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Wie in einer Novelle üblich ist etwas Unerhörtes geschehen. Mehrere Menschen sind ermordet worden. Und schuld daran sind faschistische Gedanken von der Ungleichheit der Menschen. Über solche Taten darf kein Gras des Vergessens wachsen. Niemals. Zugleich befasst sich das heute ausgewählte Buch auch mit einem Stück DDR-Geschichte, die manchmal seltsame Weg ging. Auch ein gewisser Stalin und Lotte Ulbricht kommen in der Handlung vor. Sowie ein hoher Orden und ein merkwürdiger Hundename. Da klettert ein Mann von Zeit zu Zeit auf die Milchrampe eines kleinen Dorfes und hält wütende Reden. Angeblich ist er ein Irrer. Nicht normal. Weil er nicht verstehen kann, dass da ein Wehrloser erschossen wurde und seinem Mörder nichts geschehen ist. Niemals. Weder damals noch später noch jetzt, wo er geehrt und dekoriert wird. Aber der ist ein Mörder, sagt der Mann, ihr alle seid Mörder. Du bist verrückt, sagen die Leute. Der Mann fertigt dem Erschossenen ein Holzkreuz. Stellt es auf unter den Birken am Waldrand. Erneuert es mehrmals, denn es wird mehrmals entfernt. Später besucht er es, mit seinem Hund Churchill am Bindfaden, schmückt es mit frischen Blumen. Der ist verrückt, sagen die Leute immer noch. Wer den Irrsinn der Welt nicht versteht, muss wohl verrückt sein. Letztendlich ist Gras über ihn und das Kreuz am Waldrand gewachsen. Gras des Vergessens.
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Seitenzahl: 70
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Elke Nagel
Kreuz am Waldrand
Novelle
ISBN 978-3-86394-914-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 2007 bei Lusatia Verlag Dr. Stübner & Co. KG Bautzen
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Diese Geschichte und die handelnden Personen sind erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen und Ereignissen waren unvermeidbar.
Dies ist die Geschichte eines Verrückten. Vielleicht auch eines angeblich Verrückten, das ist nicht sicher. Ich kenne sie vom Senek Jurij, dem Maler, Bildhauer und Holzschnitzer, der wiederum hat sie – von ein paar eigenen Kindheitserlebnissen abgesehen – vom Mattes, das aber ist jener Verrückte. Oder angeblich Verrückte.
Dieser Mattes, der genau genommen Matthias Knopka hieß, war am 7. Oktober des Jahres 1979 zum dritten Mal auf die Milchrampe eines kleinen Dorfes in der mittleren Lausitz geklettert, das ich Steinau nennen werde — was aber bedeutungslos ist, es könnte auch ganz anders heißen — , um seine Rede zu halten, er war da fast siebzig Jahre alt.
Die Milchrampe stand in der Mitte des Dorfangers; sie stand dort seit eh und je, aus soliden Eichenbrettern gezimmert, niedrig genug, damit auch eine Bauersfrau ihre Kanne hinaufwuchten konnte, aber doch so hoch, dass der Milchfahrer kaum Mühe hatte, die Kannen auf seinen Wagen hinüberzuziehen. Die Rampe erschien Mattes heute sehr viel höher zu sein als im Frühjahr 1945, höher auch als 1955. Damals, bei seinen beiden ersten Auftritten auf diesen Brettern, war er – Anlauf nehmen, aufstemmen, aufrichten – fast hinaufgeflogen; diesmal, obwohl nicht weniger beflügelt von Wut und Eifer, zog er sich mühsam auf den Rand der Rampe, lag sekundenlang in bedrohlicher Schwebe, bis es ihm endlich gelang, den Körper hinaufzuwälzen und sich aufzurichten. Sorgfältig entstaubte er seinen dunkelbraunen Feiertagsanzug, rückte den schwarzen Schlips gerade und zischte dem Hund, der leise winselnd unten stehengeblieben war, ein “Sitz, Deifi!” hinunter. Deifi gehorchte sofort.
Niemand hatte den alten Mann, der von jeher und von jedem nur Mattes genannt wurde, jemals ohne diesen gelblich-weißen, mittelgroßen Hund gesehen; der Hund trug kein Halsband, sondern einen Bindfaden um den Hals, dessen Ende in Mattes’ linker Faust verschwand. Er hieß auch gar nicht Deifi. Denn wenn Mattes “Deifi” sagte, meinte er “Teufel”. Und dem Bildhauer Jurij Senek hatte er anvertraut, er habe seinen Hund Churchill genannt. Aus Dankbarkeit, verstehst, Jurij, ja?
Nein, hatte Jurij gesagt, ich versteh nicht, Mattes.
Nein? Dann muss ich dir erzählen.
So begannen ihre stundenlangen Gespräche meistens: ein kleiner Anlass, eine Frage, eine Antwort, ein “Verstehst, Jurij? Nein? Dann muss ich dir erzählen.” Dann holte Jurij eine Flasche, zwei kleine Gläser, sie hockten in seinem Atelier, rauchten Zigaretten, Jurij hatte sich längst ein Blatt gegriffen und einen Stift, und wenn sie nach Stunden auseinander gingen, blieb ein Mattes-Kopf zurück: rundes Gesicht, kleiner Mund, grauer Schnauzbart darüber, Nase breit und flach, Augen klein, rund und wasserblau, eng beieinander und beschirmt von weißgrauen Brauen.
Jetzt waren sie verengt zu zwei schmalen Schlitzen. Mattes stand breitbeinig auf der Rampe. Er trug keine Kopfbedeckung; sein halbkahler Schädel glänzte in der Nachmittagssonne. Der Dorfplatz war nicht menschenleer. Und von den drei Straßen, die zu ihm führten, näherten sich Gruppen von Menschen. Und ein paar Kinder jagten von Haus zu Haus, sie riefen: He, der Mattes! Auf der Milchrampe steht er, der Mattes!
Er stand lange schweigend und reglos. Die Menschen machten zögernd halt, starrten ihn an, manche lachten leise, manche schauten vorsichtig um sich, einige gingen hastig weiter, auf die Tür der Gaststätte zu, “Nowaks Schenke”, über der ein weißes Plakat mit roten Lettern forderte: Es lebe der 30. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik!
Als der erste von ihnen die Klinke berührte, öffnete Mattes den Mund, gleichzeitig riss er die Arme nach oben, so dass der Hund hochgezerrt wurde und zu bellen begann. Begleitet vom heiseren Hundegebell, begann Mattes seine dritte Rede auf der Milchrampe. Heert mir zu! verlangte er mit hoher Diskantstimme, die auch noch am Gaststätteneingang verstanden wurde, ihrr aalle seid verflucht und verdammt bis in die Ääwigkeit, wänn ihrr nicht in euch geht. Näähmt ihm den Orden ab! Är ist ein Määrder! Alle Steinauer sind Määrder! Määrder! Nur Jurij Senek nicht. Däär nich. Aber sonst aalle Steinauer sind Määrder!
Da bräuchten sie gar nicht so zu lachen und zu rufen! reagierte er auf Gelächter und Zurufe der Leute. Dass sie gestern in Berlin dem Schüttmann Siegfried die Medaille verliehen hätten, den Karl-Marx-Orden, das sei schändlich, Karl Marx werde sich im Grabe umdrehen, falls er das denn könne, weil Schüttmann ein Mörder sei, er habe den Igor erschossen, obwohl der sich an die Birke geklammert habe, mit beiden Armen.
Nich gewäährrt hat er sich, nich geraannt ist er, schrie Mattes, hab’s gesähn, mit diesen meinen Augen gesähn, wie er hat erschossen den Igor, meinen Igor.
Er schwieg abrupt, senkte den Kopf, zischte den Hund an, der sofort zu bellen aufhörte; die Leute lachten nicht mehr, sie schauten sich kopfschüttelnd an und gingen ihrer Wege, was heute hieß: Sie gingen alle den einen Weg, zur Festveranstaltung in den Saal von Nowaks Schenke.
Komm runter, Mattes. Na los, gib mir die Hand.
Jurij? Hast mich gehört? War’s so gut? Wird’s was helfen?
Wird nichts helfen, Mattes. Komm jetzt. Wieso hast du “mein Igor” gesagt?
Is´ er nich viel älter gewesen als mein Ältester. Hab ihn lieb gehabt, als wär er gewesen mein Hermanko. – Jurij Senek unterließ weitere Fragen, die Antworten auf die meisten kannte er ohnehin längst. Mattes behutsam an der Schulter führend, ging er mit ihm vom Dorfplatz.
Wolltest auch dahin? fragte Mattes mit einer Kopfbewegung zurück.
Nnja, nein, hm, antwortete Jurij. Zeigte auf seine blaue Schürze. So hätt ich da nicht hingehn können, was? Steck mitten in der Arbeit. Jemand kam mich holen.
Mattes kicherte. Haben sie’s mit der Angst gekriegt? Haben sie zu dir jemand geschickt, damit er sagt: Genosse Senek, komm und bring wieder zu Verstand den Mattes?
Senek beschäftigte sich verlegen mit dem Öffnen der Hoftür, blickte den alten Mann nicht an, schob ihn in den Hof, sagte: Komm schon, trinken wir erst mal einen.
Doch Mattes ließ sich nicht ablenken: War es so, ja?
So ungefähr, sagte Jurij ergeben.
Ha! rief Mattes, aber sie haben nun gesäähn, dass du tust arbeiten, heite, grad heite! Ich, ich bin der Mattes. Ich kann räden und räden, sie tun nix, weil ich hab den Paragraphen. Den Persilschein, wie die Leite sagen. Aber was werden sie jetzt tun mit dir?
Jurij lachte kurz auf. Nichts, sagte er. Und fügte hinzu, als er Mattes’ ungläubiges Kopfschütteln bemerkte: Fast nichts. Bisschen diskutieren, kritisieren. Genosse Senek, wird Schüttmann sagen – oder der Paschke Jens oder der Kowatsch Ingo – du als Künstler solltest ein Beispiel geben, werden sie sagen, fast alle kommen zur Festveranstaltung, aber du nicht. Und da werd ich antworten, seht mal, Genossen, ich ehre die Republik und ihren 30. Jahrestag doch auch, wenn ich etwas Schönes aus dem Stein schlage. Oder aus dem Holz schnitze. Bin halt in Druck. Hab ‘n Auftrag. Na, Mattes, was sollen sie darauf noch sagen? Gar nichts werden sie sagen. Froh sein werden sie, wenn es niemand an höhere Stellen meldet. Damit sie da nicht “Mode” werden. Denn die höheren Stellen, Mattes, wenn du verstehst, was ich meine, die könnten Angst kriegen, dass hier auch so einer ist, so ein Künstler, der so aufsässig werden könnt’ wie diese Schriftsteller. Weißt du nichts davon? Na, auch gut, musst du nicht wissen. Mit denen haben sie jedenfalls genug zu tun. Da darf ich hier hinter den Wäldern, in diesem Nest Steinau, hier bei den Sorben, die ihnen eh nicht ganz geheuer sind, sogar ruhig mal rumschreien. Das stört keinen. Du glaubst nicht, dass ich auch mal rumschrei? Naja, nicht auf der Milchrampe. Das nun grad nicht. Aber so abends, bei Nowak in der Kneipe, da schon. Von diesem und jenem schrei ich da. Dass sie mich von der Welt abschneiden. Dass mein Trabant schon drei Monate auf dem Hof steht, weil’s irgendeine Eisenfeder nicht gibt. Neulich hat mich der Kowatsch Ingo beiseite genommen – du weißt, dass ihn alle “Mielke” nennen? Weißt auch, warum? Gut, – also, er hat mich beiseite genommen, hat gesagt: Jurij, wenn du noch öfter solche Reden führst, kann ich auch nichts mehr für dich tun. Ist sicher kein schlechter Kerl, der Kowatsch. Nicht grad sehr klug, naja. Und sie fragen ihn halt ab, die von der Firma. Ich wette, der sagt keinem was Schlechtes nach. Der Mensch hat seinen Mund zum Reden und zum Schweigen auch. Aber du mit deinem “Alle Steinauer sind Mörder”. Warum sagst du sowas, Mattes? Die heut so alt sind wie ich, waren damals Kinder. Was haben die getan? Und der Schüttmann, und der Nowak, und der Pacholke, und wer immer noch dabei war, damals, die waren doch auch noch halbe Kinder.