KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit - Wieland Barthelmess - E-Book

KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit E-Book

Wieland Barthelmess

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Beschreibung

Offensichtlich waren unsere in Mitteldeutschland lebenden Vorfahren alles andere als jene tumben Urzeitler, für die man sie bislang gehalten hatte. Der Fund der Himmelsscheibe von Nebra zwang uns, unsere bisherige Einschätzung gründlich zu überdenken. Khor, der Sohn eines Köhlers, wird von den Priestern des Mittelbergs aufgenommen. Er lernt dort, dass alleine Wissen befähigt, die Welt zu verstehen. Also zieht er mit drei Freunden aus, um das Wissen der Welt für sein Volk zu sammeln. Broc, der weise Oberpriester, Ottel, der unbesiegte Kämper und Sarti, behindert, aber mit der Gabe des absoluten Gedächtnisses. Der Roman beschreibt die lange Wanderung über Ostsee und Eider, Helgoland und die Bretagne bis nach England.

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Wieland Barthelmess

KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG:

Der Sohn des Köhlers

Zum Mittelberg

Die Fürstenburg

Yasemin

Tag- und Nachtgleiche

1. BUCH:

Wage, zu wissen

Aufbruch

Der Wolf

Das Böse

Wolfshund

Neue Götter

Baldr

Horand

Die Stadt an der Odrawa

2. BUCH:

Gwenaël

Gotenansk

Reisepläne

Kundurla

Die Sterne weisen den Weg

Reinoldsburg

Yasemins Sohn

Horands Rettung

Abalon

Tudje

3. BUCH:

Tante Una

Übers Meer

Gwenaëls Heimat

Cerdric

Der Große Steinkreis

Zukunftspläne

Impressum neobooks

PROLOG:

Der Sohn des Köhlers

„Verflucht! War das kalt geworden!“

Khor zog das Fell ein wenig höher. Vorsichtig genug, um nicht zu übertreiben, weil dies nämlich seine Füße abgedeckt hätte. Alleine schon der Gedanke an die kalten Zehen, Fersen und Knöchel ließ ihn schaudern.

Schließlich zog er die Beine wie ein Ungeborenes an und gönnte sich ganz vorsichtig das Stückchen mehr Fell an seinen Schultern. Obwohl er spürte, dass die Sonne sich bereits angeschickt hatte, ihren Tageslauf zu beginnen, kniff Khor die geschlossenen Augen noch fester zusammen, um nur noch tiefste Dunkelheit zu sehen. Hoffte er doch, sich schnell wieder in seinen unterbrochenen Träumen einfinden zu können. Vielleicht würde der ewige Nebel sich heute endlich einmal auflösen, dachte er noch. Dann könnte die Sonne ihren frierenden Kindern schließlich wieder ein wenig mehr von ihrer Wärme schenken. Ein Lächeln huschte über Khors Gesicht, als er an sie dachte: Die Sonne, die runde warme Mutter, die zärtlich ihre Kinder streichelt und die er den ganzen langen Winter so sehr vermisst hatte. Sie, die über alle wacht und darauf achtet, dass es ihnen an Nichts fehlt. Die das Getreide wachsen lässt, indem sie die Halme lockt, sich zu ihr in die Höhe zu recken. Die die Lerche trillernd in die Luft fliegen lässt, damit die Herrin über Werden und Vergehen ihr Loblied besser hören kann. Die die Fische im Fluss springen macht, einfach, weil sie glücklich sind, unter ihr sein zu dürfen. Und freilich – brennen konnte sie auch so manches Mal, sogar schmerzhaft.

„Typisch Mutter“, brummte Khor und schmatzte zufrieden, als er sich wohlig unter sein Fell kuschelte.

Vater war mitten in der Nacht aufgestanden. Das hatte er mitbekommen. Und er hatte gehofft, dass der Alte nicht so viel herumklappert und schnell aus dem Haus kommt. Aber der war dies gewohnt und hatte gelernt, seine Familie möglichst wenig zu stören, wenn er zur Arbeit aufbrach. Sein ganzes Leben lang war Khors Vater zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten aus dem Haus gegangen. War es doch nötig, den Meiler in festen Zeitabständen zu überwachen, wenn er denn erst einmal in Brand gesetzt worden war.

Als kleines Kind dachte Khor gar, dass sein Vater überhaupt nicht schlafen würde. Wie einer jener allmächtigen Götter, von denen die Leute erzählten und die der Vater immer als „grobschlächtige Heidenhelden“ abtat. Doch eines Tages hatte Khor ihn auf der Bank vor der Kate gefunden. Am hellen Morgen hatte er stumm und unbeweglich dort gesessen. Sofort war es Khor in den Kopf gekommen, dass der Vater tot sein könnte. Wie versteinert hatte er auf den hingesunkenen Mann geglotzt und sich kaum getraut, zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Nicht etwa aus Angst. Nein, es war die bewundernde Ehrfurcht vor dem Mann, der ihm damals so gottgleich vorgekommen war. Vater, der immer Gegenwärtige, der die Seinen stets fühlen ließ, dass er sie beschützte, der sich sorgte, der alles wusste und dessen Hand so stark war, dass er Khors Kinderfaust spielend zerquetschen konnte. Dort saß er nun mit einem Gesicht, das seltsam verjüngt schien. Geradeso als ob man alle Falten und Runzeln wieder glatt gezogen und die letzten Lebensjahrzehnte aus seinem Gesicht getilgt hätte. Geradeso als ob der Vater das Leben wieder zurückgegeben hätte, dorthin, von wo er es einst mit einem lauten Schrei empfangen hatte.

Khor war wie gefangen von dem Anblick. Denn wenn es wahr wäre, dass der Vater tot sei, dann wäre seine Welt, so wie er sie bislang kannte, von einem Atemzug zum nächsten erloschen. Was würde mit ihnen geschehen? Mit Mutter? Mit den Schwestern? Khor erinnerte sich, wie ihm damals, mitten im Sommer, eiskalt wurde und eine bis dahin nicht gekannte Angst in ihm aufstieg. Schließlich hatte er aber doch gesehen, wie sich ein paar Barthaare unter der Nase des Vaters bewegten. Erleichtert und erschrocken zugleich war er mit einem schlechten Gewissen davongeschlichen, sich aufs Innigste schwörend, dass er nie und niemandem je ein Wort über das soeben Gesehene und Gedachte würde sagen werden. Kam es ihm doch wie Verrat vor, dass er es für möglich gehalten hatte, dass sein Vater tatsächlich tot sein könnte.

Khor schmunzelte, als er an seine kindlichen Erlebnisse dachte. Und zugleich schauderte ihn. Dies mochte vor zehn, zwölf Sommern gewesen sein, so dass er besser nicht darüber nachdenken wollte, wie oft sein Vater in den folgenden Jahren wohl ebenso erschöpft dagesessen hatte. Und er spürte es wieder, jenes Gefühl von damals: Die Furcht, von seinem Vater eines Tages alleine gelassen zu werden. Also sagte ihm seine weiße Seele, dass es nun doch langsam an der Zeit wäre, aufzustehen, damit er seinem Vater am Meiler zur Hand gehen könne. Aber Khor wusste genau, dass der nicht klagen und schweigend weiter seine Arbeit verrichten würde, wenn der Sohn wieder einmal zu etwas fortgeschrittenerer Tageszeit bei ihm einträfe.

„Bist du noch nicht aufgestanden, du fauler Bengel?!“ In der rechten Armbeuge einen zuversichtlich großen Korb mit lediglich zwei Eiern darin hatte die Herrin des Hauses den Schauplatz betreten, während sie einen toten, bereits gerupften und ausgenommenen jungen Schwan in der emporgereckten Linken drohend schwenkte. Mit hochrotem Kopf, von dem sich einige vom Rupfen übrig gebliebene schneeweiße Flaumfedern deutlich abhoben, so dass ihr Gesicht Khor an einen prächtigen Fliegenpilz erinnerte, baute sie sich vor ihrem vorgeblich schlummernden Sohn auf.

„Ich klatsch dir gleich den Schwan ins Gesicht!“

Khor brauchte erst gar nicht nach ihr zu sehen, wusste er doch, welches Bild sich ihm bieten würde. Liebevoll strahlte sie ihren schläfrigen Sohn an, so als ob sie ihn gleich in die Arme nehmen und herzen wolle. Doch Khor wusste nur zu gut, dass sie ihm mit eben demselben Gesichtsausdruck Schwäne, Gänse, Schweinehälften, Tiegel oder was auch immer gerade greifbar war, um die Ohren hauen konnte. Einmal gereizt konnte Mutter unerbittlich sein. Dennoch fühlte er sich immer von ihr geliebt, selbst in diesen schmerzhaften Augenblicken. Denn es war ihr von Herzen aufrichtiges Lachen, das voller Liebe und Mitgefühl den Vorfällen schnell wieder ihren Schmerz nahm.

„Na also, geht doch!“, sang Mutter in einer ihrer ständig neu erdachten Melodien.

Schnell war Khor im Hemd vor die Kate gerannt, insgeheim fürchtend, dass es vergangene Nacht wieder so kalt gewesen sein könnte, dass er erst einmal das Eis vom Fass würde schlagen müssen. Doch er merkte bald, dass sich heute wohl tatsächlich der Nebel endlich auflösen würde, so dass die Sonne wieder ein wenig mehr von ihrer Wärme senden konnte. Er blinzelte nach ihr, sah aber nichts weiter als den nunmehr seit Monden üblichen hellen runden Fleck hinter den grauen Schleiern.

Erfreulicherweise hatten er und seine Geschwister während des langen letzten Sommers außergewöhnlich viel Honig sammeln können, so dass es sogar jetzt noch, zum Ende des Winters, reichte, um die morgendliche Sauermilch aller etwas süßen zu können. Augenzwinkernd und mit mädchenhafter Geste hatte ihm die Mutter als Überraschung überdies noch eine Handvoll Nüsse in die Schüssel geworfen, so dass sich Khor sogar richtig satt fühlte, als er schließlich aufbrach. Wie immer schlampig gekleidet – so jedenfalls meinte seine Mutter, anmerken zu müssen.

„Noch blühen die Schneeglöckchen nicht! Also mach dein Wams zu!“ Emsig zupfte sie an Khor herum, der zusah, dass er schleunigst aus dem Haus kam.

Wie jedes Jahr, wenn der Winter nur lange genug gedauert hatte oder sich seinem Ende zuneigte, konnte Khor es sich kaum vorstellen, dass die dünnen Gerippe der Bäume tatsächlich eines Tages wieder Laub tragen würden. Seit Monaten reckten sie ihre nackten Äste in den grauen Himmel und es schien tatsächlich unvorstellbar, dass sie in allernächster Zeit wieder austreiben würden, um wenige Wochen später als riesige Lebewesen ihr nahezu undurchdringliches Blätterdach auszubreiten. Doch das geschäftige Gezwitscher der Vögel machte deutlich, dass der Frühling nicht mehr allzu fern war.

Bald würde Khor mit seinen Leuten zum großen Lenzmarkt am Mittelberg ziehen. Einen knappen Tagesmarsch lag der heilige Berg entfernt, auf dem die Tag-und-Nacht-Gleiche von den Priestern aufs Genaueste vermessen und schließlich vom Stammesältesten verkündet wurde. Diese glücklichen Tage, an denen die Sonne endlich wieder die Kraft hat, das Korn wachsen zu lassen. Aber auch diese nicht minder glücklichen Tage im Herbst, an denen die Sonne ihr Brennen aufgibt und das Leben zur Ruhe kommen lässt. Zu sehr, so berichteten es jedenfalls die alten Sagen, waren die Menschen früher verstört gewesen, wenn ein Nachbar bereits die Felder bestellte, während der andere noch immer Löffel schnitzte. So schenkte ihnen eines Tages in grauer Vorzeit die Sonne eine pechschwarze Scheibe mit ihrem goldenen Abbild darauf und dem ihres Mannes, des Mondes. Seither konnten die Sonnwendtage sowie die Tag-und-Nacht-Gleichen und somit auch der Anfang des Frühjahrs auf den Tag genau vorherbestimmt werden. Und das seit Generationen mit immer der gleichen Genauigkeit. Die mündliche Überlieferung hätte nur allzu leicht verloren gehen können in den Wirren, die noch zu Zeiten der Urgroßeltern geherrscht hatten. So aber war Gold auf Schwarz festgeschrieben wie die Sonne ihren Lauf nehmen würde, um an der Tag- und Nacht-Gleiche genau hinter dem Zerbrochenen Berg unterzugehen. Es war ein wichtiger, ja, ein heiliger Tag. Er markierte nicht nur die Zeit der Aussaat, sondern auch das Ende des Winters. Es war einer jener vier heiligen Tage im Jahr, an dem tatsächlich alle von nah und fern zusammenkamen und Neuigkeiten austauschten, aber auch Dinge vorbrachten, die von der Allgemeinheit beschlossen oder abgelehnt werden sollten. Streitigkeiten wurden gemeinsam geklärt und vertragliche Versprechen eingelöst. Ehen wurden gestiftet, eingegangen oder beendet, übers Jahr geborene Kinder der Sippe vorgestellt und zwischenzeitlich Verstorbene ließen ihre letzten Grüße und Wünsche ausrichten. Nichts, so hatte der Vater immer gesagt, überhaupt nichts in eines Menschen Leben ist sicher. Außer jene Tage, an denen, von menschlichem Geist aufs Genaueste vorausberechnet, Tag und Nacht sich die Waage halten oder die Sonne sich wendet. Dies war, so wurde der Vater nicht müde, immer wieder in Erinnerung zu rufen, neben Geburt und Tod das einzig Sichere in einem Menschenleben.

Bereits Tage vorher kamen die ersten Menschen aus der Umgebung zusammengeströmt und errichteten in den Tagen bis zum Fest ein ausgedehntes Lager, das sich fast um den ganzen Berg herumzog. Ihre während des langen Winters angefertigten Waren hielten sie hier zum Tausch feil. Auch Khors Mutter würde selbstgewebte Stoffe anbieten, die immer wieder für ihre Qualität gerühmt worden waren. In manchen von ihnen hatte sie die Silhouetten von Tieren eingewebt oder auch die Sonnenscheibe mit ihren sie umgebenden Kreisen. Khor konnte sich erinnern, das sie an manchem Stück über Jahre gewebt hatte. Und auch Vater hatte während der zahllosen Tage, die er auf dem Meiler verbracht hatte, aus so manchem Holzscheit Löffel, Teller und auch Schalen geschnitzt. Oder aber Spielzeug, das von vielen Kinderherzen mit heißem Barmen ersehnt wurde und mit dem auch Khor als Bub so gerne gespielt hatte. Es waren begehrte Waren, gegen die seine Familie die notwendigen Dinge einhandeln konnte. Mutter brauchte eine neue irdene Schüssel, Vater wollte endlich wieder einen stabilen Hammer haben, nicht immer nur die hölzernen Behelfnisse, mit denen er sich abplagen musste, wie er meinte, und die er selbst zusammengebastelt hatte. Doch auch die Neuigkeiten der letzten Monate wurden an diesen Tagen am Fuß des Mittelbergs ausgetauscht: Man erfuhr, wie es den entfernt lebenden Verwandten während der vergangenen Monde ergangen war. Viele sah man erstmals seit dem letzten Frühlingsfest wieder. Manche, die aus welchem Grund auch immer fehlen mussten, sogar zum ersten Mal seit Jahren. Und wie oft gab es die traurige Nachricht, dass ein lieber Mensch zwischenzeitlich vorausgegangen war in die Anderwelt. Nie wurde mehr gelacht und geweint als an jenen Tagen. Und da die Seele in dieser Zeit so üppig zu leben wusste, musste der Leib es ihr gleich tun. Wer in jenen Tagen nicht dicker wurde, musste eindeutig krank sein …

Khor war, wie jedes Mal, vor allem auf die Neuigkeiten gespannt, die es dann zu hören gab. Ja, selbst Nachrichten aus aller Welt waren zu erfahren, kamen doch die Händler aus dem fernen Nebelland mit Säcken voller Bernstein, von dem sie sich allerdings selten etwas abhandeln ließen. Wollten sie damit doch lieber noch etliche Tagesmärsche weiter südlich ziehen, wo sie die wirklich begehrten Dinge dafür eintauschen konnten. In langen Karawanen mit Ochsenkarren wanderten sie in die große Bernsteinstadt, wo sie Gegenstände aus Bronze, ja, aus purem Gold erwerben konnten. Und im Gegenzug kamen Händler von weither aus dem Süden dorthin. Sie brachten bronzene Gegenstände mit, fremdländische Keramik, erlesenen Schmuck - und atemberaubende Geschichten. Wie gerne wäre Khor einmal in die Bernsteinstadt gezogen …

Ein tiefer Graben umgab jene außergewöhnlich große und reiche Stadt auf ihrem Hügel, so erzählte man sich, hinter dem ein zwei Mann hoher, lehmverputzter Palisadenwall die Einwohner beschützte. Er hatte einmal das Gespräch eines fahrenden Händlers mitgehört, der berichtete, dass dort Hunderte von Menschen lebten. Und zwar das ganze Jahr über. Nicht nur zu den Tages-und Nacht-Gleichen oder den Sonnwendfeiern wie am Mittelberg, zu dessen Fuß sich übers Jahr nur eine kleine Ansiedlung befand. Den Erzählungen der Eltern und Großeltern zufolge, die am Mittelberg lebten, hatte sich das kleine Dorf in den letzten Jahrzehnten zwar beträchtlich entwickelt, da seither immer häufiger auch Karawanen durchgezogen waren - selbst außerhalb der üblichen Markttage -, mit denen der Dorfvorsteher schließlich doch das eine oder andere Geschäft abwickeln konnte. Khor hatte ihn schon oft gesehen, den majestätischen Blondschopf, der wie nahezu jeder Bewohner des Dorfes, ein entfernter Verwandter seiner Familie war. Sein langes blondes Haar wurde von einem Reif aus purem Gold zusammengehalten und seine prächtigen Kleider hatte Khor schon als kleines Kind bewundert. Sie hatten die leuchtenden Farben der Blumen. Und nur zu gerne hätte er gewusst, womit sie gefärbt worden waren. Seine Mutter nutzte Zwiebelschalen, verschiedene Erden, Beeren, Lein und Wurzeln, die aber kaum mehr als matte Farbtöne hervorzubringen in der Lage waren und zudem mit der Zeit allzu leicht verblassten und immer wieder nachgefärbt werden mussten. Was Khor jedoch am meisten beeindruckte, war das Schwert des Herrn, das wie dessen Stirnreif aus purem Gold gefertigt zu sein schien. Es glänzte und glitzerte im Licht und machte bei jedem Schritt seines Besitzers ein helles, lustiges Plink-Plink. Vater hatte die verzückten Blicke des Sohnes bemerkt und ihn sogleich darüber aufgeklärt, dass das prächtige Schwert lediglich aussah als sei es aus Gold, doch in Wirklichkeit aus einem geheimen Gemisch verschiedener Metalle gefertigt war und zu nichts weiter taugte, als um Aufsehen zu erregen. Und tatsächlich: Immer glotzten alle auf das klimpernde Glitzerding ‑ ob Frau, ob Mann oder Kind. Doch ein einziger Hieb hätte es zersplittern lassen wie irgendeinen irdenen Topf. Und obgleich es sein Vater war, der ihm dies gesagt hatte, mochte Khor es gar nicht so recht glauben. Zu schön war die Vorstellung von der berückenden Vollendetheit der im Licht gleißenden Waffe.

Langsam dahintrottend hing Khor seinen Gedanken nach, den aus dem Wald aufsteigenden hellen Rauch des Meilers vor Augen, der ankündigte, dass die Holzkohle rechtzeitig zum Lenzmarktfest fertig sein würde. Die Sonne hatte den Nebel inzwischen tatsächlich nahezu aufgelöst, so dass er ihre Wärme auf der Haut spürte. Nur der Zerbrochene Berg am fernen Horizont verhüllte wie so oft sein Haupt hinter tief hängenden Wolken, was ihn noch geheimnisvoller erscheinen ließ. Dort gruben die Wichtel in Höhlen nach wertvollen Erzen und Salzen, die von Naturgeistern bewacht wurden und ihnen fintenreich abgerungen werden mussten. In zahllosen Geschichten wurde davon berichtet, aber auch gewarnt, sich in die Nähe dieser geheimnisvollen Welt zu begeben. Gut, dass der Zerbrochene Berg noch so weit entfernt lag, dachte Khor bei sich …

Vater hatte den Meiler sogar schon aufgebrochen, so dass die Funken nur so stieben als Khor auf der großen Lichtung ankam. Wortlos und ohne ihn anzusehen drückte der Vater ihm den Gluthaken in die Hand, damit er mithelfe, den Meiler abzubauen. So sehr Khor die so einsame wie schmutzige Arbeit seines Vaters insgeheim auch verabscheute, so sehr war er jedes Mal beeindruckt, wenn der Meiler geöffnet wurde. Aus all dem vielen Holz war im Lauf der Tage knackende, knisternde und glühendheiße Kohle geworden. Tiefschwarz und leicht wie eine Feder. Er mochte jene hellen, klaren Töne, die herabpurzelnde Holzkohle von sich gab. Und er mochte ihren sattschwarzen, weichen Strich, den sie hervorbrachte, wenn man mit ihr auf einem Stein zeichnete. Genauso wie diesen eigentümlichen warmen, schleifenden Ton, den sie dabei machte. Jedes Mal erschien es ihm wie ein Wunder, wenn er diesen riesigen Haufen in Kohle verwandeltes Holz vor sich hatte. War das Holz doch verbrannt worden, aber dennoch war es immer noch vorhanden: Schwarz und leicht würde es von nun an heißer brennen als jedes Holzscheit.

Nicht zuletzt wegen dieser rätselhaften Verwandlung galten Köhler als geheimnisvolle Gesellen, die ‑ ähnlich wie Schmiede ‑ etwas verarbeiteten, das hinterher etwas ganz anderes war als am Anfang. Üblicherweise lebten sie abseits der Ansiedlungen im Wald, dort, wo sie das Holz schlugen. Die meisten von ihnen hatten ihre Kate sogar gleich neben dem Meiler, so dass sie für die ständig notwendige Überwachung des Brandes nur vor die Tür zu gehen brauchten. Khors Vater hatte dies aber stets abgelehnt. Er wollte, dass seine Familie nicht Tag um Tag den Rauch und Qualm schlucken musste und ständig von rußigen Flocken berieselt wurde. Sie sollten schließlich auch etwas anderes wahrnehmen, als nur den ewig stinkenden Meiler, der erkaltet fast noch schlimmer roch. Auch dies, der üble Geruch sowie deren stets verdreckte Gestalt, machten die Köhler zu den weniger angesehenen Volksgenossen. Ihre abgeschiedene Lebensweise, ihr Umgang mit dem Feuer, ihre rätselhafte Tätigkeit, die mit einer Verwandlung endete und die sie scheinbar zu Komplizen der Schmiede werden ließ, sorgten nicht gerade dafür, dass sie besonders angesehen waren. Khor hatte seine Mutter einmal ihrer Schwester gegenüber klagen hören, dass die Großeltern sich anfangs strikt geweigert hatten, ihr Einverständnis zu ihrer Hochzeit zu geben. Und dass es viel Standhaftigkeit und zahllose Opfergaben an die Waldgeister bedurfte, um deren Meinung zu ändern. Allerdings, so musste Khor einräumen, hatte er seine Großeltern nie abfällig oder geringschätzig gegenüber dem anfangs ungeliebten Schwiegersohn erlebt. Im Gegenteil: Sie respektierten und liebten Vater sichtlich.

Die Sonne war schon längst im Untergehen begriffen als Khor und der Vater ihre schweigend verrichtete Arbeit beendet hatten. Fein säuberlich aufgeschichtet lag nun die noch immer ab und an knisternde Holzkohle mannshoch vor ihnen. Khors Vater hatte gutes Holz verkohlt, das schöne, gleichmäßig geformte Stücke ergeben hatte. Die richtige Ware also für den bevorstehenden Lenzmarkt.

Lange, helle Rinnen hatte der Schweiß in den rußgeschwärzten Gesichtern von Vater und Sohn hinterlassen, als sie sich nach getaner Arbeit nebeneinander niedersetzten, um ihr Werk zu betrachten. Sie schwiegen, ohne einander fremd zu sein oder etwa, dass eine Missstimmung zwischen ihnen gewesen wäre. Sie schwiegen, weil sie warten wollten, bis die Gedanken endlich zu Worten wurden. Und da beide lange schwiegen, wussten sie, dass es gewichtige Worte werden würden.

„Morgen können wir die Kohle sortieren und für die Reise zum Mittelberg fertig machen“, sagte der Vater fast beiläufig.

„Ja, die Kohle ist gut geworden. Wir können sie bestimmt einträglich vertauschen.“

„Übermorgen brechen wir auf.“

„Was, schon übermorgen?!?!“, jauchzte Khor. Und augenblicklich schämte er sich für seine, wie er meinte, allzu unerwachsene Freude. Eigentlich schien es ihm ja noch ein wenig früh zu sein für den Aufbruch zum Lenzmarkt. Aber selbstverständlich würde er kein Sterbenswort darüber verlieren. Denn jeder Tag mehr bei den Großeltern ‑ und natürlich auch in dem aufregenden Trubel am Mittelberg ‑ war dieses Schweigen wert. „Vielleicht sollte ich vorausgehen, um den Großeltern zu sagen, dass wir zu diesem Frühjahrsfest etwas früher kommen.“

„Das“, grinste der Vater, „wird sicherlich kaum notwendig sein. Irgendjemand wird Großvater gewiss schon berichtet haben, wie unser Rauch in den letzten Tagen aussah und dass er seit heute schließlich gar nicht mehr zu sehen ist.“

Khor war ein wenig enttäuscht. Wie gerne wäre er ins Dorf vorausgelaufen – und wenn es nur ein halber Tag gewesen wäre -, um die Freude und Zuneigung seiner Großeltern zunächst einmal ganz für sich alleine haben zu können. Aber Vater konnte seine Hilfe am Wagen in der Tat dringend brauchen. Sollte er umstürzen oder aber auch nur eines seiner Räder brechen, wäre der Schaden allzu schmerzlich. Kohlebruchstücke kann man schließlich nur an die Armen vertauschen. Und die haben kaum einmal etwas, was man ‑ wenn man es denn nicht selbst behalten möchte ‑ wieder weitervertauschen kann. Und am Ende, soweit kannte er seinen Vater, würde der den Grus sowieso an die Habenichtse verschenken.

„Khor, ich werde dich dieses Jahr den Priestern vorstellen.“

Der Junge spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoss. „Den Priestern?“ Und wieder hatte seine Stimme diesen unbeherrschten, kindlichen Ton. „Du machst es wahr?“

„Glaub mir, ich weiß sehr gut, dass du dein Leben nicht im Wald verbringen möchtest, wie dein Vater – und dessen Vater. Ich weiß, dass du fliegen möchtest, wie einer der Staren, die uns im Winter verlassen.“ - „Aber nur“, setzte der Vater sogleich hinzu, „um hoffentlich im nächsten Sommer wieder zurück zu kommen.“

„Meinst du“, stammelte Khor, „dass die Priester mich aufnehmen und unterweisen werden? Meinst du, ich bin dafür klug genug?“

„Ich denke schon“, sagte der Vater tonlos. „Jedenfalls klug genug, um mehr zu tun als nur verkohlbares Holz zu sammeln und um einen Meiler am Brennen zu halten.“

Khor wusste nicht recht, wo ihm der Kopf stand. Wie sehr hatte er sich immer gewünscht, nicht doch noch eines Tages des Vaters Arbeit übernehmen zu müssen. Freilich ohne dabei auch nur die geringste Vorstellung zu haben, was stattdessen er lieber gemacht hätte. Er wollte einfach nur raus aus diesem immer gleichen Wald, von dem er jeden einzelnen Baum kannte und in dem in einem Jahr mal eine größere und im nächsten wieder eine geringere Anzahl von Wölfen ihr Unwesen trieb. Er wollte mehr wissen von der Welt, die um ihn herum war. Hinter dem Zerbrochenen Berg war sie keinesfalls zu Ende, auch wenn die alten Weiber dies felsenfest behaupteten. Von dort kamen die wilden, kaum verständliches Zeugs brabbelnden Kerle, die Zinn vertauschten. Er hatte sie einmal gesehen, als der Dorfvorsteher vor etlichen Sommern mit einigen von ihnen verhandelte. In ihrer Heimat, einer üppigen Insel im Meer, lag der Große Steinkreis an dem man Linderung von seinen Gebrechen erwarten konnte. Zahllose Menschen pilgerten seit Urzeiten selbst von weit entfernt dort hin, um Linderung von ihren Krankheiten und Übeln zu finden. Und in genau entgegengesetzter Richtung lag jene Bernsteinstadt, von der man ihm so oft erzählt hatte und von der er aus seinen Tagträumen eine ganz genaue Vorstellung hatte.

„Du bist mein Sohn. Das Kind von Fricka und Bror“, sagte der Vater fast feierlich. „Von deiner Mutter hast du das Herz und die Kraft der Vorstellung. Von mir die Neugier, die Lust auf Wissen und auf Verstehen …“

„Und die Zähheit“, setzte Khor ein wenig vorlaut hinzu.

„Und die Zähheit“, nickte der Vater. „Und genau die wirst du schließlich auch brauchen. Es wird nicht leicht werden, glaube es mir.“

Khor sah deutlich, wie der Blick des Vaters milder wurde. „Aber wenn ich daran zweifelte, dass die Priester sich freuen werden, dich zu sehen, würde ich dich nicht zu ihnen schicken.“

„Und werden sie mich dort oben auf ihrem Berg behalten?“, entfuhr es Khor.

„Ja, sie werden dich dort behalten“, nickte der Vater, „oben auf dem Mittelberg, von wo man weit über die Welt blicken kann.“

Khor konnte kaum an sich halten als er mit dem Vater zu vorgerückter Stunde zu Hause ankam. Es war schon fast stockfinster, als sie gerade den Wald hinter sich gebracht hatten. Er hätte es sich nie eingestanden, aber Khor war recht erleichtert darüber, dass sie bereits auf der breiten Au marschierten, auf der Ihre Kate stand. Ja, Khor hasste den Wald bei Dunkelheit. Er hasste ihn, weil er ihn ängstigte. Seine Mutter glaubte an die Waldgeister, die man hinter jedem Knacken und Knistern vermuten konnte. An Luftgeister, die kaum merklich an den Wanderern vorbeihuschten, um in ihrem Sinne zu wirken. Sein Vater hatte jedoch immer versucht, ihm zu erklären, was eigentlich hinter all den vermeintlich gespenstischen Geschehnissen steckte. Vorbeijagende Fledermäuse, eine balzende Eule oder ein einsamer Kauz. Für Geister war in Vaters Wald kein Platz.

Eigentlich – ja, eigentlich hielt er es wie sein Vater, für den diese Weibergespinste nichts als Ammenmärchen und alberne Popanze waren, die man leichtfertig dazu benutzte, um sie kleinen Kindern auf den Hals zu hetzen, wenn sie wieder einmal am Daumen lutschten. Wie oft hatten Khor und sein Vater hinter dem Rücken der Mutter verschworene Blicke ausgetauscht und betont umständlich an ihren Daumen gelutscht, wenn sie wieder einmal von den Geistern sprach. Nein, an Geister glaubte Khor eigentlich wirklich nicht.

Mutter stand schon in der Tür. Einen Moment dachte Khor, sie habe geweint. Aber das Reetdach, durch das der Rauch des heimischen Feuers abziehen sollte, war schon immer ein wenig tückisch gewesen und ließ, trotz aller Verbesserungsversuche des Vaters, so manches Mal den Qualm nicht hindurch, so dass die Kate gelegentlich einer Räucherkammer glich. Aber das gehörte zum Alltag und jedermann allüberall hatte seine Plage damit, so dass die Aussage „geräuchert worden zu sein“, nichts anderes bedeutete, als dass einem ein banales Missgeschick widerfahren war.

Ein wenig enttäuscht war Khor dann aber schon, als er der Mutter seine große Neuigkeit berichtete und feststellen musste, dass sie offenbar schon längst darum wusste. Aber es gab noch etwas anderes, das ihm nicht behagte, ja, ihn sogar, wenn er ganz ehrlich war, ein wenig verletzte: Würde sie ihn doch tatsächlich gehen lassen. Sie, von der er immer geglaubt hatte, sie ließe sich eher vierteilen als nicht über ihre Kinder wachen zu können. Sie würde ihn also wirklich ziehen lassen …

Als ob sie seine Gedanken geahnt hätte, schloss sie ihren Sohn in die Arme. „Ja“, flüsterte sie mit den Tränen kämpfend, „ich muss dich wirklich gehen lassen. Denn irgendwann wärst Du sowieso fort. Und ich wollte dich nie davonrennen oder gar heimlich davonschleichen sehen.“

Khor konnte die ganze Nacht kaum schlafen. So meinte er jedenfalls. Er dachte an die ehrwürdigen Priester, lauter ernste alte Männer, die junge Menschen ansonsten sicherlich nur als störend empfanden. Sie hatten ihm immer Furcht eingeflößt mit ihren reglosen Mienen hinter den wallenden Bärten. Und wenn er sah, wie die Leute sich auf einmal verneigten und voller Respekt schwiegen, wenn der Oberpriester durchs Dorf ging, spürte er eine Art von Widerstand, ja, von Auflehnung, ohne richtig zu wissen warum. Nicht eben wenige Leute glaubten sogar, dass die Priester es seien, die der Sonne an den Heiligen Tagen wieder Kraft einflößten und sie dazu veranlassen konnten, Tag um Tag wieder länger zu scheinen. „Mummenschanz“ nannte sein Vater so etwas. Die Priester wussten eben nur genau vorherzusagen, wann die Sonne wieder steigen würde. Einfluss darauf, wann dies geschähe, hätten sie jedoch keinen. Allein ihr Wissen und ihre Weisheit jedoch, so meinte der Vater, würde sie über die anderen Menschen stellen. Nein, Khor konnte sich nicht recht vorstellen, dass diese weisen Herren etwas mit ihm, dem Sohn des Köhlers Bror zu tun haben wollten. Wahrscheinlich werden sie ihn sogar mit Tritten davonjagen wie einen räudigen Köter.

Der neue Tag begann mit einer bösen Überraschung: Es hatte in der Nacht noch einmal geschneit. Wenn auch nicht übermäßig viel, so doch genug, dass der wohl bald in der Sonne dahinschmelzende Schnee den Holzkohlestapel würde durchnässen können. Noch bevor der Morgen graute, waren Khor und sein Vater aufgebrochen, den alten, bereits ein wenig wackeligen Karren hinter sich herziehend, den der Vater schon vor Tagen ausgebessert und - wo nötig - geflickt hatte. Dennoch war beider Vertrauen in die Stabilität des liedschäftigen Gefährts alles andere als unerschütterlich. Jede übersehene Wurzel, jeder Stein über den es holperte, konnte ihm schließlich den endgültigen Garaus bereiten, insbesondere wenn die Karre dann schließlich voll beladen war mit der Kohle und all den anderen Dingen, die man zum Lenzfest feilbieten wollte. Trotz des ihr Fortkommen behindernden Gefährts waren sie noch vor Sonnenaufgang am Meiler angekommen und durften überrascht feststellen, dass die Tanne, unter der sie die Holzkohle gestapelt hatten, ihren Schatz gut behütet hatte. Nur an den Rändern des Stapels lag eine Schicht blütenweißen Schnees auf der tiefschwarzen Kohle.

Schneller als erwartet, hatten Vater und Sohn die Kohle von ihrer weißen Last befreit. Sie hatten sie schließlich sorgfältig auf den Karren verladen, darauf Acht gebend, dass die Bündel gut aufeinander passten und nicht so leicht verrutschen konnten. Vater hatte die im Stapel oben liegenden Kohlebündel, die sie vom Schnee bedeckt vorgefunden hatten, beiseite gelegt. So würde seine Familie wenigstens auch einmal in den Genuss richtig wohliger Wärme kommen. Denn bis sie in einigen Tagen wieder vom Lenzfest zurückgekehrt sein würden, dürfte die Holzkohle längst durchgetrocknet sein. Khor glaubte zunächst seinen Ohren nicht trauen zu können, als er seinen so schweigsamen Vater beim Beladen des Karrens sogar eines der alten Lieder singen hörte. Bald stimmte er mit ein und schon sah man – lange bevor die Sonne zu sinken begann –, wie Vater und Sohn laut singend mit ihrem übervoll beladenen Wagen ihrem Zuhause entgegenrumpelten.

In der winterlichen Stille, in der gerade einmal eine Krähe in der ihr eigenen Sprache erzählte, was sie andernorts in der Welt gesehen hatte, konnte die Mutter schon zeitig hören, dass Mann und Sohn bereits auf dem Heimweg waren, lange bevor sie überhaupt zu sehen waren und die breite Flussaue erreicht hatten. Ihre fünf Töchter sowie der jüngste Sohn waren kaum mehr zu halten und liefen den schwarzen, ihre Karre ziehenden Gestalten entgegen. Waren sie doch nur allzu neugierig, wie hoch schließlich die Holzkohle auf dem Wagen gestapelt sein würde. Vielleicht, ja, vielleicht war es tatsächlich wieder einmal so viel, dass auch der eine oder gar andere ihrer Wünsche würde in Erfüllung gehen können. Schon von weitem sahen sie, dass die Kohle derart hoch auf der alten Karre aufgetürmt war, dass sie gefährlich hin- und herschwankte. Voller Eifer rannten sie schnell herbei, um Vater und Bruder dabei zu helfen, die wertvolle Fracht heil nach Hause zu bringen.

Wie immer tat sich Njörd, Khors mit acht Jahren gerade einmal halb so alter Bruder, besonders hervor. Er schrie und brüllte mit hochrotem Kopf, als ob ein Lindwurm aus dem Dickicht hervorgebrochen sei und die kleine Schar bedrohte. „Woher der Junge das nur hat?“ sagte der Vater mehr zu sich als zu dem neben ihm mit an der Karre ziehenden Khor. Hoffteer doch, dass es einer jener Wesenszüge war, die mit dem Voranschreiten des Alters wieder verloren gehen würden. Nach vier Töchtern und unzähligen Fehl- und Frühgeburten, die jedes Mal Mutters Herz zu brechen drohten, war ihnen endlich dieser zweite Sohn geboren worden. Bror und Fricka liebten alle ihre Kinder, jedes einzelne von ihnen, so dass es ihnen unmöglich gewesen wäre, zu sagen, ob sie eines den anderen vorzogen. Über die Geburt des zweiten Sohnes waren sie jedoch mehr als erleichtert. Denn würde nicht jede der Töchter eines Tages ihr Zuhause verlassen und in eine neue Familie einheiraten? Was würde mit ihm und seiner Frau geschehen, wenn Khor – was Mutter Sonne verhüten möge und worum Vater sie nahezu täglich bat – etwas zustoßen würde? Oder wenn Khor tatsächlich für immer bei den Priestern blieb? Njörd wäre es dann, der sich einst um seine alten Eltern kümmern würde. Doch warum nur hatte Mutter Sonne ihn zu einem derart lauten, unberechenbar aus sich herausbrechenden Ungeheuer gemacht?! Der Vater hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als er sich schon für seine berechnende Kaltschnäuzigkeit schämte.

Schon hatte die kleine Schar die Hälfte der breiten Flussaue durchquert, als tatsächlich noch die kleine Perachta angewackelt kam; ihre winzigen Hände krampfhaft zu Fäusten geballt, in denen sie offenbar etwas verwahrte. Mit strahlenden Augen sah sie ihren Vater an und streckte ihm die eine Faust entgegen, während sie Khor die andere hinhielt. Wie sehr ihn ihr stets freundliches Gesicht doch an die Mutter erinnerte, dachte Khor. Nachdem Njörd geboren war, schienen die Eltern etliche Jahre der Meinung gewesen zu sein, dass sie mit sechs Kindern genügend Mäuler zu stopfen hätten. Aber vor fünf Sommern hatte Mutter dann doch wieder einen dicken Bauch bekommen und als hätten alle insgeheim nur darauf gehofft, war die ganze Familie außer sich vor erwartungsvoller Freude auf das neue Geschwisterchen. Mutter war es sicherlich manches Mal zu viel, wenn eines nach dem anderen ihrer Kinder an ihrem Bauch lauschte und mit dem Ungeborenen sprach. Aber geduldig ließ sie die Kinder gewähren, denn wie glücklich waren alle, wenn das Kind zu antworten schien und lebhaft von innen gegen Mutters Bauch trat. Sie liebten dieses Kind bereits lange bevor es überhaupt geboren war und alle wussten, dass es ein ganz besonderer Mensch sein musste, der sich hier anschickte, zu ihnen in die Welt zu kommen. Perachta wurde das kleine Mädchen genannt, die prächtig Strahlende, die die Herzen aller sogleich mit Freude und Liebe erfüllte. Sie war der Sonnenschein der Familie. Ihr fröhliches Lachen und ihre zärtliche Anschmiegsamkeit erschienen ihnen allen bald als das größte Geschenk, das ihnen je gemacht worden war. Besonders Vater war vollkommen vernarrt in das kleine Himmelsgeschöpf. Und gewiss würde sie eines Tages die Allerschönste seiner Töchter sein …

Da stand sie nun, die kleine Perachta, eingehüllt in ihren blauen Wollumhang aus dem ihre fast gleichfarbigen großen Kinderaugen strahlten und reckte Vater wie Bruder ihre winzigen Fäuste entgegen. Vorsichtig und fast lahm von der langen Anspannung öffnete sie ihre Hände, in beiden jeweils eine in Honig eingelegte Walnuss als Willkommensgruß für Vater und Bruder offenbarend. Der Vater war nicht schlecht erstaunt, wähnte er diese Leckerbissen doch sicher und an unbekanntem Ort wohl verwahrt vor kindlichen Zugriffen. Offensichtlich war ihm seine Jüngste auf die Schlichte gekommen. Schnell teilte er seine Nuss, steckte sich die eine Hälfte genüsslich schmatzend in den Mund, während er die andere Perachta zärtlich zwischen die Lippen schob. Natürlich tat Khor es ihm gleich, obwohl er zunächst doch ein wenig zögerlich auf die zerquetschte Nuss in Perachtas schwitziger und nicht ganz sauberer Hand blickte. Vater, der, gerührt von ihrer kindlichen Fürsorge, sich zu seiner Jüngsten herabgebeugt hatte, machte Anstalten, sie umarmen und herzen zu wollen.

„Neiiiiiiin“, plärrte Perachta erschrocken. „Du bist so schwarz wie ein Rabe und wirst mich auch noch ganz dreckig machen!“

Diese Vorbehalte waren allerdings wenige Augenblicke später völlig vergessen, als sich die kleine Karawane wieder in Bewegung gesetzt hatte und Vater seine Jüngste kurzerhand auf die Schultern nahm. Es dürfte wohl kaum jemanden unter der Sonne geben, dachte der Vater und lachte sich seine Freude von der Seele, der heute glücklicher ist als ich. Khor meinte sogar, einen eigentümlichen, ja, fast fremden, verlangenden Blick zwischen seinem Vater und der wie üblich vor der Tür wartenden Mutter gesehen zu haben, als sie an ihrem Zuhause eintrafen.

Mutter, die Unentwegte, hatte die große Schale mit reichlich Wasser gefüllt, in der noch die heißen Kochsteine lagen. Einer nach dem anderen, beginnend mit Perachta, der Jüngsten, durfte sich nun in die Schale hocken, um tüchtig abgeschrubbt zu werden. Mutter war erbarmungslos und ging auf keine der Klagen ein, wenn das Schrubben einmal angeblich allzu heftig ausgefallen war.

„Ihr wollt doch morgen alle schön und sauber zum Lenzfest im Dorf ankommen“, gab sie immer nur zur Antwort und widmete sich unbeeindruckt ihrem überaus ernst genommenen Reinigungswerk.

Nachdem mit Perachta und Njörd die Jüngsten versorgt waren, kamen die Töchter Ertha und Nardi an die Reihe und schließlich Sunna und Jord. Mit wenigen Handgriffen hatte Mutter eine große, in den Wintermonaten von ihr gewebte Stoffbahn über einen Balken in der Kate gehängt, um den beiden ältesten Schwestern das Gefühl zu geben, ihr Bad unbeobachtet nehmen zu können. Jord war nur ein Jahr jünger als Khor und somit schon längst im heiratsfähigen Alter. Vielleicht, überlegte die Mutter, könnte sich auf dem Lenzfest ein passender Ehemann für sie finden lassen. Alt genug war Jord mit ihren fünfzehn Jahren jedenfalls, hatte doch die Mutter im selben Alter bereits Khor das Leben geschenkt. Aber Jord sollte sich Zeit lassen können. Wie schnell war doch die unbeschwerte Kindheit vorüber, vertrieben von bis dahin ungekannten Sorgen, Ängsten und Sehnsüchten.

Natürlich war es wieder einmal Njörd, der Unruhe in die Familie brachte. Ständig versuchte er, durch die aufgehängte Stoffbahn zu lugen oder zupfte frech an ihr herum, so dass sie herunterzurutschen drohte. Mutters kräftige Kopfnuss sorgte zwar einige Zeit für Ruhe, doch als er sich, vollkommen aufgekratzt, wieder an dem behelfsmäßigen Vorhang zu schaffen machte, klatschte ihm ein von Sunna geschleudertes, platschnasses Etwas ins Gesicht.

„Ihhhhhh! Sie hat mir ihren dreckigen Waschlappen ins Gesicht geworfen!“

Doch statt des erwarteten Beistands und Mitleids erntete Njörd eine weitere Kopfnuss sowie das brüllende Gelächter aller.

Schließlich säuberte sich Mutter mit Nartis Hilfe hinter dem Vorhang, während Sunna frisches Wasser aus dem Fluss holte, um das inzwischen deutlich geringer gewordene Nass in der Schale zu ersetzen. Derweil erhitzte Jord die Kochsteine abermals, um sie schließlich zischend in die Schale zu geben, damit sie das Wasser wieder erwärmten. Zum Schluss kamen die beiden rabenschwarzen Männer an die Reihe. Khor schauderte immer beim Gedanken an die erste Berührung mit dem Wasser. Schien es doch, als ob tausende von Ameisen ihn bissen, wenn der feuchte Waschlappen seine staubige Haut berührte. Aber der Vater wusch seinen Ältesten so schnell ab, dass das üble Beißen gar nicht erst so recht aufkommen konnte und sogleich einem wohlig-warmen, sauberen Gefühl wich. Khor gab sich alle Mühe, seinem Vater dieselbe Wohltat zukommen zu lassen und es klang keineswegs geheuchelt, als Mutter wie Töchter in entzückte Ahs und Ohs ausbrachen als die beiden, in frische Leinenhemden gewandeten, blitzsauberen Männer hinter dem Vorhang zum Vorschein kamen. Nur Njörd tat so, als ob er nichts Bemerkenswertes an ihrem Aussehen finden könne.

Länger als geplant saß die Familie an diesem Abend nach einer halbwegs üppigen Vesper noch beisammen. Mutter hatte Khor und Jord je ein neues Gewand für den morgigen Tag bereitgelegt und selbstverständlich die Enttäuschung in den Gesichtern ihrer anderen Kinder wahrgenommen.

„Ihr kommt einer nach dem anderen ein jeder an die Reihe“, sagte sie aufmunternd, wohl wissend, dass diese Aussicht kaum geeignet war, um an diesem Abend wirklich zu trösten. Aber keines ihrer Kinder wagte es, eine Missstimmung zu zeigen, wussten sie doch, dass Mutter Wort halten und für jedes von ihnen seine Zeit kommen würde. Während Vater sich noch an das Verpacken der unterschiedlichsten Dinge machte, die er auf dem Marktfest einzutauschen gedachte oder einem der zahllosen Verwandten mitzubringen versprochen hatte, brachte Mutter, unterstützt von ihren ältesten Töchtern noch zu später Stunde wieder alles in Ordnung. Denn nichts hasste sie mehr, als Tage später in ein unaufgeräumtes Haus zurückzukehren.

Die kleine Perachta schlummerte schon längst selig an ihrem Daumen nuckelnd und sogar Njörd waren trotz seines ständigen Gezappels schließlich die Augen zugefallen. So saßen die Eltern nach getaner Arbeit noch ein wenig mit ihren beiden ältesten Kindern am großen Tisch beisammen.

„Es wird alles gut“, sagte Vater in die Stille. Und obwohl bislang kein einziges Wort darüber verloren worden war, was sie alle so offensichtlich beschäftigte, fühlte ein jeder sich verstanden. Jord fürchtete sich ein wenig davor, vielleicht zu einer Entscheidung gedrängt zu werden, die sie noch gar nicht treffen konnte. Die Großeltern hatten schon beim letzten Herbstfest ein paar Bemerkungen fallen lassen, die sie zwar nicht so ganz verstanden, die ihr aber dennoch ein wenig Unbehagen bereitet hatten. Und Khor hing seinen Gedanken an die Achtung gebietenden Priester nach und seinen Bedenken, ihren Ansprüchen gerecht werden zu können.

„Alles wird gut“, wiederholte Mutter und schlug vorsichtig mit beiden Händen flach auf den Tisch, was eindeutig anzeigte, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen.

Schnell war Ruhe in der Köhlerhütte eingekehrt, obgleich Khor noch wach lag und sich sicher war, dass auch Jord noch ihren Gedanken nachhängen würde. Auch die Eltern schienen noch immer nicht zu schlafen. Er hörte ihr Flüstern und so manches Kichern und unterdrücktes Lachen. Er zog seine Beine an und machte sich solcherart so klein, dass er sich das Schlaffell ganz über die Ohren ziehen konnte, ohne dass seine Füße am anderen Ende hervorragten. Schämte er sich doch immer ein wenig für seine Eltern, wenn sie wieder einmal nicht voneinander lassen mochten, obwohl sie ihr peinliches Stöhnen zu vermeiden suchten, das ihre Lust aneinander verriet.

„Aber alles wird gut“, sagte er sich und schlief schließlich todmüde ein.

Zum Mittelberg

„Aufstehen, ihr Schlafmützen!“ Mutter klatschte mehrfach in die Hände und augenblicklich huschten und plapperten die Kinder durcheinander. Nur Perachta war es offensichtlich noch zu früh am Morgen – die Sonne war noch längst nicht aufgegangen -, so dass ihre Augen immer wieder zufielen und sie mehrfach wieder einschlief. Zärtlich nahm Mutter sie auf den Arm und setzte das schläfrige Kind zu den anderen an den Tisch. Für jeden hatte sie heute eine Schüssel mit herrlich warmem Haferbrei vorbereitet. Und in der Mitte jeder üppig mit grauem Brei gefüllten Schüssel schwamm ein kleiner goldener See aus Honig, auf dem eine eingelegte Walnuss prangte. Was für ein köstlicher Tagesanfang!

Musste die Mutter ihre Kinder während des Frühstücks ansonsten nur allzu oft antreiben, damit sie endlich aufäßen und schließlich ihr Tagewerk beginnen konnten, so hörte sie sich an jenem Morgen des Öfteren zur Ruhe mahnen. „Schling nicht so!“, sagte sie zu Njörd, warf aber auch ihren anderen Kindern einen entsprechenden Blick zu. Jord, als die Älteste, hatte sich - ob ihrer sich selbst zugesprochenen Vorbildfunktion - über ihr eigenes fahriges Verhalten derart erschreckt, dass sie sich prompt verschluckte und erbärmlich husten musste. Und schon trommelte Njörd seiner geplagten Schwester mit aller Kraft auf den Rücken. Augenblicklich kamen ihr die anderen Mädchen zur Hilfe und bändigten den unerwünschten Lebensretter, der, kaum war er mit vereinten Kräften wieder an seinen Platz gesetzt worden, seine Schüssel an die Lippen setzte und sich den Brei mit drei zu einer Schaufel geformten Fingern in den Mund schob. Fast wäre die hastig einverleibte Speise wieder in der Schüssel gelandet, als Mutters Hand klatschend auf Njörds Hinterkopf traf. „Du altes Ferkel“, schimpfte sie, gab ihm aber sogleich einen schmatzenden Kuss auf die Wange, da sie ein missgelauntes oder beleidigtes Kind an einem solchen Tag so überhaupt nicht brauchen konnte.

Vater, der soeben erst eingetreten war ‑ er war noch mit der Beladung des Karrens beschäftigt ‑ tat wie immer so, als hätte er von alledem nichts gesehen oder gehört. Eben so, als ob ihn all das Gezeter und Gequengel überhaupt nichts angingen. Und doch wussten die Kinder, dass sie es nicht allzu weit treiben durften. Denn sollte Vaters zur Schau gestellter Gleichmut erst einmal ein Ende gefunden haben, konnte es mit der aufgedrehten Ausgelassenheit ganz schnell vorbei sein. Was für ein schrecklicher Gedanke, wegen irgendeiner Unbotmäßigkeit hinter der Karre her trotten zu müssen und – für alle sichtbar! ‑ als Letzter im Dorf einzutreffen. Augenblicklich zeigten sich die Kinder von ihrer artigsten Seite.

„Nun denn…“, sagte Vater wie zu sich selbst und schnürte den Gürtel um sein schönes Fellwams, das er über dem blauen Feiertagskittel trug. Sofort verstanden dies alle als unmissverständliches Zeichen zum Aufbruch. Was zunächst wie ein heilloses Durcheinander aussah, da jedes der Kinder plötzlich ohne auch nur ein Wort zu verlieren hierhin rannte und dorthin, stellte sich schnell als klug überlegte Abreisevorbereitung heraus. Khor zog seinen neuen Kittel an, der fast genauso aussah wie der des Vaters: Blau und am runden Kragen sowie an der Außenseite der Ärmel mit einem schmalen Streifen heiliger Ornamente bestickt. „Ja“, murmelte Khor stolz, als er mit den Fingern über die Stickerei strich. „Richtig bestickt!“

Gewöhnlich trug man Alltags nur ein schlichtes blaues Hemd. Der Feiertagskittel jedoch, war an Kragen und Ärmeln mit einer üblicherweise hellblau und weiß bestickten Leiste geschmückt. Meistens tauschte man diese, üblicherweise von alten Weibern gefertigten Leisten auf dem Markt ein und die Schwestern nähten sie dann schließlich auf den Kittel. Hier aber, an diesem, seinem Feiertagskittel, hatte die Mutter bald ein Jahr lang gearbeitet und ihn selbst bestickt. Jedes einzelne der mehrfarbigen Ornamente berichtete ihm von dem Tag, an dem es entstanden war, von der Stimmung die damals im Hause geherrscht hatte, von mancher Niedergeschlagenheit, aber auch von viel Freude und Glück. Und Mutter war hartnäckig. Jeden Abend hatte sie sich den Kittel zumindest für ein paar Stiche vorgenommen. Geheimnisvolle Zeichen waren darunter, die Khor nicht recht zu deuten wusste, ähnlich jenen auf Vaters Kittel. Der hatte Mutter unendlich viel Zeit gekostet, so prächtig war er. Fast jeder im Dorf drehte sich seither nach dem stolzen Vater um. Nicht wegen des wertvollen Materials etwa. Nein, es gab bei ihnen keine Bernsteine, Glasperlen oder türkisfarbene Fayencen. Sondern man tat es allein, weil man staunte, welch schier unendliche Arbeit sich seine Frau damit gemacht haben musste.

„Mein schöner, lieber Sohn“, lächelte ihn Mutter an und strich Khor liebevoll über den Kopf. Freilich auch, um bei dieser Gelegenheit seine verstrubbelte Mähne ein wenig zu bändigen.

„Ich danke Dir sehr, Mutter. Wirklich sehr, für den schönen neuen Kittel …“, nickte Khor.

„Komm!“, hakte sie sich bei ihm unter. „Sonst sind wir beide es nachher noch, die hinter der Karre herlaufen müssen. – Und vergiss nicht, dir noch dein Fell überzuziehen.“ Und weil sie Khors aufbegehrende Miene vorausgesehen hatte, setzte sie sogleich hinzu: „Noch blühen die Schneeglöckchen nicht. Also dürfen auch die stärksten Männer noch Felle tragen.“

So setzte sich der bunte Zug schließlich in Bewegung. Vater rechts, Mutter links von der Deichsel. An ihrer Seite Khor und an Vaters Jord. Sunna und Narti marschierten rechts neben dem Wagen und die wie immer sich wegen dieser Paarung beschwerende Ertha war mit Njörd, dem Anlass ihrer Klagen, auf der linken Seite unterwegs. Mutter bereitete sich schon darauf vor, dass sie wohl so manches Mal ihr Geschirr würde ablegen und dazwischen gehen müssen. Denn die um ein Jahr ältere Ertha war ein kräftiges Kind und ihrem Bruder Njörd körperlich deutlich überlegen. Darüber hinaus war sie aber auch eines jener Mädchen, die sich nichts, aber auch gar nichts – und erst recht nicht von Jungs - gefallen ließen.

Mitten auf dem Wagen, Vater hatte die Holzkohle so geschickt aufgestapelt, dass eine kleine Vertiefung entstanden war, die sich als Sitz anbot, thronte Perachta. Die Plane, die er über die Holzkohle gebreitet hatte, war nichts anderes, als ein riesiger Flickenteppich aus zahllosen, jeden noch so kleinen Fitzel nutzenden Stoffresten längst abgetragener Hemden, zerschlissener Hosen und ausgedienter Kittel. Doch sie gab einen beeindruckend bunt gescheckten Hintergrund für die Jüngste ab. In ihren Wollmantel gehüllt, konnte man kaum mehr von ihr sehen als ihre freche Stupsnase, die bereits nach kurzer Wegstrecke rot wie der Schnabel eines Teichhuhns leuchtete. In sich gekehrt und geradezu Ehrfurcht gebietend wie eine der weisen Frauen, die abgeschieden in den Wäldern hausten, saß sie unbeeindruckt vom Gerumpel und Geschaukel des Gefährts auf ihrem Thron und spähte in die Ferne.

Schnell waren sie am Ufer der Uneströdu angelangt und mussten von nun an immer nur auf demselben Pfad bleiben, der dem Lauf des Flusses folgend seit Hunderten von Jahren von unendlich vielen Füßen, Hufen und Rädern ausgetreten und ausgewalzt worden war. Er würde sie geradewegs zum Mittelberg bringen. Mittlerweile hatte die Sonne bereits seit geraumer Zeit versucht, die Nebel zu vertreiben. Andernorts mochte es ihr gelungen sein, doch in der feuchten Flussniederung hielten sich die Schwaden fast bis zum Mittag. Bald schon, so dachte Khor, würde er hier wieder Frösche fangen und fette, feuchte Schnecken aus denen Mutter köstliche Speisen zu bereiten wusste.

„Mann!“ rief die auf ihrem erhöhten Ausguck thronende Perachta plötzlich und deutete mit äußerster Anspannung zu der vor ihnen liegenden großen Flussbiege. „Mann – einer!“, meinte sie noch einmal, hielt kurz inne und ließ sich dann entspannt in ihren Thron zurücksinken, um weiterhin auf dem Fuß ihrer Stoffpuppe herumzukauen. Ohne auch nur einen Schritt langsamer zu gehen, setzte die Köhlerfamilie ihren Weg in Richtung der bevorstehenden Begegnung fort.

Khor spürte, wie seine Hände feucht wurden. War es doch jedes Mal eine aufregende Angelegenheit, wenn man einem Fremden begegnete. Ist es Freund oder Feind? Khor war zwar noch niemals jemandem begegnet, der sich ihm gegenüber feindlich gezeigt hatte, aber dennoch waren die Erzählungen voll von fremden, wilden Männern, die sogar vor Raub und Totschlag nicht zurückschreckten. Also hatten die Eltern ihren Kindern beigebracht, stets auf der Hut zu sein, da man letztendlich nie wissen konnte, was der andere im Schilde führte. Dennoch galt es selbstverständlich, die Pflichten der Gastfreundschaft zu erfüllen und jene der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden. Außerdem war eine derart abseits lebende Familie für jedes fremde Gesicht dankbar, das sie zu sehen bekam. Khor wurde schon ganz aufgeregt, wenn er an all die Geschichten und Neuigkeiten dachte, die der Fremde sicherlich zu erzählen hatte. Und so war er fast ein wenig enttäuscht, als Vater unvermittelt die Rechte hob und winkte.

„Es ist Högr, der Salzbauer“, sagte Vater. „Wir werden bei ihm eine kurze Rast einlegen.“

Högr und seine Familie waren als die am nächsten bei Ihnen siedelnden Menschen so etwas wie Nachbarn. Wie oft hatte Khor schon diesen Weg zurückgelegt, um bei Högr Salz für die Familie einzutauschen. Ein wenig ärgerte er sich nun über seine Einfalt, hatte er doch tatsächlich einen Atemzug lang geglaubt, schon hier, an der großen Biegung der Uneströdu, an der die geheimnisvolle Salzquelle zu Tage trat, die Högr bewirtschaftete, bereits dem ersten Fremden zu begegnen. Freundlich wie immer begrüßte der Salzbauer die Köhlerfamilie.

„Ihr seid schon auf dem Weg zum Lenzfest?! Ich werde leider noch mindestens zwei Tage brauchen, um noch genügend Salz zu sieden. Es würde sonst gerade einmal für die fälligen Abgaben reichen und es bliebe nichts übrig, um noch ein paar sehr notwendige Dinge einzutauschen.“ Und tonlos fügte er hinzu: „Meine Frau liegt danieder.“ Khor meinte die blanke Furcht in Högrs Augen erkannt zu haben, als dieser den letzten Satz ausgesprochen hatte. „Ich bin hier, um Moos zu holen für sie. Wegen des Fiebers.“

„Die Geburt?“, fragte Mutter und zog Högr zwischen sich und Khor, straffte ihr Geschirr, was alle anderen ihr gleich taten und schon setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

„Ja“, nickte Högr. „Das Kind ist noch am selben Abend gestorben und liegt nun bei den anderen hinter der Hütte. Hilderuna hatte kaum Wochenfluss und ahnte wohl schon, was auf sie zukommen würde. Schon einmal, bei unserem zweiten Sohn, war sie ins Kindbettfieber gefallen. Aber das ist lange her und sie war damals noch eine junge, kräftige Frau. Dreizehn Kinder und mindestens ebenso viele Totgeburten fordern eben ihren Tribut.“

„Urd hat Hilderunas Schicksal längst schon vorbestimmt“, sagte Mutter beherrscht. „Sie wird weiterleben, wenn Urds Plan es so vorsieht. – Und sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist“.

Högr nickte stumm und wischte mit dem Handrücken schnell die Tropfen beiseite, die Angst und Leid aus seinen Augen getrieben hatten.

Obgleich der Umweg eigentlich nicht vorgesehen war, zogen sie selbstverständlich mit Högr, um nach der Kranken zu sehen. Schweigend und beklommen betraten alle die Hütte des Salzbauern. Khor zuckte unwillkürlich zurück als er eintrat. Ein unangenehm süßlicher Geruch erfüllte den überhitzten Raum. Es war der Hauch des Vergehens, der Auflösung und des Sterbens, den er zu riechen meinte. Umringt von ihren schweigenden, zum Teil still weinenden Kindern lag Hilderuna in ihrem Bett. Zitternd vor Fieber, mit hochrotem Kopf und weit aufgerissenen Augen lag sie da. Mutter war sofort zu ihr geeilt, strich ihr liebevoll über den Kopf - schon allein, um festzustellen wie heiß er denn sei – und hielt anschließend mit beiden Händen ihre glühende Rechte.

„Sie sind da“, phantasierte Hilderuna. „Sie sind gekommen, um mich zu holen!“

„Sei ganz ruhig, Hilderuna.“ Mutter nahm den stets an ihrem Gürtel baumelnden, geheimnisvollen Beutel ab und kramte darin, wie immer darauf achtend, dass niemand so recht einen Blick auf dessen Inhalt erhaschen konnte. Ein fein gewebtes, hauchdünnes und offenbar vollkommen neues Leinentüchlein kam zum Vorschein, in das sie winzige, blau-schwarze Körner streute sowie ein seltsames Pulver. Über diesem Inhalt faltete sie den Stoff nach oben, verdrehte ihn, so dass eine kleine Kugel entstand und band diese flink mit einem Stück Bast ab. Sie steckte die Kugel kurz in den Mund und durchnässte sie so gut es ging mit ihrem Speichel. Nach einiger Zeit, während der sie die feuchte Kugel auf Hilderunas Brust gelegt hatte, steckte sie die Medizin in den Mund der Kranken. „Und nun lutschst du das. Und ihr“, wandte sie sich an alle übrigen Anwesenden, „ihr lasst Hilderuna in Ruhe. Sie muss jetzt schlafen.“

Kurze Zeit darauf hatte dann schließlich auch Mutter die traurige Kate verlassen und legte wortlos ihr Ziehgeschirr wieder an.

„Sagt im Dorf Bescheid, dass ich erst in zwei oder drei Tagen komme“, bat Högr als alle es Mutter gleich taten und sich wieder vor den Karren spannten. „Nein, die Kinder bleiben alle hier und werden dieses Jahr nicht mit ins Dorf kommen“, beantwortete er die stumm fragenden Blicke der Freunde. Helgara, seine Älteste, schluchzte leise und konnte ihre Tränen nicht verbergen. „Ja“, seufzte Högr und umarmte seine weinende Tochter umständlich, „wir hatten eigentlich schönere Pläne für dieses Lenzfest. Aber Urd hat wohl andere Dinge mit uns vor.“ Gewollt heiter und ungelenk schüttelte er seine Tochter. „Dann bleibst Du eben noch ein bisschen bei mir und wir werden dann alle zusammen zum nächsten Herbstfest ins Dorf gehen.“

„Das, was ich deiner Frau gegeben habe“, sagte Mutter nüchtern, „wird ihr Fieber nicht senken können. Aber es wird ihre Schmerzen lindern. Und es wird sie ruhig schlafen lassen.“

Schweigend hatten alle längst wieder neben, vor und auf dem Karren ihre Plätze eingenommen. Khor war froh, dass man sich wieder auf den Weg machte, um endlich der Beklommenheit dieses Ortes zu entkommen. Er vergaß sogar seinen knurrenden Magen darüber. Noch lange konnte er Högr und seine Tochter ihnen nachblicken sehen. Er fühlte sich erbärmlich, weil er das Gefühl hatte, dass man diese armen Menschen sich selbst überlies, obwohl man ihnen hätte helfen müssen.

„Anderes war nicht mehr zu tun“, schien Mutter seine Gedanken zu erraten. „Den Morgen wird Hilderuna nicht mehr sehen.“

Khor hatte das Gefühl, als ob sein Blut augenblicklich gegen Eiswasser vertauscht worden sei. „Und dennoch lassen wir Högr allein?!“

„Was willst Du tun für ihn?“, kam Mutters kühle Antwort. „Willst Du ihm ein vierzehntes Kind sein? Meinst Du, das ist es, was er jetzt braucht? Willst Du ihn trösten? Das wird seine Helgara sicherlich besser können. Und seine Hilderuna wird er schließlich noch alleine unter die Erde bringen können. Niemand von uns kann ihm wirklich helfen. Wir könnten nur betreten daneben stehen und hilflos zuschauen wie Högr sein Schicksal meistert. Außerdem können wir es uns keinesfalls leisten, das Lenzfest zu versäumen, denn auch für einen jeden von uns hat Urd ihre eigenen Pläne. Ich werde ihr gleich morgen opfern, damit sie uns wohlgesonnen bleibt und anschließend Mutter Erde darum bitten, dass sie Hilderuna gütig aufnehmen möge.“

Khor wusste, dass seine Mutter trotz des alten Glaubens, dem sie anhing, im Grunde eine vernünftige und sehr überlegte Frau war. Aber diese vermeintliche Gefühllosigkeit, die nun aus ihr sprach, hatte Khor noch nie verspürt. Und dennoch ahnte er hinter all dieser Kälte ihre glühende Liebe der Familie gegenüber. Für ihren Mann, für ihre Kinder würde Mutter alles tun. Sogar eine Freundin alleine sterben lassen.

Bald hatte man die große Biege flussabwärts hinter sich gebracht, als die Sonne den Kampf gegen die Nebelgeister gewonnen und sie restlos vertrieben hatte. Vater und Khor hatten längst schon die Wämser abgelegt und Mutter sowie einige der Mädchen ihre Mäntel, als Mutter meinte, dass der Boden sehr viel besser sei als erwartet und man deswegen schon gut vorangekommen sei. Nachdem man ein halbwegs gemütliches und windgeschütztes Plätzchen am leise vor sich hinmurmelnden Fluss gefunden hatte, verteilte sie getrocknetes Fleisch, holte zur Freude und Überraschung aller schweres, schwarzes Brot aus einem Korb und hatte sogar einen Krug mit gewässertem Brombeersaft dabei.

Schnell war die Stimmung der Rastenden gestiegen, es wurde viel geschwatzt und bald schon wieder gescherzt und gelacht. Njörd brüllte wie ein Wahnsinniger einsilbige Phantasieworte, weil das Echo, das schließlich er verursacht hatte und das der Wald vielfach zurückwarf, ihn so sehr beeindruckte. Zwischendurch benutzte er seinen Wanderstock, um mit zusammengebissenen Zähnen auf imaginäre Feinde einzudreschen.

„Heiho!“, tönte plötzlich eine fremde Stimme aus dem Wald zurück, so dass alle aufsprangen. Njörd verstummte augenblicklich und lief mit angstverzerrtem Gesicht so schnell er nur irgend konnte zum Karren zurück.

Eine Gruppe von Menschen löste sich aus dem Forst und kam direkt auf die Rastenden zu. Vollkommen in Felle gekleidet, trug jeder von ihnen große Bündel auf dem Rücken. Ein Mann, zwei Frauen und vier oder fünf Kinder, die unter ihrer Last beinahe zusammenzubrechen drohten. Es war einer der Pelztierjäger mit seiner Familie, die auf dem Weg zum Lenzfest waren.

„Bror und Fricka! Ich freue mich, Euch zu sehen“, rief der Fallensteller, dessen ungekürztes Haupt- und Barthaar kaum etwas von seinem Gesicht erkennen ließ. Seine Haare hatten nahezu dieselbe Farbe wie die Kleidung aus Fuchsfell, die er trug, so dass er wie ein roter Dämon angestapft kam, gefolgt von seiner wohlgenährten, ebenso gekleideten Frau und ihren Kindern.

Khor erinnerte sich. Schon gelegentlich hatte er „den Roten“, wie nicht nur die Kinder ihn nannten, auf den Marktfesten mit seinem Vater sprechen sehen. Freilich ohne selbst je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Denn ohne von einem Erwachsenen in ein Gespräch eingeführt worden zu sein oder von ihrem Gegenüber direkt angesprochen zu werden, hatten Kinder zu schweigen und sich nicht in die Unterhaltung der Großen einzumischen.

„Hmmmmm“, schnalzte der Rote mit der Zunge und musterte Jord und Khor fast anmaßend. „Eure Ältesten sind ja schon richtig erwachsen geworden. Ganz so wie meine beiden.“ Und ohne Jord auch nur für einen Wimpernschlag aus den Augen zu lassen, nickte er in die Richtung seiner hinter ihm und seiner Frau stehenden Kinder. Was Khor zunächst als weitere Frau erkannt zu haben glaubte, stellte sich als die älteste Tochter des Roten heraus. Kaum älter als er machte sie allerdings einen überaus reifen und sehr weiblichen Eindruck auf ihn. Was Khors Gesicht offenbar auch allzu bereitwillig verriet und was der Rote mit einem Grunzen der Genugtuung zur Kenntnis nahm. Neben ihr zeigte sich der jüngere Bruder, ein lächerliches Etwas, wie Khor meinte: Rotschöpfig wie der ganze Clan ‑ mit einem verkrüppeltem Fuß und einem eigentümlich verdrehten Arm ‑ prangte auf dem schmächtigen Körper ein ungeheuer großer Kopf mit stechend grauen Augen und einer garstigen Adlernase.

„Na“, dachte Khor bei sich, „für so ein Gespenst wird der Rote eines Tages auch noch jede Menge Mitgift geben müssen – und das, obwohl er ein Sohn ist und eigentlich etwas einbringen sollte.“ Leicht irritiert stellte er fest, dass ihm plötzlich dieser widerlich süßliche Geruch in die Nase stieg, wie er von Menschen ausging, die sich lange nicht gewaschen hatten. Mutter schien es auch zu bemerken, denn ihre Nasenflügel blähten sich zu wahren Pferdenüstern, während ihr spöttisch-mitleidiger Blick die Neuankömmlinge musterte.

„Nun, wir sollten wieder aufbrechen“, sagte sie aufmunternd zu ihren Kindern und tupfte geziert mit dem Zeigefinger an ihre Nase. Khor kannte diese Geste nur allzu gut, die innerhalb der Familie eindeutig anzeigte, dass ein Bad angezeigt wäre. Sogleich packten alle zusammen und begaben sich zu den ihnen an der Karre zugewiesenen Plätzen. „Für Plaudereien haben wir leider keine Zeit.“

„Wir folgen Euch dann einfach“, grinste der Rote und glotzte unverhohlen auf Jords Hinterteil als sie sich nach ihrem Geschirr bückte. Und schon setzte sich der nun erheblich vergrößerte Zug wieder in Bewegung.

„Dass uns prompt diese Hinterwälder über den Weg laufen mussten!“ Mutter zerrte widerwillig an ihrem Geschirr, so als ob sie der nun hinter ihnen hertrottenden, stark nach Mensch riechenden Horde davonlaufen wollte. „Diese Leute haben einfach kein Menschentum. Wie sollten sie auch?! Hausen das ganze Jahr über in ihrer Jurte und bekommen keine anderen Gesichter zu sehen, als die der von ihnen gemeuchelten Tiere.“ Und schon stellte Khor sich eine unendliche Anzahl massakrierter Füchse mit heraushängenden Zungen und glasigen Augen vor, stattliche Bären mit eingeschlagenen Schädeln und blutüberströmte schwarz-weiße Dachse.

„Na, na“, mahnte Vater um Mäßigung.

„Aber waschen hätten sie sich doch wenigstens vor dem Lenzfest mal können“, schimpfte Mutter, während Vater der lieben Ruhe, teils aber auch der eindeutig nicht gerade wohlriechenden Wahrheit willen, schließlich seinen Beifall nickte.