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Seinen Humor entfaltet Paul Bokowski mit einer schleichenden Gewalt. Unbarmherzig schält er mit der Klinge seiner eigenen Neurosen so lange an allem Zwischenmenschlichen herum, bis das Absurde darin zum Vorschein kommt. Was bleibt, ist die schwerwiegende Befürchtung, dass das alles wirklich so passiert ist. Die Geschichten Paul Bokowskis beginnen stets mit einer hochgezogenen Augenbraue. Sie erzählen von der Bürde eines unkündbaren Newsletters, den zwischenmenschlichen Grenzerfahrungen einer Schlager-Nackt-Party oder den einzigen NPD-Wählern mit Migrationshintergrund. Sie berichten von den sexuellen Vorzügen einer Hausratsversicherung, den Nachteilen essbarer Unterwäsche und Gefrierbeuteln mit der Aufschrift "Stefanie und Jürgen". Geschichten wie ein skeptischer Blick, nicht auf andere herab, sondern auf den stillen Nebenmann, der nicht weniger verstohlen zu uns hinüberblinzelt.
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Paul Bokowski
GESCHICHTEN
wurde im polnischen Winter gezeugt und 1982 im sommerlichen Mainz geboren. Seit zehn Jahren lebt er in einem der unbeirrbarsten Problembezirke der bundesdeutschen Hauptstadt. Er ist festes Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift »Salbader« und jüngstes Mitglied der Berliner Lesebühne »Brauseboys«. Gelegentlich tritt er als Autor für das Berliner Kabarett »Die Stachelschweine« und das Satiremagazin »Titanic« in Erscheinung. www.paulbokowski.de
1. Auflage März 2012
© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2012www.satyr-verlag.de
Cover: Paul BokowskiDruck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in Germany
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de
Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.
ISBN: 978-3-9814891-2-5
Ich höre was, was du nicht hörst
Da kenne ich keine Skrupel
Der Newsletter
Weihnachten bei Klippanståds
Das Ding aus einer anderen Welt
Auszüge aus dem Evangelium nach Facebook
Bankgeflüster
Der Versuch der alten Dame
Photoshop, mon amour
Du bist jetzt Opfer
Cord an Cord
24 Stunden Paul Bokowski
Bokowski und die Brandstifter
Denn sie wissen nicht, was sie tun
Der Schatten
Leonie 3. Oder: Das Sexualverhalten der Gattung Mensch
Herr Caycig. Oder: Der Tod steht ihm gut
Wenn der Vater mit dem Sohne skypt
Die Kinder zum Hof
Briefe, die einer schrieb, bevor er an den Folgen einer Mandel-OP zu Grunde ging
Stefanie und Jürgen
Die Schlager-Nackt-Party
Sprich mit mir
Eine gefräßige Person
Polnisches Gepäck
Ich hab noch eine Wohnung in Berlin
Etwas Schreckliches ist passiert. Nie hätte ich gedacht, dass es wirklich so weit kommen könnte, aber es ist. Plötzlich, unerwartet und ohne jede Vorwarnung: Meine Mutter hat mich gegoogelt.
Zu meiner großen Überraschung und all den sinistren, morbiden, beschämenden und vor allem unmoralischen Informationen über mich, die dieses wundervolle Unding namens »Internet« einfach nicht vergessen will, war es ausgerechnet mein Backblog, der meine Mutter in eine gewisse Unruhe versetzte. Eine Unruhe ob der erschreckenden Erkenntnis darüber, dass ich zu ihrer großen Verwunderung technische Geräte bedienen könne, die (wie sie es nannte) nicht über einen USB-Anschluss verfügen. Ich bin entsetzt! Meine Mutter hat »USB-Anschluss« gesagt. Seit wann weiß meine Mutter, was ein USB-Anschluss ist? Ob ich jemals über sie gebloggt hätte, wollte sie wissen. »Gebloggt« – sie sagte wirklich »gebloggt«! Wer ist diese Frau und was hat sie mit meiner Mutter gemacht? Noch ein dritter Fachterminus dieser Art und ich werde Mutter fragen, seit wann sie meinen Vater mit einem Informatiker betrügt. Während ich Mutter versichere, dass ich niemals über sie bloggen würde und wenn überhaupt, dann doch nur über eine literarisch abstrahierte Version, die mit ihrer Person doch überhaupt nichts mehr gemein hat, lösche ich alle Einträge in meinem Blog, die die Begriffe »Mutter«, »Alte Schabracke« oder »Das verbitterte Ding an der Seite meines Vaters« beinhalten.
Er
Paul?
Ich
Hm.
Er
Paul?
Ich
Hm?
Er
Paul?
Ich
Hmmmm?
Er
Schläfst du?
Ich
Eheh.
Er
Da pocht was.
Ich
He?
Er
Ich kann nicht schlafen. Da pocht was.
Ich
Hm hmocht hmix.
Er
Was?
Ich
Da pocht nix.
Er
Doch. Hör doch. Da pocht was. Ganz deutlich!
Ich
Neeee, da pocht nix.
… Da wummert höchstens was.
Er
Da wummert doch nix. Das pocht!
Ich
Es ist jetzt halb zwei. Da pocht nix. Um halb zwei wummert’s.
Er
Was?
Ich
Um halb zwei wummert’s!
Er
Es wummert?
Ich
Ja! Es wummert.
Er
Was ist denn Wummern?
Ich
Wummern ist ein Mischgeräusch. Pochen nicht.
Er
Ein Mischgeräusch?
Ich
Ja, ein Mischgeräusch! Es wummert eben. Es knackt, es rumpelt, es schallt, es scheppert, es rattert, es holpert, es dröhnt, es knattert, es poltert, es hämmert, es kratzt, es läutet, und wenn du ganz genau hinhörst, dann rasselt es auch ein bisschen.
Er
Ich hör kein Rasseln. Nur ein Pochen. Vielleicht auch ein Wummern. Aber bestimmt kein Rasseln.
Ich
Du kommst auch aus Charlottenburg.
Er
Was hat das denn damit zu tun?
Ich
Das ist immer so! Pochen. Pochen! Leute aus Charlottenburg hören immer nur ein Pochen!
Er
Ich komm aber aus Wilmersdorf.
Ich
Das macht auch keinen Unterschied. Leute aus Steglitz, Schöneberg, Zehlendorf, Tegel, Spandau. Die hören immer nur ein Pochen. Einmal war einer aus Köpenick hier: Der hat ernsthaft behauptet, es pulsiert. Pulsiert!
Er
Da pulsiert doch nix.
Ich
Eben!
Er
Es pocht nur.
Ich
Nein! Es knackt, es rumpelt, es schallt, es scheppert, es rattert, es holpert, es dröhnt, es knattert, es poltert, es hämmert, es kratzt, es läutet und wenn du ganz genau hinhörst, dann rasselt es auch ein bisschen.
…
Du, hör mal zu. Das ist wie mit den Eskimos und Schnee. Wir Leute hier im Wedding wir haben einfach ein paar Begriffe mehr für Lärm als ihr.
Er
Ach Quatsch! Ich hab mal bei jemandem im Prenzlauer Berg geschlafen, da hat es auch gewummert.
Ich
Das ist aber ein ganz anderes Wummern!
Er
Ein anderes Wummern?
Ich
Ja! Im Prenzlauer Berg, da rattert doch nichts. Da knattert und röchelt und dröhnt und hämmert doch niemand. Da brüllt und quäkt und krakeelt auch niemand. Im Prenzlauer Berg, da fiept es, und es säuselt und knistert und zischt und raschelt und manchmal poltert es ein bisschen. Aber da weiß doch niemand, wie sich eine Metallfräse anhört. Schon gar nicht um drei Uhr morgens.
Er
Ich bleibe dabei: Es pocht!
Ich
NEIN, VERDAMMT! Da pocht nix. Wenn die Waschmaschine von der alten Prokopowicz beim Schleudern durch den Flur wandert und der Gülkan im Zweiten seine Alte rannimmt, dass es klingt, als würde jemand eine halbe Tonne Hackfleisch verprügeln, und der Liebelt aus dem Dritten seit einer halben Stunde die gleiche Nummer von den Scorpions spielt, DANN pocht es. Aber gewaltig!
Er
… Wie kannst du denn bei dem Lärm nur schlafen!?
Ich
Ich mache einfach die Augen zu und warte so lange, bis ich wieder wach werde!
Er
Das klappt doch eh nicht …
Ich
Jetzt hör mal zu: Ich hab dich doch gewarnt!
Er
Was?
Ich
Ich hab gesagt, dass du gern zum Beischlaf vorbeikommen kannst. Du kannst auch gern hier frühstücken, hab ich gesagt. Nur hier schlafen: Das kannst du nicht.
Er
Du bist ein echter Sonnenschein!
Ich
Jetzt werd doch nicht gleich grantig! Ich hab einfach Erfahrung in diesen Dingen! Ich hab noch nie jemanden erlebt, der auf Anhieb hier schlafen konnte. Das braucht mindestens vier oder fünf Wochen, bis man anfängt, die ganze Geräuschkulisse auszublenden.
…
Wenigstens riecht es nicht!
Er
Riechen?
Ich
Ja, riechen! Ich habe zwei Kroaten, vier Türken, einen Koreaner, sechs Vietnamesen und drei Westfalen hier im Haus. Zweimal in der Woche wache ich nachts auf, weil irgendeiner von den Hirnis auf die Idee gekommen ist, sich mitten in der Nacht ein Köfte, ein Odojak oder einen Pickert zu braten.
Er
Was ist denn Pickert!?
Ich
Ich habe keinen blassen Schimmer, was ein Pickert ist! Aber man könnte genauso gut über der Friteuse einer Currywurstbude übernachten!
…
Außerdem können wir uns glücklich schätzen, dass es nicht gerade regnet.
Er
Ach, ich find das ja eigentlich ganz beruhigend, wenn der Regen so gegen die Fensterscheiben prasselt.
Ich
Prasselt! Das ist auch so ein Prenzlauer-Berg-Wort.
Er
Was ist denn so schlimm daran, wenn’s prasselt.
Ich
Nichts! Es ist gar nichts schlimm daran, wenn’s prasselt. Es ist schlimm, wenn es regnet!
Er
Und warum?
Ich
Weil’s stinkt.
Er
Wonach?
Ich
Na, nach Scheiße!
Er
Was? Wieso denn nun nach Scheiße?
Ich
Ach Mensch! Das ist doch wie mit einem Hund.
Er
Einem Hund?
Ich
Ja! Ein trockener Hund stinkt nicht. Wenn man ihn aber nass macht, dann ist die Kacke am Dampfen.
Er
Versteh ich immer noch nicht.
Ich
Na gut. Schau: Du kennst doch diese Putzautos von der Berliner Stadtreinigung. Die Dinger mit diesen rotierenden Bürsten vorne dran. Die bürsten den ganzen Dreck nicht weg. Die massieren den ein! Seit Jahren, ach was red ich, seit Jahrzehnten wird die Hauptstadt imprägniert – Schichten um Schichten, Lagen um Lagen, Jahrgänge um Jahrgänge von Hundekot.
Er
Du meinst, Berlin ist gar nicht auf Märkischem Sand erbaut, sondern …
Ich
Märkischer Scheiße! Und es muss nur ein einziges Mal regnen, dann wird das alles wieder flüssig!
Er
… Ich glaub, ich fahr nach Hause.
Ich habe den größten Teil des Vormittages damit zugebracht, einen Nachruf auf meine Großmutter zu schreiben. Meinen emotionalen Zustand würde ich als relativ stabil bezeichnen. Die nicht zu leugnende schriftstellerische Freude daran, sich in einer bisher völlig unbekannten literarischen Gattung auszuprobieren, relativiert die gelegentlichen Heulanfälle. Version Nummer eins, beendet gegen vierzehn Uhr, würde ich mit der mir so üblichen Bescheidenheit als nahezu grandios bezeichnen.
Mutter dagegen zeigte sich am Telefon nur mäßig begeistert von meinem Nachruf auf Großmutter. Argumentativ untermauerte Kritik blieb sie mir dabei allerdings schuldig. Was sie nach eigener Aussage am meisten an meinem Nachruf störe, sei die Tatsache, dass Großmutter noch gar nicht tot ist.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ich meiner Mutter eine mangelhafte Fähigkeit zur Weitsicht vorwerfen muss. Ich habe versucht, eine zweite Meinung einzuholen, jedoch war Großmutter telefonisch leider nicht erreichbar.
Ich stand ratlos vor meinem Briefkasten und wendete das cremefarbene Kuvert grübelnd in meiner Hand. Gelegentliche Anrufe meiner Eltern zu nachtschlafender Zeit (14.00 Uhr), insbesondere durch Mutter, war ich seit meinem Auszug vor vielen Jahren ja gewohnt:
»Hallo Sohn. Schläfst du noch?«
»Ja.«
»Rate mal, wen ich eben getroffen habe!«
»Keine Ahnung.«
»Die Tante Inge.«
»Wen?«
»Na, die Tante Inge.«
»Mutter, ich habe keine Tante Inge.«
»Na doch, die Inge. Die kennst du. Mit der habe ich früher gearbeitet. Ihr Kinder habt immer ›Tante Inge‹ zu ihr gesagt.«
»Welche Inge denn? Und was heißt hier überhaupt ›ihr Kinder‹? Ich bin Einzelkind, Mutter!«
»Mensch! Du kennst doch die Inge noch. Die Schwarze!«
»Wie ›die Schwarze‹!?«
»Na, die hatte immer so schwarze Haare.«
»Deswegen ist die Inge noch lange keine Schwarze!«
»Na, siehst du! Du weißt doch, wen ich meine.«
»Nein, Mutter! Ich weiß nicht, wen du meinst!«
»Doch.«
»Nein!«
»Doch!«
»Nein, Mutter! Ganz sicher.«
»Ganz sicher?«
»Ja. Ganz sicher. Wirklich. Ganz sicher!«
»Doch, doch. Die Inge. Die kennst du. Da bin ich mir ganz sicher.«
Noch immer drehte ich den cremefarbenen Briefumschlag in meiner Hand. Wäre es kein Brief, sondern eine E-Mail, ich hätte einfach auf den kleinen Mülleimer geklickt und die Nachricht wäre zu meinen anderen engen Freunden Vivienne Cox, Tamara Dickson und Mahnung Sparkasse in den Spamordner gerutscht. Das Medium ist die Botschaft. Da kenne ich keine Skrupel. Im Krieg und im Internet ist alles erlaubt.
Dieser kleinen Postwurfsendung meiner Eltern allerdings, die mich mit ihrer D-Mark-Euro-Übergangsmarke anstarrte, hatte ich nichts entgegenzusetzen. Moment. Doch. Etwas gab es da: Vor dem Haus stand ein Briefkasten der Deutschen Post. In meiner Tasche spürte ich einen Kugelschreiber. Die Versuchung war gewaltig. »Unbekannt verzogen!« würde ich neben das Gesicht von Clara Schumann kritzeln. »Unbekannt verzogen!« und den Brief wieder auf seine Reise schicken. Eine Nachricht der Abweisung. Das wollte ich meinen Eltern antun. Wegdrücken! Aber ich konnte nicht. Schon in das Adressfeld hatte meine Mutter systematisch Schreibfehler eingearbeitet, einzig und allein, um Mitleid zu erregen und mich in eine wohlwollende Stimmung zu versetzen.
Wenn man auf einem Flohmarkt etwas verkaufen will, dann muss man Mitleid erwecken. Sonst steht man am Ende des Tages noch da, mit all seinen CDs von Michael Jackson, Lena Meyer-Landrut und dem drehbaren Musikkassettenständer (da kann er noch so retro aussehen). Am besten schreibt man sich ein Schild. »Alles zum halben Preis« sollte darauf stehen, weil Geiz fast genauso gut zieht wie Mitleid. Das Schild schreibt man in Großbuchstaben. Das Wort »alles« allerdings mit nur einem »L«, das »N« von »halben« schreibt man spiegelverkehrt und in den i-Punkt von »Preis« macht man ein kleines Loch. Dann besorgt man sich ein Kind, am besten so schmutzig, dass man nicht genau sagen kann, ob Junge oder hässliches Mädchen, setzt es an den Tapeziertisch und versteckt sich hinter dem Schild, bis die ersten Leute kommen. Diese werden das Schild anschauen, das Kind, dann wieder das Schild und das spiegelverkehrte »N«. Und sie werden sich denken: »Ach, wie süß.« Ein wohlfeiles stumpfsinniges Lächeln wird über ihr Gesicht wandern, sie werden den Blick über die Auslage schweifen lassen und schließlich sogar den gröbsten Unfug an sich nehmen wollen. »Was soll denn das indianische Traumfängerchen kosten?«, werden sie fragen. (Ein Werbegeschenk von Bertelsmann.) Dann flüstert man »15 Euro« durch das Loch im i-Punkt. »15 Euro«, sagt dann das Kind, mit schwacher, flehender Stimme. Am besten sucht man sich ein Kind, das lispelt, in einem logopädischen Kindergarten vielleicht. Das geht immer noch ein bisschen besser. »Bitte!?«, werden die Leute sagen. »15 Euro!? Für so ein Traumfängerchen! Das ist aber schon ein bisschen teuer.« Dann flüstert man ein zweites Mal durch den i-Punkt, und das Kind soll sagen: »Wenn ich den Traumfänger nicht verkaufe, dann schlägt mich meine Mutter.« In den meisten Fällen wird das wirklich funktionieren. (Am besten allerdings auf dem Sonntagsflohmarkt am Arkonaplatz in Berlin-Mitte.)
Während ich die Treppe in den vierten Stock hinaufstieg, ließ ich meinen Blick abermals über das Adressfeld schweifen. Tatsächlich hatte meine Mutter einen Fehler eingebaut. Sie hatte die Straße, in der ich damals lebte, falsch geschrieben. Lüderitzstraße. Mit »y« hinter dem »L« anstatt dem eigentlichen »ü«. Lyderitzstraße. Im Grunde ein polnischer Gewohnheitsfehler. Denn mit gewissenhafter Überzeugung schreiben die meisten schlesischen Spätaussiedler jedes deutsche Wort, in dem ein »ü« vorkommt, lieber mit »y«. Yberraschung, myde, gryn oder Yberweisung. Begegnet ihnen aber ein Wort, welches wirklich mit »Y« geschrieben wird, so regt sich Konrad Duden’scher Ehrgeiz in ihnen, und sie schreiben: »Psüchologie« oder »Labürinth«. Auch meine Eltern praktizieren diese schlesische Tradition seit nunmehr 30 Jahren. Einmal las ich »Labyrinth« sogar mit Doppel-»ü«: »Labürünth«. Kurzzeitig wähnte ich mich anatolischer Abstammung.
Wer einmal in seinem Leben auf dem nationalen Schlesiertreffen in Hannover war und noch immer einen todsicheren Weg sucht, die mehr als treudeutschen Ostgebietler und zugleich einzigen NPD-Wähler mit Migrationshintergrund von ihrer angeheirateten Westverwandtschaft zu unterscheiden, dem seien folgende Prüfungen ans Herz gelegt. Zum einen ist es ratsam, den rechten Oberarm zu untersuchen. Ein Westarm ist glatt und unversehrt, während auf jedem Spätaussiedlerbizeps eine kreisrunde Narbe zu finden sein wird, als hätte man die slawische Jugend nicht mit einer Nadel geimpft, sondern mit einem Pritt-Stift. Reicht auch diese Information nicht aus, um Schlesier von Mutterländlern, Heimatvertriebenen oder Sudetendeutschen zu unterscheiden, so sei der slawischen Verdachtsperson zum anderen einfach ein Zettel und ein Stift in die Hand gedrückt und die Aufforderung mitgegeben, einmal das Wörtchen »Gynäkologenüberschuss« zu schreiben. Wird man nun »Günäkologenyberschuss« auf dem Zettel lesen, so kann man sich sicher sein, einen Menschen vor sich zu haben, der noch immer mit Sicherheit zu sagen weiß, welche Postleitzahl die freie Reichsstadt Danzig hatte.
Als ich den vierten Stock erreichte, meine Wohnung betrat und die Tür hinter mir ins Schloss fiel, klingelte das Telefon:
»Hallo Sohn. Bist du wach?«
»Ja.«
»Hast du meinen Brief gekriegt?«
Ein letztes Mal drehte ich das Kuvert in meinen Händen.
»Welchen Brief?«
»Na, ich habe dir einen Brief geschickt.«
»Einen Brief?«
»Ja.«
»Warum schickst du mir denn Briefe?«
»Deine E-Mails liest du ja nicht.«
»Du kannst doch zur Abwechslung mal anrufen«, sagte ich. Aber meine Mutter ist wie ein sechsjähriges Kind: Sie kann keine Ironie.
»Warst du denn heute schon am Briefkasten?«
»Ja. Gerade eben.«
»Und?«
»Kein Brief.«
»Kein Brief?«
»Nö.«
»Gar keiner?«
»Gar keiner.«
»Kein einziger?«
»Nein.«
»Gar nichts?«
»Nö. Nur eine Karte. Von Thomas.«
»Wer ist denn Thomas?«
»Aber Mutter, du kennst doch Thomas.«
»Ich kenne keinen Thomas.«
»Natürlich kennst du Thomas.«
»Welcher Thomas?«
»Na, Thomas! Der hat mit mir studiert.«
»Welcher Thomas denn?«
»Der Rote.«
»Wie ›der Rote‹?«
»Der Thomas mit den roten Haaren. Den kennst du doch!«
»Nein.«
»Doch.«
»Nein!«
»Doch! Ganz sicher! Sag mal, Mutter, schläfst du noch?«
Auch im Wedding geschehen noch Zeichen und Wunder: Die Hausverwaltung hat unseren Hausflur renoviert. Wobei das eigentliche Wunder darin besteht, dass sie nicht nur elanvoll damit angefangen, sondern ihn auch zu Ende renoviert hat. Entgegen der diesjährigen Mode in Sachen Auslegeware ist es kein fleischfarben-marmoriertes PVC, sondern ein weinroter Sisalteppich, der die frisch lackierten Treppen hinaufwandert. Immer wieder klingeln jetzt wildfremde Weddinger aus der Nachbarschaft an unserer Haustür und rufen durch die Gegensprechanlage: »Wir wollen den Teppich sehen!« Dann drücke ich auf den Summer und laufe ihnen entgegen, mit einem Korb voller Souvenirs, Ansichtskarten und Erfrischungsgetränke.
Seit etwa acht Jahren bekomme ich alle vier Wochen einen Newsletter. Den Newsletter eines Theaters, um genau zu sein – der Schaubühne am Lehniner Platz. Man hatte mich damit geködert, dass jeder Newsletter ein kleines Gewinnspiel enthielt. Alle vier Wochen konnte man Freikarten gewinnen.
Das ist schon lange nicht mehr so! Der Andrang oder der Aufwand mögen zu groß gewesen sein, aber vor vielen Jahren schon wurde das Gewinnspiel einfach wegrationalisiert. Seitdem habe ich aufgehört, den Newsletter zu lesen. Tatsächlich ärgere ich mich mittlerweile, dass ich ihn überhaupt noch bekomme. Denn schon vor Monaten habe ich erfolglos versucht, ihn wieder abzubestellen:
»Dies ist ein Newsletter der Schaubühne am Lehniner Platz. Zum Abbestellen senden Sie bitte eine leere E-Mail an [email protected]«
Das habe ich getan, genau das, und ich tue es noch immer. Denn es will und will nicht funktionieren. Anstatt der erhofften Kündigungsbestätigung trudelt alle vier Wochen ein brandneuer Newsletter der Schaubühne bei mir ein und jedes Mal, beharrlich und ausdauernd, antworte ich mit einer leeren E-Mail an [email protected].
Vor einiger Zeit erreichte mich aber eine eher ungewöhnliche, wenn auch seltsam vertraute E-Mail, die ich mir bis jetzt noch nicht so recht zu erklären weiß.
16. September – 23.36 Uhr
halloich möchte fortan keinen newsletter der schaubühne mehr zugeschickt bekommen.vielen dank und weiterhin gute arbeit!ihr thorsten bock
Das Problem daran: Ich bin weder die Schaubühne noch kenne ich einen Thorsten. Zumindest keinen Thorsten Bock. Einen Augenblick lang überlegte ich, ihm zu antworten oder die E-Mail einfach an [email protected] weiterzuleiten. Aber dann beschloss ich, die Angelegenheit einfach auf sich beruhen zu lassen, und ging zu Bett.