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Hausteins Marja wird beschuldigt, ihr neu geborenes Kind getötet zu haben. Marja ist eine Leibeigene; sie ist eine Sorbin in einem sorbischen Dorf, dessen Herrschaft, Amtsgewalt und Regierung deutsch sind; sie ist zu naiver, mit Aberglauben verwobener Frömmigkeit erzogen – und sie ist eine Frau in einer von Männern beherrschten Welt. So trägt sie vierfache Fesseln. Die Autorin nimmt uns mit auf Spurensuche: Was steht in den Akten, den Kirchenbüchern, den Zeitdokumenten? War diese Frau eine Mörderin? Wie ist es gewesen – wie könnte es gewesen sein? Und wenn auch die Spuren wie Irrlichter sind, unstet und widersprüchlich, wenn sich auch Marjas Spur schließlich am Horizont verliert: Es bleibt das Bild einer starken, tapferen Frau, die versucht hat, ihre Fesseln zu lösen. LESEPROBE: Er starrte ebenso erstaunt wie erschrocken auf dieses Mädchen, das noch vor vier Jahren vor ihm auf der Schulbank gesessen hatte, ein schüchternes, sehr mageres, hellblondes Kind, das in den sieben Jahren Schulzeit kaum ein Wort deutsch gelernt hatte, aber da war sie keine Ausnahme, und plötzlich bemerkte er ihren Bauch. Du bist, du bist, stotterte er, sie lachte auf, schwanger sei sie, freilich, das bestreite sie nicht, er könne es ruhig der Herrschaft anzeigen, dann erspare er ihr einen Weg. Aber die Peitsche nicht, rief er, die kann dir niemand ersparen. Sie veränderte weder ihre Haltung noch ihre Stimme, leise, wie gelangweilt, sagte sie: Ich werd’s überleben. Du weißt nicht, was du redest, rief er kopfschüttelnd. Aber es gebe doch einen Ausweg, fügte er nachdenklich hinzu. Der Vater dieses Kindes, zweifellos gebe es doch einen Vater, wenn er sich zu seiner Vaterschaft bekenne, müsse er sie heiraten. Er, Michael Richter, werde sich bei der Herrschaft dafür einsetzen, und wenn der Herr von Muschwitz… Wenn, wenn, unterbrach sie ihn, hoch aufgerichtet jetzt und mit offenen Augen und überhaupt nicht sanft und schüchtern, wie er sie als Schülerin in Erinnerung hatte. Er bekennt sich nicht, sagte sie. Er will nicht heiraten. Das wollen wir doch mal sehen, sagte Richter. Wer ist es? Der Kubitz Jan. Der aus Ratzen? Genau der. Aber er streitet es sowieso ab, ich sag’s Ihnen gleich, Herr Lehrer. Und ich will ja auch gar nicht heiraten, und den Kubitz Jan schon gar nicht. Das wird auch so einer sein, der seine Frau und seine Kinder prügelt, einer wie mein Vater und wie noch so mancher in Lohsa und Mortka, wissen Sie das gar nicht, Herr Lehrer?
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Seitenzahl: 162
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Elke Nagel
Hausteins Marja
Erzählung, frei nach einem Gerichtsprotokoll von 1799
ISBN 978-3-86394-272-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 2009 bei BS-Verlag-Rostock
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Jahrgang 1799/Seite 855/Nr. 18
Ein unehelicher Sohn Marien Hausteins aus Lohsa, zu welchem sie als Vater Gottlieb Mierschen, ein Sächsisch Dragoner, angibt, ward am 29. Juli früh geboren, von der Mutter aber, da niemand zugegen war und sie ihre Schwangerschaft verheimlicht und geleugnet hatte, durch Abreißung der Nabelschnur umgebracht und unter einem Strauch in Lohsa vergraben, am 30. von den nachsuchenden Gerichten gefunden, seziert und am 2. August auf dem Kirchhof beerdigt. Die Mutter oder vielmehr Mörderin ihres Kindes ward sodann am 3. August nach Bautzen ins Gefängnis abgeführt.
Die Sonne geht auf und geht unter (Pred.1,5)
Am Ende wird sich Marjas Spur am Horizont verlieren. In den Böhmischen Wäldern, irgendwo weit hinter Bautzen. Mag sein, sie ist bis nach Prag gekommen. Mag sein, es steckt ein Körnchen Wahrheit in der Geschichte, dass einst, um das Jahr 1815 herum, ein Reisender in der Lohsaer Dorfschenke gesessen und von einer Hure, einem "himmlischen Weib", erzählt habe, einem alten Weib zwar, das sei wohl wahr, aber trotzdem - einem ganz unvergleichlichen Weib. Er habe sie, diese Hure, in Prag für eine ganze Nacht besessen, und sie habe zu ihm von Lohsa gesprochen, diesem "elenden Nest" in der Lausitz, nicht weit von Rakecy, das von den Deutschen Königswartha genannt werde. Sollte er je in die Lausitz kommen und in Rakecy absteigen, habe sie ihm gesagt, dann möge er doch den kleinen Umweg über Lohsa nicht scheuen, um diesen verfluchten Ort von ihr zu grüßen, von Hausteins Marja, die sie "Marja mordarka" und "Marja kurwitschka" gerufen haben (das wäre in Deutsch: "Maria, die Mörderin" und "Maria, die Hure") und aus der nun geworden sei, was sie doch gewollt hätten. Die Pest wünsche sie den Lohsaern an den Hals und Dürre und Hagelschlag, soll sie gesagt haben, und sie wünsche, die Erde täte sich eines Tages auf und das Dorf stürze in einen tiefen Abgrund.
An dieser Stelle seien aller Augen von dem Reisenden fort zu einem Graugesichtigen gegangen, der etwas abseits gesessen und sein Bier getrunken, der Erzählung aber mit unverkennbarer Erregung gelauscht habe. Dieser habe vor Zeiten mit der Marja zu tun gehabt, und alle hätten sie auf ein Wort von ihm gelauert oder gar einen Satz. Er aber habe nur grimmig in sich hinein gelacht und schließlich - und auch noch auf Deutsch - hervorgestoßen: Na also.
Aber das mögen Märchen sein. Zumindest ist es eine verschwommene, dunkle Spur, soweit es Hausteins Marja betrifft. Was jedoch den Graugesichtigen angeht, da ist sicher: Das war der Johann Gottlieb Miersch, der saß mit den anderen im Kretscham am Lohsaer Markt. Nach 25 Jahren Dragonerleben im Sächsischen Albertinischen Regiment war er - entlassen und pensioniert - nach Lohsa zurückgekommen, das damals beim Wiener Kongress gerade den Sachsen abgenommen und den Preußen zugeschlagen worden war. 1806 hatte er in sächsischen Diensten bei Jena mit den Preußen gegen die Franzosen gekämpft, war dann mit den Franzosen gegen die Russen gezogen, einer von über 21 000 Sachsen im 7. Korps der Grande armée, abmarschiert von Lieberose in der Niederlausitz, wo er sich gerade die Anna Margaretha Segelin angelacht hatte, mit seinem warmen, tiefen Lachen, den Grübchen in den Wangen, den braunen, vertrauenerweckenden Augen - so hatte er Jahre zuvor schon Hausteins Marja in Lohsa betört. Bis Moskau soll er gekommen sein. Und - auch wieder zurück, vor allem das, als einer von den wenigen Tausend des 7., des sächsischen Korps, ausgezehrt und mit erfrorenen Zehen, ausgebrannt und von Gevatter Tod gezeichnet wie ein ehemals mächtiger und nun verdorrter Baum, den der Förster zum Einschlag markiert hat. Durch die verschneiten russischen, polnischen, ostpreußischen Felder und Wälder ist er gewankt, bis nach Lieberose in der Niederlausitz, wo Segelins Anna ihn wieder gesundpflegte. Wo er ihr die Heirat versprach. Doch die Entlassung aus dem Regiment bekam er nicht. Stattdessen steckten sie ihn zu den Ulanen - neue Uniform, blauer Rock statt des roten, Lanze statt Säbel, schweres Pferd statt des leichten, warmblütigen - das war der ganze Unterschied. An französischer Seite hatte er weiterhin zu reiten. Denn der Rheinbundstaat Sachsen verstand unter Bündnistreue, dem Großen Imperator bis zum Untergang zu dienen. Und so ritt der Miersch Gottlieb wieder aus, gegen vereinigte Preußen, Österreicher, Russen. Er war beim großen Gemetzel bei Leipzig dabei, das man später "Völkerschlacht" genannt hat, im Oktober 1813, als die sächsischen Truppen sich dem sächsischen "König von Napoleons Gnaden" verweigerten - sie liefen über. Auch der Miersch Gottlieb lief über, zu den Preußen.
Ein Jahr später war sein Soldatenleben zu Ende. Warum es ihn gerade nach Lohsa zurückgezogen hat, bleibt unklar. Sein Heiratsversprechen, diesmal hielt er es, schickte den Braschka, den Brautwerber, nach Lieberose. Aber er hatte nur noch vier Jahre. Eine Tochter hat er noch in die Welt gesetzt.
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Sterberegister Kirchspiel Lohsa, Jahrgang 1819, Seite 134, Nr. 25
Name: Miersch, Johann Gottlieb / Ort: Lohsa / Sterbetag: den dritten Juli früh 2 Uhr / Beerdigung: 5. Juli / Art: wendisch und deutsch / Alter: 49 Jahre, 5 Monate / Todesursache: Auszährung / er hinterläßt: Witwe Anna Margarethe Zegelin, 1 Tochter.
So genau wissen wir also von seinem Ende. Von Marjas Ende wissen wir nichts.
Denkbar wäre, dass sie weder bis Prag gekommen ist noch nach Prag gewollt hat, dass jener Kaufmann sie irgendwo in der Böhmischen Enklave getroffen hat, in einer kleinen, schon ein wenig verfallenen Gastwirtschaft, wo sie Bier und Wein ausschenkte, ihm ein Zimmer zur Nacht herrichtete, sich zusammen mit der Herbergswirtin, die Magdalena gerufen wurde, an seinen Tisch setzte und ihn irgendwann ganz beiläufig bat, die Geschichte von ihrem angeblichen Prager Hurenleben nach Lohsa zu tragen. Das wäre nicht nur denkbar, sondern auch wünschenswert, denn dann wäre Marja, allen Gefahren der Oberlausitzer Wälder und Landstraßen zum Trotz, bei Magdalena angekommen, wohin sie wahrscheinlich gewollt hat. Jedenfalls hat sie zu ihrem Vater, dem Jakub Melzag, genannt Haustein, davon gesprochen, dass sie "über Jahr und Tag" mit dieser Magdalena verabredet sei, und zwar in der Nähe von Warnsdorf, in der Böhmischen Enklave.
Als sich Jakub Melzag, genannt Haustein, eines morgens weigerte, das Bett zu verlassen - das war am 12. Mai, und man schrieb das Jahr 1805 - war er 67 Jahre alt und damit einer der Ältesten in Lohsa. Dass er früh nicht aus dem Bett wollte oder konnte, war nie zuvor geschehen. Jakub gehörte zu den Menschen, von denen man sagt, sie seien fleißig, geduldig und demütig. Jedoch einer, der kaum auffällt, den man kaum bemerkt, so einer war er nicht. Denn er war ein Schweigsamer, der gelegentlich zum tiefsinnigen Redner werden konnte, was darauf schließen lässt, dass er in den Tagen und Wochen seiner Schweigsamkeit nicht von Stumpfsinn besessen war, sondern von Nachdenklichkeit. Und in Abständen von Monaten oder auch Jahren fühlte er das Bedürfnis, seinen Mitmenschen die Ergebnisse seines Nachdenkens mitzuteilen, weswegen er dann - meistens geschah das in der Gastwirtschaft, nach dem sonntäglichen Kirchgang - für alle überraschend eine längere Rede hielt, die vorwiegend von Tod und Leben, von Gott und vom Jüngsten Gericht handelte.
Zwar konnte Jakub weder lesen noch schreiben, aber er hatte in seinem Kopf eine große Zahl von Bibelsprüchen versammelt, eingesammelt bei den sonntäglichen Gottesdiensten, die er seit seiner Kindheit nicht ein einziges Mal versäumt hatte. (Nicht bis zum August 1799. Danach hat ihn niemand mehr in der Kirche gesehen.) Die Bibelworte hatte er aufbewahrt in seinem Kopf und gruppiert nach eigenem Gutdünken, er ordnete sie ständig neu und zog seine Schlüsse aus den Erkenntnissen, die ihm dabei kamen, und dadurch entstanden dann auch wohl neue Sprüche, die in der Bibel so nicht zu finden wären. Die ganze Welt liegt im Argen, konnte er etwa sagen, um dann fortzufahren: Dulden wir, so werden auch wir herrschen, wenn unsere Zeit gekommen ist. Sein Publikum hörte ihm geduldig zu, was bedeutet, die Leute hörten ihm nicht zu, sondern ließen seine Predigt über sich ergehen wie vorher die von Pfarrer Fuhrmann, nickten dann vielsagend, jaja, unser Jakub, der redet wohl besser als der Pfarrer, wenn er denn mal redet. Hinter seinem Rücken belächelten sie ihn. Sie hielten ihn für einen Narren, aber sie hatten eine merkwürdige Scheu und sogar etwas wie Achtung vor ihm. Das hatte mit Ereignissen zu tun, die sich in seiner Kindheit zugetragen hatten, an die man sich aber in Lohsa noch immer erinnerte, wenn auch inzwischen ungenau, denn es lebte niemand mehr, der von sich hätte sagen können, er sei dabei gewesen.
Es soll in der Zeit geschehen sein, als die Güter Lohsa und Mortka dem Friedrich Wilhelm Freiherr von Kyaw gehörten, ein paar Jahre, bevor sie versteigert und von den Dallwitzens erworben wurden. Demnach müsste Jakub Melzag fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. In Lohsa hatte ein Verwalter zu bestimmen, dessen Name in Vergessenheit geraten ist. Er sei, sagt man, äußerst hart und aufbrausend gewesen und habe einen Hund gehabt, so einen Mischling, nicht sehr groß, aber scharf, vor dem sich jedermann fürchtete, besonders jedes Kind. Auch Jakub Melzag fürchtete diesen Hund, deshalb ging er stets mit einem starken Knüppel bewaffnet auf den Gutshof, wenn er dorthin geschickt wurde oder auf der Suche nach den Eltern war. Und ein, zwei Mal hatte er den Hund auch erfolgreich abgewehrt, denn der war zwar bissig, aber auch feige, weil der Verwalter ihn mit Schlägen abgerichtet hatte, er flüchtete vor dem drohenden Knüppel des Kindes. Beim dritten oder vierten Mal jedoch ignorierte der Hund die Drohung und wollte den Jungen anfallen. Jakub schlug sehr schnell und so kräftig zu, dass das Tier, an Stirn und Schnauze getroffen, zusammenbrach. Der Verwalter lief wütend vom anderen Ende des Hofes herbei, nahm den Knüppel, den Jakub erschrocken fallen gelassen hatte, und schlug damit dem Kind auf den Kopf. Jakub fiel zu Boden und rührte sich nicht. Der Mann hob seinen Hund auf und trug ihn fort, ohne sich weiter um das Kind zu kümmern. Jemand hatte Jakubs Mutter geholt. Sie trugen den Jungen in Melzags Haus. Er lebte, war aber ohne Bewusstsein. Er ist weit fort, sagte die alte Hubatsch Anna, seine Großmutter, die Tag und Nacht neben ihm hockte und ihm Milch einflößte, tropfenweise, mit Ei und Honig verquirlte Milch. Weit fort ist er, sagte sie, aber wenn er zurückkommt, wird er uns viel erzählen können. Denn sie glaubte, zwischen Leben und Tod schwebe man vor einem Fenster, durch das man in den Himmel blicken könne.
Drei Monate später öffnete Jakub die Augen. Er griff mit beiden Händen an seinen schmerzenden Kopf. Feuer, sagte er. Großes Licht. Ganz helles Licht.
Er hat den Herrgott gesehen! rief die Hubatsch, der Herrgott hat ihn zu uns zurückgeschickt.
Es zeigte sich, dass Jakub von den Ereignissen, durch die er ins Koma gefallen war, nichts mehr wusste. Dass er auch von den Menschen um ihn herum nichts mehr wusste, sogar ihre Namen neu zu lernen hatte, bemerkten sie nicht. Und dass von nun an fast alles, was er hörte, sah und erlebte, für immer in seinem Kopf aufgehoben war, dass er also ebenso schlecht vergessen konnte, wie die meisten Menschen etwas im Kopf behalten können - das wusste niemand, nicht einmal er selbst. Und da er sehr wenig, tagelang auch gar nicht redete, denn er war ganz in sich selbst eingesperrt, fiel es vorläufig nicht auf. Sie erzählten ihm, er sei für kurze Zeit beim Herrgott gewesen und der habe ihn zu ihnen zurückgeschickt. Das glaubte er und behielt es für immer. Sie erzählten ihm, er habe den Hund des Verwalters mit einem Knüppel erschlagen. Das glaubte er nicht; mit panischem Entsetzen in den Augen schaute er um sich, denn allein die Vorstellung, jemanden oder etwas mit einem Knüppel zu schlagen, war ihm unerträglich. Ein bisschen verdreht im Kopf wird er nun wohl sein, sagte die alte Hubatsch Anna.
Als er größer wurde, wunderten sie sich über ihn: Er schlug sich niemals mit anderen Kindern, denn er wehrte sich nicht, wenn er von jemandem geschlagen wurde. Und er war gierig darauf, jeden Sonntag in die Kirche gehen zu dürfen. Er setzte sich stets in die vorderste Reihe. Man ließ ihn gewähren, obwohl er dort nicht hingehörte. In die Schule wurde er sehr unregelmäßig geschickt. Da er dort aber nur schweigend auf seinem Platz saß und dem Lehrer niemals auch nur die kleinste Antwort gab, galt er als schwachsinnig. Verblödet, sagte Lehrer Kappler, der um diese Zeit neu nach Lohsa gekommen war, nachdem sein Vorgänger beim großen Sturm von 1745 von einer Eiche erschlagen worden war.
Doch nur der Lehrer hielt den Jungen für schwachsinnig. Es sprach sich schnell herum, was Jakubs Mutter den Frauen auf dem Acker erzählt hatte: Ihr Jakub, hatte sie dort nicht ohne Stolz berichtet, spräche, wenn er abends auf dem Strohsack liege, lange Sätze vor sich hin, lange Choräle singe er, und die Predigt des vergangenen Sonntags hätte er Wort für Wort wiederholt. Glaubt mir, sagte sie, er ist was Besonderes, weil er doch Gott schon begegnet ist.
Sie glaubten es und glaubten es auch nicht. Als er ein Mann geworden war, geheiratet und eine Tochter gezeugt hatte und tagtäglich fleißig rackerte, auf dem Herrenhof, den Äckern des Herrn und in der eigenen kleinen Wirtschaft, geriet die Geschichte aus seiner Kindheit langsam in Vergessenheit. Zurück blieb nur diese merkwürdige Scheu, mit der ihm alle begegneten, dem Melzag Jakub, der nun Haustein genannt wurde, den sie zwar für einen Narren hielten, aber einen, über den man nur hinter seinem Rücken lächeln durfte. Nicht einmal lachen. Nur lächeln.
Jakub war sich an diesem Maimorgen 1805 sicher, dass nun das Ende seines Lebens gekommen war. Sein ausgemergelter Körper glühte. Seine Hände umklammerten die Brust. Hol du mir jetzt meine Tochter, sagte er keuchend zu der Frau, die ratlos und zornig vor dem Bett stand. Sie wollte etwas entgegnen, etwas wie: weißt doch, dass ich mit dem Mensch nicht rede, aber sie wagte es nicht, denn mit unendlicher Anstrengung schrie Jakub plötzlich: Geh! Hab’ dir ein Jahr lang deinen Willen getan und mein Kind verleugnet. Jetzt wirst du sie holen.
Da machte sich Agnes Hausteinowa, genannt Widerins Hajnscha, auf den Weg zum Herrenhof. Sie ging mit hängenden Schultern und Armen, leicht nach vorn geneigt, mit schwerfälligen Schritten und zugesperrtem Gesicht. Gradwegs zum Kuhstall ging sie. Es war noch sehr früh am Tag, die Mägde hockten unter den Kühen, es roch nach Kuhmist und frischer Milch. Agnes pflanzte sich breit in den Türrahmen. Sie fragte die Madlena aus Mortka, die, zwei Kannen am Tragjoch schleppend, hinauswollte: Wo find ich diese?
Kein Name. Nur tajku - diese.
Madlena wies mit dem Kopf zurück, hinten links, stieß sie schweratmend hervor, wandte dann auch noch den Kopf um und schrie in die Dämmerung des Stalls hinein: Marika, hier ist wer für dich. Wer. Kein Name.
Marja trat sehr langsam aus dem Hintergrund hervor, starrte ungläubig zur Stalltür, wo sie die Stiefmutter nur als schwarzen, breiten Fleck wahrnehmen konnte und erst an der Stimme erkannte: Dein Vater liegt auf den Tod und schickt mich nach dir.
Marja stand noch immer unbeweglich, als schon lange kein schwarzer Fleck mehr den Gang verdunkelte. Madlena, mit leeren Kannen zurückgekommen, rempelte sie an. Knurrte sie an: Versperr nicht den Weg. Nun geh’ schon. Zum Vater, geh’.
Zum Vater. Hatte sie denn einen Vater? Langsam überquerte sie den Wirtschaftshof, trat ins Gesindehaus, in die Mägdekammer, legte Schürze und Kopftuch ab und warf das große, buntgeblümte Tuch, das schon die Mutter getragen hatte, über Kopf und Schulter. Das alles tat sie ohne zu fühlen, ohne viel zu denken, also habe ich noch einen Vater, das freilich dachte sie. Seit langem hatte sie sich in sich selbst eingeschlossen, in ihren kräftigen Körper mit den ausladenden Hüften und dem breiten Kreuz, wie in eine Festung. Sie ging, wenn es denn sein musste, völlig gleichgültig durch die Dorfstraßen, hörte kaum, wenn ihr ein paar Kinderstimmen "Marika kurwitschka" oder gar "mordarka" nachriefen. Als gelte es nicht ihr.
Auf dem Weg vom Gut zu Hausteins Haus, das hinter der Kleinen Spree am Teich Robhatschik stand und eher Kate als Haus war, auch dem Haustein nicht gehörte, sondern dem Gutsherrn, samt Stall und Kuh und Gartenland, auf diesem vertrauten und doch so lange von ihr nicht mehr begangenen Weg - so dass ihr jeder Stein am Rande und jeder Strauch, sonst nie beachtet, in die Augen fiel und sofort hinunter bis ins Herz - auf diesem Weg muss es geschehen sein: Hausteins Marja begann wieder zu leben. Denn sie fühlte etwas, während sie dachte: Der Vater ruft mich. Der Vater stirbt. Aber er ruft mich. Sie nahm jetzt nicht nur jeden Strauch und jeden Stein wahr, sondern hörte auch die Nachtigall, die in den Erlen am Flussufer saß und in den frühen Morgen hinein trillerte, flötete, trällerte und klagte, und als sich das Gesträuch lichtete und den Blick auf die Heide freigab, schaute sie staunend auf die Strahlen der noch tief stehenden Sonne, die sich fächergleich ihren Weg durch die Wolken bahnten. Hab’ ich denn, dachte sie, das schon einmal gesehen? Die Sonne, die einen Fächer macht wie der von der gnädigen Frau? Dass man loslaufen möchte bis dahinten hin, wo der Fächer doch auf die Erde stoßen muss?
Jahrelang hatte sie sich an nichts erinnern können. Nicht einmal an das Gesicht der Mutter. Jetzt erinnerte sie sich an einen Frühlingsmorgen in ihrer Kindheit. Als sie im taunassen Gras am Feldrand saß und vor ihr entstand ein Sonnenfächer. Ein Fächer! hatte sie aufgeschrien und war, allen Verboten zum Trotz, aufgestanden und zur Mutter gelaufen, die in einer Reihe mit vielen Frauen auf dem Acker derer von Dallwitz durch die Reihen der Futterrüben rutschte.
Fächer? Woher kennt das Kind das deutsche Wort? Woher kennt es solch ein Ding? Hat sie die Herrin mal damit gesehen?
Hat sie. Grad letzte Woche, da war sie weggelaufen, wieder mal, bis zum Schlossaufgang, wo die Gräfin mit diesem komischen Ding stand. Und sie hat sie angeredet, meine Marika, denkt nur, sie hat die Herrin angeredet. Und gefragt, was das für ein Ding sei.
Und die? Ist nicht zornig geworden? Hat sie nicht weggejagt?
Nein, nein, gelacht hat sie und gesagt, aber auf Deutsch: Das ist ein Fächer, mein Kind. Und dann hat sie ihre Zofe, die Lenka, geschickt, das Kind nach Hause zu bringen. Die Lenka hat mir das dann erzählt.
Die Frauen lachten über das Kind, die Mutter schickte es an den Feldrand zurück. Dass du dich nicht vom Fleck rührst. Auf die Kleinen pass du auf. Sing ihnen was vor.
Am Feldrand lagen ein paar Wickelkinder, saßen ein paar Ein- und Zweijährige. Marja war noch keine fünf Jahre alt. Und da ihre Geburt belegt ist:
Taufregister Kirchspiel Lohsa, Jahrgang 1767, Seite 456, Nr. 9
Marika / Jacob Melzans (Melzags) und Ehefrau Hana eheliche Tochter / geb. 29. Juni, getauft 2. Juli -,
da war es also das schlimme Jahr 1771, in dem der Regen ausblieb und das Getreide verdorrte; auch die Rüben, in denen die Frauen jetzt arbeiten, werden vertrocknen, und im folgenden Winter wird der Hunger in Lohsa einziehen, und die Kleinkinder, die jetzt am Feldrand liegen und von der Marja bewacht werden sollen, werden wahrscheinlich den Winter nicht überleben, weil die Kühe geschlachtet werden müssen, bevor sie krepieren.
Weniges aus späterer Kindheit könnte Marja berichten, allein dieser eine Tag, er kommt heute, auf dem Weg zum Vater, ungerufen in ihren Kopf. Nicht so sehr der Sonnenfächer ist es, der sie in Aufregung versetzt, sondern das Gefühl, das mit ihm verbunden war und an das sie sich jetzt erinnert: Man muss loslaufen und sein Ende finden. Und sie erinnert sich, dass sie loslief, hinein in die Naidaer Heide, weiter, immer weiter. Weder war ihr damals noch ist ihr heute bewusst, dass es ein Gefühl von Entdeckerfreude, von Selbstbestimmung und Freiheit war, das sie verspürte, zum ersten und auch - vorläufig - zum letzten Mal, denn die Mutter konnte hart zuschlagen, wenn’s denn sein musste.
Der Vater hat mich niemals geschlagen, dachte Marja. Ermahnt, das ja, mit seinen Bibelsprüchen. Selig sind die Friedfertigen, sagte er, wenn ich aufsässig gewesen war. Selig sind, die reinen Herzens sind, sagte er, wenn ich geschwindelt hatte, viele viele Sätze mit "selig sind" hab’ ich von ihm zu hören bekommen, und immer hat er dabei lieb und traurig ausgesehen. Ich hab’s immer geglaubt, was über ihn geredet wurde: Er habe schon als Kind den Herrgott gesehen.
Sie ging an Wojnars, des Nachbarn, Haus vorbei, auf der Türschwelle saß der jüngste Sohn, als er sie erblickte, steckte er die Zunge heraus, dann rief er: Marika Kurwitschka!
Und Marja empfand zum ersten Mal einen tiefen Schmerz bei diesem Ruf, Tränen schossen ihr in die Augen, die liefen noch über ihr Gesicht, als sie ins Haus und in die Schlafkammer trat.