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Büffeln fürs Abitur – nichts ist Yvonne, Helga und Kicki mehr zuwider. Wäre es nicht das Geschickteste, sich einfach einen reichen Mann zu angeln und die Füße hochzulegen? Alle drei haben sich für diesen Plan unglücklicherweise denselben ausgesucht, und nicht nur sie: Dr. Herbert Jung, der neue Deutschlehrer, wird gleich an seinem ersten Tag an der Schule zum Schwarm aller Mädchen, und jede von ihnen lässt sich etwas anderes einfallen, um ihn um den Finger zu wickeln und für sich zu gewinnen. Yvonne schreckt nicht einmal davor zurück, die Behauptung in die Welt zu setzen, dass Dr. Jung sie vergewaltigt habe, wohingegen Helga, die Verträumte, die Sache ganz anders angeht. Viel kussechter Lippenstift, Intrigen und Ellbogen kommen zum Einsatz, doch Jungs Einfallsreichtum haben alle unterschätzt ... -
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Seitenzahl: 280
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Marie Louise Fischer
Romane
SAGA Egmont
Haus der gefangenen Herzen
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1976 by Xenos Verlagsges., Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718889
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
„Hurra, das wäre geschafft!” rief Yvonne und warf ihren Koffer mit Schwung auf eines der beiden Betten. „Moralpredigten, Standpauken und Familienzeremonien bis zu den nächsten Ferien mal wieder heil überstanden. Nie hätte ich gedacht, daß ich mich auf den ersten Schultag freuen könnte.”
„War’s so schlimm?” erkundigte sich ihre Freundin Helga mitfühlend. „Aber ich muß schon sagen, in der Prachtbude, die wir fürs neue Schuljahr ergattert haben, kann ich dem Internatsleben neue Reize abgewinnen.”
Helga öffnete eines der Fenster ihres im renovierten Ostflügels des Schloßinternates Hohenwartau gelegenen Zimmers und genoß den freien Blick über den Schloßpark, die Tennisplätze, das Schwimmbad bis zu den Alpengipfeln. „Die Aussicht ist einfach umwerfend!”
Yvonne betrachtete ihr hübsches, braungebranntes Gesicht mit den hellblauen Augen und dem weichfallenden blonden Haar wohlgefällig in dem kleinen Taschenspiegel. „Aber Penne bleibt Penne, und bei der Büffelei wird uns das Lachen schon noch vergehen”, gab sie zu bedenken. „Möchte bloß wissen, wozu das alles gut sein soll. Na ja, wenn’s brenzlig wird, kann ich ja immer noch heiraten. Mit einem reichen, schikken Knaben wär ich ein für allemal die Sorgen los.”
Beide mußten lachen.
„Du, hier habe ich was für dich. Als ich die Sachen im Schaufenster sah, bin ich drauf geflogen. Hinterher merkte ich aber leider, daß sie zu meinem blonden Haar unmöglich aussehen.”
Yvonne zog einen knallgelben Schal und eine passende Baskenmütze aus dem Koffer und warf beides der Freundin zu.
Helgas braune Augen strahlten vor Freude. „Du, die sind ja wirklich rasant!” staunte sie. Sie setzte die Mütze auf ihr braunes Haar, schlang den Schal um den Hals und rannte in den Waschraum, um sich im Spiegel zu bewundern.
„Wenn ich dich nicht hätte, Yvonne”, sagte sie, als sie zurückkam, „wüßte ich wahrhaftig nicht, womit ich meine alten Klamotten aufmöbeln könnte. Aber was will ich bei fünf Geschwistern schon groß verlangen von meinem Vater.”
Zehn Minuten später – Helga und Yvonne waren gerade beim Überziehen der Betten – stürmte Barbara Miller, genannt Babsy, zu ihnen herein, eine langbeinige, ebenholzschwarze Schönheit.
„Kinder, eine Sensation!” rief sie aufgeregt. „Kommt rasch! Ein neuer Pauker ist da!” Und schon war sie wieder draußen.
Helga und Yvonne stürzten ihr nach in das große Wohnzimmer, dessen Fenster zum Hof hinaus blickten. Ellen, ein sportliches Mädchen mit honigblondem Haar, deren Vater als Botschafter in Afrika lebte, lehnte weit über die Brüstung und starrte hinunter. Babsy hatte sich neben sie gequetscht, und die rothaarige Uschi öffnete gerade das zweite Fenster und spähte hinab.
„Wo? Wo? Wo?” rief sie aufgeregt.
Aber ohne ihre Brille, die sie aus Eitelkeit nur selten auf der Nase hatte, war sie auf Ellens Beschreibung angewiesen:
„Peil das knallrote kleine Auto genau gegenüber an! Der junge Mann mit der Tweedjacke, der ist es!”
Uschi konnte nichts als einen verschwommenen roten Fleck erkennen und raffte sich nun doch auf, ihre Brille zu holen.
Yvonne hatte sich auf die Brüstung geschwungen. „Eine tolle Type”, stellte sie sachkundig fest, „wie der seinen Regenmantel über der Schulter trägt – einfach lässig.”
„Sieht nicht schlecht aus’’, gab Helga zu, „aber woher wollt ihr überhaupt wissen, daß er Pauker ist?”
„Das kannst du dir doch an allen fünf Fingern abzählen!” erklärte Babsy. „Er ist zu jung, um Vater einer Schülerin zu sein, und außerdem ist er ganz allein gekommen …”
„Ist doch sonnenklar”, unterbrach sie Ellen. „Dr. Hansemann ist pensioniert worden, und Tweedy ist unser neuer Lehrer für Deutsch und Englisch.”
Und schon hatte der junge Mann in der Tweedjacke seinen Spitznamen weg.
„Fast zu schön, um wahr zu sein”, sagte Yvonne, „ein klasse Lehrer, das wäre endlich mal ein Lichtblick in unserem trüben Dasein!”
„Süß!” hauchte Uschi, die nun endlich ihre Brille aufhatte und die Sensation erspähen konnte.
Unten tat sich etwas Neues. Fräulein Gertrud Pförtner, Turn- und Handarbeitslehrerin des Internates, außerdem Tochter des Direktors, trat auf den Ankömmling zu und begrüßte ihn mit Handschlag.
Drei weitere Schülerinnen der zwölften Klasse, Margot, Hannelore und Ilse, polterten mit ihrem Gepäck in das Wohnzimmer. „Wir haben einen neuen Lehrer!” riefen sie gleichzeitig. „Doktor Herbert Jung heißt er! – unterrichtet Deutsch und Englisch! – Trudchen begrüßt ihn gerade!”
„Was ihr nicht sagt!” piepste Babsy zurück. „Wir beobachten Tweedys ersten Auftritt schon seit fünf Minuten von unseren Logenplätzen aus.” Babsys Eltern waren berühmte Opernsänger, ihre Mutter war in Mailand, ihr Vater in München engagiert, und so lag ihr der Theatervergleich nahe.
„Jedenfalls ist er genau mein Typ”, stellte Yvonne fest, „wenn das nichts mit uns wird, schluck ich ‘nen Besen quer.”
„Dann erstick mal schön. Wetten, daß ich größere Chancen habe”, erklärte Hannelore. Sie war schon 19 Jahre alt, sehr damenhaft, mit kastanienrot getöntem Haar und Erfahrungen.
„Nur zu eurer Information: Macht euch auf meine Konkurrenz gefaßt!” verkündete Margot.
„Das ist doch die Höhe!” rief Yvonne. „Ich denke, du bist glücklich verlobt?”
„Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Besseres findet!” lachte Margot.
„Wenn eine von uns überhaupt eine Chance hat, dann bin ich es”, behauptete die strohblonde, sommersprossige Ilse.
Helga wurde es zu bunt. „Leutchen, mir scheint, ihr seid komplett verrückt! Bildet ihr euch denn wirklich ein, daß Tweedy mit einer von uns anbändeln würde? So bekloppt ist er bestimmt nicht, es würde ihn ja seine Stellung kosten! Ganz davon abgesehen finde ich, daß ihr doch ein bißchen zu alt sein solltet für so eine blödsinnige Schwärmerei!”
„Das ist keine Schwärmerei, das ist Liebe auf den ersten Blick!” schrie Yvonne.
In diesem Augenblick brauste Fräulein von Zirpitz, die Erzieherin der zwölften Klasse, in das Wohnzimmer. „Meine Damen, meine Damen!” rief sie und klatschte affektiert in die Hände. „Ich bin empört. Ich sehe mich gezwungen, dieses unqualifizierte Betragen dem Herrn Direktor zu melden.”
Die Mädchen verließen eilig ihre Fensterplätze und bestürmten Fräulein von Zirpitz, genannt die Zirpe, mit Bitten um Gnade.
„Nein, nein, nein!” wehrte sie ab. „Machen Sie sich lieber sofort daran, Ihre Sachen auszupacken und die Betten zu überziehen. In einer halben Stunde werde ich die Zimmer inspizieren.” Sie rauschte davon.
Alle beeilten sich, daß sie in ihre Zimmer kamen, und begannen in rasender Eile ihre Sachen zu verstauen. Die Zirpe verstand es, ihnen das Internatsleben zu vermiesen.
Gleich am ersten Schultag hatte die zwölfte Klasse in der dritten Stunde Deutschunterricht. Als der neue Lehrer den Raum betrat, hielten die Mädchen den Atem an. Würde er aus der Nähe auch so attraktiv wirken, wie er ihnen auf den ersten Blick vom Schloßfenster herab erschienen war?
Sie hatten sich nicht getäuscht. Tweedy oder Dr. Herbert Jung, wie er sich vorstellte, war ein ungeheuer sympathischer junger Mann, zwar keine Schönheit, aber männlich und interessant. Seine Nase war ein wenig zu groß, seine Stirn breit und ausdrucksvoll, und die hellen grauen Augen, die einen auffallenden Kontrast zu seinem braungebrannten Gesicht bildeten, waren von hellen Lachfältchen umgeben.
Den Schülerinnen der zwölften Klasse wurde es ganz anders zumute, als sie sich von diesen durchdringenden grauen Augen gemustert sahen. Selbst Helga wurde es ziemlich mulmig, als er sie, wie alle anderen, nach ihrem Namen fragte.
Alle hatten sich für diese erste Begegnung herausgeputzt, trugen ihre kürzesten Röcke, die engsten Pullis und hatten soviel Make-up aufgelegt, daß sie Fräulein von Zirpitz’ Kontrolle nur im Halbschatten zu passieren wagten.
Dr. Herbert Jung schien gegenüber all diesen Reizen völlig unempfänglich zu sein. Er stürzte sich sofort auf das Pensum und ließ seine Blicke nie tiefer als bis zur Augenhöhe seiner Schülerinnen gleiten, so daß es gar keinen Zweck hatte, sich in Positur zu werfen.
Aber gerade diese Gleichgültigkeit machte ihn noch anziehender. Tweedy war der einzige gut aussehende Mann in jüngeren Jahren im Schloßinternat, und die anfängliche Begeisterung der Mädchen steigerte sich bald in Schwärmerei.
Margot knipste ihn heimlich und trug sein Foto Tag und Nacht in einem goldenen Medaillon auf der Brust. Kicki, die pummelige Chinesin, tätowierte sich seinen Spitznamen mit einem Tintenstift auf den Unterarm. Uschi gelang es, ihm einen Faden aus der Tweedjacke zu ziehen, den sie wie eine Relique aufbewahrte.
Vier Wochen später wurde der erste Aufsatz geschrieben. Dr. Herbert Jung stellte ein Thema zur eigenen Wahl frei, als zweites die Beschreibung eines Kupferstiches und als drittes ein Zitat aus Goethes, Faust’. Die Mädchen versuchten, so weit sie sich in Tweedys verwirrender Gegenwart konzentrieren konnten, mit ihrem Geist zu glänzen.
Danach, in der großen Pause, sagte Helga zu ihrer Freundin: „Gott, bin ich froh! Mir ist eine Menge eingefallen. Was für ein Thema hast du denn gewählt?”
„Ich habe Tweedy einen Liebesbrief geschrieben”, erklärte Yvonne mit größter Selbstverständlichkeit.
Yvonne war überzeugt, mit ihrem Liebesbrief in Aufsatzform alle Rivalinnen bravourös aus dem Feld geschlagen zu haben.
Aber in der Nacht sah die Sache auf einmal ganz anders aus. In der Dunkelheit ihres Zimmers wurde jeder Satz des fatalen Aufsatzes zu einem Alpdruck. War sie nicht doch zu weit gegangen?
Ruhelos warf sie sich hin und her und bemühte sich verzweifelt, endlich Schlaf zu finden.
Helga war dadurch wach geworden. „Denkst du … an den Aufsatz?” fragte sie endlich.
„Du hast es erfaßt”, gab Yvonne zu, mit einem Anflug ihrer gewohnten Keßheit, „was mache ich bloß, wenn Tweedy meine Liebeserklärung in den falschen Hals kriegt?”
„Soviel Humor wird er schon noch auf Lager haben, deinen verrückten Einfall nicht krumm zu nehmen.”
Doch Yvonne war nicht so leicht zu beruhigen. „Und wenn er nun meine Eltern antanzen läßt?”
„Ich bitte dich! Erstens tut er das nicht, denn es wäre eine Bankkrotterklärung seiner pädagogischen Fähigkeiten, und zweitens … du kannst doch einfach so tun, als wenn du ihn hättest hochnehmen wollen!”
Statt einer Antwort seufzte Yvonne tief.
Dr. Herbert Jung ließ sich Zeit mit dem Korrigieren der Aufsätze.
Helga lebte in ständiger Sorge, daß der umschwärmte Lehrer Yvonne tatsächlich einen schweren Verweis erteilen könnte.
Yvonne dagegen, deren Optimismus mit dem hellen Tag wieder erwacht war, hoffte und wartete darauf, daß er sie beiseite nehmen und in einem privaten Gespräch auf ihr Geständnis eingehen würde.
Dann, an einem Montagmorgen – Deutsch war in der letzten Stunde –, betrat Tweedy mit dem Packen Aufsatzhefte die Klasse und legte sie schweigend auf den Lehrertisch. Er schien die Nervosität der Mädchen gar nicht zu bemerken und forderte sie ruhig auf, ihren,Faust’ an der Stelle aufzuschlagen, wo sie das letzte Mal stehengeblieben waren.
Erst fünf Minuten vor Unterrrichtsschluß warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und bat Babsy, die Hefte auszuteilen.
Während sie von Tisch zu Tisch ging, erklärte Dr. Jung beiläufig: „Die Arbeiten sind im großen ganzen recht nett ausgefallen. Ich bin zufrieden, meine Damen.”
Ein paar Tage lang regnete es, erst gegen Ende der Woche riß die Wolkendecke auf. Yvonne, Babsy und Ellen beschlossen, in der nachmittäglichen Freizeit auszureiten. Sie forderten Helga auf, mitzukommen. Aber da sie, wie meistens, ziemlich knapp bei Kasse war, konnte sie sich den Spaß nicht leisten und gab vor, keine Lust zu haben.
Sie zog sich mit einem Buch in den Park zurück, und vertiefte sich in ihre Lektüre, Sciencefiction, so packend geschrieben, daß sie sich eifrig auch durch allzu wissenschaftliche Passagen kämpfte. Sie brütete gerade über einer physikalischen Beschreibung, als sie durch eine vertraute männliche Stimme aufgeschreckt wurde.
„Na, Helga, ist es nicht ein bißchen zu kühl für ein Nickerchen im Freien?” fragte Dr. Herbert Jung.
Das Herz klopfte Helga bis zum Halse, als sie langsam aufsah und antwortete: „Ich schlafe nicht, Herr Doktor, ich denke nach.”
„Tatsächlich?”
Sie klappte das Buch zu und ließ ihn den Umschlag sehen. „Ich kann’s nicht so einfach herunterlesen. Manches ist ziemlich hoch.”
Er nahm ihr das Buch aus der Hand und blätterte darin. „Sie interessieren sich für so etwas? Alle Achtung!”
„Ich interessiere mich eigentlich für alles”, behauptete Helga. Obwohl er sie nicht ansah, hatte sie das Gefühl, daß er sich über sie amüsierte, und sie fügte hastig hinzu: „Sie lachen. Es klingt so entsetzlich überheblich. Aber ich fühle mich von allem, was in der Welt vorgeht, betroffen, und finde es faszinierend und spannend.”
„Ich lache Sie keineswegs aus, Helga”, erwiderte er mit seltsam sanfter Stimme. „Ich habe schon öfter bemerkt, daß Sie ungewöhnlich wach und intelligent sind, und das gefällt mir an Ihnen.” Sein Lob berauschte sie und machte sie gleichzeitig verlegen. „Alle in unserer Klasse sind so”, behauptete sie, „wir diskutieren über die unmöglichsten Themen.” Sie stand auf. „Aber ich muß jetzt gehen.”
„Schon?”
Helga traute ihren Ohren nicht. Sie hatte sich immer für ein nüchtern denkendes Mädchen gehalten. Aber jetzt kam es ihr tatsächlich so vor, als ob Dr. Jung sich für sie interessierte. Oder hatte Yvonnes überspannte Phantasie sie angesteckt?
Er gab ihr das Buch zurück. „Ich hätte gerne mit Ihnen über Ihren Aufsatz gesprochen. Kommen Sie, machen Sie mit mir einen kleinen Bummel durch den Park, soviel Zeit werden Sie schon noch haben.”
„Doch, gerne”, antwortete sie nach kurzem Zögern glücklich.
Sie gingen ein paar Schritte nebeneinander her, und da sie immer nur ihn anschauen mußte – sein männliches Profil mit der markanten Nase und der breiten Stirn –, stolperte sie plötzlich über eine Baumwurzel und wäre hingefallen, wenn er sie nicht aufgefangen hätte.
Sie spürte die Arme des geliebten Lehrers, ihre Wange berührte den rauhen Tweed seiner Jacke, und der herbe Geruch seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase.
Als er sie losließ, fühlte sie sich taumelig und war über und über rot geworden. „Entschuldigen Sie bitte”, sagte sie.
„Was denn?” fragte er lächelnd. „Hauptsache, Sie haben sich nicht weh getan. Kommen Sie, gehen wir!”
Erleichtert folgte sie ihm in den herbstlichen Park. Weder Helga noch Doktor Herbert Jung ahnten, daß sie vom Schloß aus beobachtet worden waren.
Yvonne, Babsy und Ellen waren vorzeitig vom Pferdestall zurückgekehrt.
Als Yvonne in ihr Schlafzimmer gekommen war, hatte sie das Fenster aufgerissen, um Helga unten im Park auf sich aufmerksam zu machen.
Aber genau in diesem Augenblick war Tweedy auf der Bildfläche erschienen.
Einen Augenblick lang war Yvonne wie vom Donner gerührt. Dann rief sie nach Babsy und Ellen, die sofort alarmiert herbeistürzten. Alle drei beobachteten, wie Helga in Dr. Jungs Arme gefallen war – von oben hatte es ganz so ausgesehen –, und es hatte ihnen den Atem verschlagen.
Erst als die beiden aus ihrer Sicht verschwunden waren, fand Yvonne die Sprache wieder: „So eine Kanaille!” stieß sie wütend hervor; sie war blaß und bebte vor Wut.
„Nimm’s nicht so tragisch”, tröstete Babsy besänftigend, „Helga scheint Tweedys Typ zu sein!”
„Sein Typ! Daß ich nicht lache! An den Hals hat sie sich ihm geworfen!”
„Ein falsches Luder ist sie!” schrie Yvonne.
„Eine Hyäne!”
„Zwei Mädchen und nur ein Mann …”, unkte Babsy, „das wird böse enden.”
„Pah! Was heißt hier … böse enden?” Yvonne lachte verächtlich. „Dieser blöde Tweedy kann mir den Buckel runterrutschen! Was ist er denn schon? Ein armseliger Schulmeister, nichts weiter.”
Babsy grinste. „Ich habe dich schon mal anders reden hören, Darling!”
„Helgas Reize müßte man haben”, seufzte Ellen.
Yvonne trat dicht auf sie zu. „Wovon sprichst du eigentlich?”
Ellen sah sie erstaunt an. „Davon, daß Tweedy eine Auge auf Helga geworfen hat!”
„Wie kommst du denn darauf?” zischte Yvonne.
„Nicht er ist an ihr interessiert, sondern sie stellt ihm nach auf eine geradezu schamlose Weise! Aber wartet nur, ich werde ihr schon zeigen, daß sie das mit uns nicht machen kann. Die wird sich wundern! Das schwöre ich euch!”
Die Gelegenheit, Helga eins auszuwischen, bot sich Yvonne noch am selben Tag.
Um drei Uhr mußten sich alle Schülerinnen der Zwölften Klasse im Studiersaal versammeln, um ihre Aufgaben zu erledigen. Helga kam als letzte, ein wenig atemlos und mit geröteten Wangen.
Sie setzte sich auf ihren Platz neben Yvonne. „Ein Glück, daß die Zirpe noch nicht da ist”, seufzte sie erleichert.
„Hast du Spaß gehabt?” fragte Yvonne mit so scharfer Stimme, daß die anderen Mädchen unwillkürlich aufmerksam wurden.
Helga wollte nicht lügen, sie wollte der Freundin aber auch nicht vor allen anderen es auf die Nase binden, daß sie mit Dr. Jung zusammengewesen war. „Wie man’s nimmt”, sagte sie deshalb ausweichend, und leise fügte sie hinzu: „Ich muß dir nachher was erzählen!”
„Sprich nur laut, daß alle dich hören können!” befahl Yvonne mit erhobener Stimme. „Oder genierst du dich jetzt doch, weil du dich Tweedy so schamlos an den Hals geworfen hast?”
Im Studiersaal wurde es totenstill.
„Das ist nicht wahr!” rief Helga.
Yvonne sprang auf. „Du leugnest? Dann bist du noch falscher und verlogener, als ich geglaubt habe!”
„Aber Yvonne, laß mich doch erklären …”
„Spar dir deine Worte! Ich habe dich beobachtet! Und nicht nur ich! Babsy und Ellen sind meine Zeugen! Wir haben es gesehen, wie du dich Tweedy an die Brust geworfen hast!”
„Ich bin gestolpert”, sagte Helga und spürte selber, daß diese Erklärung nicht sehr glaubwürdig klang.
„Dazu hast du dir aber genau den richtigen Augenblick ausgesucht”, erklärte Yvonne sarkastisch, „zu stolpern, daß Tweedy dich auffangen muß, damit du nicht auf die Nase fällst!”
Helga platzte der Kragen. „Ach, halt doch die Klappe! Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.”
„So glaubst du wirklich?” gab Yvonne zurück. „Du bildest dir also ein, du kannst mit Tweedy herumschmusen wie, wo und wann du willst?”
„Yvonne, ich bitte dich, von Schmusen kann doch keine Rede sein! Wir haben uns unterhalten. Das ist doch kein Verbrechen!”
„Meinst du?” gab Yvonne patzig zurück. „Dann hast du auch sicher nichts dagegen, wenn wir den Fall dem Direktor vortragen.”
„Yvonne!” mahnte Babsy. „Das kannst du nicht tun!”
„Nein, wirklich nicht”, stimmte Ellen ihr zu, „den Fall müssen wir unter uns austragen.”
Aber Helga gehört ja gar nicht zu uns”, erklärte Yvonne schneidend. „Unsere Eltern zahlen für die Schule und den Aufenthalt hier monatlich einen schönen Batzen Geld. Helgas Eltern bezahlen keinen Pfennig. Sie könnten es gar nicht. Helga hat bloß ein Stipendium, auf gut deutsch: wir zahlen für sie mit.”
Helga wurde kreidebleich. „Das wußte ich nicht”, sagte sie tonlos.
„Dann wird’s höchste Zeit, daß du Bescheid weißt. Du bist hier bloß geduldet, hast du mich verstanden? Und wenn du noch einmal aus der Reihe tanzt und versuchst, die erste Geige zu spielen, dann kannst du deine Koffer packen und abhauen. Von mir aus dahin, wo der Pfeffer wächst!”
Eisiges Schweigen herrschte im Studiersaal der zwölften Klasse. Als Fräulein von Zirpitz gleich danach hereinrauschte, wunderte sie sich über ihre mustergültigen Schülerinnen.
Als Yvonne am Abend in das kleine Schlafzimmer trat, sah sie verdutzt, daß sich ein ganzer Haufen Sachen auf ihrem Bett türmte, darunter der gelbe Schal und die gelbe Mütze, die sie erst kürzlich Helga geschenkt hatte. Dazu Handschuhe, eine Tasche, Schuhe, ein Pullover, eine Jacke, ein seidenes Tuch, ein Minirock.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Yvonne begriff, was das bedeutete; doch dann packte sie das Zeug und stürmte in den Waschraum.
„Helga!” schrie sie. „Los! Erkläre mir … was soll das?”
Sie stürzte auf die Brausekabinen zu und zog einen Vorhang nach dem anderen beiseite.
Helga stellte die Brause ab, schlüpfte in ihren Bademantel und kam hinter dem Vorhang zum Vorschein.
„Was willst du?”
„Ich will wissen, was das hier soll!” schrie Yvonne und hielt Helga die Arme voller Kleidungsstücke entgegen.
„Ich komme ganz gut ohne deine abgelegten Sachen zurecht”, erklärte Helga ruhig, „ich will sie nicht mehr. Du kannst sie wieder haben.”
„Und was soll ich mit dem Gelump?”
„Von mir aus steck’es dir an den Hut.”
Yvonne kochte vor Wut. Sie fühlte sich blamiert wie noch nie in ihrem Leben. Das konnte sie nicht hinnehmen. Sie rannte ins Wohnzimmer und klingelte Sturm, bis der Hausmeister erschien.
„Hier … nehmen Sie das Zeug”, schrie Yvonne dramatisch, „und verbrennen Sie es!”
Der Hausmeister war einiges gewöhnt und ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. „Unsere Ölheizung ist keine Mülltonne. Ausgeschlossen!” erwiderte er phlegmatisch.
„Dann stopfen Sie den Plunder in die Mülltonne!”
Yvonne drückte dem verblüfften Mann ihre verschmähten Schätze in die Hand und ließ ihn stehen.
Als zehn Minuten später Fräulein von Zirpitz erschien, um nach dem Rechten zu schauen, war Yvonne immer noch nicht ausgezogen.
„Fräulein von Zirpitz”, sprach Yvonne sie an, „ich möchte in ein anderes Schlafzimmer verlegt werden.”
„Darf ich den Grund zu diesem ungewöhnlichen Wunsch erfahren?” fragte die Zirpe.
„Ich will nicht mehr mit Helga das Zimmer teilen.”
„Aber ihr seid doch so gute Freundinnen!”
„Jetzt nicht mehr”, erklärte Yvonne mit fester Stimme.
„Ihr habt euch also gestritten”, stellte Fräulein von Zirpitz ohne Überraschung fest, „so etwas soll vorkommen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Yvonne: versöhnen Sie sich wieder mit Helga, und zwar schnell.”
„Ich denke gar nicht daran!” rief Yvonne aufgebracht.
„Sie vergreifen sich im Ton, mein liebes Kind”, erklärte Fräulein von Zirpitz hoheitsvoll. „Aber davon abgesehen, Sie wissen, daß Schloß Hohenwartau seine Aufgabe nicht nur darin sieht, das Wissen seiner Schülerinnen zu erweitern, sondern sie vor allem auf die Aufgaben des Lebens vorzubereiten. Wenn Sie erst verheiratet sein werden …”
„Ich bin es aber noch nicht!”
Fräulein von Zirpitz überhörte diesen Einwand.
„ … können Sie Ihren Mann auch nicht einfach verlassen, wenn Sie sich einmal mit ihm gezankt haben! Die Ehe erfordert Selbstbeherrschung und Großzügigkeit …”
„Woher wissen Sie das? Waren Sie schon mal verheiratet?” fragte Yvonne frech.
Ein ungesundes Rosa stieg in das graue Gesicht von Fräulein von Zirpitz. Die Schülerinnen hielten den Atem an.
„Sie sind unverschämt, Yvonne”, erklärte sie eisig, „ziehen Sie sich für die nächsten zwei Stunden in den Studiersaal zurück. Ich werde Ihnen eine Lektion erteilen, die Sie auswendig zu lernen haben.”
Yvonne drehte sich auf dem Absatz um, verließ das Wohnzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Helga war, obwohl sie sich die Decke über die Ohren gezogen hatte, Zeugin dieser Auseinandersetzung geworden. Es war ihr klar, daß Yvonne einen Reinfall auf der ganzen Linie erlebt hatte.
Aber dieser äußerliche Sieg tröstete Helga nicht über die Tatsache hinweg, daß ihre langjährige Freundschaft mit einem einzigen Schlag zerbrochen war.
Und noch etwas anderes machte ihr zu schaffen: sie hatte bis zum heutigen Tag nicht geahnt, daß sie nur Stipendiatin auf Schloß Hohenwartau war. Sie hatte, wie alle, gewußt, daß etwa zehn Prozent der Schülerinnen aus der sogenannten Begabtenreserve stammten und nichts zu zahlen brauchten. Aber Direktor Pförtner verriet niemals, wer zu dieser Gruppe gehörte.
Helga konnte sich auch nicht vorstellen, wie Yvonne es herausbekommen hatte. Vielleicht hatte sie irgendwann eine Bemerkung aufgeschnappt, die nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war, oder vielleicht hatte sie ihren vergifteten Pfeil auch einfach ins Blaue losgeschnellt. Aber Helga machte sich nichts vor.
Sie wunderte sich über sich selbst, wie sie so gedankenlos hatte sein können. Sie war ihren Eltern immer dankbar gewesen, daß sie sie dieses erstklassige Internat besuchen ließen. Aber niemals hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, woher ihr Vater das Geld für eine so kostspielige Erziehung nehmen konnte. Denn obwohl er nicht schlecht verdiente, waren der große Haushalt mit den fünf jüngeren Geschwistern, die Miete des Hauses in München-Trudering teuer genug, um das Monatsgehalt eines Bankprokuristen zu verschlingen.
Sekundenlang hatte Helga den Wunsch, ihre Koffer zu packen und auf und davon zu gehen. In der Stadt hätte sie wie jedes andere Mädchen ein Gymnasium besuchen können, ohne Schulgeld zu bezahlen.
Aber sie verwarf die Idee, aufzugeben, sogleich wieder. Das konnte sie ihren Eltern nicht antun. Außerdem wußte sie, daß sie mit ihrem Abgang Yvonne nur den größten Gefallen getan hätte.
Nein, Yvonne sollte nicht triumphieren. Helga war entschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten, und sie war sicher, daß ihr das um so leichter fallen würde, da die meisten in der Klasse auf ihrer Seite standen.
Aber noch etwas anderes wurde Helga in dieser Nacht klar. Sie durfte sich nicht den kleinsten Flirt mit Dr. Herbert Jung erlauben. Sie gestand sich, daß er ihr viel bedeutete. Jedenfalls hatte sie sich so, wie sie jetzt empfand – mit dieser ziehenden, fast schmerzhaften Sehnsucht in der Herzgrube –, immer die Liebe vorgestellt.
Doch ihr Verstand sagte ihr, daß sie sich irren mußte. Doktor Herbert Jung war ein erwachsener Mann, er sah gut aus und war ausgesprochen intelligent – warum sollte er ausgerechnet an ihr Gefallen finden?
Doch: selbst wenn Tweedy Feuer gefangen hatte – wohin sollte das führen? Nicht nur um ihret-, auch um seinetwillen durfte das nicht so weitergehen. Direktor Pförtner war ein gerechter, aber äußerst strenger Mann. Selbst der Schatten eines Verdachtes würde ihm Anlaß geben, dem jungen Lehrer zu kündigen und sie, die Schülerin, vom Internat entfernen.
Die Mädchen auf dem Eliteinternat hatten alles: Tennisplätze, ein geheiztes Schwimmbad, die Möglichkeit zu reiten und Ski zu laufen, ein Fernsehund ein Radiozimmer, sogar ein Heimkino, gutes Essen und erstklassigen Unterricht. Nur etwas war ihnen absolut verboten: der private Umgang mit Wesen männlichen Geschlechts.
Die meisten Eltern zahlten das hohe Schulgeld nicht in erster Linie wegen der guten Erziehung, die ihren Töchtern hier zuteil wurde, sondern vor allem deswegen, weil sie in den gefährlichen Jahren gegen alle Verlockungen der Außenwelt wohl behütet wurden.
Helga wußte, daß sie dieses Gesetz nicht übertreten durfte, wenn sie sich und dem geliebten Lehrer nicht erheblichen Ärger bereiten wollte.
Auf jeden Fall mußte es Schluß mit den privaten Beziehungen zwischen ihr und Doktor Jung sein, Schluß, bevor noch etwas begonnen hatte. Das schwor sich Helga in dieser Nacht. Sie würde sich ihm gegenüber völlig unpersönlich verhalten und jedes Zusammensein unter vier Augen vermeiden, so heftig und schmerzhaft ihr Herz auch bei dem bloßen Gedanken an ihn schlagen mochte.
Sie konnte nicht schlafen. Sie ging nach unten, in die Duschräume. „Ein heißes Bad ist das einzige, was mich wieder auf vernünftige Gedanken bringen kann”, dachte sie.
Sie war gerade dabei, sich nun endgültig für die Nacht fertigzumachen, als der Duschvorhang aufgerissen wurde. Yvonne stand vor ihr, umringt von den anderen Mädchen. Helga sah erschrocken auf. „Wollen wir uns nicht wieder vertragen, Yvonne?” fragte sie schüchtern. „Sieh mal, wir müssen doch mindestens dieses Schuljahr noch miteinander verbringen. Es wird gräßlich sein, wenn wir uns wegen eines Nichts in eine Todfeindschaft hineinsteigern!”
„Das soll es ja auch!” knurrte Yvonne wütend und warf ihren Pullover in hohem Bogen in eine Ecke, „es soll gräßlich werden, du Biest. Du wirst schon sehen, wie es ist, wenn du nichts mehr geschenkt bekommst von mir … wenn du dauernd in deinen blöden Klamotten herumlaufen mußt!”
Jetzt war auch Helgas Friedensbereitschaft erschöpft.
„Und du wirst dich wundern”, gab sie böse zurück, „wie es sein wird, wenn dir niemand mehr den Lehrstoff dreimal vorkaut, bis du ihn endlich kapierst, wenn du niemanden mehr hast, von dem du abschreiben kannst, wenn Fünfer und Sechser auf dich hereinprasseln werden!”
Es dauerte lange in dieser Nacht, bis die Mädchen, beide Groll und Weh im Herzen, endlich eingeschlafen waren.
Eigentlich hatte Helga erwartet, daß Tweedy sich über ihr verändertes Wesen wundern würde. Ohne es sich einzugestehen, hatte sie gehofft, daß er sie bei nächster Gelegenheit fragen würde, warum sie sich so betont zurückhaltend und sachlich gab.
In Wirklichkeit aber schien Dr. Jung nicht einmal zu bemerken, daß sie sich ihm gegenüber betont kühl benahm. Er tat ganz so, wie wenn er vollkommen vergessen hätte, daß sie vor gar nicht langer Zeit in seinen Armen gelegen hatte.
Das war eine bittere Enttäuschung für Helga. Trotz allen Kummers aber war sie doch erleichtert, daß sie ihm wenigstens nicht gezeigt hatte, wie sehr sie sich nach einer Aussprache sehnte.
Sie bedeutete ihm nichts, nun gut, jedenfalls konnte aber auch er nicht wissen, welche Rolle er in ihren Träumen spielte.
Yvonne war durch nichts zu überzeugen, daß es keine privaten Beziehungen zwischen Tweedy und Helga gab. Nach wie vor verfolgte sie die frühere Freundin mit unerbitterlichem Haß.
„Menschenskind, du hast ja eine Meise!” sagte Babsy eines Tages in der großen Pause, als Yvonne wieder einmal ihre Schmährede gegen Helga losgelassen hatte. „Du brauchst die beiden doch nur mal zu beobachten, dann mußt du doch merken, daß nichts zwischen ihnen ist.”
„Denkst du!”
„Nicht nur Babsy, wir alle denken das”, erklärte Ellen.
Yvonne tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. „Weil ihr behämmert seid! Ihr versteht eben nichts von Liebe! Gerade weil Helga in ihn verschossen ist, benimmt sie sich so stur. Damit wir ihr nicht auf die Schliche kommen. Aber ich werde es ihr schon zeigen, verlaßt euch darauf. Ich werde ihr Tweedy vor der Nase wegschnappen!”
In Wirklichkeit hatte sie noch keine Ahnung, wie sie ihren Eroberungsfeldzug durchführen sollte. In der Klasse, vor versammelter Mannschaft, hatte sie keine Chance, das hatte sie schon herausbekommen. Tweedy überhörte alle verfänglichen Fragen und war gegen kokette Blicke und hochgezogene Röcke völlig immun. Sie mußte auf ein besonderes Ereignis warten, bevor sie ihre Netze auswerfen konnte.
Dieses Ereignis trat bald ein.
Als Yvonne eines Nachmittags während der Studierzeit aus dem Fenster sah – ohne Helgas Hilfe hatte das Lernen für sie ohnehin wenig Sinn –, entdeckte sie auf dem vorderen Tennisplatz zwei Spieler.
Sie erkannte Tweedy, der gegen Fräulein Pförtner spielte. Da wußte sie, daß ihre Stunde gekommen war.
Kaum war die Studierzeit zu Ende, flitzte sie nach oben in ihr Zimmer, kleidete sich in fliegender Eile um, riß ihr Racket aus dem Schrank und stürmte in den Park.
Als sie die Tennisplätze erreichte, war Tweedy noch dort – und zwar allein. Fruäulein Pförtner war gerade dabei, den Geräteschuppen zu verschließen.
„Oh, hallo!” rief Yvonne so unbefangen wie möglich. „Wollen Sie schon gehen?”
Er wandte ihr sein markantes Gesicht zu, leichten Spott in den hellen Augen: „Was dagegen?”
„Ja, zu schade”, sagte Yvonne und schwenkte ihren Schläger, „ich hätte Lust zu einem Match.”
„Machen wir. Ein andermal.”
Yvonne kam näher. „Haben Sie Angst?”
„Vor Ihnen?”
„Nein, natürlich nicht. Aber Sie haben Angst, gegen mich zu verlieren.”
„Unter Mangel an Selbstvertrauen scheinen Sie nicht zu leiden”, sagte Dr. Jung lächelnd.
„Stimmt”, erwiderte sie herausfordernd, „ich hätte auch keinen Grund.”
„Spielen Sie so gut?”
„Auch das!”
Eine Sekunde lang blickten sich Lehrer und Schülerin abschätzend in die Augen.
„Also versuchen wir es, damit ich nicht in den Ruf eines Feiglings komme.”
„Bravo!” rief Yvonne. „Das hatte ich von ihnen auch nicht anders erwartet!”
Yvonne war Tweedy in keiner Weise gewachsen. Seine Bälle kamen präzise, während ihre Treffer mehr oder weniger Glückssache waren. Sie verlor den ersten Satz mit Pauken und Trompeten.
„Es war mir ein Vergnügen”, sagte Dr. Jung lächelnd, „machen wir Schluß für heute.”
„Nach einem Satz?” protestierte Yvonne, „das wäre unfair, ich mußte mich doch erst einspielen.”
„Es ist schon zu finster. Ein andermal gebe ich Ihnen gerne Revanche.”
„Nein jetzt!” Yvonne schmollte. „So was hat es ja noch nie gegeben, daß jemand ein Match nach dem ersten Satz abbricht!”
Dr. Jung gab nach, weil er sich nicht mit Yvonne anlegen wollte.
Sie wechselten die Plätze. Die Dämmerung des Winterabends senkte sich rasch, und bald konnte er Yvonne kaum noch erkennen. Er erwog schon, sie diesen Satz gewinnen zu lassen, damit die liebe Seele Ruhe hatte. Doch dann hätte sie sicher noch auf ein Entscheidungsspiel bestanden. So schmetterte er harte Bälle zu ihr hinüber, so blitzschnell, daß sie sie kaum erkennen konnte.
Plötzlich schrie Yvonne auf, und im gleichen Augenblick sah er sie stürzen. Er ließ den Schläger fallen, hechtete über das Netz und beugte sich über sie.
Yvonne hielt das Bein angezogen und jammerte: „Mein Fuß! Ich weiß nicht, was passiert ist! Ich fürchte, ich habe ihn mir gebrochen!” Ihre großen blauen Augen standen voller Tränen.
Dr. Herbert Jung bückte sich über sie, griff ihr unter die Arme und richtete sie auf. „Versuchen Sie mal, ob Sie gehen können.”
Sie machte einen Schritt und sackte dann mit einem neuerlichen Schrei in seinen Armen zusammen. „Verzeihen Sie mir … oh! Ich kann nicht. Es tut entsetzlich weh!”
Er hob sie hoch und trug sie zu einer Parkbank am Rande des Tennisplatzes hinüber. Sie schlang beide Arme um seinen Hals. Als er sie sanft niederlegen wollte, zog sie mit einem plötzlichen Ruck sein Gesicht zu sich herunter und drückte einen heftigen Kuß auf seine Lippen.
Aber da hatte er sich schon von seiner Überraschung erholt, und es gelang ihm, sich aus ihrem Griff zu befreien. „Armes Kind”, sagte er spöttisch, „Sie scheinen einen Schock erlitten zu haben. Vielleicht sogar eine Gehirnerschütterung. Ich werde die Ärztin benachrichtigen müssen.”
„Sie sind gemein! Oh, wie gemein Sie sind!” rief Yvonne.
„Mit gesunden Sinnen wären Sie zu einer solchen Fehlhandlung doch gar nicht fähig gewesen”, erklärte Tweedy mit gespieltem Ernst, „eine wohlerzogene junge Dame wie Sie! Ausgeschlossen!”Er wendete sich ab.
„Wohin gehen Sie?” rief sie verzweifelt.
„Hilfe holen”, sagte er ruhig, „da Sie nicht auftreten können, bleibt Ihnen vorerst nichts übrig, als da zu bleiben, wo Sie sind.”
„Bitte”, flehte Yvonne, „bitte bleiben Sie!”
Aber er blieb nicht stehen, hörte nicht einmal auf sie, sondern schritt rasch und zielbewußt in Richtung Schloß davon. Auf halben Weg begegneten ihm Helga, Babsy und Ellen, die zwischen Studierzeit und Abendbrot durch den Park schlenderten, um frische Luft zu schöpfen. Die Dämmerung hatte sich inzwischen wie ein blauer Schleier gesenkt, und gerade als die vier aufeinander trafen, gingen die Laternen an.
„Gut, daß ich sie treffe!” rief Dr. Jung. „Yvonne hat einen Unfall gehabt. Sie hat sich den Fuß verknackst oder gebrochen, was weiß ich. Es wäre nett, wenn Sie sich um Sie kümmern würden!.”
Die drei Mädchen sagten gar nichts und blickten ihn nur aus weit aufgerissenen Augen an.
Ihm wurde es unbehaglich. „Warum starren Sie mich denn so an, als ob ich ein Gespenst wäre?” rief er.