"Hau ab, du Flasche!" - Ann Ladiges - E-Book

"Hau ab, du Flasche!" E-Book

Ann Ladiges

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Beschreibung

Immer häufiger greift Roland zur Flasche, wenn es Probleme gibt. Lange merken die Eltern nicht, wie abhängig Roland schon ist. Bis zu jenem Tag, als er den Brillantring seiner Mutter versetzt, weil er wieder einmal dringend Geld braucht. — Kann sich Roland jetzt noch selber «aufs Trockene» retten? Genügt es, dass die Eltern gemeinsam mit ihm einen neuen Anfang versuchen wollen? Ein Buch zum Thema Jugendalkoholismus, das nicht nur Jugendliche, sondern auch ihre Eltern lesen sollten. Aufgenommen in die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis.

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Ann Ladiges

"Hau ab, du Flasche!"

 

 

Über dieses Buch

 

 

Immer häufiger greift Roland zur Flasche, wenn es Probleme gibt. Lange merken die Eltern nicht, wie abhängig Roland schon ist. Bis zu jenem Tag, als er den Brillantring seiner Mutter versetzt, weil er wieder einmal dringend Geld braucht. — Kann sich Roland jetzt noch selber «aufs Trockene» retten? Genügt es, dass die Eltern gemeinsam mit ihm einen neuen Anfang versuchen wollen? Ein Buch zum Thema Jugendalkoholismus, das nicht nur Jugendliche, sondern auch ihre Eltern lesen sollten.

 

Aufgenommen in die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Ann Ladiges war nach dem Germanistikstudium und dem Studium der Literatur- und Erziehungswissenschaften zunächst als Lehrerin tätig und arbeitete dann beim Fernsehen als Moderatorin und Autorin erfolgreicher Fernsehreihen. Sie starb am 21. Januar 2019 in Baden-Baden.

Im Haus unten muss etwas los sein. Roland zögert einen Moment, dann geht er die Treppe hinunter. Vor der offenen Wohnungstür der alten Marecke stehen Leute aus dem Haus. Roland bekommt einen Schreck. Der Steuerberater aus dem 1. Stock drängt sich an ihm vorbei.

– Ist der Alten was passiert? –

– Ich hab sie vorhin gefunden. In der Küche auf dem Fußboden. – Die Hauswartsfrau schüttelt den Kopf. – Fünfzehn Jahre hat sie nichts mehr getrunken. Und jetzt das. Die leere Flasche stand noch auf dem Tisch. –

– Na ja, dann hat sie’s ja wohl bald hinter sich –, sagt der Steuerberater im Weggehen.

 

Das Gesicht der alten Marecke ist weiß. An der rechten Schläfe tritt dick und dunkelblau eine Ader hervor.

Wie ein Wurm, denkt Roland. Wie ein Wurm. Gestern war der Wurm noch nicht da. Er muss einen Schritt zurücktreten, weil die Sanitäter mit der Trage nicht durch die Zwischentür im Hausflur kommen. Jemand öffnet den zweiten Flügel der Tür. Über die alte Marecke haben sie eine graue Wolldecke gelegt. Roland liest die eingewebten Buchstaben MALTESER HILFSDIENST. Zusammen mit den anderen Hausbewohnern geht er hinter den Sanitätern her. Sie schieben die Trage in den Unfallwagen und schließen die Tür.

 

Roland sucht in der Tasche seines Parkas nach Zigaretten. Die Packung ist leer. Seine Hand zittert. Er greift wieder in die Tasche und fühlt mit den Fingerkuppen die Tabakkrümel.

Bis zur Bushaltestelle braucht er zehn Minuten. Er wartet auf den 11er. Auf der Bank neben dem Fahrscheinautomaten sitzen zwei türkische Frauen. Sie haben Kopftücher umgebunden und tragen Hosen unter den Röcken.

Der 11er kommt voll besetzt an. Roland sieht vor sich in der offenen Tür die vielen Beine, die dicht gedrängt im Bus stehen. Er lässt die türkischen Frauen vor, sie zwängen sich in den Wagen. Roland spürt, dass ein Mann ihn ansieht. Er tritt zurück. Die Tür schließt sich, der Bus fährt ab. Roland denkt: Wenn ich mich beeile, kann ich auch zu Fuß gehen. Ist ja erst 20 nach 8, das schaff ich lässig, und die frische Luft ist sowieso besser.

Beim Frühstück hat die Mutter gedrängelt:

– Tu mir einen Gefallen und mach zu! Wenn du heute zu spät kommst, was meinst du, was das für einen Eindruck macht! –

Sie hat auch verlangt, dass er nicht die Jeans, sondern die dunkelblaue Cordhose anzieht. Sie hat ihn noch einmal genau gemustert. Ob er auch anständig genug aussähe für die Vorstellung bei FOTO-DROSTE. SPEZIALHAUS FÜR FOTOBEDARF UND EIGENES FOTOATELIER.

– Du weißt, was das für dich bedeutet, Roland! –

Natürlich weiß er das. Er selbst hatte doch immer wieder gesagt:

– Wenn ich eine Lehrstelle habe, schaffe ich es. Das kann ich euch versprechen. –

Herr Droste will ihn vielleicht nehmen. Will ihn aber erst einmal beschnuppern, wie der Vater sich ausgedrückt hat. Der Vater und Herr Droste kennen sich vom Handball, Training jeden Mittwoch von 20 bis 22 Uhr. Hinterher gehen sie immer noch ein Bierchen trinken. Der Vater hat Herrn Droste nicht erzählt, was mit seinem Sohn los ist. Der Vater ist der Meinung, dass man das nicht jedem gleich auf die Nase binden muss.

– Bitte, nimm dich wenigstens dieses eine Mal zusammen. Ein zweites Mal kriegen wir nicht diese Chance. –

 

Roland kommt es hoch, er muss würgen. Er steht noch immer an der Haltestelle. Dass ich da unbedingt heute hinmuss! Nächste Woche wäre das sowieso alles besser.

Roland friert. Er will seinen Parka zumachen. Das Zittern der Finger ist stärker geworden; er kriegt den Reißverschluss nicht zusammen. Es ist besser, wenn ich da so nicht hingehe. Sie wollen ja, dass ich einen guten Eindruck mache. Ich ruf bei dem Typ an und sag, der Bus hat einen Unfall gehabt. Ja, ein Lastwagen stand plötzlich quer und der Fahrer konnte nicht mehr bremsen. Nein, schlimm ist es nicht. Nur die Hand. Ja, ist gerade verbunden worden. Im Markuskrankenhaus. Nein, ambulant. Ich komme dann morgen. Na klar geht das. Ich bin um 9 bei Ihnen, pünktlich.

 

Roland geht in Richtung Grüneburgweg. Das Hochhaus an der Ecke Liebigstraße steht, solange er sich erinnern kann, im Rohbau da. Die beiden obersten Stockwerke hätten nicht gebaut werden dürfen, die Stadt hatte die Höhe nicht genehmigt.

Jedes Mal wenn sie an dem Kasten vorbeifuhren, ärgerte sich der Vater:

– Da bauen sie so ein Ding und dann lassen sie es vergammeln. –

– Ist ja nicht unser Geld – , meinte die Mutter.

– Das denkst du! Irgendwie bezahlen wir das doch mit unseren Steuern! –

Sie hätten ja auch die beiden untersten Stockwerke weglassen können, musste Roland damals denken. Er stellte sich vor, wie kompliziert es sein würde, aus dem Betonklotz unten wieder etwas herauszunehmen.

Roland schiebt eine Latte im Bauzaun beiseite und zwängt sich durch die Lücke. Er steigt über Bretter und verrostete Rohre. Die ersten Stufen läuft er hoch, ohne stehen zu bleiben. Auf dem Treppenabsatz wird ihm schwindlig, er lehnt sich einen Augenblick an die Wand. Hier im ersten Stock hatten sich vor einigen Wochen Penner ein Lager eingerichtet, Roland musste sich deshalb weiter nach oben verziehen. Er hatte Angst gehabt, dass ihn einer beklauen würde. Kurz vor dem dritten Stock stolpert er und rutscht die halbe Treppe wieder hinunter. Seine linke Hand blutet. Steinchen haben sich in den Handballen gedrückt. Roland fühlt es nicht. Es müssen noch mindestens drei volle Flaschen da sein! Er schafft die letzten beiden Stufen gerade noch.

Hier oben zieht es. Die Räume sind unverputzt, Rohre ragen aus den Wänden. In einer Ecke liegen Bierflaschen und staubige Plastikplanen, Zeitungspapier und Blätter, die der Wind durch die Fensteröffnungen hereingeweht hat. Der Flur macht einen Knick, dahinter ist noch ein Raum. In der einen Ecke liegt ein Haufen alter Wolldecken. Roland kniet sich auf den Boden und reißt die Decken weg: In einem Pappkarton stehen zwei ungeöffnete Flaschen Whisky und eine halb volle Flasche Korn.

Den ersten Schluck trinkt er hastig. Er wird sofort ruhiger und spürt, wie er atmet. Er steht auf und geht an die Fensteröffnung.

 

Ein gelber VW-Käfer biegt vom Grüneburgweg in die Liebigstraße ein. Zwei andere Wagen fahren geradeaus. Danach kommt ein Bus und von der anderen Seite ein Radfahrer. Der Radfahrer hält an der Ecke an und lässt den Bus vorüber. Dann fährt er weiter. Eine Frau bleibt vor dem Antiquitätenladen stehen und betrachtet die Sachen im Schaufenster. Roland sieht hinter einem Lastwagen her. Danach ist die Frau plötzlich verschwunden. Sie kann nicht in den Laden hineingegangen sein, weil der Rollladen an der Tür heruntergezogen ist. Aus dem Haus gegenüber kommen zwei Männer. Sie sehen zu dem Rohbau hinauf. Die Männer gehen schnell über die Straße. Direkt auf die Baustelle zu.

Roland tritt etwas von der Fensteröffnung zurück.

Was wollen die von mir? Ich hab damit nichts zu tun! Mit der alten Marecke, das war Buddis Idee! Außerdem wollte die Alte ja selber. Die musste doch wissen, dass sie nichts vertragen  …

 

Da fällt ihm das Manuskript ein.

Dabei war ich so sicher, dass mir so etwas nie wieder passieren könnte.

Roland ging schon ein halbes Jahr zur Schule, als die Eltern die große Party in der Wohnung feierten.

Die Mutter war nervös. Es fehlten Gläser, die Mayonnaise für den Salat war zu dünn geworden, und die Schlagsahne passte nicht mehr in den Kühlschrank, weil der schon mit Sektflaschen voll gestopft war. Der Vater ging noch einmal los, um mehr Bier zu holen. Es dauerte ewig, bis er wiederkam. Dabei hatte er nur schnell ein Bierchen getrunken. Die Mutter bekam ihre schrille Stimme. Sie hatte auch nur zwei Hände und die Frage der Sitzgelegenheiten war immer noch nicht geklärt. Roland stand ihr dauernd vor den Füßen herum. Sie drückte ihm eine große Tüte mit Kartoffelchips in die Hand.

– Hier, aber nicht alles aufessen! Und zieh dich schon mal aus. –

Als die ersten Gäste kamen, stand Roland im Schlafanzug auf dem Flur. Eine Dame brachte ihm eine Tafel Schokolade mit. Sie lachte ziemlich laut und fragte, wie alt er sei. Roland sah die Dame an. Um ihren Hals hing eine Kette mit einem großen weißen Zahn. Roland überlegte, ob der von einem Haifisch war oder von einem Tiger.

– Kannst du nicht antworten? – , fragte die Mutter. – Er wird bald 7. Nun bedank dich schön. –

Roland sagte danke und nahm die Schokolade.

 

Später hörte er, wie sie im Wohnzimmer redeten. Die Stimme seines Vaters konnte er genau verstehen. Ab und zu ging jemand über den Flur auf die Toilette. Dann legten sie Platten auf. Einmal wackelte der Fußboden ein bisschen. Jetzt tanzen sie, dachte Roland. Er kletterte aus seinem Bett und holte sich die Schokolade und die noch halb volle Tüte mit den Kartoffelchips. Die Mutter hatte sie ihm nach dem Gute-Nacht-Sagen weggenommen.

– Nach dem Zähneputzen wird nichts mehr gegessen. Das musst du nun aber langsam selber wissen. So. Und jetzt schlaf schön. –

Eigentlich schmeckt die Schokolade eklig, dachte Roland. Nicht so gut wie die Likörbohnen bei Oma Geiger. Dann schob er sich das letzte Stückchen in den Mund und aß die Kartoffelchips auf. FREMDE IN DER NACHT. Die Platte kannte er, da sang die Mutter immer mit. Das war ihre Lieblingsplatte. FREMDE IN DER NACHT …

 

Als Roland aufwachte, war es still in der Wohnung. Er hatte einen schrecklichen Durst. Die Krümel im Bett piksten ihn. Er machte seine Leselampe an und stand auf. Im Flur brannte Licht. Das hatten sie vergessen auszumachen. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, hier roch es nach Zigaretten. Den Teppich hatten sie zurückgerollt und die Sessel in die Ecke geschoben. Vor dem Plattenspieler lagen Platten durcheinander auf dem Boden, einige steckten nicht in der Hülle. Das konnte der Vater sonst nicht leiden. Auf dem Tisch standen Gläser, manche waren noch halb voll. Eine leere Flasche lag unter dem Tisch. Sie haben Sekt getrunken, dachte Roland. Wie Sekt schmeckt, wusste er. So ein bisschen wie Brause, nur nicht so süß. Die Mutter ließ ihn ab und zu mal nippen. Sie trank morgens oft einen Pikkolo.

– Ich komm sonst nicht in Schwung – , sagte sie immer.

 

Das eine Glas war noch fast voll. Roland probierte vorsichtig. Es war Sekt. Er schmeckte warm und süßlich. Roland setzte sich auf das Sofa und trank das Glas leer.

In seinem Kopf wurde es ein bisschen schwummerig. Roland mochte das. Er trank auch die Reste aus den anderen Gläsern. In dem einen Glas war etwas Scharfes, das ihm im Hals brannte.

Er spuckte es aus und prustete dabei. Wie das Robbenbaby, das er im Zoo gesehen hatte. Er war das Robbenbaby und er schwamm durchs Wasser. Er tauchte auf und unter und auf und unter. Wenn er hochkam, prustete er. Seine Spucke flog durch die Luft und er lachte. Dann entdeckte er die noch fast volle Weinflasche.

 

Als Roland aufstand, schwankte das Zimmer. Er fiel über den Tisch, stieß ein paar Gläser und Flaschen um und landete auf dem Fußboden.

– Was machst du denn hier? – , hörte er seinen Vater sagen.

– Bist du verrückt geworden? Mitten in der Nacht? –

Dem Vater stand ein Haarbüschel schräg vom Kopf ab.

Roland fühlte, wie das Lachen in ihm gluckerte. Dann kotzte er auf den Boden.

 

Am nächsten Morgen war Roland krank. Die Mutter legte ihm einen kalten Waschlappen auf die Stirn. Der Vater spottete:

– Da hast du ja richtig Schwein gehabt, dass deine Mutter den Teppich nicht wieder zurückgerollt hat. Sonst hätten wir die Sauerei da noch drauf gehabt! –

– Ach, Karl-Heinz, nun hör doch auf! –

Die Mutter streichelte Roland und deckte ihn gut zu.

– Wir hätten die Gläser gestern noch rausbringen sollen! Ich wollte das ja, aber du … –

– Jetzt krieg ich wohl noch die Schuld, wenn unser Herr Sohn mitten in der Nacht anderer Leute Gläser austrinkt. Das wird ja immer schöner! –

– Überhaupt diese ganze blöde Party. Ich weiß wirklich nicht, warum wir die alle einladen mussten! –

– Das will ich dir sagen. Weil das meine Kollegen sind! –

– Ja, genau … schöne Kollegen. –

Die Stimmen brachen sich in Rolands Kopf.

 

Der Vater war als Vertreter der HESSISCHEN LEBEN