnitzerei bei sich trug. Khor fand den Gedanken eigentümlich, gleichsam einen Bann über ein Wesen auszusprechen, dem man zugetan war und dem man alles Erdenkliche, doch keinesfalls etwas Übles wünschte. Doch Ciaràn klärte Khor auf, dass ein Teil der Seele des Wolfshundes bereits längst und ganz freiwillig in dem Stück Holz steckte, das er just am Tag vor der längsten Nacht gefunden hatte. Es sprang ihn an, berichtete Ciaràn, gerade im selben Augenblick als ein Wolf heulte … Khor war vollkommen ratlos, was er von der Geschichte halten sollte und hängte sich das Amulett ein wenig widerstrebend um den Hals. Dort hing schon Fenhilds seltsame Wurzel, die sie ihm im letzten Herbst nach dem Kampf gegen Cerdric geschenkt hatte. Sie sah beinahe aus wie ein kleiner Mensch und verströmte einen kaum wahrnehmbaren, nicht unangenehmen, würzigen Duft.

„Das ist ein Geist, den ich auf dich gebannt habe“, hatte ihm Fenhild mit einem feierlichen Unterton damals zugeflüstert. „Er wird dich auf alle Zeit beschützen und immer auf dich achten. Doch vergiss nicht: Er tut es nicht, weil er dich liebt, sondern weil er von mir dazu verdammt worden ist. Er kann nicht von dir lassen, selbst wenn er dich hassen würde. Wirf ihn also keinesfalls fort, denn er wird dich suchen und immer wieder finden. Kein Berg ist zu hoch für ihn, kein Fluss zu tief. Er hat keine Wahl, er muss dir dienen und dich beschützen.“

Ein wenig unwillig hatte sich Khor damals die Knolle um den Hals hängen lassen, doch ihr geheimnisvoller Duft ließ ihn schließlich seinen Widerstand aufgeben.

„Hmmm“, hatte Fenhild genüsslich geraunt, als sie Khors Entzücken zur Kenntnis nahm. „Ihr Geruch macht Männer wie Weiber willig und stimmt sogar deine Feinde gnädig. Man nimmt den Duft kaum wahr, aber er wirkt. Sei also gut zu deinem kleinen Helfer! Sei dankbar, dass er dir beisteht. Denn ihm bleibt nichts anderes, als gut zu dir zu sein. Er hat schließlich keine Wahl.“

Khor hatte damals, noch außer Atem vom gerade bestandenen Kampf, die Knolle schnell unter sein Wams gesteckt, als ob er sie vor einer Unterkühlung oder auch vor fremden Blicken schützen wollte. Im selben Augenblick hatte er damals gespürt, wie die Wurzel auf seiner Brust sich erwärmte. Fenhild hatte ihre Hand darauf gelegt.

„Jetzt lebt er“, sagte sie dann zufrieden. „Jetzt ist er endgültig dein Schutzgeist.“

Khor hatte also neben jener unheimlichen Knolle, die er fast schon vergessen hatte, da er sie kaum einmal wieder pochen spürte, nun auch noch einen eingefangenen Wolf um seinen Hals hängen. Natürlich glaubte er nicht an derartige Geistergeschichten. Er trug die Amulette eher wie Erweise von Zuneigung, die ihm entgegengebracht wurde. Aber so richtig wohl fühlte er sich nicht mit ihnen. „Morgen“, murmelte er halblaut und griff sich unwillkürlich an die Brust, „morgen heißt es Abschied nehmen.“ Khor spürte auf einmal, wie die Amulette unter seiner Hand warm wurden. Er erschrak beinahe, denn die Schnitzerei, die Ciaràn ihm geschenkt hatte, schien tatsächlich ihren eigenen Herzschlag zu besitzen. Kaum merklich, aber so, als wäre ein pochendes Herz in dem Stückchen Holz. Khor lachte. Denn es war offenbar sein eigenes Herz gewesen, dessen Schlag er gespürt hatte. „Dieses Blendwerk der Altgläubigen kann einen Menschen manchmal aber auch tüchtig in die Irre führen!“ Doch abermals spürte Khor ein Herz, das jedoch in einem anderen Takt schlug, als das seine. „Wolfshund“, flüsterte er und drückte die Hand fester auf die Schnitzerei. „Nein“, lachte Khor. „Die Hoffnung ist eben wie ein Verdurstender, der plötzlich überall eine bislang verborgene Wasserstelle sieht.“

Khor entschloss sich, die letzte Nacht an Land ohne Grübeleien und Sehnsüchte zu verbringen, außer jenen, die ihn zu den fernen Ländern trieben. Es war ein durchaus mulmiges Gefühl, das Khor überkam. Wer wusste schon, was bereits eine Tagesreise weiter auf sie wartete? Eine Unachtsamkeit, eine kleine Verletzung, die schließlich doch Verstümmelung und Tod brachte oder eine Bö, die einen bei der Verrichtung seiner Notdurft überraschte, ein Sturm … Aber es warteten auch Neues, nie zuvor Gesehenes, Kluges, vielleicht sogar die Welt auf den Kopf Stellendes auf sie. Khor genoss die Lust der Neugier und träumte sich in ferne Länder. Selbst Ottels munteres Geplapper konnte ihn nicht recht erreichen, der neben ihm lag und von zu bestehenden Heldentaten erzählte. So machte Khor es sich auf dem Lager im Arm seines Freundes bequem und nahm dessen Stimme bald nur noch als tiefes gleichmäßiges Brummen wahr. Und obwohl Ottel schnell bemerkte, dass sein Freund ihm überhaupt nicht zuhörte, sondern seinen eigenen Gedanken nachhing, erzählte er ihm von dem, was ihn selbst in der Nacht vor der Reise beschäftigte. Ottel war überzeugt davon, dass seine Worte Khors Seele dennoch erreichen würden. Schließlich schwieg auch er und beide starrten einander wärmend in die Nacht - bis ihnen die Augen zufielen.

Erstes Buch: Gwenaëls Sippe

Die Amseln hatten noch nicht angefangen, ihre wehmütigen Lieder zu singen, als Khor ganz vorsichtig die Augen öffnete. Er lag Stirn an Stirn mit Ottel, der ihn ‑ Khor mochte es kaum glauben – bereits voller Erwartung anblickte und nicht im Geringsten einen verschlafenen Eindruck machte. Geradewegs so, als ob er nur darauf gewartet hätte, dass Khor endlich aufwachte, strahlte Ottel ihm ins Gesicht und ließ keinen Zweifel daran, dass er augenblicklich bereit war, das Seine zur Erfüllung des Khor entgegengebrachten Morgengrußes beizutragen. „Möge es ein schöner, ein glücklicher Tag werden! Für einen jeden von uns!“

Khor wollte schon eine mürrische Antwort geben, aber dann besann er sich. Wusste er doch nur zu gut, wie sehr Ottel daran gelegen war, nicht ständig als Schläfertor zu gelten, wie man hier auf Gwenaëls Insel den Letzten zu nennen pflegte, der seinen Weg in den Tag gefunden hatte. „Ottel, bitte“, brummte Khor stattdessen, „es ist doch noch stockdunkel. Es ist mitten in der Nacht. Meinst du etwa, Gwenaël wird für dich Fackeln, Späne und Kerzen verzündeln lassen, nur damit du zu nachtschlafender Zeit herumwerkeln kannst?“ Ottels hochgezogenen Mundwinkel und sein gequälter Blick ließen Khor verstehen. „Ich hätte eigentlich gedacht, mein lieber Khor, dass du vielleicht mal eben kurz vor die Tür gehen möchtest, um nachzusehen, ob …“ Ottel hatte den Satz noch nicht einmal beendet, als Khor schon aus seiner Schlafnische geschlüpft war. Schnell und so leise als irgend möglich war er vor die Tür getreten und sah nichts, was er nicht auch erwartet hatte: Schwarze Nacht, allenfalls ein kühles Glimmen am östlichen Horizont, ein schlafendes Dorf – und keinerlei Lebenszeichen von Wölfen, geschweige denn, von seinem Wolfshund. Schnell schlich Khor wieder zurück an den schnarchenden Mägden vorbei in die Schlafnische und legte sich wieder zu Ottel ins Warme.

„Er hat sich also entschieden“, sagte der nach einer Weile, denn alleine schon die Art und Weise wie Khor zurückgekehrt war und sich wortlos wieder neben ihn gelegt hatte, zeigte Ottel die Antwort. „So hat er also den neuen Tag ohne dich begonnen. Und so wird er ihn wohl auch ohne dich beenden.“ Wie zum Trost legte Ottel den Arm um den Freund. Lange lag Khor schweigend da und starrte vor sich hin.

„Lass uns noch ein wenig schlafen, Ottel“, sagte er schließlich. „Es ist wie es ist.“

Doch auch an diesem Morgen war Ottel letzendlich wieder zum Schläfertor geworden, was ihn außerordentlich ärgerte. Er versuchte, sich herauszureden, indem er Khor als Zeugen für sein frühes Wachsein berief. Aber es half nichts, denn Ottel war ja nun einmal wieder eingeschlafen und tatsächlich als Letzter in Gwenaëls Haus aufgestanden. Und hätte Khor, der ebenfalls wieder eingenickt war, ihn nicht geweckt, so wäre Ottel nicht nur zum Schläfertor geworden, sondern möglicherweise sogar noch zu einem ausgewachsenen Ärgernis, wollte man heute doch endlich in See stechen. Natürlich wurmte sich der sonst immer so zuverlässige Recke darüber am meisten.

So mampfte Ottel schließlich noch immer an seinem Frühstück, als alle anderen bereits ihre Bündel schulterten. Mit noch nicht einmal abgewischtem Mund küsste er jeden zum Abschied, den er greifen konnte. Bei dem Gedanken, Gwenaëls Kinder, mit denen er über die vergangenen Monde so viel Spaß gehabt hatte, womöglich nie wieder zu sehen, kullerten dem Riesen glitzernde Tränen in den schwarzen Bart. Er umarmte sogar die Mägde und schließlich selbst Fenhild und küsste alle mitten auf den Mund. Die alte Fenhild wie eine verliebte Göre.

„Oh, welch ein Kuss! Und sein Mund war inzwischen so schön sauber gewischt!“ Anschaulich gab sie ihrer Begeisterung mimisch Ausdruck. „Seine Lippen sind so warm und weich und voller Zärtlichkeit, wie ihr’s euch nur träumen könnt, ihr Weiber von Twynavon! Lass sie uns bald wieder spüren, Ottel, hörst du?“, rief sie dem Recken hinterher, der gerade durch die Tür entschwand. „Du Kusskönig, du Lippenliebster, du! Wir warten voller Sehnsucht auf deine Rückkehr!“

Und alle waren froh, ihren Abschiedsschmerz fortlachen zu können.